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Das Puppenspiel, der Affenmensch und ein kleines Experiment über die Wirkung der Kunst

Die Gäste hatten den Saal verlassen und sich in den Park begeben, wo sie sich, nach Zufall und Laune einzeln oder in Gruppen, staunend zwischen Wundern befanden. Auch der Garten war für das Fest vollkommen umgewandelt worden und allerlei gärtnerische Künste setzten die verwöhntesten unter Bezugs Gästen in Erstaunen. Der Makkaronifabrikant Fratelli aus Mailand, der geglaubt hatte, daß seine hängenden Gärten ohnegleichen seien, erklärte dem Seidenfabrikanten Vernier aus Lyon, daß er seine Kulturen vertilgen, in den Boden stampfen und zu einer Rennbahn einrichten werde.

In der Mitte des Gartens war ein großes Becken ausgehoben und mit Wasser angefüllt worden. Rund um dieses Wasserbecken, das fast den Umfang eines Sees hatte, lief ein Säulengang, in dem zwischen je zwei gepaarten Säulen auf schwarzem Marmorsockel eine antike Büste stand. Von dem Säulengang liefen Marmortreppen, die mit Ornamenten von Gold ausgelegt waren, in das duftende Wasser, und am Fuße der Treppen lagen Gondeln aus Sandel- und Ebenholz, die bei jeder Wendung des Steuers einen sanften, gleitenden Akkord hören ließen. Hoch über dem Wasserspiegel und dem Säulengang spannte sich eine Kugel aus Opal, durch die das schon schwächer werdende Tageslicht in hundertfach verschwimmenden und verfließenden Farben drang. Der Widerschein dieses mysteriösen Lichtes auf dem Wasser ließ dessen Oberfläche tief ausgehöhlt erscheinen, so daß man den Eindruck gewann, als gleite die Gondel einer Tiefe entgegen, die sich in einem Zustand der Gärung befand, bevor noch eine Sonderung in festen Grenzen eingetreten war.

Von dem Becken gingen nach allen Richtungen Kanäle aus, sternförmig, zuerst breit und zwischen weiten Rasenflächen, dann immer enger werdend und von Gebüsch bedrängt, bis sie am Ende des Gartens in breiten dunkeln Höhlenmäulern gurgelnd verschwanden. Längs dieser Kanäle standen allerhand Kleinodien der Gartenbaukunst, kleine Tempelchen, die aus dem Grün wie schüchtern hervortraten, dann wieder Palmenwäldchen oder Haine aus Zypressen, die düstere Schatten über das Wasser warfen. Man konnte mit einigen Ruderschlägen von einem schweren, schwarzen Tannenforst nach einer Stelle gelangen, die mit aller Phantastik des Märchens geschmückt war. Die sonderbarsten Orchideen des Gewächshauses waren da zu einer verwirrenden Wildnis geschart, Abscheuliches und Entzückendes in grellem Nebeneinander wie in Träumen. Querlaufende und scheinbar planlose Kanäle verbanden die symmetrischen Ausstrahlungen des zentralen Beckens und brachten Willkür und Unordnung in die strengen Grundlinien. In diesem vollkommen verwandelten Park gab es keine Wege mehr. An ihrer Stelle waren die Kanäle da, und Hunderte von Kähnen lagen für die Gäste bereit. Nachdem man ein erstes, etwas zaghaftes Staunen überwunden hatte, fand man sich gerne in die ungewohnte Wasserwelt. Jedem Kahn war ein in irgendein Kostüm gekleideter Fährmann beigegeben, und wenn die Bekannten in den aneinander vorübergleitenden Kähnen einander begrüßten, riefen auch die Fährleute einander die Schiffergrüße verschiedener Völker zu.

Für das Puppenspiel war die Bühne auf dem Platz vor dem Gewächshaus errichtet worden. Hier war ein weiter, im Halbkreis amphitheatralisch aufsteigender Bau geschaffen, in dessen Mittelpunkt, an eine rosenüberwucherte Wand gelehnt, sich die Bühne befand. »Von unserem Freunde, dem Hofdichter Adalbert Semilasso«, sagte Doktor Störner, als er Titel und Personen des Stückes von dem auf Seide gedruckten Zettel abgelesen hatte.

»Zum Teufel, also nicht bloß Lyriker, sondern auch Dramatiker«, antwortete Harthausen und lachte, als ob ihm Adalbert vollkommen gleichgültig sei.

»Hoffentlich verdirbt er Ihnen nicht mit Romanen das Geschäft.«

Von allen Seiten kamen die Kähne zu der Plattform des Theaters und setzten ihre Gäste ab, denen dann die Diener Bezugs die Treppen des Amphitheaters hinan den Weg zeigten.

»Kann ich dieses Spiel ohne Schaden für mein Seelenheil ansehen?« sagte der Bischof und neigte sich lächelnd zu Frau Bezug.

»Sie können es tun; er ist von unserem sanften Adalbert.«

Vor einem aufmerksamen Publikum ging Adalberts Puppenspiel in Szene. Die Bühne war nur ganz klein, viel zu klein für den immerhin großen amphitheatralischen Zuschauerraum, so daß die handelnden Personen, die überdies noch täuschend die eckigen, unvermittelten Bewegungen von Puppen nachzuahmen verstanden, wirklich wie Marionetten erschienen. Sie gingen und saßen und standen auf einem Raum, der nur einige Schritte lang und einige tief war. Während über dem Zuschauerraum der weite, faltenlose Nachthimmel hing, an dem jetzt die ersten Sterne zu flimmern begannen, ganz zaghaft, als bebten sie vor der Schwärze der Welt unter ihnen und den drohenden Umrissen der ragenden Baumwipfel, lag die winzige Bühne im grellsten Licht. Die bunten Kostüme der handelnden Personen mit den schreienden, widerstreitenden Farben, paßten zu den puppenartigen Bewegungen und den Worten, die ein hinter den Kulissen versteckter Vorleser die Schauspieler sprechen ließ. Dadurch, daß die Darsteller von den Worten befreit waren, konnten sie den Gebärden ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden und immer neue und seltsame Gesten ersinnen, Bewegungen, die wohl aus den Worten zu entspringen und sie zu begleiten schienen, aber ihnen doch eigentlich fremd waren, wie das Leblose dem Lebendigen stets fremd ist. Leblos, so schienen sie, seelenlos, ganz unter einem fremden Willen, mechanisch Handelnde, die sich nicht einmal der motorischen Antriebe bewußt sind. Diese Illusion festzuhalten, gelang ihnen so vollkommen, daß einige naivere Zuschauer ernstlich glaubten, man habe bloß die Masken bekannter Schauspieler nachgeahmt und auf Puppenkörper von höchster mechanischer Vollkommenheit gesetzt. Sie hielten den Mund geschlossen, und nur die komische Figur klappte ihn tonlos auf und ab, genau so wie man Puppen die Bewegungen des Sprechens nachahmen läßt. Die einzige weibliche Person des Stückes wurde von Elisabeth dargestellt. Sie hatte das Rokokokostüm nach der Art Kolombinens behandelt und zeigte unbekümmert ihre schönen Beine bis zum Knie.

»Ich finde das sehr unpassend«, sagte Frau Professor Hartl zu ihrer Nachbarin, der Frau des Malers Dibian, die mit den kritischen Blicken des ehemaligen Modells die Gestalt Elisabeths betrachtete.

»Oh, sie hat vielerlei Talente«, flüsterte Doktor Störner ganz nahe an der nackten Schulter der Professorsfrau, indem er den Geruch ihrer Haut mit der Verzückung eines Feinschmeckers einsog.

»Schaun S' nur an, am Knöchel, das is ein Fehler,« sagte Frau Dibian, »das ist ein grober Fehler. Der Knöchel is zu dick; mein Mann sagt immer, eine Frau, was einen dicken Knöchel hat ...«

Harthausen, der eine Reihe tiefer saß, wandte sich um und legte lächelnd den Finger auf den Mund.

Adalbert hatte den Stoff zu seinem Puppenspiel einer Sammlung alter deutscher Schwänke entnommen, die mit kurfürstlich mainzischem Privilegio im Jahre 1594 erschienen war. Elisabeth selbst hatte den Band in der Bibliothek ausgewählt, hatte die manchmal sehr groben und ohne Erröten vorgetragenen Stücke der Sammlung auf ihre Tauglichkeit geprüft und hatte endlich das eine bezeichnet und Adalbert in seine Einsamkeit mit dem Auftrag übersendet, aus diesem Stoff ein Puppenspiel zu machen. Mit Widerwillen ging Adalbert an seine Arbeit, und nur die Gleichgültigkeit, die ihn keinem Stoff vor einem andern den Vorzug geben ließ, machte es ihm möglich, seine Aufgabe zu beenden. Das Spiel lief im wesentlichen auf die Art hundert ähnlicher Spiele heraus. Adalberts Arbeit stand in den Grundzügen fest, und es handelte sich nur darum, die dramatischen Situationen zu ersinnen und die Verse zu machen. Von einem Kaufmann zu Leipzig ging das Spiel, dessen Frau ihn mit einem Studenten betrügt. Die Nachbarn warnen den Gehörnten, und er kehrt eines Abends unvermutet von einer Reise zurück, um seine Frau mit ihrem Liebhaber zu ertappen. Mit Hilfe der Stadtsoldaten wird der Student festgenommen und in den Kerker gesetzt. Aber die Universität macht ihre Gerechtsame geltend und verlangt die Auslieferung des Verbrechers. Nun kommt es zur Verhandlung vor dem akademischen Senat. Die Schlauheit des Studenten, die graziöse Unverschämtheit der Frau und die biedere Unbeholfenheit des Gatten wirken in lustigem Gegensatz vor einem Hof von täppischen und eingebildeten Richtern gegeneinander, während der Pedell als komische Figur die groteske Ornamentik des Scherzes in die Szene trägt. Endlich wird der Gatte von neuem betrogen, überzeugt sich von der Unschuld seiner Frau und des Studenten, gibt beiden eine Ehrenerklärung ab und nimmt den Studenten als Lautenlehrer seiner Gattin in sein Haus auf. Zuerst hatte Adalbert dem Spiel ein anderes Ende gegeben und ließ den Kaufmann verzeihen, aber mit einem Rest von Mißtrauen den Studenten von seinem Haus fernhalten. Elisabeth aber hatte ihm seine Arbeit mit dem ausdrücklichen Befehl zurückgeschickt, bei dem Hergang zu bleiben, wie er sich in dem alten Schwank fand. Und Adalbert hatte sich gefügt, weil es ihm im Grund gleichgültig war, ob sein Puppenspiel auf diese oder auf jene Art ausging. Er hatte sich begnügt, die Frivolitäten seines Stoffes auszuscheiden und in der einzigen Szene, die ihn zu interessieren vermochte, dem Auftritt vor Gericht, in dem die Frau ihren Mann von ihrer Unschuld überzeugt, den Dialog auf feine und grazile Art zu führen. Hier hatte er der Frau eine unbekümmerte Heiterkeit gegeben, eine lustige Manier, sich selbst und andere zu betrügen, und hatte deutlich gezeigt, wie es möglich sei, daß jemand sich durch eine Reihe von Sophismen vom Gegenteil der Wahrheit schließlich selbst zu überzeugen vermochte. Alle erotischen Pikanterien waren entfernt und nur eine labyrinthische psychologische Verwicklung übriggeblieben, über die man schließlich herzlich lachen konnte.

