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Adalbert Semilasso entdeckt die Welt

Durch schlafende Dörfer führte dieser neue Weg der Welt zu. Adalbert Semilasso trug sein Herz auf den Händen und seine Wünsche auf der Zunge. Er sprach in einem Übermaß des Glückes jedermann an, dem er begegnete: Eine Katze, die mit gekrümmtem Rücken auf einem Zaun saß, ließ sich von ihm streicheln, mit einem Hofhund, der ein verschlafenes Bauernhaus bewachte, sprach er einige Worte, und er freute sich darüber, daß der Hund sein Verständnis durch Wedeln bewies. Zu dem Gebrüll der erwachenden Kühe, zu den halblauten Rufen frühe geschäftigter Knechte kamen hoch oben die ersten Lerchentriller, wie goldene Pünktchen auf einer Wand von blauer Seide. Als er aber erst aus dem Kreis der Dörfer kam, wo man seine seltsame Pilgerkleidung und sein Wesen gewöhnt war, als mit dem Aufgang der Sonne die Menschen hervorkamen, da hörte er ein Lachen um sich. Er sprach einen Mann an, der vor einem Gehöft zwei große Hunde an den Milchkarren spannte: »Höre du, wo geht der Weg in die Stadt?« Der Mann sah den Frager an, seine Augen wurden weit offen und starr, und dann brach er, ohne zu antworten, in ein unbändiges Gelächter aus. Mit einem Achselzucken ging Adalbert weiter. Aber das Gelächter um ihn wurde immer lauter, und schon rief man ihm Worte nach, die er nicht verstand.

Nun wagte er nicht mehr zu fragen, sondern ging die einmal eingeschlagene Straße weiter. Er hatte, vom Hexenstein herabsteigend, ungefähr jene Richtung genommen, in der er an klaren Tagen die Stadt liegen sah; und als er endlich gegen Abend Türme und Schornsteine über einem Kissen von Qualm und Dunst erblickte, freute er sich des Wiedersehens. In den grauen Vorhang hoben sich hohe Dächer, und die Landschaft leitete sanft ansteigend mit kleinen Häuschen längs der Straße zu diesem gewaltigen Hintergrund. Immer mächtiger trat die Stadt hervor, und als Adalbert in die Vorstadtgassen kam, merkte er nichts von dem Dunst und Qualm. In seinen Vorstellungen hatte ein schwerer Rauch die ganze Stadt erfüllt und lag wie ein Tuch über allen Dingen. Er war entzückt, daß die Abendsonne so grell und scharf in blanken Fenstern flammte, daß die kleinen Gärtchen vor den Häusern so sauber waren. Vor einem gutgepflegten Rasenplatz stand er still und bewunderte die Glaskugeln an den Stöcken der Rosenbäumchen. Diese blaue, rote, grüne, blitzende Herrlichkeit war das Schönste, was er bis jetzt gesehen hatte. Er kam den Kugeln ganz nahe und fuhr zurück, als er sein Gesicht in breiter Verzerrung in ihnen sah. Sah er so aus? Der Bach hatte ihm anderes gezeigt! Dann mußte er aber herzlich lachen, denn er erkannte, daß alle Dinge so sonderbar wurden, wenn sie sich den Kugeln näherten. Sein Finger lief plötzlich gegen die Spitze zu an als ob er eine Geschwulst zu tragen hätte. Jetzt wußte er auch, was diese Kugeln zu bedeuten hatten. Es waren lauter köstliche Späße, runde, glitzernde Scherze, die für die öffentliche Heiterkeit sorgten.

Während er bewundernd vor den Glaskugeln stand, hatte sich hinter ihm eine Menge von Menschen angesammelt. Zuerst hielt er ihr Lachen für einen Chor zu dem seinen, für die Wirkung der lustigen Kugeln und freute sich umso mehr, so daß er noch herzlicher zu lachen begann. Nun aber mischte sich der schrille Klang des Hohnes und der Bosheit hinein, für den sein Ohr nun schon Empfindung gewonnen hatte, und er fühlte, wie man hinten an seiner Kutte zupfte. Er wandte sich um. Da stand die Menge und gaffte ihm lachend ins Gesicht. Adalbert Semilasso schämte sich plötzlich und wurde um so verwirrter, weil er sich nicht sagen konnte, wofür er sich schämte. Ein wenig Angst überkam ihn mit dem Gedanken, daß diese da am Ende über ihn herfallen könnten, wie damals die Burschen des Dorfes. Aber er rettete sich rasch in das Gefühl der Sicherheit: nun war er ja in der Welt, wohin seine Schwester verlangt hatte. Die wäre ja zurückgekommen, um ihn zu warnen, wenn die Stadt grausam und schlecht wäre.

Seine Verlegenheit hatte sich wieder zu einem Lächeln durchgerungen; er trug es leichter, daß man hinter ihm dreinlief. Vor einem Laden blieb er stehen, in dessen Fenster braune Brotlaibe und gelbe Semmeln lagen. Im Anblick dieser Dinge empfand er zuerst, daß ihn hungerte. Sein Tagesmarsch, der Wunsch, die Stadt zu erreichen, hatten ihm keine Zeit gelassen, daran zu denken.

