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Der Aufrichtige

Nachdem er meine dringende Einladung, mich doch auch einmal in Wien zu besuchen und mir so Gelegenheit zu geben, ihm seine eigene, wiederholt bewiesene Gastfreundschaft zu vergelten, zehnmal dankend abgelehnt hatte, nahm er sie endlich an – mein Freund Matthias. Er habe keine Lust, die Reichshauptstadt, die er längst nicht mehr gesehen, wieder zu betreten, sagte er, und er fühle sich am wohlsten auf seiner weltentlegenen, halmumrauschten, waldumgürteten Besitzung, sagte er, und dorthin passe er auch entschieden am besten, sagte er. Aber zum Schlusse siegte meine Überredungskunst. Und nun genoß ich die ersehnte Freude, ihn für etliche Tage bei mir zu haben, ihm die Größe, den Glanz und das Treiben meiner so mächtig aufstrebenden Vaterstadt zeigen zu können.

Er war merkwürdigerweise nicht so überwältigt davon, wie ich erwartet hatte. Im Gegenteil, er schien sich nicht recht wohl zu fühlen in Wien, er anerkannte, staunte und bewunderte mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung, und manchmal, wenn ich seine Mienen heimlich beobachtete, glaubte ich in ihnen deutlich den Wunsch zu lesen: »Wann ich nur schon wieder draußen wär' ...«

Als wir die sehenswertesten Gebäude, Sammlungen und öffentlichen Einrichtungen besichtigt hatten, beschloß ich, ihn ins gesellschaftliche Leben der Residenz einzuführen.

»Heut' nachmittags gehen wir einmal zum Jour des Herrn Kommerzialrates v. Haltgut,« sagte ich zu ihm. »Dort wirst du höchst bedeutende, sonst unnahbare Persönlichkeiten kennen lernen.«

Mein Freund Matthias antwortete nicht Ja und nicht Nein. Aber am Nachmittag zog er doch seinen besten und neuesten dunklen Rock an – was ein Smoking sei, behauptete er nicht zu wissen – und folgte mir ins vornehme Haltgutsche Haus. Seine Vorstellung konnte vorläufig nur ganz kurz und flüchtig sein, denn soeben hielt einer unserer berühmtesten jüngeren bildenden Künstler einen Vortrag über Malerei, und den durfte man natürlich nicht unterbrechen.

»Das liebe Publikum muß eben erzogen werden,« führte er gerade unter allgemeiner Spannung und ehrfürchtiger Stille aus, »unablässig und immer wieder von neuem erzogen, wenn's sein muß, mit Gewalt erzogen. Für mich gibt es nichts Trägeres, Verständnisloseres, Widerhaarigeres als das liebe Publikum. Wenn das Publikum über eine moderne Kunstleistung schimpft, werd' ich stutzig, wenn es darüber spottet, dann schwör' ich schon, daß es sich um ein unübertreffliches Meisterwerk handelt. Willst du einen Künstler wirklich verstehen, sag' ich stets, dann mußt du eben lernen, das von ihm Geschaffene nicht mit deinen, nein, mit seinen Augen zu betrachten. Hab' ich recht oder nicht?«

Alle, Damen und Herren, neigten zu selbstverständlicher Zustimmung den Kopf. Ein einziger schüttelte ihn energisch – mein Freund Matthias. Und als man ihn verwundert anblickte, da tat er gar den Mund auf und sprach:

»Ich verlass' mich mein Lebtag nicht auf fremde Augen, geehrter Herr, sondern allerweil' nur auf die eigenen. Und wann denen etwas absolut nicht gefällt, na, dann lass' ich mir auch von keinem Menschen einreden, daß es ihnen gefallen muß.«

Die ganze Gesellschaft lächelte verlegen. Der große Künstler und Kunsttheoretiker schien mit offenem Munde eine Sekunde zu überlegen, ob er meinen Freund einer Erwiderung würdigen solle. Bald jedoch hatte er seinen Entschluß gefaßt und führte ihn aus, indem er, ehe er seinen lichtvollen Vortrag fortsetzte, seinem Körper und seinem Stuhle eine solche Wendung gab, daß er meinen Freund Matthias nicht mehr sah. Dann erst ließ er den Quell seiner tiefen Weisheit weitersprudeln.

Ich saß wie auf Nadeln, denn ich fürchtete, mein Freund werde den Gewaltigen bald durch neuerlichen Widerspruch stören und reizen. Allein der sagte nichts mehr, bis ein neues Thema angeschlagen war, das niemand so herrlich meisterte wie jener angebetete Professor der Gynäkologie und Geburtshilfe, der seit ein paar Monaten in Wien und heilt' erst zum zweitenmal im Haltgutschen Haus weilte.

