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Auch Eine.

An einem Samstag gegen Abend tat es in der Scheune des Schneiders Weber einen lauten, erschrockenen Schrei, dem ein jammervolles Ächzen folgte.

Der Schneider saß nebenan in der Stube und mühete sich, seines Nachbars, des Maurerphilipps durchgerutschte Manchesterhose an ihrer empfindlichsten Stelle für kommende Anforderungen instand zu setzen. Es war eine herbe Aufgabe für den kleinen Alten, denn seine krummen, ungewaschenen Finger waren der Nadel entwöhnt, und nur in absonderlichen Fällen griffen sie zu den Utensilien des ehrsamen Handwerks. Ein solch absonderlicher Fall war es z. B., wenn der nächste und einzige Nachbar die Hosen zerriß, oder wenn an des Schneiders eignem Gehrock, dem blautuchenen, ehrwürdigen, mit den imposanten Schößen, eine Naht platzte, nicht etwa wegen zunehmender Leibesfülle des glücklichen Besitzers, sondern lediglich, weil der Faden zermürbt war von hohem Alter.

Im übrigen vergrub das Schneiderlein schnöde sein Pfund. Wenn draußen in der sündhaften Welt trotzdem Kleiderpracht und Eitelkeit überhand nahmen – der Schneider Weber in seiner abgelegenen Hütte konnte mit gutem Gewissen sagen, daß er niemals einen Finger gerührt habe, solchen Lastern Vorschub zu leisten.

Hart neben dem winzigen Fenster, das ein honigtriefender Asklepiasstock noch über Gebühr verfinsterte, saß der Mann auf seinem wurmstichigen Tisch. Zu vorderst auf der Nase hing ihm die Brille, die dünnen, graumelierten Haare lagen in feuchten Strähnen über die Glatze und die runzelvolle Stirn, in dem borstigen, rötlichen Schnurrbart, den sicher keine Kunst der Welt in eine der Gegenwart angemessene Form zu bringen vermocht hätte, zitterte wehmütig eine Viertelpriese Schnupftabak, die dank des Schneiders unsicheren Händen ihrer eigentlichen »höheren« Bestimmung schnöde entgangen war. Die hochgestreiften Ärmel des bunten Flanellhemdes ließen zwei jämmerlich dürre Ärmchen frei, an denen jetzt die Adern und Muskeln hervortraten vor herber Anstrengung um des Maurerphilipps Hosenboden.

Eben nahm der Schneider die wuchtige Schere auf, um die letzte Naht gerade zu schneiden, er machte schon mit Mund und Schnurrbart die kunstvollen Verrenkungen, die eine strenge Wissenschaft als Reflexbewegungen bezeichnet, während des Schneiders Weib, die Bärbel, darüber zu sagen pflegte: »Josephle, i glaub', du schneidst mit dei'm Maul!« – Da erscholl aus der nahen Scheune der eingangs erwähnte laute Schrei.

Der Schneider legte bedächtig die Schere weg. Seine Brille wanderte zusamt dem beinernen Fingerhut in die Zigarrenschachtel zu den Fadenrollen, den Wachsklümpchen, den Nadelbüchschen. Dann erst kam etwas wie Aufregung in das verkümmerte Männlein. Mit eiligem Ruck schob er sich gegen den Tischrand, ließ die Füße prüfend über der Tiefe baumeln und schwang sich ächzend hinab. Vom Ofenrand nahm er die schmierige Sammetkappe, und mit annähernd jugendlicher Hast verschwand er hinter der Stubentür.

*

Auf der harten Scheunentenne lag reglos ein menschlicher Körper in Weiberkleidern. Der Schneider stand unter dem Tor, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schrie:

»Herrje, Bärbel, was machst, was treibst!«

Da ging es wie ein Ruck durch den Körper der Abgestürzten. Kläglich, stöhnend und doch voll derber Rüge klang es herüber:

»Josephle, komm her, hilf mer und schrei net lang!«

Dem Joseph aber stieg ein jäh entflammter Zorn zu Kopf. Wäre die Bärbel tot auf der Tenne gelegen, so wäre sein Mitleid ihr sicher gewesen; jetzt aber, wie sie einen Ton anschlug voll versteckten Vorwurfs, ja voll frechen Kommandos – jetzt lief dem Schneider die Galle über.