Er betrat den Laden, in dem, eine Strickerei im Schoß, eine dicke Frau sanft schlummerte. Die Klingel schrillte die Schlafende auf und sie erhob sich, indem ihr ungestützter Busen in der leichten Bluse auf und ab schwankte. Fast erschreckt sah Adalbert Semilasso auf die ungeheuren Massen und die roten aufgequollenen Arme, die sich wie Pranken auf den Ladentisch stützten, während die Augen weitgeöffnet und starr mit dem Blick, den er nun schon so gut kannte, auf ihn gerichtet waren. Eine Katze war vom Schoß der Frau gesprungen und rieb schnurrend ihren Rücken an Adalberts Beinen. In einem runden, fast körperlich greifbaren Sonnenstrahl, der, wie aus einem Rohre geschossen, in den Laden drang und, sich trichterartig verbreitend auf die Körbe des Tisches fiel, lagen goldig glänzende Semmeln. Adalbert nahm zwei von ihnen, dankte und ging. Schon hatte er die Tür erreicht, als die Frau, die sich jetzt erst erholte, ihm nachrief: »He, Sie da!« Mit freundlichem Lächeln sah Adalbert zurück.

»Und bezahlen?« schrie die Frau, und ihr Busen schwankte bewegt auf und ab. »Und bezahlen? Bezahlen – nicht?«

Die Semmeln in der Hand, trat er auf sie zu: »Wie? Was willst du?«

»Jesus Mariataferl! Nimmt die Semmeln und geht! Ist so was schon dagewesen? Nimmt die Semmeln und will gehen? Johann! Johann!!«

Johann kam aus dem Nebenzimmer, ein breiter, dicker Kerl, der bis auf den Busen völlig seiner Mutter glich und die gleichen roten, aufgequollenen Pranken aus aufgestülpten Hemdärmeln streckte.

»Der da nimmt ganz einfach die Semmeln und will gehen, ohne zu zahlen! War so was schon da? Was sagst du dazu?«

»So ein Lump, ein verdammter!« Und schon faßte Johann den Fremden beim Kragen. »Geld her oder ich rufe die Polizei.«

Wie ein wandelnder Turm war die Mutter inzwischen zur Ladentür gewankt und riß sie weit auf, eben als ein Wachmann, den die Ansammlung vor der Bäckerei angelockt hatte, schon die Stufen heraufkam.

»Kommen S' nur, Wachmann, kommen S'. Der Herr da nimmt zwei Semmeln und will gehen, aber von Zahlen keine Spur.«

Alle Würde der Obrigkeit vernichtete den jungen Dichter. »Herr,« schnaubte der Wachmann unter dem hängenden Gebüsch seines Schnurrbartes, »also was ist denn wieder das?«

»Ich weiß nicht, was diese Frau von mir will?«

»Geld will ich! Sonst nichts; Geld!«

»Ich habe kein Geld!«

»Dann darf man auch keine Semmeln wollen.« Und Johann riß Adalbert die Semmeln aus der Hand und warf sie zu den übrigen in den Korb zurück.

Dem Wachmann war so etwas noch nicht vorgekommen: »Also Sie, machen Sie keine Witze. Und überhaupt – kommen Sie mit mir!«

Nun zog Adalbert Semilasso in die Stadt ein, einen Wachmann zur Seite, während eine sich immer vergrößernde Menschenmasse dem Spektakel folgte. Der Lärm der Straßen um ihn schwoll an, die Häuser schossen auf beiden Seiten in die Höhe, immer drohender und beängstigender wurden diese Massen von Stein, und als die Dämmerung kam, erhellten sie sich immer mehr, daß Adalbert vor Staunen sich selbst verlor. Es war ganz wie im Traum, sein Wille schlief und seine Phantasie entzückte sich an unerhörten Wundern. Durch einen hohen düsteren Torweg, in dem viele Männer standen, die glitzernde Helme und Säbel trugen wie sein Begleiter, kam er in ein kahles Zimmer mit eisernen Betten. Auf die Fragen des Mannes, der vor einem mit Papieren bedeckten Tisch saß, wußte Adalbert nichts anderes zu antworten, als seinen Namen. Endlich stand der Mann ungeduldig auf und sagte zu dem Begleiter Adalberts: »Ausschlafen lassen. Er ist entweder betrunken oder verrückt.«

Das Zimmer, in das man Adalbert nun brachte, war noch kahler als das erste und hatte ein einziges vergitterter Fenster auf einen Hof, in dem schon die Nacht lag. Auf den niederen Betten ringsum an den Wänden saßen und lagen einige Männer, die in ein lautes Gelächter ausbrachen, als sie den neuen Genossen erblickten. »Hörst du,« sagte ein schwarzer Mensch, dessen Gesicht von Blatternarben entstellt war, »du pilgerst wohl zum heiligen Grabe? Sind deine Sünden gar so schwer?«

Adalbert fühlte sich hier heimisch; man sprach ihn mit Du an und war, als sich die Verwunderung über sein Aussehen erst gelegt hatte, recht freundlich zu ihm. Hier war er wie unter Brüdern, und mit Ausnahme eines Betrunkenen, der in seinen beschmutzten Kleidern selbst wie ein Fetzen auf seiner Pritsche in der Ecke lag, und eines Mannes, der, den Kopf in die Hände vergraben, in einer andern Ecke saß, nahmen bald alle am Gespräch teil. Die Öllampe an der Decke brannte trübe, von Zeit zu Zeit wurde die Luke in der Tür geöffnet, und jemand sah in das Zimmer. Dann streckte der Blatternarbige stets eine ungeheure weißliche Zunge heraus, indem er in der Richtung der Tür grinste. Trotzdem die Luft Adalbert schwer und beizend in seine Lungen drang, trotzdem eine ungeheure Traurigkeit von den Wänden auszugehen schien, von der Decke herabsank und aus dem Boden aufstieg, trotzdem er jedesmal erschrak, wenn er aus dem Fenster in die vollkommen gestaltlose Dunkelheit des Hofes sah, gefiel ihm der lustige Ton der Gesellschaft. Vieles von dem, was die anderen besprachen, viele ihrer Fragen verstand er nicht, aber er bemühte sich tapfer um den Sinn dieser neuen Welt, in die er nun schon einmal gedrungen war. Er merkte, daß ihm vieles fehlte, was den anderen geläufig war und wonach zu fragen nur ihr Gelächter erweckt hätte. Seine ganze Aufmerksamkeit war darauf gestellt, zu erfahren, wo sie sich hier eigentlich befanden. Man hatte sie doch hier wohl kaum zusammengebracht, um sich zu unterhalten. Keine Angst um seine Zukunft, nur eine Neugierde nach den nächsten Erlebnissen quälte ihn.