»Fortschritt und Humanität«, dozierte dieser gütig mit seiner klangvoll weichen Stimme und streichelte dabei zärtlich seinen stadtbekannten langen und breiten Vollbart, »diese beiden im Verein werden das menschliche Leid, das menschliche Elend besiegen. Denken Sie zum Beispiel nur daran, meine Verehrtesten, um wie viel Prozent wir in den letzten Jahrzehnten die Säuglingssterblichkeit herabgedrückt haben! Was früher für nicht lebensfähig gehalten wurde und, kaum die schöne Welt begrüßend, schon wieder von ihr Abschied nehmen mußte, das wird jetzt gerettet, mit ungemeiner Sorgfalt betreut, mit den subtilsten, raffiniertesten Mitteln herangezogen. Ist das nicht ein beglückendes Bewußtsein?«

Ganz zufällig wohl blickte der Herr Professor, der erst später gekommen war, bei diesen Worten gerade meinen Freund Matthias an. Der aber faßte – man kann sich beiläufig denken, wie ich erschrak! – die rhetorische Frage als eine ernstgemeinte auf und beantwortete sie folgendermaßen:

»Nein. Für mich nicht. Im Gegenteil, mir graust davor, wie unsere Rasse in hundert oder zweihundert Jahren ausschauen wird. Anstatt daß man für die Erhaltung und Züchtung der Gesunden und Starken sorgt, verhätschelt man ausschließlich die Schwächlinge. Und je schwindsüchtiger so ein trauriges Lebensflämmchen ist, desto kostbarer die Glasglocke, unter die man's stellt – damit es nur ja kein rauher Luftzug trifft, damit es um Gotteswillen wenigstens nicht früher auslischt, als bis es sich vermehrt, ein paar neue, natürlich noch elender flackernde und glimmende Fünkchen entzündet hat!«

Der Professor hustete hochmütig, runzelte die Brauen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Eine Dame murmelte: »Barbar!«, eine andere »Gemütsroheit!«, eine dritte: »Finsterstes Mittelalter!« Ich wurde abwechselnd blaß und rot und stieß meinen Freund in die Seite: »Gehen wir!« Jedoch der blieb ruhig sitzen. Und erklärte eine Viertelstunde später, als der wertvollste der Geschäftsfreunde des Herrn Kommerzialrates die mächtige Entwicklung der Industrie begeistert pries, seelenruhig und ungescheut, Industrie sei schon recht, aber nur dann, wenn sie, anstatt den Ackerbau zu mißachten, zu schädigen und zu mindern, diesen nach Kräften fördere, als ihre Grundlage, ohne die sie gar nicht bestehen könnte; denn noch tausendmal wichtiger als die Vervollkommnung der Kraftwagen und Flugzeuge sei für die Menschheit das Gedeihen von Gemüse und Getreide ... Man kann sich vorstellen, wie sehr sich der Herr Kommerzialrat, der selbst an einer Aktiengesellschaft für Automobil- und Aeroplanbau hervorragend beteiligt ist, darüber – freute ...

Auf dem Heimwege sprachen wir ziemlich wenig miteinander. Zu Hause aber sagte ich zu meinem Freund Matthias so sanft, wie es mir in meiner Gemütsverfassung möglich war:

»Warum hast du denn eigentlich heute allen Leuten immerfort widersprochen?«

Er erwiderte mit einer Gegenfrage:

»War das vielleicht nicht wahr, was ich gesagt hab'?«

»Aber darauf kommt es doch in diesem Falle gar nicht an,« belehrte ich ihn. »Auf einem Jour widerspricht man doch nicht in solcher Weise wie du. Die Herrschaften erwarten natürlich von ihren Gästen entweder Zustimmung oder wenigstens – Schweigen.«

»Wann jemand Unsinn schwätzt, kann ich nicht zustimmen, dazu bin ich halt zu aufrichtig,« entgegnete mein Freund. »Aber wann einer was sagt, womit er recht hat, dann werd' ich gewiß der Erste sein, der ihm recht gibt. Darauf kannst du Gift nehmen. Das hoff' ich dir noch zu beweisen.«

Und damit stieg er ins Bett und war in wenigen Minuten eingeschlafen.

