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Meine Gasse

Wie Herr Walter von der Vogelweide einst seinen erfüllten Herzenswunsch jubelnd hinausschmetterte: »Ich hab' ein Lehen! All die Welt, ich hab' ein Lehen!« – so kann ich begeistert rufen und schwärmen: »Eine Gasse hab' ich! Was, da schaut ihr halt – ich hab' eine Gasse!«

Solch ein Schicksalswechsel ist überwältigend. Vor kurzer Zeit, noch besaß ich nicht das kleinste Haus» ja, nicht einmal eine Wohnung mit einem Badezimmer, und jetzt ist eine ganze Gasse mein. Genau genommen ist's noch mehr, ist's sogar eine Straße. Aber ich will mich nicht dem Vorwurf der Protzerei aussetzen und darum lieber bei der allgemeineren Bezeichnung Gasse bleiben. Gleichviel, wie breit und lang sie ist oder wird.

Also – ich hab' eine Gasse. Natürlich nur im übertragenen, idealen Sinn. Sie gehört mir, ist mir sogar öffentlich und für immer zugesprochen worden, aber ich kann sie weder verkaufen, noch verpachten, noch belehnen und habe auch an ihrem gegenwärtigen und künftigen Zinserträgnis nicht den geringsten Anteil. So steht die Sache. Stünde sie anders – glauben Sie, Verehrteste, daß ich dann noch weiterhin am Schreibtisch hockte, um mir zu Ihrem mehr oder minder großen Vergnügen die Finger krampfig zu schreiben? Nein, das glauben Sie selber nicht ...

Jedoch eine neue Wiener Straße führt meinen Namen: die Guntherstraße.

Als ich mit der wunderbaren Neuigkeit, der hohe Stadtrat habe beschlossen, eine der Straßen auf den zur Verbauung gelangenden Schmelzgründen nach mir zu benennen, eines Abends in mein Stammgasthaus kam und unter Berufung auf das ehrenvolle Geschehnis die Glückwünsche meiner Freunde entgegennehmen wollte, siehe, da suchten sie zuerst ihren blassen Neid unter schlechten Witzen und boshaften Stichelreden zu verbergen.

»Haltst du uns oder haltst dich selber für ein' Narr'n?« fragte einer.

»Mir scheint, jetzten bist richtig total übergeschnappt,« meinte ein Zweiter.

»Eine Gassen auf der Schmelz werd'n s' dir net geb'n, aber ein' eigenen Pavillon vielleicht auf'm Steinhof,« ergänzte gar ein Dritter.

Der Vierte aber, mein allerbester Freund, stand auf, winkte den anderen energisch, sie sollten doch endlich still sein, und richtete an mich die ernste Frage:

»Was zahlst denn, wann mir dir's glauben, daß die Guntherstraßen nach dir 'tauft is word'n? Was zahlst denn alsdann, daß nur die Tauf' anständig feiern können?«

Wennschon ein bißchen peinlich berührt, antwortete ich doch nach sekundenlangem Überlegen großartig:

»No, was 's halt wollt's! Was 's halt trinkt's!«

Nun hätte man sehen sollen, wie die Stimmung sofort zu meinen Gunsten umschlug! Der »Zöbinger«, den ich in Strömen fließen ließ, schwemmte jegliche Spott- und Nörgellust hinweg. Und als ich später gar noch etliche Liter Gumpoldskirchner Neunzehnhundertelfer aufzutragen befahl, da gratulierten mir alle aufs herzlichste und ließen mich einmütig und unzählige Male hoch leben. Und nachdem ich noch im Kaffeehaus ein paar »Frackerln« gezahlt hatte, stieß der Vorschlag, die ganze Gesellschaft möge sofort nach der Schmelz aufbrechen, um die Guntherstraße zu besichtigen, zu begutachten und mit einem Ständchen einzuweihen, auf keinen vernünftigen Einwand mehr. Leider scheiterte er an einem äußeren Hindernisse: Die letzte Straßenbahn war schon versäumt, zur ersten war es noch nicht »früh« genug, und auf ihre Beine mochten sich die Schwächeren unter uns nicht recht verlassen. So gingen wir wohl oder übel schlafen, ohne miteinander in meiner Gasse gewesen zu sein ...