Nachdem man eine Zeitlang von Dingen gesprochen hatte, von denen Adalbert nur wenig verstand, wandte sich der Blatternarbige mit der Frage an ihn, warum man ihn eigentlich hierhergebracht hatte. Adalbert erzählte die Geschichte von den Semmeln. Ein schallendes Gelächter brach los.

»Aber, junger Mann, wie kannst du dich an fremdem Eigentum vergreifen?« Der Blatternarbige gebrauchte eine andere Ausdrucksweise und einen andern Tonfall, wenn er mit Adalbert, als wenn er mit den übrigen sprach. Seine Worte gingen wie auf Stelzen.

»Was ist das, Eigentum?« fragte Adalbert.

Man lachte wieder, noch lauter als zuvor. »Eigentum ist stets das, was die andern haben.«

»Eigentum ist das, was man gerne haben möchte und was man nicht nehmen darf.« Der Mann in der Ecke sah auf und warf lange schwarze Haarsträhnen mit einem Ruck aus dem Gesicht. Eine dünne rote Krawatte saß hoch an seinem Halse, als ob hier ein Blutstreifen den Kopf vom Rumpfe trennte. »Eigentum ist Diebstahl,« sagte er mit einer Gebärde, die zur Empörung aufzufordern schien. Es war ein Volksredner, der heute abend wegen einer aufrührerischen Rede verhaftet worden war.

»Und was ist Diebstahl? Diebstahl ist Notwehr. Also ist Eigentum Notwehr!« Herausfordernd sah sich der kleine Mann mit dem roten Gesicht, der dies gesagt hatte, im Kreise um.

»Du bist ein Konfusionsrat!« sagte der Blatternarbige.

»Ich bin ein Sophist,« und der kleine Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. »In Logik war ich auf dem Gymnasium immer der Erste!«

Adalbert wagte die Frage nach dem Sinn des Wortes Geld. Nun geriet alles in Aufregung, als ob er eine Zauberformel ausgesprochen hätte.

»O Geld! Geld ist Jugend, Schönheit, Vergnügen.«

»Geld ist unsere Sehnsucht.«

»Geld ist ... Geld ... ist Geld!«

Ein gewaltiger Respekt vor diesem mächtigen Wort blieb in Adalbert zurück. Sehr gespannt auf das, was der morgige Tag bringen würde, legte er sich auf eines der Betten neben den Mann mit den langen schwarzen Haaren und der roten Krawatte, als die andern sich gähnend zur Ruhe begaben. Ganz neue Begriffe hatten sich in sein Denken gedrängt und erschütterten alle Vorstellungen. Immer sonderbarer und verwickelter erschienen ihm die Beziehungen der Welt, in die er mit einem Male geraten war. Noch hörte er das Gelächter der Menschen und einmal fuhr er jäh empor, weil er wieder fühlte, wie ihn Johann am Kragen faßte; dann glitt er in einen traumlosen Schlaf.

Um Mitternacht gab es Lärm und Unruhe. Ein Frauenzimmer wurde gebracht, ein Weib mit einer roten Bluse und einem schiefsitzenden Hut, von dem schwarze Federn baumelten. Sie sah den schlafenden Männern ins Gesicht, als ob sie Bekannte suchte.

»Servus, Annerl,« sagte der Blatternarbige von seinem Bette her. »O je! Haben s' dich schon wieder?«

»Ja, ich feier' heute mein fünfundzwanzigstes Jubiläum.«

Adalbert hörte noch das Lachen des Weibes, dann war er wieder im Dunkel des Schlafes versunken.

Am Morgen, der trüb und zögernd in das von den Ausdünstungen schlafender Menschen erfüllte Zimmer kam, wurde Adalbert vor einen jungen Mann gebracht, der ihn verwundert betrachtete und sich vergebens bemühte, gelassen zu erscheinen. Die Fragen von gestern abend wiederholten sich und Adalbert konnte keine besseren Antworten geben als gestern. »Hören Sie,« sagte der Beamte, »zuerst fordere ich Sie auf, nicht Du zu mir zu sagen. Das ist eine unverschämte Frechheit.« Adalbert nahm sich vor, seinem Wunsch zu folgen. Aber seine Auskünfte wurden darum nicht klarer.