Als das Spiel aber bis zu dieser Szene vorgeschritten war, lehnte sich der Bischof in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen. Dann sagte er mit seinem weltmännischen Lächeln, das jedem seiner Scherze den Anschein einer Konzession an seine Umgebung verlieh: »Ich glaube, Ihr sanfter Adalbert hat es doch auf mein Seelenheil abgesehen!«

Frau Agathe, die im Aquarium ihrer Gedankenlosigkeit bloß glitzernde Zierfische des Behagens und des Vergnügens gehegt hatte, sah sich plötzlich in einem Getümmel, als ob ein räuberischer Hecht eingebrochen wäre. »Ja, es ist wahr,« flüsterte sie ganz erschrocken, »er geht zu weit.«

Des ganzen Publikums bemächtigte sich mit einemmal eine Unruhe, und gespannt sahen die Männer auf die kleine Bühne hinab, während die Frauen schneller und heißer atmeten. Frau Professor Hartl fühlte plötzlich zwei Lippen auf ihrer nackten Schulter, und als sie sich rasch umwandte, sah sie in die glühenden Augen Doktor Störners, der, über sie geneigt, den Vorgängen auf der Bühne zu folgen schien. Sein Blick war drohend und flehend zugleich, und nach einer Sekunde des Ringens wandte sich Frau Hartl langsam wieder der Bühne zu, während Störners Lippen wieder auf ihre Schulter herabsanken. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich der Zuschauer, und in erwachenden Begierden drängten sich die Körper aneinander. »Dieser Semilasso! ... nein ... dieser Semilasso ...«, sagte der Bankier Rosengarten und verwandte keinen Blick von Elisabeth. »Und dieses Weib ... es ist eigentlich schamlos ... wie die sich prostituiert ...« stöhnte Schleimkugel.

Am meisten von allen war wohl Adalbert selbst überrascht. Er saß in der obersten Reihe des ansteigenden Halbrunds, wo nur wenige Plätze besetzt waren. Auch in der zweiten Reihe von oben hatten sich nur wenige Zuschauer niedergelassen, Zuspätgekommene oder solche, die dem Spiel wenig Interesse entgegengebracht hatten. So konnte sich Adalbert in verhältnismäßiger Sicherheit fühlen und seinem Schauspiel folgen. Aber je weiter die Handlung vorrückte, desto weniger verstand er, was da unten eigentlich vorging. Sein eigenes Spiel wurde ihm immer fremder und fremder. Es waren wohl seine eigenen Worte, die da in schwerem Fall und mit einer den Puppenspielern glücklich nachgeahmten Betonung vorgelesen wurden; aber was da geschah, war etwas ganz anderes. Elisabeth schien die Worte nur zu benützen, um sie zu verspotten. Die Vorgänge der Oberfläche waren getreu beibehalten, im Gehen und Kommen, Begegnen und Auseinanderprallen, in allem Motorischen waren seine Vorschriften genau befolgt; aber darunter lag etwas anderes, etwas seinen Absichten Fremdes, und das ging von Elisabeth aus. Sie hatte alle Harmlosigkeit des heiteren Spiels abgestreift und ließ ihre Gestalt in einem ganz anderen, gefährlichen Feuer erstrahlen. Sie schien zu glühen, eine sonderbare Art von Puppe, der ein Dämon ein Leben voll rücksichtsloser Begierden eingehaucht hat. Während sie Adalberts Worte mit Gebärden begleitete, gab sie jedem dieser Worte einen anderen, unterirdischen Sinn, der aber dennoch sein eigentlicher Sinn zu sein schien. Ohne sich im geringsten zu bedenken, verriet sie ihre Bekanntschaft mit allen Mysterien der Liebe, ließ ihren Leib in kaum verhaltener Lüsternheit zucken, zeigte durch kleine, nur andeutende Bewegungen eine zynische Begehrlichkeit. Und alles das war um so gefährlicher und berückender, als sie dabei eine frivole Grazie bewahrte und niemals die Schönheitslinie überschritt. In der Gerichtsszene erreichte diese verruchte Kunst ihren Höhepunkt. Hier spielte sie nach zwei Seiten hin, die reuige Gattin nach der einen und die Dirne nach der anderen, betrog nach der einen und gab die Verheißungen künftiger Liebesfeste nach der anderen. Und alles, ohne den Puppenstil aufzugeben, in dem sie gerade unbegrenzte Möglichkeiten der Darstellung gefunden zu haben schien.

Adalbert saß da und starrte, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Was war das? was war das? was wurde durch Elisabeth aus seinem Spiel? So hatte er es nicht erdacht. Zuerst empfand er nur das Gefühl der Ohnmacht des Dichters gegenüber dem Darsteller, ein beschämendes und ärgerliches Gefühl. Dann aber erkannte er, daß sich Elisabeth wohl bewußt war, den Sinn und die Absicht seines Spieles ins Gegenteil umzuändern. Und er fühlte, daß das Ganze keinem anderen Zweck diente, als ihn zu demütigen, ihm eine gefährliche Überlegenheit zu zeigen. Er sah ein, daß Elisabeth nicht für die Zuschauer, sondern für ihn spielte, um ihm zu zeigen, wie sie mit ihm spielen könne. Und so peinigend wurde dieses Gefühl, daß er schon einmal aufgesprungen war und hinunter rufen wollte, man möge einhalten, er, der Dichter, verbiete die Fortsetzung seines geschändeten Spieles. Aber in diesem Augenblick strich ein Schatten über ihn hin, eine Fledermaus – lautlosen Fluges, Elisabeth fiel puppenhaft steif vor ihrem Gatten auf die Knie, in der tiefer liegenden Reihe wandte sich jemand nach ihm um ... und Adalbert setzte sich wieder nieder, unfähig zu einem Einspruch und gebannt wie durch einen stärkeren Willen.

Das Puppenspiel war zu Ende. Ein ungeheurer Beifall brach los, daß die Wipfel der nachtschwarzen Bäume wie von einem Sturm geschüttelt schienen. Der Mond war aufgegangen und sah in das Halbrund des Theaters, wo die Zuschauer auf die Sitzreihen gesprungen waren und immer wieder die Darsteller zu sehen verlangten. Elisabeth trat mit den andern Schauspielern auf die Bühne, nun in einen langen, blauen Mantel gehüllt, als wolle sie damit andeuten, daß sie sich nur für die Dauer des Spieles anders gezeigt habe und nun aus dem Dienst der Kunst wieder in den Kreis der Gesellschaft zurückgekehrt sei. Der Ruf nach dem Dichter erhob sich. Man suchte Adalbert, aber er war nicht zu finden, und so mußten die Darsteller doppelten Beifall hinnehmen.

Endlich war der Sturm vorüber, und die Menge der Zuschauer wandte sich dem Palast wieder zu, erregt durcheinander flutend und noch von den Eindrücken dieses seltsamen und gefährlichen Spieles erhitzt. Im Gedränge gelang es dem Dichter Schönbrecher, von Frieda Schreier die Einwilligung zu einer Zusammenkunft zu erhalten, eine Gunst, um die er sich schon längere Zeit vergebens bemüht hatte. Als die ersten der Gäste den Fuß auf die breiten zur Gartenfront emporführenden Treppen gesetzt hatten und ein wenig verwundert auf die im Mondlicht liegenden stummen Säulengänge und Bogen sahen, die keinen Besuch mehr zu erwarten schienen, wurden sie plötzlich von einer Fülle von Licht geblendet. Der ganze Palast war mit einemmal in eine flutende Helle gehüllt, Licht rann in breiten Kaskaden vom Gesims herab, hob alle Ornamente, alle Säulchen und Zierstücke hervor, floß machtvoll und breit über die unteren Stockwerke und verrann dann in den dunklen Park. Die Treppe erstrahlte unter den Füßen der Gäste mit einem tiefen Grün, daß die Gesichter der Eintretenden so bleich wurden, als stiegen sie aus einem unterirdischen Reich zur Oberwelt. Die Alabasterbäume, die an Stelle der Säulen die Loggia trugen, erblühten milchweiß und zwischen den stilisierten Ästen hingen die goldenen Äpfel wie in einem Zaubergarten. In neuer Befangenheit und zugleich wieder für neue Eindrücke empfänglicher Stimmung betraten die Gäste den Festsaal. Hier waren die einzelnen Tische abgeräumt und durch eine einzige lange Tafel ersetzt worden, an der der Zeremonienmeister nun die Plätze anwies. Die Mischung hatte stattgefunden, die Gäste waren miteinander bekanntgeworden, und man konnte es wagen, sie zu einer einheitlichen Masse zu binden. Man wartete mit dem Beginn nur auf das Erscheinen Bezugs und Elisabeths.

