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Wintersport

Lange genug hatte Herr Lorenz Surrm, Fleischhauer und Hausbesitzer in Matzleinsdorf, bei seinem hartnäckigen Bestreben, auch die Sonntagsnachmittage fern von der teuren Gattin im gemütlichen Stammkaffeehause tarockierend und billardspielend zu verbringen, an dem abnormen »Winter«-Wetter einen gefälligen Helfershelfer gehabt. Wie oft ihn auch Frau Amalia Surrm unter Hinweis darauf, daß sie »unter der Wochen eh' kan' Mann« habe, zu einer gemeinsamen sonntägigen Spritzfahrt, einem genußreichen Ausfluge zu Zweit überreden wollte, immer verschanzte er sich hinter die abscheulichen, gesundheitsschädlichen Witterungsverhältnisse, die die Stadt, die geschützten Behausungen zu verlassen, einfach verboten.

Endlich aber gab er doch seine Besuchskarte ab, der kaum mehr erwartete, schier schon verschollene, wirkliche Winter mit Frost und Schnee. Und ein Sonntag kam, glitzernd und schimmernd wie ein unmittelbarer Abgesandter aus der Eiskönigin Kristallpalast: Keine Spur mehr von Finsternis und Nebelruß, dafür ein stahlblankes Firmament, märchenschön überzuckerte Bäume und schwanenweiß überpelzte Dächer.

»Alsdann heunt' wirst do ka' Ausred' net mehr hab'n,« sagte Frau Surrm scheinbar gleichmütig, aber fürchterlich bestimmt. »Alsdann heunt' fahr'n m'r mitsamm' nach Klosterneuburg. Alsdann i wer' das Essen so zeiti' wia mögli' richten. Alsdann um Ans sechsafufz'g geht der Zug!«

Herr Lorenz Surrm verwünschte innerlich die Institution der unlösbaren katholischen Ehe kräftiger, als er's seit dreißig Jahren getan. Das blieb ihm unverwehrt. Nur half es ihm leider nichts.

Um zwei Uhr vierzig Minuten lief der von Frau Amalia Surrm so präzis bezeichnete Stadtbahnzug im Bahnhofe Klosterneuburg-Weidling ein. Und richtig entstieg ihm unter vielen anderen Wiener Ausflüglern auch das Ehepaar Surrm. Allein es unterschied sich schon auf hundert Schritte beträchtlich von der übrigen Menge froh erregter Männer und Frauen, Jünglinge und Fräulein, die sich nach Kräften winterlich oder gar wintersportlich ausgerüstet hatten mit dicksohligen Nagelschuhen, Wadenstutzen, Lodenröcken, gerafften Lodenkleidern und hirschbartgeschmückten Lodenhüten, Sweaters und Schneehauben. Frau Amalia Surrm prunkte mit Paradiesvogelhut und langer Sealskinjacke, Herrn Lorenz Surrm kennzeichneten Stadtpelz und achtfach spiegelnder Zylinderhut auch hier als »besseren« Menschen. Die Sonne war wieder hinter dichten grauen Wolken verschwunden, dafür aber fing es prächtig zu schneien an, erst in feinen Stäubchen, dann in immer größeren Flocken und Sternen, die sich rücksichtslos in wimmelndem Gedränge auf Sealskin und Biber, Paradiesfedern und Zylinder niederließen.

»Alsdann geh'n m'r glei' in Stiftskeller jausnen«, schlug Herr Surrm mistlaunig vor.

»Freili' was denn!« lehnte jedoch seine Gemahlin ab. »Bin i dir 'leicht scho' z'wider? Zum Spazier'ngeh'n bin i außer g'fahr'n, verstehst!«

Herr Surrm schwieg und fügte sich und stapfte lustlos voraus. An der Pionierkaserne und dem Kaiserdenkmal vorüber kamen sie an den Abhang des Buchberges. Dort, am Eingange der schmalen Buchberggasse stand eine neuerrichtete, aus Balken, Brettern und Schindeln malerisch gefügte Schweizer-Hütte, deren Plakataufschriften: »Heiße Würsteln!« – »Heißer Tee!« jedoch Herrn Surrm nicht reizten. Aber als er achtlos an ihr vorbei wollte, trat ihm ein stämmiger Eingeborener mit blauroter Nase und weißgrünem Klubabzeichen entgegen:

»Oha! Da dürfen S' net auffi!«

»Z'weg'n was denn net?« versetzte Surrm unwirsch.