»Hättst aufgepaßt!« schrie er grob, »mußt du grad' am Samstichobed runterfalle, wenn no kein Stub' putzt ist, no keine Küh g'füttert und no kein Futter g'schnitte!« Er trat heran an die Bärbel und sah ihr sonst so rotbackiges, breites Gesicht wachsbleich, die Nase spitz, der Mund verzerrt, das ganze robuste, ewig gesunde Weib ein Bild des Schmerzes und des Schreckens. Aber den Schneider rührte das nicht, im Gegenteil: Ein Gefühl der Überlegenheit quoll in ihm auf, wie er es nie empfunden hatte. Sein im tiefen Innern harter, gewalttätiger und bösartiger Sinn, den der Bärbel ruhiges und resolutes Kraftbewußtsein, ihre überlegene Tatkraft allezeit zurückgehalten hatte, er trat jetzt unverhüllt hervor dem hilflosen Weibe gegenüber.

»Mach' daß d' aufstehst!« drängte er; »daß mer sieht, ob de ebbes broche host!«

»Gib mer dei Hand, Josephle!« sagte die Bärbel leise, mit zusammengebissenen Zähnen, und unter des keuchenden Männleins Beistand raffte sie sich ächzend auf und schleppte sich mühsam hinüber auf ihr Lager in der dämmerigen Kammer.

Jetzt kam herbe Zeit für das Schneidersehepaar. Den linken Arm hatte die Bärbel gebrochen, die Achsel verfallen, den ganzen Körper zerschunden. Hilflos lag sie unter ihrer rotkarierten Decke und mußte mit ansehen, wie die Arbeit bergehoch anwuchs, und wie das Schneiderlein kaum die allernötigste Hantierung täglich verrichtete.

Ja, wenn die Kathrine, des Ehepaars einzige Tochter, die im nahen Dorf verheiratet war, besser zur Hand gegangen wäre! Aber die war am liebsten da, wo die Arbeit schon getan war.

»I hab' kei Zeit, Mutter, i muß fort, mei Gottlob könnt' heimkomme!« hieß es da immer, so oft die Mutter irgend etwas von der besuchenden Tochter verlangte, und dabei wußte die eine so gut wie die andre, daß der Gottlob, der trinkbare Fuhrmann, selten vor nachtschlafender Zeit heimkam.

Wenn der Tag fern im Osten graute, blickten schon des kranken Weibes ruhelose Augen durch das schmale Kammerfenster, das dem Bett gegenüber lag. Das Stückchen Himmel, das sie da über fernen Tannenwipfeln erspähen konnte, starrte sie an mit ängstlichem Prüfen. War's hell draußen und versprach der Tag ein sonniger zu werden, so fiel ihr qualvoll aufs Herz, daß »am Rain« oder »auf 'm Stückle« oder »hinterm Wald« Kartoffeln zu hacken, Gras zu holen, Rüben zu setzen wären. Kam aber der Tag recht trüb herauf oder klatschte gar der Regen gegen die Scheiben, so wußte sie hundert Arbeiten, die im Haus und Stall zu verrichten wären, unbekümmert um des Wetters Unbill. Ach, ihr schien, niemals in zweiundsechzig Lebensjahren habe es so dringende, so mannigfaltige, so unaufschiebbare Arbeit gegeben wie jetzt in diesen Wochen.