Als die beiden den großen Festsaal betraten, brauste ihnen der Zuruf der Gäste entgegen, hüllte sie in eine lärmende Woge und trug sie auf ihre Plätze, wo sich Bezug unaufhörlich verneigte, während Elisabeth mit einem kalten, königlichen Lächeln dasaß, mit Blicken, die die Rufer zu durchdringen schienen. Man drängte sich zu ihr, um sie zu beglückwünschen.

»Wie schade, daß ein solches Talent der Bühne verlorengeht«, sagte Doktor Störner, der es durchgesetzt hatte, daß er Elisabeth vorgestellt wurde. Und Schönbrecher, der annahm, daß alle Welt seine Dramen kenne, begann mit ihr ein Gespräch über den Charakter der Antigone in seinem letzten Werk, und der Maler Dibian bat sie, ihm die Gunst zu gewähren, daß er sie malen dürfe: »Schaun S', wann ich Sie so anschau', so kunnt' ich wirklich meine Küh' und Ochsen vergess'n, die Viecher, die nixnutzigen. Es ist schon hübsch lang her, daß ich kane Menschen g'malt hab', aber mit Ihnen möcht' ich's wieder amol probier'n. Sakrafix, dös möcht' a Bildl wer'n.« Er war so erregt, daß er noch ärger im Dialekt sprach als sonst.

Elisabeth saß im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit kühl und gleichgültig und nahm die Huldigungen mit einer Höflichkeit entgegen, die hätte verletzend wirken müssen, wenn die Raserei ihrer Verehrer geringer gewesen wäre. Auch die Finanzmänner befanden sich in dem sie umgebenden Schwarm, aber da sie des Wortes weniger mächtig waren, gelang es ihnen nicht, die Kunst- und Sachverständigen zu verdrängen. Bezug nahm sich ihrer an, verwickelte sie in ein Gespräch und suchte so die Zurücksetzung auszugleichen. Von Elisabeth ging der Strom zu Adalbert, als wäre er der andere Pol der chemischen Wirkung, die diese Gesellschaft in Bewegung brachte. Er saß neben Rudolf Hainx am unteren Ende der Tafel, bleich und wortlos, und wenn man kam, um ihn zu beglückwünschen, erhob er sich mit einer linkischen Verbeugung und sagte ein paar belanglose Worte. Rudolf Hainx lächelte höhnisch. Er lächelte unaufhörlich, so daß sein Gesicht schon die Verzerrungen einer grotesken Maske angenommen hatte. Und Adalbert, der dieses Lächeln fühlte, wagte es nicht, seinen Nachbar anzusehen. Wenn man ihm ein wenig Ruhe ließ, hing er dem Gedanken nach, der ihn beherrschte. Warum hatte sie das getan? Es war ganz genau so gewesen wie damals, als sie mit ihrem Gesang seinen Liedern eine Brünstigkeit gegeben hatte, die nicht in ihnen lag.

Endlich gab eine silberne Glocke das Zeichen zum Beginn der Tafel. Die Gäste nahmen ihre Plätze ein. Die Diener begannen den ersten Gang aufzutragen. Nun ebbte das Geräusch etwas zurück, und man lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Wunder der Kochkunst. Bezug unterhielt mit Unterstützung seiner Gemahlin die Ehrengäste und zog auch Behrens, der seinen Platz schief gegenüber hatte, ins Gespräch. Elisabeth saß neben Hecht am oberen Ende der Tafel, den Bischof neben sich, während der Statthalter neben Hecht saß; dann kam Frau Bezug neben dem Bischof und der Hausherr neben dem Statthalter. Der Bischof begann ein Gespräch über Puppenspiele, erinnerte an Goethes Vorliebe für diese rührende und unbeholfene Kunst, die im Anfang von Wilhelm Meister ihr vorzüglichstes Dokument gefunden hat, und erzählte von seiner italienischen Reise und den volkstümlichen Puppenspielen in Rom, denen er oft unerkannt beigewohnt hatte. Er kannte einen Kardinal in Rom, der ein ganzes Museum von Puppen besaß, in dem er ganze Tage zugebracht hatte.

Man war in der Mitte der Mahlzeit angelangt, und es war Zeit, daß die offiziellen Trinksprüche stattfanden. Der erste, dem der Statthalter eine besondere Weihe gab, galt dem Wohl der Verlobten. Seine Worte hatten einen ähnlichen Gang wie er selbst, steif und stelzend und etwas zurückgeneigt, als sei ihr Rückenmark nicht mehr ganz gesund. Seine Sätze waren sorgfältig mit Bügelfalten versehen und hatten Goldborten zu beiden Seiten. Nachdem der Statthalter gesprochen hatte und der Jubel der Gäste zurückgerauscht war, ergriff der Bankier Rosengarten aus Berlin das Wort und das Glas, um auch die Eltern der Braut und die ganze Familie im weitesten Wirkungskreis leben zu lassen. Und nun kam ein Trinkspruch nach dem andern, zwischen je zwei Gängen der Mahlzeit, während die Diener lautlos die Teller und Gläser wechselten, immer eine kleine Rede, die in einem Hoch auf irgend jemanden ausklang. Als die ganz feierlichen und offiziellen Ansprachen vorüber waren, kamen jene Redner daran, die auf der Liste des Rudolf Hainx unter dem Titel »heitere Abteilung« notiert waren. Jene Abart von Tafelrednern, die es sich zur Pflicht machen, die Gäste während ihres Toastes nicht aus dem Lachen kommen zu lassen. Hainx hatte seine Leute vorher genau unterrichtet und die heiteren Themen an sie verteilt, so daß nicht etwa zwei Redner über dasselbe zu sprechen in Gefahr kamen. Nun gab er ihnen das Zeichen und in wohl abgemessenen Zwischenräumen bemühten sich diese erprobten Spaßvögel mit Erfolg um die Erhöhung der Laune. Ein Schriftsteller, ein Maler, ein Redakteur, ein Schauspieler kamen nacheinander. Zuletzt sprach Professor Schreier, der eine besondere Gabe für diese Art von Ansprachen hatte, eine Gabe, die um so sicherer hinriß, als man sie ihm bei seiner sonstigen Würdigkeit nicht zutraute.

»Zum Teufel, redet der wirklich solchen Unsinn, oder kommt's nur mir so vor?« sagte Hauser zu seinem Freund Adamowicz. Die beiden waren schon in der Nähe des Zungenklapses angelangt, denn sie hatten keinen der Weine, die mit jedem Gang wechselten, an sich vorübergehen lassen. Endlich hatten sie sich mit einem wunderbaren Tokayer dauernd verbunden; Adamowicz, der immer betrübt wurde, wenn er betrunken war, sagte, als Hauser seine Frage hartnäckig wiederholte: »Ach ... was ... In diesem irdischen Jammertal ist der Unsinn ... der Unsinn ... die blaue Blume.«

Nach der Rede des Professor Schreier wurde durch eine Wand, die sich plötzlich in der Mitte zu einer weiten Öffnung auseinanderschob, eine Art von ungeheuerem Zuckerhut in den Saal gerollt. Nun stand der Zuckerhut still und mit einemmal war es, als ob er von einem Erdbeben erschüttert auseinanderbräche. Die Seiten bekamen lange Risse und die Spitze stürzte ein und ehe man recht wußte, wie es zugegangen war, sah man einen weißen leuchtenden Felsen vor sich, der mit Zacken und Rissen zu einem strahlenden Gipfel emporstrebte. Auf den Zacken und Vorsprüngen des Felsens waren neun Frauen hingelagert, die an den beigegebenen Attributen sogleich als die neun Musen kenntlich waren. Aus dem Gipfel entsprang ein Quell, der über die Blöcke hinabrieselte und sich unten in einem Becken sammelte. Ein Jüngling von edelster Bildung, die griechische Lyra in einem Arm, ließ das geflügelte Pferd aus der Hippokrene trinken. Die sanfte Musik, die das Bild umspielte, schien aus dem Innern des Felsens zu kommen. Nach einigen Minuten verwunderten Anstaunens und gerade als die Gäste in lauten Beifall ausbrechen wollten, wurde es mit einem Schlage Nacht, nur der Gipfel des Felsens glühte wie ein Vulkan. Plötzlich stiegen aus dieser vulkanischen Glut leuchtende Kugeln, stiegen zur Decke des Saales empor und begannen über den Köpfen der Gäste lautlos zu kreisen. Größere und kleinere Kugeln, die sich umeinander bewegten, schienen sie ein Abbild ferner Welten. Sie bewegten sich in stiller Gesetzmäßigkeit, und die Musik wurde zu einem leisen und kaum vernehmbaren Hauch, als werde sie durch die Drehungen der Kugeln hervorgebracht. Über den kreisenden Kugeln aber schien in unermeßlicher Ferne eine andere Saat von Sternenwelten stille zu stehen. In bekannten Bildern angeordnet, standen sie in irgendeiner Beziehung zu den kreisenden Welten. Das dauerte so eine Weile an, dann schienen zwei der Sterne aus den Bildern durch eine Art von Anziehung bewegt zu werden, sie verließen ihre Gefährten, schwebten an den kreisenden Welten vorbei, immer tiefer und blieben endlich über den Plätzen stehen, wo Elisabeth und Hecht saßen. Die Gäste brachen in laute Zurufe aus. Denn nun war der Sinn des Intermezzos klar geworden: eine glückbringende Prophezeiung für das Brautpaar im Gewand eines astrologischen Vorgangs.