»Weil's nämli' verboten is.«

»Warum is's verboten?«

»Weil's g'fährli' is.«

»Plauschen S' net! Lassen S' Ihner net auslachen!« sagte Surrm und schob den Mann beiseite. »Mir werd'n Sö nix verbiaten. I geh' mei' Lebta', wo i wüll.«

Der Weghüter schien einen Augenblick unschlüssig, ob er Beistand herbeirufen solle. Dann aber trat er mit Achselzucken und einem gewissen boshaften Schmunzeln ab.

»Hast alsdann scho' amal so was g'hört?« wendete sich Surrm zurück an die Gattin. »An' öffentlichen Weg möchten s' abspirr'n, dö g'scherten Dickschädeln, dö. Aber da kummt aner bei mir an 'n Unrechten. Da kennt mi' dö Bagaschi schlecht. So was frißt er net, der Surrm –«

»Ach – tung!« ertönte da plötzlich ein lauter Ruf, von einem schrillen Pfiffe begleitet. Herr Surrm fuhr jäh herum, wollte einen Satz machen, aber schon war's zu spät. Im nächsten Augenblick fühlte er einen harten Stoß an seinen pelzverwahrten Beinen, und im zweitnächsten saß er verwirrt und barhäuptig im Schnee, der jedoch weit weniger weich und nachgiebig war, als man vermuten hätte sollen: Ein Rodelschlitten war den Abhang herabgesaust und hatte Herrn Lorenz Surrm »umg'schieb'n«, wie die wohlgezielte Kegelkugel den Kegelkönig »umscheibt«. Halb betäubt rappelte sich Surrm vom Boden auf und suchte vor allem seinen kostbaren Zylinder. Als er ihn aber gefunden hatte, da fing er gottslästerlich zu fluchen an. Doch siehe, darin waren ihm die Insassen der Rodel, zwei baumstarke, wie Nordpolfahrer vermummte Kerle, noch bedeutend über.

Ob er nicht aufpassen, ob er nicht Augen und Ohren aufmachen könne? brüllten sie ihn an. Ob er nicht gelesen und gehört habe, daß hier kein Fußsteig, sondern die Rodelbahn sei? Und ob er nicht schleunigst trachten wolle, zu verschwinden, zu verduften, sich zu »verziag'n«?

Dem besänftigenden Einflusse der Frau Amalia Surrm, die mit dem bloßen Schrecken davongekommen war und, gerechtigkeitsliebend, wie Ehefrauen unter Umständen sind, ihrem Herrn Gemahl die ungeteilte Schuld an dem Unfälle beimaß, gelang es endlich, Herrn Surrm zum Verstummen und zum Verlassen der Sportbahn zu bringen.

Sie gingen rechtsab, an dem wunderschönen Friedhofsportale vorbei und die Friedhofsmauer entlang. Herr Surrm stampfte brummend voran, Frau Surrm keuchend hinterdrein. Auf einmal aber sagte sie, nach links weisend, wo die große Hauptkurve der Rodelbahn, von einer dichten Zuschauermenge umringt, vor ihnen lag:

»Zuaschau'n sollt' ma' do amal bei derer Fahrerei. Daß ma' a bisl a Idee davo' kriagt!«

»Von mir aus, i red' scho' gar nix mehr«, entgegnete der äußerlich unbeschädigte, tief innen aber schwer gekränkte Herr Surrm.