Schlug es dann fünf Uhr, so rief sie leise nach des Schneiders Liegerstatt hinüber: »Josephle!« Aber der Kleine drehte sich unmutig um und brummte:

»Laß mer mei Ruh!«

Mit bitterlichem Seufzen lauschte die Kranke dem dumpfen Geräusch unten im Stall. »Jetzt steht d' Lies von der Streu auf, jetzt stoßt d' Rieke mit de Hörner an de leere Trauf,« so ging es ihr durch den Kopf, ja sie murmelte es vor sich hin in ohnmächtigem Jammer, und es wollte ihr oft scheinen, als ob der liebe Herrgott doch manches recht verkehrt gehen lasse auf dieser Welt, sonst müßte jetzt der faule Josephle an ihrer Statt im Bett liegen, der hätte nichts zu versäumen.

Und der Schneider gar, er war in dieser bösen Zeit mit Gott und der Welt zerfallen. Das Rübensetzen und Kartoffelhacken und Stubenfegen hätte ihm weiter keine Not gemacht, das ließ er einfach liegen bis zu der Zeit, da die Bärbel wieder mobil war und diesen ihren Pflichten nachkommen konnte; aber die Liese und die Rieke im Stall, die ließen sich nicht bis dorthin vertrösten, die schrien erbärmlich vor Hunger. Für das unvernünftige Vieh mußte Futter geschnitten, Wasser geholt, der Stall gesäubert werden. Und die Milch, für die man alle Tage aus der nahen Försterei seine baren achtundneunzig Reichspfennig bezog, das einzige Geld, das in gewöhnlichen Zeiten im Schneidershause roulierte – sie lief auch nicht von selbst in den Eimer, sie mußte gemolken, durchgeseiht und gemessen werden, und wäre es mit Seufzen und Stöhnen. Wenn man ein einziges Mal das Geschäft des Durchseihens etwas abkürzte oder vereinfachte, dann erklärte einen gleich die Frau Försterin für einen unappetitlichen Menschen, ja für einen Schweinigel. Am Abend wußte der Schneider rein nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Zorn, ja Haß gegen die Bärbel, die langgestreckt im Bett lag und den ganzen Tag kommandierte: »Tu dies, tu das!« quollen oft übermächtig in dem Männlein auf, und einmal, da sie ihn rief, als er eben am Tisch in der Stube mit aufgestützten Armen und heißem Kopf im »Schwarzwälder« las, wie ein Schreiner im Zorn sein betrunkenes Weib erschlagen habe, da sprang er gar in die Ecke nach seinem hagebuchenen Stock; er trat vor der Bärbel Lager und schrie sie an:

»Wenn d' mer mei Ruh net läßt, mach' i 's wie der Schreiner bei Heilbronn!«

Die Bärbel, sie wußte nichts von der blutigen Affäre; aber sie sah in ihres Gatten Augen den giftigen Strahl und sie verschwieg ihr Verlangen nach einer Milchsuppe und kehrte ihr Gesicht der Wand zu. Und an dieser zerkratzten, verdorbenen alten Wand hinter ihrem Bett fiel ihr ein kleines, in den Gips eingescharrtes Kreuz in die Augen, und zwei schwere Tränen rollten langsam über ihre durchfurchten, eingefallenen Backen.

Sie schloß die müden Augen zu und dachte über dieses Kreuz nach und über alles – alles!

Da, in dieser Kammer, an dieser gezeichneten Wand waren ihre vier Kinder zur Welt gekommen. Bei dem ersten war's, bei dem Ernst, dem taubstummen Buben, da hatte sie in herber Qual, in schmerzerpreßtem Aufschrei zu dem Gekreuzigten, das heilige Zeichen in die Wand gegraben mit ihren eignen Nägeln. Und bei den dreien, die nachher kamen, hatte sie das versteckte Kreuzlein berührt in brünstigem Glauben oder brünstigem Aberglauben, daß der Heiland ihr helfen möge und die böse Stunde glimpflich hinausführen.

Aber die schwersten Stunden waren es nicht gewesen, als die Kleinen kamen. Drei davon gingen auch wieder. Eine nur blieb, die Kathrine, des Vaters lächerlich genaues Ebenbild. Und dann jene Stunde, als man merkte, daß der Ernst taubstumm sei. – In schlaflosen Nächten, in tränenreichen Tagen hatte die Bärbel an das Kreuzlein in der Wand gedacht, und alles, was sie unter dem Schmerzenszeichen gelitten, war es nicht um des Gatten willen, war es nicht das herbe Leid des Ehestandes?