Als das Licht wieder zurückflutete, waren der Musenfelsen und die Sternenbilder verschwunden.

Und nun erhob sich Bezug, und sofort wurde alles still. Er blickte über die Tafel hin, als wolle er sehen, ob alle da seien und ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hätten. »Meine lieben Freunde,« begann er, »denn ich darf Sie nun wohl so nennen, da ich Ihnen nun gezeigt zu haben glaube, daß dieses Haus und der Hausherr Ihnen freundlich gesinnt sind ... meine lieben Freunde, was Sie eben gesehen haben, ist mehr als ein bloßes Spiel, das Sie unterhalten will. Es hat auch seinen tieferen Sinn. Es ist, ich möchte sagen, ein Symbol dieses Bundes, der heute hier in Ihrem Beisein festlich begangen wird ... ich meine geschlossen wird. Was Sie hier gesehen haben, sind die Nativitäten der beiden jungen Leute, eine astrologische Spielerei, die mein Freund Gruber, Professor an der Sternwarte in Wien, mir zu Gefallen berechnet hat. Eines der größten mechanischen Genies der Neuzeit, Alexei Naschkowitsch in Odessa hat die ungemein komplizierten Apparate ersonnen, durch welche diese Weltsysteme in Bewegung gesetzt worden sind.«

»Alle Achtung«, rief Mister Smith, der nun auch schon ein wenig laut geworden war.

»Sie haben gesehen, daß diese leuchtenden Welten aus dem Gipfel des Helikon aufgestiegen sind. Nun, meine lieben Freunde, das ist nichts anderes als mein Glaubensbekenntnis. Und was habe ich wohl damit sagen wollen? Nichts anderes, als daß ich glaube, daß unser Leben mit der Kunst verbunden ist, daß es immer wieder mit ihr zusammenführt und durch sie erneuert werden muß, daß unser Leben sozusagen eine Wiedergeburt durch die Kunst erfahren muß.«

»Bravo«, schrie plötzlich Adamowicz vom andern Ende der Tafel her, so laut, daß sich alle nach ihm umsahen.

»Ja, die Kunst! Die Kunst ist es, nicht wahr! Halten Sie mich nicht für einen schnöden Geldmenschen. O nein, da würden Sie mir unrecht tun. Ich glaube, daß nicht das Geld, sondern die Kunst die großen Werte des Lebens schafft. Eine ideale Realität oder reale Idealität, wie Sie wollen – das ist die Kunst. Sie ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit ...«

»Und ein vortrefflicher Köder.« Das war Hauser gewesen. Bezug beugte sich vor, suchte den Rufer mit den Blicken, und als er ihn gefunden hatte, lächelte er ihm zu und fuhr fort:

»Unser Freund Hauser meint: ein Mittel, um unsere Freunde anzuziehen. Gewiß, so ist es. Wie vieles trennt uns, Berufe, Weltanschauungen ... aber in diesem Medium treffen wir uns alle. Was hat unser heutiges Fest verschönert und ihm seinen besten Schmuck gegeben? Außer Ihrer eigenen Gegenwart, meine lieben Freunde, die Kunst. Ich habe Ihnen noch nicht für alle die herzlichen, ernst- oder scherzhaften Worte gedankt. Ich tue es hiermit, indem ich Ihnen etwas verspreche, was Ihnen allen wieder zugute kommen wird: die Kunst zu pflegen. Darum rufe ich: es lebe die Kunst.«

Da gab es ein endloses Getöse und ein Anklingen von Hunderten von Gläsern. »Welche hohe, reine, ideale Gesinnung«, rief der Professor der Kunstgeschichte Schreier dem Professor am romanischen Seminar, Ernst von Kramarcz, ins Ohr, und dieser nickte mit einem Gesicht wie ein philosophisch gesinnter Marabu. So fand ihn wenigstens Dibian, der drei Plätze weiter saß.

»Nun, meine lieben Freunde«, fuhr Bezug fort, als sich der Lärm gelegt hatte, »ich bin in diesem Punkte ehrgeizig. Ich habe einen Dichter entdeckt, Herrn Adalbert Semilasso, der sich Ihnen heute in günstiger Weise vorzustellen die Ehre hatte. Sie werden noch Bedeutsames von ihm zu hören bekommen. Aber das genügt mir nicht. Ich habe lange einen Plan bei mir erwogen, der heute endlich zu einem festen Entschluß geworden ist und sicher Ihren Beifall finden wird. Ich habe den Gedanken gefaßt, eine Stadt zu gründen, eine ganz ungeheure Stadt irgendwo in einem gesegneten Landstrich, am Fuße der Berge. Und diese ganze Stadt soll ausschließlich von Dichtern, Künstlern und Gelehrten bewohnt werden. Um ihnen die Freiheit des Schaffens zu ermöglichen, sollen alle materiellen Sorgen von ihnen ferngehalten werden. Es wird ausschließlich meine Sorge sein, ihnen alles Nötige und auch das Überflüssige zu gewähren. Als Dank und Gegengabe bitte ich mir nur aus, daß alle Werke, die aus dieser Stadt hervorgehen, meinen Namen auf der Stirne tragen ... ich meine, daß sie mir gewidmet sind.«

Bezug vermochte nicht weiter zu sprechen. Alles, was irgendwie zur Kunst und Wissenschaft gehörte, sprang auf, focht mit den Armen in der Luft und schrie ... man umarmte sich, vergoß Tränen, rief einander zu, ohne ein Wort zu verstehen. Bezug sah sich umringt und wurde plötzlich mit dem Sessel in die Höhe gehoben. Der Schauspieler, der in der Puppenkomödie den betrogenen Gatten gespielt hatte, stieß die andern beiseite, drängte sich hindurch und rief zu Bezug, der auf der Höhe seines lebendigen Thrones schwankte, hinauf: »Und für Schauspieler auch ...?« Bezug lächelte zu ihm herab: »Auch für Schauspieler ...« Dann bat er, man möge ihn wieder zur Erde lassen. Aber er mußte es sich noch eine Weile gefallen lassen, auf den Schultern der aufgeregten Künstler zu thronen. Als er aber wieder auf festem Boden stand, gab er ein Zeichen und die Wand, durch die vorhin der Helikon gekommen war, schob sich noch einmal zu einer breiten Öffnung auseinander. Man sah in den nebenan liegenden Ballsaal, und die Musik setzte mit einer Polonaise ein.

»Zum Teufel,« sagte Hauser und schnaufte, als wolle er die Tüchtigkeit seiner Lungen erproben: »tanzen auch noch.«

Aber es kam nicht auf den einzelnen an, denn es gab einen Überfluß an Herren, und die sonst übliche Jagd nach Tänzern konnte diesmal unterbleiben. Die Paare ordneten sich zum Umzug im Saal. Als erstes Paar betraten Frau Bezug und der Statthalter die spiegelnden Parketten, dann folgte Elisabeth mit Hecht. Gerade wollte Bezug Frau Hartl um die Ehre bitten, die Polonaise mit ihr tanzen zu dürfen, als er sich von Hainx aufgehalten sah.

»Das Telegramm ist gekommen«, flüsterte ihm Hainx zu.

»Ist es da! Nun ... und ...?«

»Ja!«

»Also vorwärts. Setzen Sie die Eideshelfer in Bewegung.«

»Wo?«

»Im Hotel! Aber geschickt ... ich bitte.«

»Gewiß.«

Das war alles so schnell und leise gegangen, daß sich die Nächststehenden kaum zurückgezogen hatten, weil sie sahen, daß Bezug mit seinem Generalsekretär etwas zu besprechen hatte, als das Gespräch auch schon zu Ende war. Bezug setzte seinen Weg zu Frau Hartl fort, die ihn, nachdem sie Störner abgewiesen hatte, erwartete. Er reichte ihr lächelnd den Arm und betrat mit ihr den Ballsaal.

In diesem Augenblick geschah etwas höchst Sonderbares und Unerwartetes. Die kleine Tür in einer Ecke des Ballsaales öffnete sich, und ein merkwürdiges Geschöpf schob sich herein, von dem man im ersten Moment nicht sagen konnte, ob es ein Mensch sei oder ein Tier. Es mochte aufgerichtet an der Tür gestanden und sie geöffnet haben. Als die Tür aber aufging, fiel es sofort auf seine Hände zurück und lief nun affenartig in den Saal, gefolgt von einem großen schottischen Schäferhund, der es mit ausgelassenem, lautem Bellen umkreiste. Einige Sekunden lang waren die Gäste im Zweifel, wie sie sich zu dieser Erscheinung verhalten sollten. Sie hatten so viel Seltsames bei Bezug gesehen, daß sie nicht wußten, ob nicht auch dies wieder eine neue, besondere Überraschung für sie zu bedeuten hatte. Einige vorlaute und Übereifrige begannen laut Beifall zu klatschen. Aber da schrie jemand auf, und man sah, wie Frau Bezug wankte und in die Arme des Statthalters fiel, der sie mit verzerrtem und aufs äußerste entsetztem Gesicht auffing. Denn er hatte bei dem Anprall sein Monokel verloren, und nichts brachte ihn so aus der Fassung als dies. Frau Hartl blieb nicht minder verblüfft stehen, denn Bezug riß sich, ohne ein Wort der Entschuldigung von ihr los und rannte auf das affenartige Wesen zu. Es war ein Mensch, das sah man jetzt ganz deutlich, mit bleichem, krankem Gesicht und entzündeten tiefliegenden Augen. Er war sogleich auf allen Vieren mitten in den Saal gelaufen und saß nun mit untergeschlagenen Beinen gerade unter dem großen Kronleuchter. Mit zuckenden Schultern saß er da, indem er an seinen Nägeln kaute, während der große Schäferhund hinter ihm stand und ab und zu mit der Schnauze zärtlich gegen sein Ohr stieß. Dabei sah das Wesen mit mißtrauischen Blicken um sich, dann unterbrach es sein Nagen, strich mit der Hand leise und wie behaglich über die glatten Parketten und gab dabei ein vergnügtes Grunzen von sich. Der Hund sah jeder Bewegung der Hand aufmerksam, mit gespitzten Ohren zu. Plötzlich hob das Wesen wieder den Kopf, sah Bezug auf sich zukommen und sprang mit einem lauten plärrenden Geschrei auf. Von Bezug verfolgt, lief es auf allen Vieren einer Fensternische zu, wo es sich hinter den schweren Vorhängen versteckte. Als Bezug den Vorhang wegreißen wollte, fiel ihn der Hund wütend an, so daß er zurückweichen mußte.