Bald standen sie also beide gesichert und geschützt auf dem erhöhten Grabenrain und musterten die Männlein und Weiblein, die entweder allein oder, weit öfter, zu Zweit auf schlanken Rodelschlitten jubelnd und jauchzend und kreischend blitzschnell zu Tale sausten, um darauf fast eine halbe Stunde lang als Zugmenschen unverdrossen wieder bergan zu klettern. Und wenn einer von den Rodelnden in besonders kühnem Schwunge vorüberglitt oder die Gefahr einer Entgleisung, eines Zusammenstoßes den unbeteiligten Zuschauern besonders drohend schien, dann grollte Herr Surrm:

»Dös soll nacher ah a Vergnügen sein? Wann ma' alle Sekunden seine g'raden Glieder reskiert? Zu hirnverbrennt is dös! Wann si' da aner glei' 's G'nack a'stößt – i hätt' ka' Mitleid! Lachen tat' i no' – meiner Seel', von Herzen lachet' i!«

Und wenn eine Rodelnde sichtbar wurde, die ihren Lenker besonders inbrünstig umklammert hielt oder die ein besonders schickes Sportkostüm trug, so seufzte elegisch Frau Surrm:

»Dös is aber do' schon der Welt ungleich, was si' heuntigtstags die Frauenzimmer all's derlaub'n! Schau, wia verruckt dö Rotschädlete dorten wieder anzog'n is! Ma' waß faktisch nimmer, is's a Mandl oder a Weibl. Zu meiner Zeit hätt' ma' si' net aus'm Haus – net über d' Gassen hätt' ma' si' 'traut in so an' Aufzug!«

Und auf diesen Ton blieb die Unterhaltung des Ehepaares Surrm gestimmt, eine Einigkeit und Übereinstimmung zwischen den Gatten herstellend, die sonst gerade nicht häufig war. Über die Keckheit, Unanständigkeit, Schamlosigkeit des weiblichen Sportbenehmens und der weiblichen Sportkleidung entrüstete sich auch später noch, auf dem abendlichen Wege zur Bahn, Frau Amalia Surrm; Herr Lorenz Surrm wiederum verurteilte dies nicht einmal so streng wie die frevlerische Lebensgefährlichkeit des Wintersports ...

Der Zug, den sie zur Heimfahrt bestiegen, kam von weit her und war stark besetzt. Sie mußten sich, um bequemere Plätze zu finden, von einander trennen. In einem dampfenden Raucherabteil eroberte Herr Surrm, in einem Abteil für Nichtraucher Frau Surrm noch einen Sitzplatz. Und kaum saßen sie, da erkannte ein jedes von beiden in der Bankgenossenschaft, in deren Mitte es sich eingezwängt hatte, liebe, gute Bekannte, mit denen man seit längerer Zeit nicht mehr zusammengekommen war. Aus lauter Männern bestand die Gesellschaft, die Herr Surrm getroffen hatte, zum größeren Teile aus Frauen und Mädchen die der Frau Surrm. Aber diese wie jene trugen stilgerechte Wintersportkostüme und kamen, wie sich bald herausstellte, von Wintersportübungen, die sie weiter draußen an der Strecke der Franz-Josefsbahn betrieben.

»Ös habt's es notwendi', ös g'fehlten Gigerln, ös«, sagte darauf strafend und verächtlich Lorenz Surrm im Rauchercoupe. »Wißts ös euch gar nix G'scheiters, als wia auf dö Art euchern G'sund aufs Spiel z'setzen?«

»Freunderl, red' net, wannst nix waßt«, erwiderte jedoch fröhlich zwinkernd das Haupt der Gesellschaft, ebenfalls ein Fleischhauer und Hausbesitzer, aber nicht aus Matzleinsdorf, sondern vom Laurenzer-Grund. »Geh' amal mit uns mit an' Sunntag, da wirst nachdem erscht sehg'n, wia nobel als mir uns unterhalten – ohne die Weiber noterbener, denn die Alte laßt ma' natürli' daham. Mir, wia mir san, mir machen kane lebensg'fährlichen Bravourstückeln beim Rodeln, da kannst Gift drauf nehmen. Aber an' Heurigen hab'n m' rd'r aufg'rissen in Weikersdorf – und dann a Wirtstochter – a Wirtstochter – – aber scho' a so ...«

Herr Lorenz Surrm ersuchte den Sprecher, in seinen interessanten Mitteilungen fortzufahren. Er war ja kein Mensch, der sich absolut nicht belehren ließ.

Im Nichtraucherabteil aber hatte indessen Frau Amalia Surrm alle begeisterten Wintersportschilderungen ihrer wiedergefundenen Freundinnen mit dem Bemerken abgewiesen, das sei höchstens eine Zerstreuung für jüngere Leute, sie selber sei dazu entschieden viel zu alt.