Und jetzt! Mit dem Stock wollte er sie schlagen, weil sie eine Milchsuppe brauchte! Dazumal, als die stattliche Bärbel dem kümmerlichen Schneider ihr Jawort gab, da hatten alle gesagt: »Bärbel, wie kommst denn du zu dem?« Und ganz andre hätte sie haben können, ganz andre. Aber der Josephle war ein stiller, ein eingezogener Mensch gewesen, und er hatte gesagt: »Bärbel, wenn du mi net nemmst, no geh' i ins Wasser!« Und sie hatte ihn genommen und war ihm ein fleißiges Weib geworden und geblieben, bis sie von der Tenne fiel, o! –

Laut und jämmerlich schrien die Kühe im Stall! Die Bärbel wischte sich mit dem Zipfel ihrer Decke über das naßgeweinte Gesicht und lauschte. Heiß fuhr es ihr durch den Kopf: »Das Vieh hat Jammer nach dir, mach, daß du wieder gesund wirst!«

Endlich ging es schneller mit der Genesung. Der alte Wundarzt nahm die Verbände ab, verschrieb noch eine Mixtur und erklärte die Bärbel für gesund.

Am andern Tage stand sie im Stall in aller Gottesfrühe, als der Schneider noch in süßen Träumen lag. Wie sah es da aus! O Josephle, Josephle!

Das Weib langte fast gierig zu. Mit halbsteifem Arm steckte sie Futter auf, sie striegelte die Liese und die Rieke, als ging's zur Preisbewerbung, sie nahm die Mistgabel zur Hand und gebrauchte sie, wie's ihrem Zweck und Wesen zukommt.

Und das Josephle schlief weiter, ruhig süß, unbekümmert!

Jetzt hätte wieder alles ins alte Geleise kommen können, das derbe, fleißige Weib und das still-faule Schneiderlein hätten können wieder dahin leben in gegenseitiger Ergänzung; aber es kam ganz anders!

Einst war der Josephle zufrieden gewesen, wenn die Bärbel keine Ansprüche an ihn und seine Manneshilfe machte, wenn er die glatt verlaufenden Tage ausfüllen durfte mit Hilfe seiner Tabaksdose, seines »Schwarzwälders« und etlicher Nadelstiche an diesem oder jenem allzu aufdringlichen Riß. Auch das Milchforttragen, angetan mit lederner Umhängetasche, hagebüchenem Stock und seidner Schildmütze, hatte der Schneider ohne Widerspruch in seinen Pflichtenkreis einbezogen; aber von der Bärbel Sturz an verschob sich alles. Seit der hilflose, der jammervolle Zustand des Weibes dem kleinen, giftigen Männlein einmal das Übergewicht eingeräumt hatte, seitdem war die Bestie im Schneiderlein freigeworden, und von Tag zu Tag wuchs er sich mehr zum bösartigen Tyrannen aus.

Wenn die Halbgelähmte bat: »Hilf mer in mein Ärmel neischlupfe!« so erhielt sie ein grobes »Hättst aufpaßt, no könntst's allei« zur Antwort; wollte sie, daß ihr Eheherr bei etwas zulangen sollte, so hieß es prompt: »Hättst aufpaßt, no könntst deine zwei Ärm no brauche!« Sprach sie gar vom Bezahlen der Doktors- und Apothekersrechnung, so schrie der Schneider giftig: »Hättst aufpaßt, no müßt i jetzt net mei scheens Geld nausschmeiße.« Das schwerste Vergehen, die gröbste Pflichtverletzung der fleißigen Bärbel hätte ihre Stellung im Haus, ihr Verhältnis zum Gatten nicht ungünstiger verrücken können, als der unglückselige Sturz, das lange Siechtum, der aufgezwungene Müßiggang und die jetzige halbe Steifheit es taten.

