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Silvesters Bekehrung

Als die Uhr im Speisesaale des vornehmen Stadtrestaurants fünf Minuten vor Neun zeigte, trank der Privatier Heubauer sein Glas aus, schob den Zahnstocher in die Westentasche und rief:

»Ludwig, zahlen!«

Der Ludwig, in tadellos weißgestärkter Hemdbrust, eilte herbei, notierte die Zeche, die heute auffallenderweise nur wenig mehr als drei Kronen betrug, und bemerkte dazu mit indiskret diskretem Lächeln:

»So zeitig schon, Herr von Heubauer? Gehen zu einer Silvesterfeier?«

»O nein,« erwiderte der Gefragte, während der Pikkolo, rot vor Anstrengung, den schweren Pelz hochhielt. »Im Gegenteil. Direkt z'Haus fahr' ich jetzt und leg' mich ins Bett. Das späte Schlafengehen tut meiner G'sundheit kein gut. Und euer Schlangenfraß, zu dem man viel trinken muß, daß man ihn überhaupt hinunterbringt, schon gar nicht. Sie können gleich für längere Zeit von mir Abschied nehmen, Ludwig. So bald werd'n S' mich nicht sehn im neuen Jahr. Vielleicht gar nimmer.«

»Aber Herr von Heubauer!« protestierte der Zahlkellner. »Das wird doch net Ihr Ernst sein?«

»Ja, es is mein Ernst. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»O weh, o weh ... Alsdann da erlaub' ich mir halt, ein glückseliges neues Jahr zu wünschen.«

»Dank' schön, wünsch' gleichfalls. Da hab'n S' Ihnern Fünfer, der Gulden g'hört dem Speisenträger und die Krone dem Buben. Empfehl' mich.«

»Danke ergebenst, habe die Ehre, Herr von Heubauer!«

Als Herr Heubauer zur Tür draußen war, lächelte der Ludwig ein wenig stärker als vorhin, der Speisenträger, sein Trinkgeld versorgend, blinzelte ihm pfiffig zu, und der Pikkolo grinste gar über das ganze Gesicht. Sie taten alle drei, als wäre ihnen der eben vernommene schwerwiegende Entschluß eines so treuen und freigebigen Stammgastes, wie der reiche Privatier Heubauer war, Wurst und egal. Oder – als glaubten sie nicht daran.

Jener aber schritt, ohne sich umzuwenden, aufrecht und gemessen über die Kärntnerstraße. Kaum daß er dem lebhaften Gewimmel abenteuernder Männlein und leichtfertiger Weiblein einen geringschätzigen Seitenblick schenkte. Die meinten offenbar, weil heute der letzte Tag des Jahres war, müßten sie sich besonders gründlich amüsieren. Da war Herr Heubauer ein anderer Mensch. Er hätte nicht nur denselben, er hätte sogar einen doppelten Anlaß gehabt, sich einen lustigen Abend zu gönnen: denn heute war ja sein – Namenstag, er hieß nach dem berühmten, heiliggesprochenen Papste Silvester. Aber es fiel ihm absolut nicht ein, heute zu »drahn«. Er fuhr jetzt sofort mit der Straßenbahn nach Hause, nach Mariahilf, in sein gemütliches Heim, wo seine Wirtschafterin, die gute Leni, mit dem Tee auf ihn wartete, und um zehn Uhr kroch er in die Federn. Und so wollte er's von nun an täglich halten. An Stelle des flotten, unverwüstlichen »Schwassers«, als der er berühmt oder berüchtigt war, sollte das neue Jahr einen gesetzten, soliden, sparsamen Mann sehen. Beinah' hätte er gedacht: »Ehemann«. Nun, wer weiß, das konnte vielleicht auch werden. Verdient hätte es die Leni, die brave Haut, längst um ihn ...

Er stand wartend auf dem Neuen Markt neben dem Straßenbahngleise, aber kein Motorwagen nahte. So setzte Herr Heubauer seine moralischen Betrachtungen fort. Ein Skandal war es wirklich, wie er's, der doch schon im Anfang der Vierziger stand, das letzte Jahr wieder getrieben hatte! Nicht zehnmal im ganzen war er vor zwölf Uhr in sein Bett gekommen, dafür aber so ziemlich jeden zweiten Tag erst in der Morgendämmerung oder auch gar nicht. Wie das nur die Nerven ruinierte! Und was es für ein Heidengeld kostete! Er »hatte« es zwar, dank seinem gottseligen Herrn Vater. Aber schließlich und endlich – –

»Rest ist's!« sagte Herr Heubauer zu sich. »Aus ist's! Von heut' an wird musterhaft gelebt. Anständig, sparsam und zurückgezogen. Das schwör' ich ...«

Im selben Augenblicke fühlte er sich am Arm gefaßt, und eine nicht unangenehme Stimme raunte ihm zu:

»Schwör' nicht!«

Betroffen fuhr Herr Heubauer herum und sah sich einer schlanken weiblichen Gestalt gegenüber, die ein halbdekolletiertes, lang herabfließendes Reformkleid aus schwarzer Seide mit eingewirkten silbernen Sternen und auf der hochblonden Botticelli-Frisur einen wagenradgroßen Plüschhut mit wallenden Federn und blitzenden Agraffen trug. Ärgerlich, auf so frivole Weise in seinen ernsten Meditationen gestört zu werden, brummte Herr Silvester:

»Lass' mich gefälligst in Ruh'! ... Was willst denn?«

»Dich vor einem Meineid bewahren,« sagte die Dame feierlich und schien es ganz in Ordnung zu finden, daß sie einander wie alte Bekannte duzten. »Meine Langmut hat ein Ende.«

»Deine – Langmut?«

»Ja! An zwanzig Silvesterabenden hast du schon gelobt, was du heute gelobst, hast du dieselben Vorsätze gefaßt, die du heute fassest: dein Lotterleben aufzugeben und dich zu bessern. Aber höchstens ein paar Tage lang, allerhöchstens bis Dreikönig hast du dein Versprechen gehalten, dann warst du stets wieder der gleiche Lump wie früher.«

Schau' einmal einer her, die kennt mich genau, dachte Silvester. Laut jedoch sagte er:

»Was geht denn das dich an?«

»Sehr viel!« antwortete die Dame streng. »Ich bin nämlich deine gute Fee.«

Herr Heubauer wollte grob werden, wollte lachen, wollte einen Witz reißen. Aber, weiß der Kuckuck, es war ihm doch nicht recht wohl zu Mute. Sein Gewissen drückte ihn arg.

»Und weil ich deine gute Fee bin,« fuhr jene fort, »so will ich noch einen einzigen Versuch mit dir machen, indem ich dir die unausbleiblichen Folgen deiner Charakterschwäche zeige.«

Sie strich ihm rasch mit der Hand über die Augen, so daß er momentan wie geblendet war. Als er wieder sehen konnte, da waren die Tramwayschienen, die Gaslaternen, Bogenlampen und vielstöckigen Häuser verschwunden, und sie befanden sich im Freien, auf einer schnurgeraden, endlosen Landstraße, auf der es von vielen bleichen, schattenhaften Wesen wimmelte, die alle, tiefgebückt oder kniend, bei rötlicher Fackelglut angestrengt arbeiteten.

»Was tun denn die?« fragte Silvester erstaunt.

»Sie pflastern!« antwortete die Fee.

»Da heraußt? Das wär' in der Stadt drin notwendiger. Was ist denn nachher das für eine bevorzugte Gegend?«

Statt einer Erwiderung wies die Fee mit ausgestrecktem Zeigefinger stumm nach oben. Herr Silvester Heubauer folgte mit den Augen und prallte zurück. Auf einer Tafel, die an einem Pflock befestigt war, stand in fußhohen, phosphorig leuchtenden Buchstaben: »Weg zur Hölle«.

»Ja,« nickte die Fee. »Das ist er. Und jetzt wirst du ja wahrscheinlich schon wissen, womit die armen Kerle dort pflastern.«

»Mit guten Vorsätzen,« entgegnete Silvester kleinlaut.

»Stimmt. Mit ihren eigenen, unausgeführten guten Vorsätzen. Dazu sind sie verdammt; es ist ihre gerechte Strafe. Ihnen ist es zu danken, daß die Straße zur Hölle immer so glatt und eben und gut gehalten ist, tausendmal besser als der gepflegteste Privatweg des reichsten Fürsten – von eurem städtischen Pflaster oder dem steilen, steinigen Weg in den Himmel gar nicht zu reden. Diese bequeme Bahn ist dazu da, von den Sündern, die ohne jegliche Scham und Reue in den Tag hinein sündigen, gratis und nach Belieben benützt zu werden. Jenen, die das Rechte wissen und billigen, aber niemals tun, die tausendmal Besserung versprechen, aber niemals üben, winkt natürlich das gleiche Ziel. Nur müssen sie eben auch noch den Weg dahin mühsam instand halten. So oft sie einen guten Vorsatz gefaßt haben, fällt ihnen, sie sagen es selber, ein Stein vom Herzen. Aber jeder dieser Steine fällt in die Hölle und wird dort sorgsam aufgehoben, und wenn dann die arme Seele sich vom Leibe trennt und nach unten fährt, so findet sie schon den ganzen Haufen aufgeschlichtet und muß ihn verarbeiten, verpflastern ... Und dieses Los, Silvester, steht auch dir bevor!«