»Was, z'alt?« entgegnete ihr jedoch eine riegelsame Selchermeistersgattin in hellen Gamaschen und fußfreiem Rock. »Um wiaviel werd'n denn Sö älter sein als wia i? Alsdann das spielt do' gar ka' Roll'n net! Da hab'n m'r zum Beispiel heunt' in Sankt Andrä a guate Sechz'gerin g'sehg'n, dö mit Kniahosen und Wadelstrümpf' Schi g'loffen is wia a Wiesel. Gelt, Schani? ... Alsdann i rat' Ihner, Frau von Surrm, lassen S' Ihner a fesches Sportkostüm machen, Sö brauchen Ihner do' wahrhafti' net z'schenier'n bei Ihnerer Ba'. Schliaßen S' Ihner an an uns. Und der Herr Gemahl muaß natürli' mitkommen, dem wird's ah net schaden!« –

Beim Abendessen im trauten Heim war heute sowohl Herr wie Frau Surrm außerordentlich einsilbig.

Vor dem Schlafengehen stand Frau Amalia auffallend lang vor ihrem großen Toilettespiegel.

Und des Nachts hatte Herr Lorenz eine ganze Reihe angenehmer Träume, in denen ein schmalziger Weikersdorfer Heuriger und ein mudelsauberes Wirtstöchterlein wiederholt, seine Gattin jedoch nicht ein einzigesmal vorkam.

Und am Montag beim Frühstück begann er bedächtig zu sprechen:

»Waßt, Mali, dös mit dem Wintersport hat halt ah zwa Seiten wia alles auf derer Welt. Ganz ohne is dös g'wiß net, wann si' a Mann, der was si' die ganze Zeit plag'n und schinden muaß, amal in der Wochen in der freien Natur draußten ord'ntli' auslüft't und si' 's Bluat roglet macht. Aber –«

»I hab' eh' ah no' nachdenkt drüber«, fiel ihm die Gattin rasch ins Wort. »Und i bin nimmermehr so ganz abgeneigt wia gestern. Wann der Schneider sagt – i wer' ihm dann glei' schreib'n – daß mir a so a Sportkostüm no' guat stund', dann lass' i mir ans mach'n. Und dann kaufen mir uns a Rodel, gelt, Lorenz, und fahr'n am Sunntag, und alle Sunntäg', wann a Schnee is, nach Klosterneuburg oder nach Sankt Andrä aussi mitanand'!«

Ja, »mitanand'« hatte sie gesagt ... Und förmliche Zärtlichkeit war es, was aus ihrer Rede geklungen hatte ...

Herr Lorenz Surrm ließ das halbe Kipfel, das er in der Hand hielt, in die Schale plumpsen, daß der braune Kaffee hoch aufspritzte. Ein kühnes Luftschloß war plötzlich ins Nichts zerflossen vor seinen Augen, und darum jedenfalls standen sie so starr und weit offen. Endlich fand er die Sprache wieder, um den Satz, den ihm die Gattin entzweigeschnitten hatte, zu vollenden. Doch er beendete ihn jetzt ein wenig anders, als wie er ursprünglich beabsichtigt hatte. »Aber freilich, nur für Männer paßt das Rodeln, für Frauen net«, hatte er sagen wollen. Jetzt schrie er wütend:

»Aber g'fährli' is's – g'sundheitsg'fährli' – lebensg'fährli' in' höchsten Grad – und – und – schamlos! Ja, frech und schamlos! Das hast du gestern selber g'sagt. Alsdann bleib' ah g'fälligst heunt' dabei! Alsdann in mei' Haus kummt m'r ka' Rodel! Und am Sunntag geh' i wieder in mei' Kaffeehaus, net mit dir nach Klosterneuburg oder Sankt Andrä, verstanden! Wintersport will s' jetzten treib'n, dö – – hätt' bald was g'sagt. Zu dumm, so was!«

Und mit den Wintersportplänen seiner Gattin zugleich auch die geheimen eigenen begrabend, verließ er das Zimmer und warf die Tür ins Schloß, daß es nur so schepperte.


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