»Aber Sie müssen doch wissen, ob Sie ledig oder verheiratet sind. Ob Sie eine Frau haben oder nicht.«

Da kam die Erinnerung an Barbara zurück, und Adalbert wollte schon die Geschichte seiner Liebe erzählen, als der Beamte fortfuhr: »Und Sie sollten doch auch wissen, welche Religion Sie haben. Sie machen nicht den Eindruck eines gänzlich unintelligenten Menschen. Und das wissen doch selbst die stupidesten Kerle.«

Nachdem der Beamte sich lange genug in Geduld geübt hatte, rief er einen Wachmann: »Sagen Sie dem Herrn Doktor, er möchte einen Augenblick herüberkommen und nehmen Sie den Mann einstweilen ins Nebenzimmer.«

Adalbert wartete in einem kleinen Raum, der an das Zimmer von heute Nacht erinnerte und auch ein wenig wieder an das andere Zimmer mahnte, das er eben verlassen hatte. Hohe Schränke, in denen verstaubte Stöße alten Papieres lagen, schwer von Gewicht, so daß sich die Bretter bogen, standen an den Wänden. Als Adalbert eine Stunde lang umsonst gewartet hatte und vor Langeweile schon verzweifeln wollte, ging er durch die Nebentür, kam auf einen langen Gang, stieg einige Treppen hinauf und hinab, kreuzte einen Hof und gelangte endlich auf eine Straße. Er ging immer weiter und ließ das Leben der Stadt auf sich eindringen. Mit Bewunderung sah er die Wagen der Straßenbahn, die von einer unerklärlichen Kraft bewegt wurden, die Laden voll von seltsamen Dingen, deren Zweck ihm fremd war. Vor einem Eisenwarengeschäft stand er lange Zeit und begrüßte die Geräte, Hammer, Schaufel, Haue und Säge, wie alte Freunde. In einem Park rastete er auf einer Bank und sah die Spaziergänger an sich vorübergehen. Seinen Hunger, der sich trotz des Frühstücks, das man ihm in seinem Nachtquartier gegeben hatte, bald wieder wild erhob, versuchte er durch das Kauen von Pflanzenblättern zu beschwichtigen. Solange er das geheimnisvolle, mächtige Geld nicht hatte, wollte er keinen Laden betreten, um eine Wiederholung des gestrigen Auftritts zu vermeiden. Gegen das verwunderte Lachen der Menschen abgestumpft, blind gegen die sonderbaren Grimassen der Begegnenden, wanderte er weiter und weiter, bis er abends, einer breiten Straße folgend, zu den niederen Vorstadthäusern kam. Das freie Feld lag vor ihm und er lief allerlei Wege vor der Stadt kreuz und quer, ein wenig eingeschüchtert und ein wenig verdrossen, daß er in dieser Welt, die er ausgesucht hatte, nicht festen Fuß fassen konnte. Von einem Hügel aus sah er in der Ferne, blau am Horizont, den Rücken des Hexensteines. Dort hatten nun die Raupen ihr Werk begonnen. Fast beneidete er die Tiere um diesen ungeheuren Vorrat an Nahrung, der selbst einem Heer von solcher Gefräßigkeit auf lange Zeit genügte. Ein einsamer Spaziergänger kam über den Hügel. Adalbert trat ihm in den Weg und fragte ihn, ob er ihm nicht Geld geben könne. Mit einem Stoß vor die Brust machte sich der Mann frei und rannte abwärts, der Stadt zu. Noch lange sah ihn Adalbert auf den Feldwegen laufen. An diesem seltsamen Benehmen verstörten sich seine Gedanken und als er in ein Gewirr von Erdhügeln, Gräben und Schutthaufen geriet, war er entschlossen, nicht mehr in die Stadt zurückzukehren, sondern hier zu übernachten. Während er nach einem passenden Platz suchte, hörte er hinter einem der Erdhügel Stimmen und sah, näher kommend, einige Hütten. Unter einem Dach, das sich schräg auf Pfosten stützte, saßen Männer um ein Feuer, über dem ein Kessel hing. Eine scheußliche alte Frau wie aus bösen Träumen schöpfte ihnen einen Brei in blecherne Schalen. Abseits saßen zwei von ihnen in einem Kreis von Zuschauern und streckten mit rasender Geschwindigkeit die Finger ihrer Hände gegeneinander aus, indem sie dazu ebenso rasch Worte in einer unverständlichen Sprache riefen.

Adalbert trat unter sie. Unter breitkrempigen Hüten sahen braune Gesichter mit dunklen Augen nach ihm. Man umringte ihn und fragte ihn in einer fremden Sprache aus. Ratlos stand der Dichter da und ermaß den Raum, der ihn von dem Kessel trennte, an dem seine Sehnsucht hing. Als die Italiener bemerkten, daß der Fremde kein Wort ihrer Sprache verstehe, holten sie den Partieführer, der schon in einer der Hütten lag und schlief. Mit den wenigen Worten der deutschen Sprache, die dem schwarzen Kerl bekannt waren, mehr noch mit Gebärden zimmerte ihre Anteilnahme eine Brücke der Verständigung. Endlich wurde es ihnen klar, daß Adalbert hungerte, und nun bildete sich rasch ein weiter Kreis um den Kessel, aus dem die alte Frau für den Fremden Brei schöpfte. Die Moraspieler ließen ihre Unterhaltung und setzten sich zu den andern, die dem Schauspiel dieser Sättigung zusahen. Diesen Menschen, die ferne von ihrer Heimat der harten Arbeit lebten, war es eine Freude, einem ganz Heimatlosen Gastfreundschaft gewähren zu können. Unter ihrem Dach, an ihrem Feuer saß ein Fremder, dessen Gebaren und Tracht von der Art der Menschen abwich, und wie in einem geheimen Einverständnis erkannten sie ihn als Verwandten an einem tief in seinen Blicken verborgenen Schimmer. Die Kerle verloren für Adalbert ihre räubermäßige Ruppigkeit, die alte Hexe war durchaus nicht so scheußlich, die Sprache klang nicht umsonst so fremd, der Brei schmeckte besser als irgendeine andere Speise, die Adalbert jemals gegessen hatte. Er legte den Löffel aus der Hand und freute sich, als ihn die Alte wie belobend auf die Schulter klopfte. Ganz leise begann einer ein venetianisches Lied zu singen, mit einer Stimme, die wie Seufzer verliebter Mädchen über Wassern schwebte, die andern schlossen sich an und ein schlankes Volkslied stand mitten unter ihnen. Dann sang Adalbert von der Einsamkeit, er sann den Worten nicht lange nach, sie kamen ihm von selbst auf die Zunge und die Töne waren zugleich mit ihnen da. Vom Wald und vom Hexenstein erzählte sein Lied und schmerzlich trübe wurde seine helle, frische Farbe, als er dazu kam, wie seine Liebe vernichtet worden war. Nun kroch es heran, wimmelnd, tausendbeinig, Wort, Rhythmus und Ton drückten eine Gefahr aus. Aber nun befreite es sich und flog weiter, mit kühneren Worten der Welt entgegen, entschlossen, ihr Widerstreben zu besiegen. Die Italiener ahnten den Sinn der unverstandenen Worte und waren still, solange Adalbert sang. Als er geendet hatte, dankten sie ihm durch ein anderes Lied, und so hielt sie ein Wechselgesang bis mitten in die Nacht wach. Als Adalbert sich erhob, um mit ihnen in die Hütten zu gehen, war der Himmel hell von Sternen. Die Erde lag in ehrfürchtiger Finsternis und schwieg vor den Erhabenheiten der Nacht, deren Perlenketten bis ganz tief herabhingen, daß ihre Enden über die fernen Bergwälder zu schleifen schienen.