Aber am nächsten Vormittag war ich mit etwas schwerem Kopf und etwas leichtem Beutel auf dem Wege dahin.

Die Schmelz, das riesige ehemalige Exerzierfeld, wie sah sie aus!

Unfertige, halbfertige und ganzfertige, einzig noch der Trockenwohner harrende Häuser, Häuserkolosse, die vorläufig noch einsam-stolz gegen Himmel ragen wie Herrenschlösser, und hundert Meter von ihnen Häusergruppen, so knapp und hart geschachtelt, als gebräche es ihnen selbst hier schon wieder an Raum; Baugerüste, die eilfertig gezimmert, und Gerüste, die noch eiliger hinweggeräumt werden, weite Kellergruben, auf deren Grunde, nur aus nächster Nähe sichtbar werdend, Menschen und Pferde wie in Bergwerken wühlen und karren, und hoch oben in den Lüften schwebende Dachskelette, an denen waghalsig schon die Schieferdecker kleben; rauchende Teerkessel, knirschende Dampfwalzen, ächzende Wasserpumpen, Barrikaden von Pflasterwürfeln und Gasrohren und Gaskandelabern, Haufen von Schotter und Sand, Berge von Brettern und Pfosten, quer über den Weg oft dicke Taue und noch dickere Eisenstangen, graubraune Lehmtümpel und schneeweiße Kalkteiche, Hütten voll Krampen und Schaufeln und Hütten voll Schnaps, Flaschenbier, Brot und Wurst; Tausende fleißiger Arbeiter, die sich's sauer werden lassen, und zwischen ihnen umherwandelnd Männer in modischer Kleidung, deren Abzeichen die Aktentasche und der Rechenstift, andere, deren Werkzeug die Wasserwage, und noch andere, deren Symbol nur die schwergoldene Uhrkette und die oft gezogene bauchige Brieftasche ist – ein kaleidoskopbuntes, ameisenwimmelndes, verwirrendes Bild, das an amerikanische Städtegründungen, an kalifornische Goldgräberniederlassungen erinnert ...

Aber zur Guntherstraße, zu meiner Gasse! ... Das rege Geschäftsleben, das zweifellos bald in ihr blühen wird, markieren vorläufig nur eine Milchhalle und ein Friseurladen – Verzeihung! – ein »Salon für moderne Haar- und Bartpflege«. Ich möchte den guten Leutchen gern etwas zu verdienen geben. Aber Milch kann ich jetzt beim besten Willen nicht trinken. So lass' ich mir wenigstens die Haare schneiden, zum erstenmal in meiner Gasse.

»Also Guntherstraße wird's hier heißen,« werf' ich mit gut gespielter Gelassenheit hin, während der köstlich pomadisierte Jüngling mein Haupt mit Kamm und Schere behandelt. »Wissen Sie auch, nach welcher Persönlichkeit?«

Und er darauf ohne Säumen, ohne Verlegenheit, ohne Scham erröten:

»Nach einem ehemaligen Bezirksausschuß, bitte, hab' ich gehört, nach einem sehr verdienstvollen Bezirksrat, ja ...«

Ich schauderte. Und dann klärte ich ihn milde über seinen Irrtum auf. Er sah mich sinnend an, nickte gedankenvoll und fragte liebenswürdig:

»Darf ich im Genick ausrasieren, bitte?«

Diese Unwissenheit, diese Teilnahmslosigkeit, die mir bewiesen, wie sehr unsere Volksbildung noch im Argen liegt, hatten mich, ich gesteh' es frei, ziemlich verstimmt, mir beinah' die Freude an meiner Gasse verdorben. Gunther – ein Bezirksausschuß von Fünfhaus! Da möchte man doch wirklich an allem menschlichen Fortschritt verzweifeln! ...