Und die Bärbel, die zuvor so viele, viele Jahre lang neben dem faulen Schneiderlein hergegangen war in für sie selbstverständlicher, rastloser Tätigkeit, in der unbewußten Überlegenheit ihrer robusten Körperkraft und Gesundheit, ihrer Energie, ihrer unverdrossenen Lust zum tüchtigen Zulangen, sie verrichtete jetzt die schwere Arbeit mit dem unklaren Gefühl, als müsse sie damit eine Leere ausfüllen, als müsse sie ein nutzloses, verfehltes Leben dadurch erträglich machen. Sie war auch jetzt noch ohne Rast und Ruh; aber die Arbeit mußte ihr manche Stunde lang die Tränen ersetzen, weiter nichts. Des Weibes etwas trüb gewordene Augen hingen oft an dem scheltenden Schneider mit der stummen Frage: »Also du bist der Josephle, der ins Wasser wollte dazumal? Du bist der Vater von den Vieren, um derentwillen ich das Kreuzlein in die Gipswand grub?« Die Kühe schrien im Stall, sie ging hinunter und setzte sich auf ihren Melkschemel. Der halblahme Arm machte ihr bitterliche Schmerzen, in der Achsel stach es wie mit tausend Nadeln, und über das runzelvolle Gesicht lief ein Zucken.

*

Ein rauher, herbstlicher Wind pfiff um das entlegene Häuschen der Schneidersleute. Beim Maurerphilipp, dem einzigen Nachbar nebenan, machte man schon die Läden zu und schloß Stall- und Haustür. Über die waldige Höhe herunter trug der Wind verlorene, abgerissene Glockenklänge. Auf der nahen Landstraße stand die Bärbel und rechte die Blätter zusammen, die müde und vergilbt von den Bäumen am Wegrand niederwirbelten. Das ferne Läuten schlug an der Alten Ohr, sie faltete die Hände um den Rechenstiel und betete: »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ, weil es nun Abend worden ist!«

Sie hätte gerne alle Verse gebetet, aber der Schneider mußte jetzt jeden Augenblick auftauchen dort drüben unter der Eisenbahnbrücke, auf seinem Rückweg vom Försterhaus. Mit murmelnden Lippen hantierte sie weiter, und immer wieder trug ihr der Wind einen Teil ihrer Beute davon. Endlich brachte sie einen stattlichen Bund zusammen, und der Maurerphilipp, der ihr von ferne zugesehen hatte, kam herüber, ihr die schwere Last schleppen zu helfen. Er lachte dazu und meinte:

»Vor zwei Johr, Webere, hättet Ihr zu so 'me Plunder mi net braucht.«

Die Bärbel erwiderte nichts, sie mochte nichts mehr hören von früher, gar nichts mehr.

Samstagabend war's, und in der Stube, die das Weib jetzt betrat, roch es nach frischem, nassem Fegsand, nach ländlicher Sauberkeit. Die Dämmerung sank schnell, das ferne Läuten verstummte, der Schrei des Käuzchens, der alle Nacht hinter dem einsamen Gehöft erklang, ließ sich heute drüben, am andern Berghang, vernehmen. Die Bärbel schüttelte den Kopf bei den häßlichen Lauten und sagte mißbilligend: »Heut schreist um e Stund z' früh!« Aber der Vogel ließ sich nichts drein reden, er machte ruhig weiter in langen Pausen.

Das Weib machte Feuer an und bereitete den dünnen Kaffee, den regelmäßigen Abendtrank, des Hausherrn einzige Leidenschaft neben Schnupftabak und »Schwarzwälder«. Sie fegte den Sand von den halbtrockenen Dielen und fuhr mit der Schürze über Bank und Tisch. Dann zündete sie die Stehlampe an, stellte den leeren Mostkrug in den Eckkasten, legte den Brotlaib neben die Kaffeeschüsseln und klopfte Zucker auf mit einem hölzernen Hammer. Es war alles getan und vorbereitet; aber der Schneider kam nicht. Der Kaffee sott mit leisem Zischen in der Ofenkachel, die Milch bekam eine trockene, häßliche Haut – der Schneider kam nicht.