Es fügte sich ganz von selbst, daß Adalbert in die Reihen der Italiener eintrat und an ihren Arbeiten teilnahm. Man gab ihm den Anzug eines gestorbenen Arbeiters, und der Partieführer meldete ihn bei den Leitern des Baues als Ersatz für den Toten an. Nun baute Adalbert mit den andern an dem Werke, das die Stadt mit Wasser versorgen sollte. Wenn er, tief unten in einem engen Schacht eingekeilt, den harten Widerstand der Erde empfand, wenn er, mit Lehm beschmiert und von Grundwasser durchnäßt, seine Haue schwang, richtete er sich oft auf und sah den Himmel als schmales blaues Band über seinem Kopf. So war jetzt sein Leben: die Aussicht auf ein wenig Licht, das mit geraden, unerbittlichen Linien von der Welt abgeschnitten war. Aber es war wenig Zeit, zu träumen, denn die Italiener sahen darauf, daß die übernommene Arbeit zum bestimmten Endpunkt fertig werde, damit sie in die Heimat zurückkehren könnten. Adalbert lernte nun viele neue Begriffe. Am sonderbarsten war ihm die Handvoll runder Dinger, die er am Ende jeder Woche erhielt und in denen er das Geld erkennen mußte. Langsam wuchs sein Verständnis für das Leben der Welt, die sich an tausend Punkten selbst fesselte, indem sie sich an Worte band. Einmal kam ein Vogel aus dem Walde und erzählte ihm so wunderbare Geschichten, daß Adalbert seine Haue still niederlegte und aus dem engen Schacht kroch, um ihn besser zu verstehen. Alle Märchen des Waldes begannen zu klingen, daß der Dichter seine Brust mit beiden Händen drückte, um den Schmerz darinnen nicht zu fühlen. Gerade als der Vogel von den traurigen Mondscheinfrauen sang, war es, als ob der Boden unter Adalbert erzitterte, und ein Schrei unterbrach das Gezwitscher. Adalbert rannte zum Schachte zurück, aber er sah ihn mit Erdmassen ausgefüllt, und rieselnd stürzte der Sand der Oberfläche den großen Schollen nach. Eine Erdrutschung hatte die Kameraden, die da unten mit Adalbert gearbeitet hatten, verschüttet. Nach vielen Stunden hastiger Arbeit stieß man auf ihre Körper. Drei von ihnen waren tot, der vierte lebte noch eine Nacht und starb am nächsten Morgen. Nach dem Begräbnis nahm der Partieführer ein Papier und schrieb ihre Namen zu einigen anderen, die schon auf der Liste standen, machte zu jedem ein Kreuz und merkte den Betrag an, der als ihr Guthaben den Angehörigen auszuzahlen war. An diesem Tage war Adalbert sehr still und sah öfter nach dem blauen Himmelsband als sonst.

Trotzdem er die Sprache der Arbeiter schon genügend kannte, um sich unter ihnen wohl zu fühlen, trotzdem sie ihn liebten und freundlich behandelten, war Adalbert von da an verstört und nicht geneigt zur Arbeit. Die Gefahr, die er nicht kannte und nicht einmal ahnte, hatte ihre Schleier zerrissen und war vor ihn getreten. Ach er hatte nicht Lust, von der Erde verschüttet zu werden oder seinen Weg in die Welt durch einen Sturz in einen Schacht zu beenden. Immer sah er die Toten vor sich mit den zerquetschten Leibern, den eingedrückten Brustkasten und den verrenkten, aus den Lagern gerissenen Gliedern, mit den Augen, in deren Winkeln noch Spuren vom Sand waren, und den Lippen, auf denen sich blutiger Schaum mit Lehm zu einem Brei vermengt hatte. Einer der gekrümmten Finger Beppos hatte sich in den Rock Adalberts eingekrallt, als dieser ihn mit andern davontrug, und als man ihn nun niedersetzen wollte, hielt ihn der Finger wie ein Haken fest. Mit einem Schlag auf die Hand des Toten hatte sich Adalbert befreit. Aber manchmal fühlte er es wie ein leichtes Zupfen an seinem Rock, und mit Grauen empfand er dies als eine Mahnung.