Andern Tags gingen wir wieder zu einem Jour, der aber nur »Jause« hieß, wie es dem gutbürgerlichen Hause des Herrn Privatiers Millermeier entsprach. Außer diesem, der Hausfrau, ihren Kindern und einer Schwester des Hausherrn waren nur ein paar einfache Leute anwesend. Hier mußte sich mein Freund Matthias bedeutend wohler fühlen. Und das tat er auch offenbar, obgleich ihm die »Tante«, ein sehr bewegliches und gesprächiges Fräulein mit auffallend roten Wangen und fast noch röterer Nase, vielleicht ein wenig an die Nerven ging. Doch er hörte allem, was sie plauderte, geduldig zu – bis sie kokett die Rede auf ihr Alter brachte:

»Ach Gott, wie schnell die Jahre verrinnen! Wenn man, wie ich, schon bald das vierte Jahrzehnt hinter sich hat!«

»Fräulein scherzen wohl,« mengte sich hier ein Herr ein, von dem ich gehört hatte, daß er Reserveoffizier sei, und der an der Seite seiner rechtmäßigen Braut saß.

»Ja, ja, es ist so, mein Wort!« lächelte das Tantchen elegisch.

Aber der Herr Reserveoffizier behauptete, das sei doch absolut nicht möglich, und dieser und jene in der Gesellschaft schlossen sich ihm an.

Da sprach mein Freund Matthias ernst und würdig:

»Ich für meine Person glaube dem Fräulein. Es hätte gar nicht erst ihres Wortes bedurft. Auf vierzig habe ich sie gleich geschätzt.«

Die Tante schnitt begreiflicherweise ein essigsaures Gesicht. Die Hausfrau aber, die ihrer Schwägerin nicht sonderlich zugetan schien, lachte herzlich heraus. Lachte so lange, bis die Faschingskrapfen auf den Tisch kamen. Da sagte sie bedauernd:

»Ich hab' sie selbst gemacht, die Krapfen. Aber zu Hause gelingen sie halt leider selten so wie beim Zuckerbäcker. Sie haben kein schönes Randerl und sind auch nicht recht flaumig. Schauen Sie einmal, versuchen Sie einmal, Herr Matthias!«

Während die anderen in die Schüssel langten und dann, mit vollen Backen kauend, begeisterte Lobsprüche anstimmten, betrachtete mein Freund Matthias seinen Faschingskrapfen erst aufmerksam rundum, brach ihn hierauf in zwei Teile, kostete von einem und nickte:

»Es stimmt, gnädige Frau. Der Zuckerbäcker trifft es besser. Sie haben durchaus recht ...«

Nun war die Reihe, zu lachen, an dem Herrn Privatier Millermeier. Aber auch ihm verging die Heiterkeit bald. Der jüngste seiner Söhne geriet mit dem mittleren in einen Streit, in den sich der älteste mengte, und schließlich blieb nichts übrig, als alle drei vom Tische zu verweisen. Als sie draußen waren, seufzte Herr Millermeier:

»Ich bin viel zu nachsichtig mit den Rangen. Ich sollt' ihnen nicht so viel erlauben. Ich bin zu wenig streng als Vater!«

Da ergriff mein Freund Matthias seine Hand und drückte sie und sprach mit Wärme:

»Kein vernünftiger Mann kann Ihnen Unrecht geben, Herr Millermeier! Wie Sie jetzt sprechen, so denk' ich schon seit einer Stunde. Meine aufrichtigste Zustimmung, lieber, verehrter Herr Millermeier!« – – –

Also diesesmal war mein Freund Matthias nicht in seinen Fehler von gestern verfallen. Diesmal hatte er niemandem widersprochen. Er strahlte förmlich vor innerer Befriedigung. Ich brachte es nicht übers Herz und über die Lippen, ihn abermals kräftig zu tadeln. Aber die Lobsprüche, auf die er augenscheinlich rechnete, erwartete er ebenfalls vergeblich von mir.

Das verstimmte ihn. Vierundzwanzig Stunden später fuhr er, ohne nochmals mit mir einen »Jour« oder eine »Jause« besucht zu haben, heimwärts.

Ich begleitete ihn zur Bahn. Sein Abschiedsgruß klang laut und froh, der meinige ein bißchen kühl. Sobald ich wieder das Bedürfnis habe, ihn zu sehen, werde ich mich doch lieber von ihm einladen lassen. Auf seiner ländlich einsamen Besitzung wirkt sein biederes, offenes Wesen ganz unzweifelhaft stilvoller, harmonischer, erquickender als bei uns in Wien.


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