Die Gäste standen erstarrt. Nun wußten sie, daß dies keine vorbereitete Überraschung war. Um Frau Bezug, die noch immer in Ohnmacht lag, war ein großes Gedränge entstanden.

»Haltet den Hund, haltet den Hund«, rief Bezug seinen Dienern zu, von denen sich einige sogleich auf das Tier stürzten, um es zu bändigen. Inzwischen hatte das Wesen den Vorhang etwas zurückgeschlagen, und als er seinen Verfolger in einiger Entfernung sah, griff er in die Falten des Damastes und begann hinaufzuklettern. In mehr als Manneshöhe zog sich ein ziemlich breites Gesims um den ganzen Saal. Dort hockte es nieder und begann, ganz nach Art der Affen, hinunterzukeifen und zu kläffen. Der Hund hatte sich losgerissen und sprang unten an der Wand hinan, ganz verzweifelt, daß er nicht bei seinem Gefährten sein konnte. Als Bezug wieder näher kam, begann das Wesen dem Gesims entlangzulaufen, lief rings um den ganzen Saal, immer von dem Hund unten gefolgt und stieß eine Art von Gelächter aus.

»Schrecklich, schrecklich«, sagte Schönbrecher zu Frau Harthausen, die sich an allen Gliedern zitternd an seinem Arm hielt.

Bezug lehnte an der Wand, unfähig sich zu bewegen, und sah immer nur auf das Wesen, das affenartig rund um den Saal lief, immer wieder ... immer wieder. Plötzlich unterbrach das Wesen seinen Rundlauf, setzte sich auf dem Gesims nieder und sah mit gänzlich verändertem Gesicht in den Saal herunter. Der Hund stand augenblicklich gleichfalls still, wich zurück, um seinem Herrn besser ins Gesicht sehen zu können, und achtete, indem er seine spitze Schnauze emporrichtete und die Ohren aufstellte, genau auf jede Bewegung. Die Veränderung, die mit dem Unglücklichen vor sich ging, geschah so schnell, daß die Entfernterstehenden sie nicht in allen Phasen verfolgen konnten. In dem bleichen Gesicht zuckte es zuerst einige Male, als ob es noch von den letzten Ausläufern eines Krampfes geschüttelt würde. Dann verlor sich der tierische Ausdruck, und unter der Verzerrung tauchte die Miene eines Erwachenden auf. Und plötzlich, als würde er sich jetzt seines Elends bewußt, schlug die Flamme eines jammervollen Entsetzens auf. Zitternd richtete sich der Mensch an der Wand empor, indem er mit ausgespreizten Fingern hinter sich tastete, und sah dabei starr in den Saal, wo die Gäste lautlos, in Gruppen standen und nach ihm hinschauten. Die Musik hatte aufgehört zu spielen, und es war ganz still im Saal, nur ein Ächzen in langen, schweren Zügen ... der röchelnde Atem Bezugs. Und plötzlich schlug der Mensch dort oben auf dem Gesims die Hände vor das Gesicht, und an den zuckenden Schultern konnte man erkennen, daß er weinte. Dann nahm er wie in einem raschen Entschluß die Hände fort, setzte sich wieder nieder und glitt längs der Wand in den Saal hinab. Laut bellend rannte der Hund auf ihn zu und sprang in freudiger Erregung an ihn heran, indem er mit der Schnauze das Gesicht seines Herrn zu berühren versuchte. Der Mensch stand da und schien Bezug zu erwarten, der ganz langsam, als ob seine Füße bleischwer seien, schlurfend auf ihn zukam. Als ihn Bezug erreicht hatte, brach er in lautes Weinen aus und legte den Kopf an dessen Brust. Bezug aber schlang ganz sanft und weich, wie schützend den Arm um ihn und führte ihn durch die kleine Tür hinaus. Der Hund trabte bellend hinterdrein.

Die Gäste blieben in höchster Erregung im Ballsaal zurück. Es war gelungen, Frau Bezug endlich zum Bewußtsein zu bringen; sie saß in einer der kleinen Grotten, die anstatt der üblichen Nischen rings um den Ballsaal angebracht worden waren, im roten Licht, das aus irgendwelchen verborgenen Quellen strömte, und ihre erste Frage nach einem tiefen Atemzug war: »Ist er fort?« Als man sie darüber beruhigt hatte, sank sie zurück und ließ sich von den drei Ärzten, die sich um sie bemühten, weiter behandeln.

Draußen wurden indessen die gewagtesten Erklärungen ersonnen, wilde Gerüchte und Vermutungen gingen um, von einer Gruppe zur andern getragen, lawinenartig anschwellend, wieder von anderen Gerüchten und Vermutungen durchkreuzt. In einer Ecke des Saales standen die Finanzmänner beisammen, und durch Behrens, der sich mit Erfolg den Künstlern genähert hatte, hatten sie eine Verstärkung aus den Gruppen der Schriftsteller gefunden.

»Denken Sie sich ein Romanmotiv aus, Harthausen,« sagte Doktor Störner, »zeigen Sie, daß Sie Phantasie haben, wie einige Ihrer Kritiker von Ihnen behaupten.«

»Ein Wahnsinniger ist es, soviel steht fest«, sagte Rosengarten.

»Ja, aber in welcher Beziehung steht er zu Bezug?« Harthausen sann angestrengt nach.

»Es ist ein Wahnsinniger, der entsprungen ist und nun, angesichts der Menge von Gästen zur Besinnung kam. Haben Sie nicht gesehen, wie er zu sich kam? Es war furchtbar anzusehen.«

»Sie glauben also, daß er in Beziehung zu Bezug steht?« fragte Kontscharow.

»In sehr engen Beziehungen sogar. Aber es ist romantisch, was ich denke ...«

»Sagen Sie es nur,« sagte Störner, »einem Dichter ist alles erlaubt.«

»Haben Sie gesehen, in welcher Aufregung sich Bezug befand? Und Frau Bezug ist in Ohnmacht gefallen. Warum? Wenn der Mensch nicht nahe mit ihnen verwandt ist, vielleicht sogar sehr nahe ...?«

»Sie meinen?«

»Ich habe nichts gesagt. Sie haben mich aufgefordert, meine Phantasie spielen zu lassen ... ich habe sie spielen lassen.«

»Mit Erfolg ... sehen Sie, die Herren sind nachdenklich geworden.«

Die Anwesenden waren wirklich alle nachdenklich geworden. Man schwieg und sah sich gegenseitig mißtrauisch an, als ob man es mit einemmal nicht mehr wage, seine Gedanken auszusprechen, weil sie gefährlich geworden waren. Nur Behrens sagte noch: »Es wäre möglich, daß ...« Aber auch er beendete seinen Satz nicht, weil sich alle nach ihm umwandten und ihn erwartungsvoll anschauten. In diesem unbehaglichen Schweigen zerfiel die Gruppe und löste sich auf, um neue Verbindungen einzugehen.

Nach einer Viertelstunde sprach man ganz allgemein davon, daß der Wahnsinnige ein Sohn Bezugs sei. Niemand zweifelte mehr daran, und man fügte nur noch wie zum Überfluß Zug um Zug zum Beweis. Und ein anderes Gerücht gesellte sich zu diesem, eine Erklärung und breitere Ausführung ... dieses Gerücht erinnerte daran, daß Bezug den Grundstock seines Vermögens durch die Herstellung von mechanischem Spielzeug gelegt hatte. Es war ihm gelungen, besonders durch seine äußerst sinnreich konstruierten Kletteraffen die Konkurrenz zu verdrängen. Diese Tatsache brachte man in eine Relation zu dem Ereignis von heute abend, und man entsann sich weiter, daß Bezug, als er vor einigen Jahren seine Residenz in diese Stadt verlegte, sorgfältig alle Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen gewußt hatte. Man wußte nur wenig über seine Herkunft und die Geschichte seiner Familie. Man hatte nur soviel erfahren können, daß er früher fast das ganze Jahr über von seiner Familie getrennt gelebt hatte. Während sich seine Frau und seine Tochter irgendwo im Süden aufhielten, war er rastlos in seinen Geschäften tätig gewesen, und erst als sein Vermögen ungeheuerlich geworden war, hatte er sich mit ihnen vereinigt. Als dieses Gerücht zu Frau Herold kam, wußte sie sogleich, daß der Wahnsinn des Sohnes eine Strafe der Himmels war. Ihr einfacher Verstand fand augenblicklich die Zusammenhänge zwischen den Kletteraffen, dem mechanischen Kinderspielzeug Bezugs und diesem affenartigen Unglücklichen. Das war also die Strafe Gottes für diesen Menschen, den sie haßte, mit einem unverdorbenen Instinkt, weil er sich alles unterwarf und weil er auch ihren Gatten in eine entwürdigende Abhängigkeit gezwungen hatte.

Nach einer Abwesenheit von mehr als einer Viertelstunde betrat Bezug wieder den Saal. Alle sahen ihm entgegen.