Nun kam er darauf, sich zu befreien und zur Welt zurückzufinden, die er nur von ferne wie durch Gitterstäbe betrachten durfte. Am besten wäre es gewesen, einfach davonzugehen, aber seine Dankbarkeit verpflichtete ihn, vor sich selbst eine Entschuldigung zu suchen.

Sonntags gingen die Erdarbeiter auf die umliegenden Dörfer, um sich mit ihren Samtröcken, den breiten Hosen und großen Hüten zu zeigen. Den Burschen, die auf den Tanzunterhaltungen die Herrschaft ausübten, waren sie wenig willkommen. Oft genug gab es Raufereien, wenn es die Italiener wagten sich in die Fröhlichkeit der andern zu mischen. Meist blieben sie ja unter sich, in einen Haufen zusammengerottet und sahen nur von ihrer Ecke aus dem Tanz zu. Aber unter ihnen waren auch jüngere Burschen, verwegene Kerle mit blitzenden Augen, die, von dem Takt der Musik verführt, von dem Duft der Mädchenröcke und der Leiber erhitzt, ihren Anteil an der Lust begehrten. Da sie sonst mäßig waren und ihre Kräfte zu keinem Genuß anspannten oder darin erschlafften, wirkte hier Klang und Schwang um so aufreizender. Alle in ihnen gesammelte und bewahrte Fähigkeit, zu lieben, und ihre rasche und berauschende Art, zu werben, brach bei solchen Gelegenheiten hervor. Und die Mädchen, die von der langsamen und stumpfen und plumpen Art ihrer Burschen genug hatten, denen die südliche Beweglichkeit, das deutlich fühlbare Feuer der Italiener gefiel, warfen sich gern den Überlegenen in die Arme. Das Fremdartige zog sie an: die braunen Samtröcke und Gesichter, die seltsam geformten Hosen, in deren Taschen – das wußten sie – die Messer locker genug saßen. Darüber wurden die Burschen um so erzürnter, und die Jugend aller Dörfer verband bald eine allgemeine Verschwörung, deren Anzeichen und Vorbereitungen die gelegentlichen Raufereien waren.

An dem Sonntag, der Adalbert von seinen Freunden befreien sollte, einem schönen Sonntag des Spätsommers, zog er mit ihnen zum Kirchweihfest eines benachbarten Dorfes. Über die kahlen Felder, die ganz von den silbernen Fäden des Altweibersommers übersponnen waren, kam die Musik des Festes und schien, von dem leuchtenden Netz gefangen, nahe dem Erdboden schweben zu bleiben. Um den Baum, der in der Mitte des Dorfplatzes, mit Reisig und Papierblumen geschmückt, den Mittelpunkt des Festes bezeichnete, standen die Mädchen in doppelten Reihen. Sie hielten sich bei den Händen und zogen immerfort um den Baum in einer Gegenbewegung des äußeren und des inneren Ringes, indem sie dazu ein altes Tanzlied sangen. Ihre steifen, weit abstehenden Röcke, unter denen noch eine Unzahl von Unterröcken Wohlstand und dörfliche Eleganz anzeigten, waren aus einem besonderen schillernden Stoff, der neben einer grellen Hauptfarbe noch eine ganze Leiter von Nebentönen trug. Die bunten Kopftücher und Spenser, die weißen, bauschigen, um den Hals gekrausten Hemden verbreiteten einen Geruch nach neuem Kattun und gestärkter Leinwand. Im Kreise der Mädchen gingen die Festordner umher, Burschen, deren Hüte dicht mit ganzen Türmen von umbänderten Blumen, Papiertüten, Bildern und Glasstückchen besetzt waren, und trugen ihren Ballschönen in Blechgefäßen Bier zu. Dann begann wieder die Musik, und nachdem die Vortänzer ihre Einzeltouren getanzt hatten, lösten sich die Ringe der Mädchen in Paare auf. Von einem kleinen Hügel aus sahen die Italiener dem Wirbel zu. Schon hatte sie die Ansteckung erfaßt, schon war Begehren in ihren Augen, und einige von ihnen glitten hinunter, um den Mädchen zu folgen, die sie sich erwählt hatten. Adalbert sah in seiner Sonntagskleidung, die er um ein weniges seiner Ersparnisse aus dem Nachlaß eines Toten erstanden hatte, aus wie einer seiner Kameraden, aber er hütete sich, ihrem Beispiel zu folgen; seiner Besonnenheit entging es nicht, daß hier etwas gegen sie im Werke war. Abseits vom Tanzplatz standen Gruppen von Burschen, die sich nicht am Tanze beteiligten und auf irgendein anderes Geschäft zu warten schienen, während Adalbert einen von ihnen beobachtete, der, mit wütenden Gebärden nach der kleinen Schar von Fremden hin und nach den Mädchen, die andern aufzureizen schien, entstand in dem Wirbel der Tanzenden ein Getümmel. Irgendein Anlaß hatte den Haß entfesselt. Man schlug sich dort unten. Nun ging es im Laufschritt den Hügel hinab, unter das Gewühl. Im ersten Ansturm befreite man die Überfallenen, von denen einer schon übel zugerichtet war. Aber auch einer der Bauernburschen blutete von einem Messerstich in die Hand. Er hob die blutenden Finger hoch, schüttelte sie, daß die roten Tropfen auf die weißen Hemden der Mädchen spritzten, und schrie wie ein Besessener. Die Mädchen liefen davon und in den Rücken der Italiener brachen die bereitgehaltenen Verstärkungen. Mit Knütteln und Stecken, die von den nächsten Zäunen gerissen wurden, fielen die Burschen über sie her und mieden die Messer der Feinde durch fürchterliche Hiebe auf Arme und Hände. Adalbert rannte einen Festordner nieder, nahm ihm seinen Knüttel ab und schlug brav um sich, vom Tanzplatz stieg der Staub in dichten Wolken auf und ließ den Verlauf des Kampfes nur nach dem fürchterlichen Geschrei ahnen. Wenn es einem der Italiener gelang, den Gegner zu unterlaufen, so stach er, an seinen Hals gekrallt und fürchterliche Flüche zwischen den Zähnen murmelnd, blind in Gesicht und Brust darauflos, weit öfter als nötig war, um den Feind unschädlich zu machen. Wie eine wütende Katze in sein Opfer verbissen, ließ er sich von dessen Freunden niederschlagen. Die Burschen rauften planvoller, mit mehr Überlegung, ruhiger, fast sachlich. Ihre Taktik ging dahin, den geschlossenen Haufen der Feinde zu zersprengen. Adalbert wurde mit andern gegen ein Haus gedrängt. Ab und zu sah er durch den Staub einen verwundeten vorüberwanken. Es war, als ob ihn das alles nichts anginge. In ihm war das Blut der Angreifer und ließ ihn, während er fürchterliche Hiebe nach links und rechts austeilte, die Lage erwägen. Zwischen zwei Häusern war ein schmaler Weg, der an Gartenzäunen hin ins freie Feld führte. Er rief seinen Kameraden zu, hier zu flüchten und trat mit seinem Knüttel in den Engpaß. Vor seiner entschlossenen Miene und seinen schrecklichen Gebärden wichen die Verfolger zurück. »Esel,« rief er ihnen in ihrer Sprache zu, »jetzt ist es genug mit diesen Dummheiten. Zum Teufel auch, ihr habt brav gerauft und jetzt ist Schluß!«