Unruhe erfaßte das einsame Weib. Sie schaute wiederholt neben dem Asklepiasstock hinaus in die rasch sinkende Nacht; aber das hellere Grau der Landstraße lag öd da draußen. Jetzt band sich die Bärbel die Haube über den grauen Kopf und schritt zur Tür. Sie blieb noch einmal stehen und schaute zurück in die stille, warme Stube, und ohne daß sie es wollte, ging es ihr durch den Kopf: »Wie schön ist's doch daheim, wenn der Josephle net brummt und schilt. I bin a dumm's Weib, daß i ihn au no such'.« Dann ging sie und drehte den Schlüssel um.

Am Rain, nahe dem Wasser, lag er, regungslos. Kaum noch konnte sie die Umrisse seiner dürftigen Gestalt erkennen. Sie rief ihm zu, er gab keine Antwort. So war sie dazumal auf der Tenne gelegen, und er hatte – – sei still, Bärbel, denk' nicht daran!

Langsam kniete sie hin mit ihren steifen, alten Knochen, sie tastete nach seinem Gesicht, nach seiner Stirn, nach dem bösartigen Mund unter dem borstigen Schnurrbart. Der Schneider rührte sich nicht; aber warm war er, er lebte. Die Bärbel stand auf und packte das Männlein unter den Armen. Es ging ihr durch die Achsel wie Messerstiche; aber sie biß auf die Zähne und legte den Regungslosen nicht wieder nieder. Langsam, keuchend vor Schmerz und Anstrengung, Schweißperlen auf der Stirn, die Haube hinten im Nacken, so schlich sie dahin mit ihrer Last. Sie hätte den Maurerphilipp herbeirufen können, sie tat es nicht: einen Plunder Laubstreu mochte der tragen helfen, den Josephle brachte sie allein heim.

Wieder kamen im Schneidershause lange Wochen des Siechtums. Aber diesmal war das andre Lager besetzt in der Kammer mit der zerschundenen Gipswand.

Schnee wirbelte gegen das Kammerfenster; graue, finstere Wintertage zogen spät und langsam herauf. Kartoffeln waren keine zu hacken, keine Rüben zu setzen, kein Gras zu holen, es gab jetzt nur die wenige Arbeit im dürftigen Haushalt. Aber auch dieses Wenige mußte oft auf die Bärbel warten, ja manchen Tag schrien die Kühe im Stall vor Hunger, und auf der Sturzglocke von Glas mit dem Perlenkranze darunter, dem Prunkstück im Schneidershaushalt, das den toten Dreien galt und des Weibes Stolz und Freude war, lag zuzeiten dick der Staub.

Die Bärbel aber saß mit ihrem groben Wollgestrick am Kammerfenster und schaute durch ihres Eheherrn Brille nach der gefallenen Masche. Aber die Masche blieb tief unten liegen, denn vom Lager her klang es kläglich unter dem struppigen Schnurrbart hervor: »Bärbel, gib mer au en Pris!« Und sie gab dem Gelähmten den geliebten Tabak und streute nichts daneben. Dann machte sie sich wieder hinter die gefallene Masche. – »Bärbel, lang mer au a dürre Zwetschg'!« Das Weib ging auf den obersten Speicher, das Gewünschte aus der Truhe zu holen. – »Bärbel, was stoht au em Blättle?« – »Bärbel, was hemmer für Wetter?« Nicht zu zählen waren des Schneiders Wünsche und Anliegen, und das vielgeplagte Weib konnte kaum aus der Kammer, um das Nötigste zu besorgen.