»Sehen Sie,« flüsterte Störner Frau Hartl zu, und selbst er vermochte seine Aufregung nicht zu verbergen, »sehen Sie nur ... er lächelt, er lächelt ... was für ein Mensch! Was für ein Mensch ...«

Bezug lächelte wirklich; seine Salzseeaugen lagen tot in einer leeren Wüste; aber der Mund lächelte, während er mit seinen an die Haut von Grottenolmen erinnernden Händen die Krawatte richtete. Er sah sich einen Augenblick lang im Saal um, als müsse er sich an etwas erinnern, und kam dann geradenwegs auf Frau Hartl zu, um ihr den Arm zu reichen. »Warum wird nicht getanzt?« fragte er, und auf das Schweigen der schönen Frau setzte er hinzu: »Es ist ein armer Teufel, ein entfernter Verwandter von mir, den ich aus Mitleid bei mir aufgenommen habe. Sie wissen ja, wie es mit unserer öffentlichen Irrenpflege steht.« Er hob den Arm gegen die Empore der Musik, und die Kapelle begann neuerdings mit der Polonaise. Ein überlegener Wille zwang die Gäste zur Fortsetzung des Balles, als ob nichts vorgefallen sei ...

Es war gegen drei Uhr morgens, als Hauser und Adamowicz aus dem Ballsaal in den großen Festsaal traten und hier von einem Diener mit stummer Verneigung in einen nebenan liegenden Raum geleitet wurden. Sie fanden hier eine kleine Versammlung von Gästen. Ganz gedämpft nur kam die Melodie des Walzers aus dem Ballsaal hierher. Man tanzte noch immer, und von der Menge der Gäste hatten sich nur jene entfernt, deren Ansehen es nicht gestattete, länger zu bleiben. Der Bischof ging am Arm des Statthalters fort und fuhr mit ihm in dessen Wagen nach Haus; sie unterhielten sich vorsichtig über die offizielle Deutung, die der heutige Zwischenfall durch Bezug erhalten hatte. Die Zurückbleibenden aber erhitzten sich in den Wellen des Tanzes, immer heißer wurden die Gespräche, die in den farbigen Grotten geführt wurden, und immer deutlicher prägten sich die heute gefundenen Seelenverwandtschaften aus.

Als die beiden Bildhauer, die durch die Bewegung des Tanzes etwas nüchterner geworden waren, den kleinen Raum betraten, kam ihnen Dibian entgegen: »Haben S' auch so a merkwürdige Einladung kriegt?« fragte er.

Hauser zeigte die runde Karte, die man bequem in der Hand verbergen konnte:

»Also, ich bin neugierig, was das wieder ist ...«

»Eine geheimnisvolle Geschichte ... dieser Bezug ...« Hauser sah die Karte noch einmal an: »Eine erlesene Gesellschaft von Künstlern und Kunstfreunden versammelt sich in dem kleinen Raum neben dem Festsaal. Ihr Erscheinen wird bestimmt erwartet«, stand auf dem runden Papier. »Was will der noch von uns ...? Ich kann schon bald nicht mehr ... ich bin voll von Eindrücken, bis zum Rand, wenn noch etwas dazukommt, gehe ich über.«

»Es wird wieder a besondere Überraschung sein. Jetzt sind wir schon bald fünfzehn Stund' da, und er hört nicht auf ...«

Adamowicz, der schon ganz stumpf geworden war, schlug vor, ohne Aufsehen davonzugehen und auf die geheimnisvolle Überraschung zu verzichten. Aber die Neugierde der anderen war doch zu groß, und mühsam seinen Schlaf bekämpfend, mußte sich Adamowicz entschließen, zu bleiben. Etwa fünfzig Personen waren in diesem Gemach anwesend, lauter Männer, die irgendwie zur Kunst in Beziehungen standen, ausübende Künstler, Gelehrte, aber auch einige reiche Sammler, die durch ihren wertvollen Besitz an Kunstgegenständen bekannt waren. Mit der Müdigkeit, die sich am Schluß eines so langen Festes einstellt, verband sich eine gespannte Erwartung, und es ging den meisten so, wie es Hauser und Dibian ging, daß die Erwartung stärker war als die Müdigkeit. Man war gewiß, daß irgendein bedeutsames Erlebnis bevorstand, und die Vorsichtigen und Besonnenen konnten sich einer Art von Furcht nicht erwehren, daß sie, nun weit weniger widerstandsfähig als zu Beginn des Festes, einem starken Eindruck viel leichter erliegen mußten. Dazu kam das Seltsame dieses Gemaches, in dem sie warteten. Nach all dem Marmor und dem Gold, das sie heute um sich gesehen hatten, wollte es ihnen nun sonderbar erscheinen, daß die Wände dieses Raumes aus Eisen bestanden. Ohne Schmuck und Ornamentik schlossen sich die glatten Wände um sie, und nur ganz oben an der Decke lief eine ununterbrochene Reihe von Glühlampen, eine leuchtende Perlenkette ringsum. An einem Ende des Raumes war ein roter Vorhang angebracht, der indes so mit der Wand und dem Boden verbunden war, daß es niemandem gelang, zu sehen, was sich hinter ihm befand.

Nach einer halben Stunde des Wartens verstummte plötzlich die Musik aus dem Tanzsaal, und die Versammelten sahen, daß sich die Wand des Raumes, wo sie eingetreten waren, verschoben hatte und nun so in dem festen Teil saß, daß man kaum einen schmalen Spalt bemerken konnte. Sie waren nun in einen Raum eingeschlossen, der keinen Ausgang zu haben schien, in einer ungeheuren, eisernen Kiste gleichsam, in der sie nichts gegen den Willen des Herrn dieses Hauses zu unternehmen vermochten. Von diesem Augenblick an wuchs die Spannung und Erregung der Versammelten, und zugleich stellte sich ein leichtes Angstgefühl ein, als ob sie in eine Falle gegangen wären, aus der es kein Entkommen gab. Selbst die Müden und Schläfrigen wurden der ängstlichen Erwartung überliefert, die aus der ganzen Versammlung einen von einem einzigen Gefühl beherrschten Körper zu machen schien. Nach einigen Minuten hob sich der rote Vorhang am Ende des Saales. Man sah eine Reihe von marmornen Gestalten edelster Bildung, Jungfrauen in langen, fließenden Gewändern mit dem kurzen griechischen Peplos darüber. Und zugleich mit dem Heben des Vorhangs schob sich in den eisernen Langseiten des Raumes eine Anzahl von größeren und kleineren fensterartigen Klappen zurück, hinter denen Gemälde sichtbar wurden. Und am anderen Ende des Saales, den Marmorgestalten gegenüber, zeigte sich ein Arsenal von eisernen Stäben, hölzernen Knütteln, von Beilen und Hämmern. Das Erscheinen dieses Arsenals von Zerstörungswerkzeugen fiel indessen niemandem auf, denn aller Aufmerksamkeit war nach vorne auf die Marmorgestalten oder auf die Gemälde gerichtet.

»Es sieht Bezug gleich,« sagte Störner zu Behrens, »daß er uns hier einschließt, um uns zu zwingen, seine kostbarsten Erwerbungen genau anzusehen.«

Behrens trat zu der Gruppe von Gelehrten, die im lebhaften Gespräch vor den Statuen standen: »Nun, meine Herren, welches Urteil geben Sie über die Jungfrauen ab?«

»Unzweifelhaft«, sagte Professor Schreier, »sind diese Gestalten den Karyatiden vom Parthenon verwandt.«

»Griechische Arbeiten sind es ... so viel scheint bestimmt zu sein ...« fügte Professor Hartl hinzu.

»Scheint zu sein?« sagte Hauser, der mit Adamowicz die Karyatiden genau geprüft hatte. »Ist wirklich und gewiß. Es ist nur peinlich, daß uns Bezug dazu eingekerkert hat, um das herauszufinden«, sagte er unruhig und sah von einem zum andern.

Vor den Gemälden hatten sich andere Gruppen zusammengefunden. Hier war Dibian der Wortführer, und er erklärte einem gespannten Publikum, indem er sich vorzüglich an Harthausen, den Lyoner Seidenfabrikanten und Professor Ernst von Kramarcz wandte, warum er zwei der Bilder für ganz besonders wertvolle Werke von Rembrandt und Velasquez ansehe. »Man hat's im Gefühl, sag ich Ihnen, das is sicherer als alle Quellengeschichte ... sehen S', ich weiß, das is a Rembrandt. Ich möcht' Gift drauf nehmen, daß es einer is. Der Bezug wird uns kein Schund daherhängen, wenn er uns einsperrt, daß wir seine geheime Galerie bewundern. Schaun S' die Fleischtöne, die kreidigen Weißen und die verworfenen Lichter. Und finden S' nit, daß diese Susanna im Bad ein bissel der Saskia ähnlich schaut. Der Lichtfleck da auf dem Rücken ... na, wenn das kein Rembrandt is, häng' ich mich auf.«

»Die Kunstgeschichte weiß aber nichts von diesem Rembrandt«, sagte Harthausen, der eine Monographie über Rembrandt geschrieben hatte, von der die Gelehrten behaupteten, sie sei ein Roman, und die Romanschriftsteller, sie sei eine schnöde Abhandlung.

»Die Kunstg'schicht'! Lächerlich, als ob die alles wüßt' ... nix weiß die Kunstg'schicht'. Wer weiß, wo der Bezug diesen Rembrandt aufgestöbert hat. Der is schlau, der wird sich kein' Kitsch anhängen lassen. Das is ein Rembrandt, so sicher wie das da ein Velasquez is ...«

Das konnte nun wieder Vernier nicht glauben; denn er besaß eine schöne Sammlung von Originalen des spanischen Meisters und hatte alle Galerien Europas und Amerikas nach seinem Liebling abgesucht. Dieses Motiv, eine halbnackte Frau, die sich vor einem Spiegel die Haare flicht, sei dem Kreis des Velasquez fremd und passe nicht zu seinem sonstigen Schaffen. Dibian aber ereiferte sich, schlug mit Argumenten um sich und berief sich zuletzt wieder auf das untrügliche Gefühl der Selbstschaffenden, das sicherer sei als alle Ergebnisse der Kunstgeschichte.