»Was tust du bei den Katzelmachern?« schrie einer.

»Geht euch das was an, Schafsköpfe!« Und Adalbert schlug einen, der auf ihn lossprang und ihm den Knüttel entreißen wollte, über den Kopf, daß es krachte. Die andern überlegten, und Adalbert sah, daß der Zorn des Kampfes von ihnen wich. Langsam zog er sich zwischen den Gartenzäunen zurück, und als er das freie Feld erreicht hatte, lief er auf den Trupp der Kameraden zu, die hier draußen, durch Zuzug aus dem Lager verstärkt, die Flüchtenden aufnahmen. Noch zeigten sich einige besonders entbrannte Verfolger, aber sie begnügten sich damit, schreiend mit den Knütteln zu drohen. Man zog sich geordnet zurück.

Abends gab es Not um Leinwandbinden im Lager der Italiener. Die alte Köchin verband bis tief in die Nacht hinein Köpfe und Hände, renkte Arme ein und spuckte unter Gebeten dreimal auf den Leib der innerlich Verletzten. An ihren Fingern klebten schwärzliche Klumpen und ihr Gesicht war mit Blut beschmiert, daß sie noch scheußlicher aussah als sonst, eine Hexe, die in Leichen wühlt. Aus dem schwarzen dick verfilzten Haar des Partieführers, das wie eine grobe Decke über einer klaffenden Kopfwunde lag, zog sie mit spitzen Fingern einen Knochensplitter. »Ich danke dir,« sagte der Mann mit schief gezogenen Mundwinkeln zu Adalbert, der vor ihm stand, »du hast die Schlacht entschieden.« Und mit der Höflichkeit des Italieners setzte er hinzu: »Unsere Dankbarkeit ist tausendfach, du bist ein Held, du wärest würdig, ein Italiener zu sein.«

Adalbert drückte seine Hand. Dann ging er in seine Hütte, zog den Arbeitsanzug an und verließ das Lager, gerade als der Gendarm eintraf, um sich nach dem Hergang der Rauferei zu erkundigen. Nun war er von den Freunden frei und kehrte zurück, um die Welt zu suchen.

Einige Tage lang lebte er nur im Anschauen der Wunder in der Stadt. Es machte ihm Vergnügen, die Macht des Geldes zu erproben und von seinen Ersparnissen allerlei unnötigen Kram anzuschaffen, mit dem er seine Taschen füllte: Porzellanfigürchen, Metalldosen, Löschrollen und einen Damengürtel aus schwarzem Leder. Abends hielt er sich gerne in einer der Hauptstraßen auf, wo vor den hellerleuchteten Geschäftsläden schöne Damen vorbeigingen. Adalbert starrte sie an und ahnte nicht, daß er mit seinem Gelde eine von ihnen hätte kaufen können.

Aber dieses Geld schmolz zusammen, und bald mußte er sich zu dem Entschlusse verstehen, wieder zu arbeiten. Er trat in ein Bureau, über dem zu lesen war: »Städtisches Arbeitsvermittlungsamt«, hier gab es wieder Fragen nach seiner Beschäftigung und seiner Vergangenheit, denen Adalbert die Antwort nicht verweigern mußte; denn nun hatte er sich ja schon eine Vergangenheit erobert. Endlich sagte man ihm – der dicke Herr schmunzelte und blinzelte dabei seinem Schreiber zu –, er solle sich in der Tuchfabrik von A. Weißgerber & Sohn melden. »Wenn Sie auch nicht in Tuch gearbeitet haben, so wird man Sie doch gut aufnehmen, wenigstens vorläufig werden Sie willkommen sein.« Das Lächeln des Beamten wurde immer spöttischer, als sich Adalbert weitläufig bedankte, und als er ging, hörte er die beiden hinter sich in Lachen ausbrechen. Was gab es da zu lachen, wenn einer arbeiten wollte? Empört suchte Adalbert die Fabrik von A. Weißgerber & Sohn auf, und entschlossen schritt er auf das große Hoftor zu, als er plötzlich von einem Mann angehalten wurde.