Die Kathrine kam auch, nach dem kranken Vater zu sehen. Sie setzte sich an des Alten Bett und schaute ihm lange in das verfallene Gesicht. Der Kranke sah hilflos zur Decke und murmelte dann leise, undeutlich:

»Kathrine, sei no brav, sterbe ist schwer.«

Des trinkbaren Fuhrmanns faules Weib faltete die Hände im Schoß und sagte voll gleichgültiger Zuversicht:

»Sei no z'friede, Vatter, unser Heiland ischt a guater Ma, der hilft uns älle.«

Die Bärbel ließ im Rücken der beiden ihr Strickzeug sinken, sie nickte mit dem Kopf und schloß die Augen hinter der Brille. Ja, die Kathrine und das Josephle, die standen so gut mit dem lieben Heiland, die Kathrine war doch eine wackere Tochter!

Als des Fuhrmanns Weib aufstand, um fortzugehen, weil ihr Gottlob heimkommen könnte, da sagte die Bärbel nichts vom Wasserholen und vom Milchforttragen, welche Verrichtungen sie heute der Tochter zugedacht gehabt hatte, sie besorgte beides selber mit flinken Füßen.

Einmal, mitten in der drängenden Arbeit, wollte dem Weib einer von des Kranken Wünschen zuviel werden. Schon hatte sie den Mund geöffnet zu unwilliger Abwehr, da fuhr es ihr schreckhaft durch den Kopf: Der Josephle könnte auch an seiner Bettwand ein verstecktes, kleines Kreuz in den Gips gegraben haben, für seine Nöten, für seine Schmerzen, und jetzt, jetzt würde er vielleicht mit zitterndem Finger darüber fahren, weil man ihn liegen ließ, hilflos und einsam.

An einem frühen Abend, als die Kühe im Stall ganz jämmerlich brüllten und hinter dem Häuschen am Berghang das Käuzchen seinen ersten Schrei tat, schlief der Alte ein. »Der Heiland ischt a guater Ma,« sagte er noch leise und kehrte sich zufrieden der Wand zu.

Man trug ihn hinaus an einem Samstagvormittag. Die Kathrine ließ es an Tränen nicht fehlen, aber ehe sie heimwärts schritt mit ihrem Gottlob, tröstete sie noch: »Mutter, jetzt kriagst's besser, sei no z'friede!«

Der Maurerphilipp drückte der Alten die Hände: »Webere, send froh, daß er erlöst ischt, er hot Euch g'nug plogt in g'sunde und kranke Tag, jetzt krieget Ihr's besser.«

Die Weiber aus dem nahm Ort, die hinter dem Sarg herschritten, die unbeholfenen Männer in ihren Hochzeitsröcken und ruppigen Zylinderhüten, die Frau Försterin und ihre Tochter – alle, alle schüttelten der Witwe die Hände und versicherten ihr, daß sie es jetzt besser kriege.

Die Bärbel nickte stumm mit dem grauen Kopf.

Am Abend fegte sie den Sand vom halbtrockenen Stubenboden. Sie machte Feuer und kochte Kaffee. Von der Sturzglocke über dem Perlenkranz, von Tisch und Bank wischte sie das letzte Stäubchen. Die Lampe brannte hell, die Stube war fertig für den Sonntag.

Das einsame Weib schaute um sich mit trübem Blick. Horch! rief da nicht der Josephle? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich an den Tisch. Langsam ließ sie die alten Augen durch die stille Stube gleiten. Dort die Umhängtasche an der Wand, die Tabakdose dort auf dem Ofenrand, der Hagebüchene drüben in der Ecke – – rief da nicht der Josephle? Die Bärbel stand auf, scheu, verstört. Weitauf tat sie die Kammertür, daß der Lampenschein hineinfiel auf ihr Bett. Die rotkarierte Decke schlug sie zurück, und sie starrte das Kreuzlein an, das Kreuzlein in der Gipswand, das allen Jammer ihrer vierzig Ehejahre kannte. Und auf einmal erschien ihr das Kreuzlein so klein und so winzig klein all der vergangene Jammer. Rief da nicht der Josephle? – Schluchzend neigte sie den alten Kopf auf die verkrümmten, müden Hände und weinte bitterlich.


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