»Ganz richtig«, sagte plötzlich eine Stimme hinter den Debattierenden. Bezug stand mitten unter ihnen. Niemand hatte ihn kommen gesehen. »Ganz richtig,« sagte er noch einmal, »Herrn Dibians Gefühl hat es getroffen. Es ist ein Velasquez, dies dort ein Rembrandt, drüben sehen Sie einen Luca Signorelli, die nackte Frau dort ist ein Tizian. Alles unbekannte Gemälde, die ich aufgefunden habe.«

»Meine Herren,« sagte er mit erhöhter Stimme, so daß sich alle nach ihm umwandten, »meine Herren, ich habe Sie hierher gebeten, um meine kleine Rede über die Kunst, die ich vorhin begonnen habe, vor ihnen zu vollenden.« Während dieser Worte wuchs Bezug über die Köpfe der Versammlung empor, so daß er jetzt von allen gesehen werden konnte. Die Nächststehenden bemerkten, daß sich ein kleines Postament mit ihm aus dem Boden hob, um ihm die erhöhte Stellung des Redners zu geben. »Was ich noch hinzuzufügen habe, paßt nicht für die große Menge, sondern nur für die kleine Schar der Erlesenen und Geweihten. Nur für Männer, die mit der Kunst verwachsen sind, die ihr Leben der Kunst hingegeben haben, als Schöpfer oder als Empfinder des Großen. Sie erinnern sich, daß ich im Laufe meiner öffentlichen Rede davon gesprochen habe, daß unser Leben eine Wiedergeburt durch die Kunst erfahren müsse.«

Bezug wartete einen Augenblick, bis ihn ein Gemurmel der Versammlung davon überzeugte, daß man sich seiner Worte erinnere.

»Daran möchte ich nun anknüpfen. Eine Wiedergeburt ... das heißt eigentlich, eine Steigerung der Lebenswerte durch die Kunst. So ist es. Aber: jedes Ding hat zwei Seiten. Betrachten wir einmal die andere Seite. Was ist wichtiger: das Leben oder die Kunst? Ich möchte sagen: das Leben ...«

»Gewiß!« rief Hecht, der an der Wand lehnte, weil ihn seine Beine nicht mehr recht trugen.

»Das Leben ist sicher wichtiger. Denn was haben wir von der Kunst, wenn unser Leben nicht ein fester Boden ist, auf dem wir stehen und die Wunder der Kunst genießen können. Und sobald wir zu dieser Erkenntnis gekommen sind, dürfen wir uns auch nicht mehr der anderen Erkenntnis verschließen, daß die Kunst eine Gefahr für das Leben bedeutet. Sehen Sie einmal um sich. Wie viele Menschen gibt es, die, vollkommen der Kunst hingegeben, das Leben und seine Herrlichkeiten vergessen. Die Dichter schmieden sich an ihre Schreibtische, die Maler und Bildhauer schließen sich in ihre Ateliers ein, die Kunstgelehrten graben Schachte und Stollen in die ungeheuren Gebirgszüge der Bücher; selbst die harmlosen Sammler stehen unter der Herrschaft ihres fixen Gedankens und stellen alles andere unter diesen despotischen Trieb. Das Leben rauscht an ihnen vorüber, aber es vermag nichts über sie, denn sie sind von der Kunst besessen. Die Kunst ist ein Dämon, ein gefährlicher Dämon, hütet euch davor, ihm ganz zu verfallen. Denn was wollen wir vom Leben? Was ist das Ideal aller Zeiten vom Leben gewesen? Die Freiheit der Persönlichkeit!«

»Um uns das zu sagen, hat er uns hier eingesperrt«, flüsterte Hauser dem Freund zu. Als habe Bezug den Einwurf Hausers gehört, sah er ihn durchdringend an und fuhr dann fort. »Jawohl, die Freiheit der Persönlichkeit. Ist es nicht so, als ob die Kunst darauf lauere, uns unsere Persönlichkeit zu rauben. Wenn wir von einem Kunstwerk hingerissen sind, von ihm erfüllt, was ist das anderes, als daß wir unsere Persönlichkeit aufgegeben haben. Wir denken die Gedanken eines anderen, wir sind gezwungen, einen Vorgang, eine Landschaft, einen Menschen so zu sehen, wie ihn der Meister gesehen hat. Wir sind besessen, meine Freunde, unser Ich ist uns geraubt, wir haben unsere Freiheit verloren. Die Kunst ist ein Dämon. Und sehen Sie unsere Galerien an. Müssen da nicht vor allem unsere Schaffenden verzweifeln, wenn sie die Massen dessen sehen, was schon geschaffen wurde, diese unendlichen Mengen von Kunst, an die sich so viele Gedanken und Empfindungen vergangener Jahrhunderte angesetzt haben. Und müssen unsere Schriftsteller nicht verzweifelt hinstürzen, wenn sie in eine Bibliothek treten, wo in Hunderttausenden von Bänden nichts als lauter Wortkunst angehäuft ist. In Galerien und Bibliotheken sind fürchterliche Dämonen daheim, Gespenster, Vampire, die uns überfallen.«

Bezug unterbrach sich. Die Versammlung atmete schwer und beklommen, niemand näherte sich, es war, als ob sich die Decke auf sie herabsenkte, als ob die Wände näher zusammenrückten. Eine Angst, eine heiße zitternde Angst, die irgendwo auf sie gelauert hatte, bemächtigte sich aller. Sie teilte sich ihnen mit wie ein Strom, der durch alle Körper fließt. Was wollte Bezug von ihnen? Warum sprach er so zu ihnen? Welchem Ziel steuerte seine Rede zu? Und zugleich war noch eine andere Empfindung da, etwas Unerklärliches, das sich neben der Angst in ihnen festsetzte und immer gewaltiger emporwuchs. Eine Begleiterscheinung der Angst, der sie keinen Namen wußten, Haß vielleicht, ein halb angenehmes, halb grausiges Gefühl.

»Wir wollen unsere Freiheit bewahren,« sagte Bezug, und er sprach seltsam eindringlich, »das Leben steht über der Kunst, wir wollen siegreich das Leben behaupten. Wer immer von der Heiligkeit der Kunst spricht und niemals an ihre Wunder zu tasten wagt, ist nicht frei. Nur der ist stark, der es vermag, alle Ehrfurcht von sich abzuwerfen, wenn es gilt, seine Persönlichkeit zu behaupten. Wir wollen die Kunst pflegen, wir wollen sie aber auch vernichten können. Jawohl, vernichten, wie einen Feind. Wozu, meine Freunde, alles bewahren, was uns vergangene Jahrhunderte an Kunst hinterlassen haben. Ich wollte ein großes Beispiel geben und eine unschätzbare Sammlung wie die Dresdener Galerie in Feuer aufgehen lassen können. Ich bin nur ein Privatmann und kann nur im kleinen wirken. Ich rufe den Geist Herostrats an. Er hat meinen Gedanken zum erstenmal gedacht: Er ist der wahrhafte Freie. Er und hie und da noch einer im Verlaufe der Geschichte, wie jener arabische Feldherr, der die Bibliothek zu Alexandria in Brand setzen ließ. Sie haben im Laufe eines Tages in meinem Haus der Kunst ihre Ehrerbietung dargebracht. Ich fordere Sie nun auf, sich wahrhaft frei zu zeigen. Hier sehen Sie eine Anzahl von bedeutenden Kunstwerken. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß diese Statuen und diese Bilder unermeßliche Werte darstellen und daß, wenn es mir gefiele, sie der Welt zu übergeben, ein Sturm des Entzückens durch alle Länder ginge. Aber es gefällt mir, sie zu vernichten. Vorwärts, meine Herren, dort hängen die Werkzeuge der Vernichtung ... vorwärts ... zerstören Sie, schlagen Sie in Trümmer, erweisen Sie Ihre Freiheit.«

Mit einer halbkreisförmigen Bewegung zeigte Bezug auf die Statuen und die Bilder an der Wand. Die Versammlung stand und starrte. Sie begriffen noch immer nicht, was Bezug von ihnen wollte. Er forderte sie auf, die Kostbarkeiten zu zerstören? Ja, war denn in einem solchen Verlangen noch eine Spur von Vernunft? Die Gründe waren ja ganz klar und wohlgesetzt vorgebracht worden und hatten sogar eine gewisse Beweiskraft. Aber noch wehrte man sich gegen das Ungeheuerliche, gegen den brutalen Wahnsinn. Trotzdem aber fühlten sie, wie sie in dem engen Raum, den der Wille Bezugs gewissermaßen erfüllte, zu unterliegen begannen.