Am Nachmittag ging ich nicht in meine Gasse, sondern blieb daheim. Nach dem Abendessen aber vermochte ich der Begierde, meine Gasse auch bei Nacht zu sehen, nicht zu widerstehen. Ich nahm, allem Kopfschütteln meiner Frau zum Trotz, Hut und Überrock und eilte nach der Guntherstraße. Es war recht dunkel und einsam dort, der Molkereiproduktenverschleiß und der Bartpflegesalon waren bereits geschlossen, die Fenster der unbewohnten Stockwerke gähnten in stumpfem Schwarz, das Leben und Licht der nahen Gablenzgasse drangen nur wie von fern und wie durch einen Schleier zu mir herüber. Das bedrückte mich so, daß ich mich bald heimwärts wendete. Das verdichtete sich in mir allmählich zu einem höchst unbehaglichen, dem moralischen Katzenjammer ähnlichen Gefühl. Die wenigen Passanten, die ich begegnete, waren auch keineswegs so vertrauenerweckend, daß ich mich an ihrem Anblick wieder aufgerichtet hätte: Schlichte Volksfiguren – aus jenen Volkskreisen, wo die Schlichtheit schon zur Zerlumptheit wird. Und die letzten hohen Pappeln des im Zustande der »Auflassung« befindlichen Schmelzer Friedhofes, die sich wie gespenstische Riesen matt und verschwommen vom nächtlichen Himmel abhoben, trugen auch nicht bei, mich aufzumuntern und zu erheitern.

Und plötzlich, weiß der Kuckuck, wie es kam, plötzlich stand eine Gestalt gekränkt und drohend vor meinem Auge, die einen Panzer trug und ein breites Schwert an der Seite, einen wallenden Mantel um die Schultern und auf dem Haupte eine Krone. Die fing mittelhochdeutsch mit mir zu reden an.

Ob ich denn behaupten wolle, fragte sie mich, daß ich sie nicht kenne? Oder daß ich mich nicht mehr erinnere an sie – an den Vogt von Rîne, den König der Burgunden, Kriemhildens Bruder, Brünhildens Gemahl? Lange schon, sagte die Gestalt, habe sie gehofft und geharrt, daß der Wiener Stadtrat eine Gasse nach ihr benennen werde. Und jetzt, weil es endlich, endlich so weit sei, unterstehe sich so ein nichtiges modernes Zwerglein – damit meinte sie mich –, ihr die ihr zugedachte Ehre zu rauben, sich unverfroren an ihre Stelle zu drängen?

Während ich mich anstrengte, entweder eine passende, schlagkräftige Entgegnung zu finden oder das Phantom zu verscheuchen, stolperte ich über etwas, das zwischen einem Bretter- und einem Sandhaufen hervorragte und in dem ich zu meinem Schreck ein mit einem geplatzten Schnürschuh bekleidetes menschliches Bein erkannte. Sofort war der Geist verschwunden, dafür aber sprang ein durchaus irdisches, ganz unverkennbar nach Kümmel mit Korn und echten Dramazigaretten duftendes Wesen vom Boden auf und brüllte mich an:

»Machen S' g'fälligst Ihnere Glurn auf, Sö, Sö, Sö ... dertreten tat' s' an' in' Schlaf, dö Bagaschi, dö!«

Und dabei griff der Mann, der nach Aussehen und Gebaren nur zu den Mitgliedern einer besseren »Platte« gerechnet werden konnte, rasch hinter sich und brachte eine derbe, fürs Dreinschlagen vorzüglich geeignete Latte zum Vorschein. Hilferufe hätten nichts genützt, so lief ich unverzüglich davon.

Der aus seiner Ruhe Aufgestörte aber schrie entrüstet und rachgierig hinter mir her:

»Nimm nur deine Haxen unter d' Irxen, du g'fehlter Spitalbruader, du lausg'schert's Gigerl, du! I derwisch di do no amal, windverdrahter Pfisterer, du kummst scho' wieder amal in mei' Gassen

Ja, »mei' Gassen« hatte der Mann gerufen, buchstäblich, ich hatte genau gehört. Was sagst du nun dazu, neidiger Nibelungenkönig? Nicht meine, nicht deine, sondern seine – des Pülchers Gasse! Wollen wir sie ihm gemeinsam streitig machen? Oder wollen wir sie ihm lieber gutwillig überlassen, die Guntherstraße? Ein gewisses angestammtes Recht hat er ja darauf, vorläufig wenigstens – das ist unmöglich abzuleugnen.


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