Herr Heubauer wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Tritt näher,« sagte seine freundliche Begleiterin, »und schau dir die Gesellschaft an. Fast lauter sogenannte bessere Leute, denen niemand vorhergesagt hätte, daß sie als – Pflasterergehilfen enden würden. Der dicke Glatzköpfige zum Beispiel, er hat sich immer, besonders aber zum Jahreswechsel, vorgenommen, seiner Gattin treu zu bleiben, und hat sie doch bei erstbester Gelegenheit wieder frisch und munter betrogen. Das wird noch eine hübsche Weile dauern, bis er alle seine versteinerten guten Vorsätze in den Boden gefügt hat. Die hagere Frau neben ihm hingegen hat die Grundlosigkeit ihrer Eifersucht auf ihren sanften und braven Gemahl oft und oft erkannt, aber sie doch nicht abgelegt. Jener stattliche Herr war ein Abgeordneter, der täglich beabsichtigte, den Machthabern rücksichtslos die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, und es dennoch niemals tat. Der Athlet dort, der so wütend mit dem Schlegel aufhaut – ein Fleischhauer, er wollte sein Rindfleisch zu erschwinglichen Preisen abgeben, und verkaufte es nur immer noch teurer. Der Schwächliche, Gelbsüchtige wiederum, der den Schubkarren kaum heben kann, ist ein verstorbener Oberbeamter, der sich von Zeit zu Zeit vornahm, seine Untergebenen menschlich zu behandeln, aber sie stets ärger malträtierte und kujonierte; sein Nachbar, dem der Aufseherteufel gerade eins mit der Peitsche über den Rücken mißt, ein Subalterner, der während seiner fünfunddreißigjährigen Dienstzeit nicht einmal pünktlich ins Amt gekommen ist, obwohl er jedesmal beim Schlafengehen ernstlich dazu entschlossen war. Und siehst du endlich jene Schar, die so wacker und emsig, ohne aufzuschauen, stampft und hämmert und klopft? Lebemänner sind's wie du, meist Junggesellen wie du, alte Drahrer wie du, deren durstige Kehle und lüsterner Bauch stärker waren als ihr mahnendes Gewissen ... Willst du noch mehr erfahren, Silvester?«

»Nein, nein,« stöhnte Herr Silvester, »ich hab' wahrhaftig schon genug! Nichts mehr hören und sehen will ich! Man wird ja förmlich müd vom bloßen Zuschauen. Führ' mich fort von da!«

»Es sei!« sprach die Fee. »Hoffentlich beherzigst du die Lehre. Hoffentlich gibst du jetzt die dumme, öde Heuchelei mit deinen gut gemeinten und doch so bald wieder vergessenen Silvestervorsätzen auf. Hoffentlich kommst du zur Besinnung, ehe es zu spät ist.«

»Ich verspreche es!« rief Herr Silvester Heubauer mit Inbrunst.

Da fühlte er abermals die weiche Hand der gütigen Fee auf seinen Augen, und als er sie wieder öffnete, stand er in der Stadt auf dem Neuen Markte, und war allein; ein Motorwagen fuhr eben quietschend heran, bereit, den müden Wanderer aufzunehmen und rasch und sicher heimzubringen.

Aber Herr Heubauer stieg nicht ein, sondern blieb lange, lange regungslos in tiefen Gedanken, und ließ den Wagen davonfahren. Erst als das rote Deckungslicht verschwunden war, richtete er sich straff in die Höhe und hielt folgendes Selbstgespräch:

»Sie hat recht. Ich war wirklich bisher ein ganz gemeiner, miserabler Kerl. Ja, ein Heuchler war ich. Wozu denn sich einreden, daß man solid werden will, wenn man ohnehin im voraus weiß, daß man das gar nicht imstand ist? So was ist schlecht und dumm. Pfui Teufel! ... Gute Vorsätz' muß man entweder pünktlich ausführen oder – gar nicht fassen. Ja. Lieber gar nicht fassen. Das ist zehnmal vernünftiger. Und wird auch nicht so hart g'straft ... Ein Mann, ein Wort. Solche heuchlerische gute Vorsätz' fass' ich nicht mehr ... Aber ins Wirtshaus zurück mag ich heut' nimmer. Und in die anderen, in die feschen Lokale, is vor Zwölfe kein rechtes Leben. Schad', daß sie schon fort is, meine gute Fee; sie war ein ganz netter Käfer ... Ah was, ich werd' mir schon eine Unterhaltung finden, da is mir nicht bang ...!«

Und er drehte sich auf den, Absatz um und ging langsam gegen das Zentrum der Stadt zu.

Die wackere, treue Leni in Mariahilf aber wartete vergebens mit dem Abendtee auf ihren Herrn und wartete auch noch mit dem Morgenkaffee vergebens, so daß sie schließlich fürchtete, es sei ihm ein Unfall zugestoßen. Sie konnte ja nicht wissen, das einfache Wesen, daß Herr Silvester Heubauer seine gute Fee getroffen und, dank ihrer eindringlichen Warnung, mit seinem bisherigen verächtlichen und verderblichen Brauche der »Besserung vom Altenjahrstag bis Dreikönig« mannhaft gebrochen – kurz, daß er sich bekehrt hatte.


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