Nur einer ging nicht in dem allgemeinen Strom unter. Es war Adalbert Semilasso, der sich ein wenig von der dichtgedrängten Menge der Versammelten entfernt und in eine Ecke gedrückt hatte, unbeachtet von den andern und auch von Bezug, der ihm den Rücken zuwandte, nicht bemerkt. Adalbert hatte bald nach seinem Eintritt in diesen Raum ein Bild gesehen, das seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Es mochte von einem italienischen Meister herrühren und zeigte ein Mädchengesicht von so sanfter Lieblichkeit, daß Adalbert staunend stehen blieb und nicht mehr loskommen konnte. Ein weiches, rundes Gesicht mit klugem, gutem Ausdruck in den Augen und einem entzückenden Mund. Der Hals war frei und führte in wundersamen Linien zu den zarten nackten Schultern und dem glatten ruhigen Ansatz der Brüste. Hier aber war das Bild abgeschnitten. Es war dem Format nach das kleinste unter allen Bildern, von einer so heiligen, keuschen Reinheit, daß es rührend wirken mußte. Was aber Adalbert sogleich bannte, war eine Ähnlichkeit, die ihn vor Glück erzittern machte, eine Ähnlichkeit mit Regina. Zuerst lächelte er über sich. Er erinnerte sich an das Wandgemälde an Eleagabals Haus, wo er auch in den Zügen der einen Frau diese geliebte Ähnlichkeit gefunden hatte. Sah er wirklich nichts anderes mehr als Regina? Er prüfte das Bild noch einmal, genauer, mit so viel kritischer Besonnenheit, als seine Aufregung zuließ. Aber er kam zu demselben Ergebnis. Es war wie ein Bild Reginas, das der Maler nach Jahren aus dem Gedächtnis wiedergegeben hat. Und zugleich mit dieser Erkenntnis kam er zu dem Entschluß, dieses Bild vor frivolen Blicken und schamlosen Äußerungen zu bewahren. Es war ihm, als sei es eine heilige Pflicht gegen seine Liebe, denn er fürchtete, daß die Keuschheit des Bildes unter der schwülen Sinnlichkeit, die ihm in diesem Raum zu liegen schien, leiden könnte. Gelassen hörte er die Rede Bezugs an und stand wie ein Wächter neben seinem Bild. Als aber die Aufforderung an die Gäste erging, zu zerstören, zu vernichten, erschrak er furchtbar. Sollte er dieses Bild verlieren? Er sah durch eine Kette von stürzenden Gedanken das eine ganz klar: er mußte Regina retten. Im Augenblick verknüpfte sich mit diesem Entschluß eine abergläubische Vorstellung: wenn es ihm gelang, so war es ein Zeichen dafür, daß er auch in Wahrheit die Geliebte erringen werde.

Bezug sah über die Versammlung hin und bemerkte, daß sie noch nicht ganz so weit war, wie er sie wünschte. Ein letzter Anstoß mußte kommen. Mit liebenswürdigem Lächeln gerade in das Gesicht des ihm zunächststehenden Behrens, trat er auf einen in dem Postament angebrachten Knopf. Die leuchtende Perlenreihe der Glühlichter verlosch und ein dunkles, rubinrotes Licht breitete sich, von schwarzen Schattenstreifen durchzogen, im Raum aus. Hinter den Marmorstatuen glomm es dichter und glühender, daß diese wie vor einem Vorhang von Feuer standen. Plötzlich sanken von der Decke zwei sichelförmige Pendel herab, das eine der Pendel vor der Reihe der marmornen Jungfrauen, das andere hinter ihr, und begannen zu schwingen. Es waren schmale, scharfe Pendel, Halbmonde mit dünnen Spitzen und so still war es, daß man hören konnte, wie sie zischend wie losschnellende Schlangen die Luft durchschnitten. Auf den blanken Stahl sprangen rote Lichter gleich lebendigen Flammen und zuckten sogleich wieder zurück. Die Pendel schwangen in einem steten Wechsel hin und her, bald dunkel wie wilde Vögel und dann wieder gleich gefährlichen Flammen, das eine vor, das andere hinter der Reihe der weißen Gestalten, gleichmäßig, unablässig, zunächst mit keinem andern Sinn, als dem einer Drohung. Wer zwischen diese Pendel geriet, der war verloren, das wußten alle, die in diesem Raum der furchtbaren Phantasie Bezugs preisgegeben waren.

Und plötzlich stand wirklich ein Mensch zwischen den sausenden Pendeln. Eine Frau, im Gewand ähnlich den steinernen Jungfrauen, zwischen denen sie stand. Woher sie gekommen war, wußte niemand. Aber nun war sie da, stand einen Augenblick ruhig und begann sich dann zu bewegen. Man erkannte die Seiltänzerin Bianca aus Kutschenreuters Zirkus.

Das Mädchen verließ ihren Platz zwischen den Statuen und begann mit einem Vor- und Zurückbeugen des Körpers. Während die Pendel gleichmäßig weitersausten, wagte sie sich in ihre gefährliche Bahn, wich noch im letzten Augenblick aus, wenn es schon aussah, als müßte die rot schimmernde Sichel ihren Körper zerfleischen. Zwischen den ernsten, weißen Gestalten bewegte sie sich sicher in Schlangenlinien, umkreiste die Statuen, sprang vor, um niederzuknien und das Pendel über ihren Kopf hinwegsausen zu lassen, wich zurück und ließ nur den Schleier flattern, den das Pendel sogleich in zwei Teile zerschnitt. Nun bückte sie sich, hob das abgeschnittene Ende auf und tanzte vor dem Pendel in den nächsten Zwischenraum zurück, um sich sogleich wieder in die Bahn der hinter den Marmorgestalten schwingenden Sichel zu wagen. Die Zuschauer standen wie versteinert. Niemand rührte sich, es war, als ob sie fürchteten, durch eine Bewegung, durch ein einziges Wort die Tänzerin in Gefahr zu bringen.

»Den Zweifelnden!« sagte da Bezugs Stimme, »den Zweifelnden! Seht hin, um wieviel größer das Leben ist als die Kunst.«

Die Tanzende zuckte zusammen und warf sich mitten in ihren wilden Rhythmen zu Boden. Ebenso plötzlich wie sie gekommen war, war sie verschwunden. Und nun brach der Atem der Zuschauer in heißen keuchenden Stößen los. Die ganze Masse schien aufgewühlt, schäumte und war im Begriffe, loszubrechen, um irgend etwas Unsinniges zu tun. Da fiel plötzlich in das dunkle, rubinrote Licht ein greller, flatternder, heller Schein. Aus dem Boden des Gemaches sprangen zu Füßen der Marmorstatuen lebendige Flammen auf, züngelten mit spitzen Leibern an den steinernen Gewänden hinan, mit leichten, ziehenden Rauchwolken, die sogleich die Arme und Gesichter der Jungfrauen schwärzten. Als seien die steinernen Körper durch die Berührung der Flammen belebt, schienen sie zu zucken und sich zu krümmen; die Züge wurden wie von unendlicher Qual durchwühlt. Hecht stand da, vorgebeugt und starrte auf die gemarterten Jungfrauen. Es durchfloß ihn heiß. Stände sie so da ... stände sie so da ...

Die Flammen schossen höher, über Brust und Schultern, griffen nach dem Hals und dem Kinn der Statuen, flackerten über die steinernen Stirnen und schlugen über den Köpfen der Gemarterten zusammen. Ein Knacken ging durch den Stein, und nun war es allen deutlich, was die Stunde von ihnen verlangte.

Mit einem Schrei sprang Hecht vor und stand nun dunkel vor den Flammen, schwankend mit weit ausgebreiteten Armen, als wollte er sich hineinstürzen. Er focht in der Luft, ballte die Fäuste gegen die Statuen und schrie unaufhörlich. Nun brach es hinter ihm los. Die Gäste stürzten auf die Werkzeuge zu, bewaffneten sich und stürmten gegen die marmornen Jungfrauen. In diesem Augenblick verloschen die Flammen und die wütenden Männer fielen über den glühenden geschwärzten Stein her, schlugen mit Beilen und Knütteln darauf los, außer sich und ohne Empfindung für Schmerz, wenn einer den heißen Marmor berührte oder von einem Schlag getroffen wurde. In sinnloser Raserei zertrümmerten sie mit Beilen und Eisenstangen die Gestalten; nicht zufrieden damit, daß der Marmor nach wenigen Minuten alle Deutungen menschlicher Körper verlor, hieben sie auch auf die formlosen Blöcke ein, schlugen sie in kleine Stücke und versuchten einer dem andern in der Zerstörungsarbeit zuvorzukommen. Plötzlich war es einigen zugleich eingefallen, daß die Statuen nicht die einzigen Kunstwerke in diesem Raum waren. Mit einem Schrei der Wut und Wollust stürzten sie sich auf die von Meisterhänden gemalten nackten Frauen. Diese Nacktheit stachelte sie an, machte sie noch wütender, schien ihnen entgegenzuschreien und zur mit der Zerstörung verbundenen Wollust aufzufordern. Hauser, der mit einem Beil bewaffnet war, lief voran und warf als erster sein Werkzeug gegen den ruhenden, weiß schimmernden Leib der Venus. Das Beil riß ein großes Loch in die Leinwand und brach im Herabfallen ein Stück des schweren vergoldeten Rahmens aus. Nun waren auch die andern heran, und in das Keuchen und unterdrückte Schreien ihrer Tobsucht war das scharfe Knistern der Leinwand, das harte trockene Brechen des Holzes gemengt.

Adalbert Semilasso stand in seinen Winkel gedrückt und hielt sein kleines Bildchen, das er zu Beginn des Getümmels herabgenommen hatte, unter dem Rock verborgen. Er sah mit Entsetzen der entflammten Raserei der andern zu und war entschlossen, wenn sich die zerstörende Wut auch gegen sein Bild wenden sollte, es mit seinem Leben zu verteidigen. Und er sah, wie Bezug dastand und dem Toben seiner Gäste zusah und wie er dabei lachte. Ein lautloses, fürchterliches Lachen, ein lodernder flackernder Triumph, an dem der ganze Körper wie im Fieber beteiligt schien. Von den Schultern herab lief eine Welle nach der andern über den Rücken Bezugs, und seine Finger schienen wie im Krampf erstarrt. Plötzlich wandte er sich nach Adalbert um, sah ihn in seiner Ecke, das Bild gegen seine Brust gedrückt und nickte ihm fast wohlwollend zu.

In diesem Augenblick schob sich die eiserne Wand zurück, und der Vorhang des Eingangs wurde sichtbar. Ein Diener hob die Falten auf. Frische Nachtluft kam in den heißen Raum und zugleich das Geräusch des Balles, eine wiegende, fröhliche Walzermelodie. Die Rasenden hielten inne, sahen sich wie erwachend an, mit einem verstörten Ausdruck in den Zügen, einem ins Entsetzen gewendeten Staunen, und die Werkzeuge der Zerstörung entsanken ihren Händen. Dann wandten sie sich ab und schlichen, ohne ein Wort zu sprechen, hinaus ... wie Hunde, wie beschämte, geprügelte Hunde.


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