»Hören Sie,« sagte der Mann und legte eine breite Hand mit abgenagten Fingernägeln, über die das Fleisch vorquoll, auf die Schulter Adalberts, »wohin gehen Sie denn?«

»Hier in die Fabrik hinein, wie Sie sehen. Lassen Sie mich los!«

»Was suchen Sie denn hier in der Fabrik, Sie ...«

»Ich suche Arbeit. Und jetzt ...!«

»Das gibt's nicht«, schrie der Mann, und aus der Gruppe, die sich rasch um die beiden gebildet hatte, fuhren Fäuste vor und drohendes Geschrei erhob sich: »Hu! Hu!«

»Lassen Sie mich aus. Was wollen Sie von mir?«

»Du wirst nicht arbeiten, das sag' ich dir. Wir dulden das nicht. Nicht wahr, Genossen!«

»Nein! Gibt es nicht!«

»Mit Streikbrechern machen wir kurzen Prozeß.«

»Wir lassen uns nicht unterkriegen.«

»Die Verräter soll man erschlagen.«

Adalbert verstand von dem Geschrei, von den Drohungen, von dem Getümmel um ihn nur so viel, daß man ihn verhindern wollte, Arbeit zu suchen, und indem er den Mann mit den abgebissenen Nägeln von sich stieß, sprang er auf einen Eckstein und schrie »Ruhe«. Den Arbeitern, die an die Begebenheiten der Volksversammlungen, an die Art der öffentlichen Redner gewöhnt waren, brachten seine gebieterischen Gesten mit einem Male Achtung bei, und Adalbert konnte sprechen. »Was wollt ihr von mir? Warum hindert ihr mich? Ich weiß nicht, um was es hier geht. Ich weiß nur, daß ich Arbeit suche. Warum? Weil ich gelernt habe, daß man durch Arbeit Geld verdient und daß man verhungert, wenn man kein Geld hat.«

»Sehr richtig, sehr richtig«, schrien einige in dem Haufen gegen die übrigen an.

»Ich will leben, und so unangenehm die Arbeit ist« – hier hatte der Redner allgemeine Zustimmung –, »so ist sie doch notwendig. Ich bitte euch, laßt mich weitergehen und haltet mich nicht länger auf.«

Einige Arbeiter, ernste, gesetzte Männer mit breiten Schultern und wuchtigen Fäusten, brachen aus der Menge zu Adalbert durch und nahmen ihn in ihre Mitte. »Recht hat er! Recht hat er!«

»Meine Kinder haben Hunger.«

»Mein Weib ist krank.«

»Der Kaufmann borgt mir nichts mehr.«

»Wir brauchen Geld.«

»Wir wollen arbeiten.«

Die andern drangen empört auf die Abtrünnigen ein und wollten Adalbert herabreißen. Ein Kampf entspann sich, eine allgemeine Verwirrung warf die Gegner durcheinander. Man hieb sich mit Faustschlägen die Hüte vom Kopf, man zerrte sich herum, man wälzte sich auf dem Boden. Plötzlich klirrten Fensterscheiben. Wie ein elektrischer Schlag fiel das in die Menge und wendete ihren gemeinsamen Zorn gegen die Fabrik. Irgend jemand behauptete, daß der Fabrikant hinter den Fenstern stehe und zusehe, wie sich seine Arbeiter untereinander prügelten. »Was, während wir uns hier erschlagen, steht er oben und reibt sich die Hände!« Und in einem Augenblick waren die grimmigen Gegner versöhnt, alle Besonnenheit war fort, die Rufe der Not gingen in einem Geschrei unter, das die Forderungen der Arbeiter in Schlagworten, schwer wie Steine, gegen die Fenster schleuderte. Der Gedanke, daß der Fabrikant in gesicherter Ruhe warten konnte, bis sie sich in vergeblichem Zorn verzehrt hätten, bis sie, von Hunger erschöpft, von Uneinigkeit zerrissen, demütig um Arbeit betteln würden, machte sie rasend. Von Minute zu Minute stieg die Hitze dieses Körpers von tausend Köpfen. Die Steine flogen immer dichter, Eisenstäbe und Ziegel zertrümmerten die Fensterrahmen, man riß die Firmentafel herab und zerschlug sie auf dem Pflaster.

Adalbert stand unter den andern und staunte über diesen Anfall von Wahnsinn. Da fühlte er, wie ihn der Strom der Menge zur Seite riß. Pferdehufe klapperten auf dem Pflaster und über den Köpfen der Arbeiter erschienen berittene Polizisten, die mit den Säbeln dreinschlugen. Die Menge wich in die Seitenstraßen zurück und räumte den Platz vor der Fabrik. Infanterie zog auf und besetzte die Eingänge des übel zugerichteten Gebäudes, während eine Kompagnie mit gefällten Bajonetten daran ging, die Straßen zu säubern.

»Gesindel!« schrie der Mann mit den abgenagten Fingernägeln, »Kommißbrotfresser!« Steine prasselten und trafen. Einem Soldaten fiel das Gewehr aus der Hand, ein anderer stürzte plötzlich hin, als habe man ihm die Beine abgeschnitten. Ein drohendes Kommandowort des Offiziers war machtlos gegen das Gebrüll der Arbeiter. »Ach, was beißt mich!« Der Anführer schleuderte einen Stein und traf den blutjungen Offizier an der Schulter. »Schlagt sie tot, die Hunde!«

»Feuer!«

In der engen Straße krachte die Salve gegen die dichtgedrängte Masse, und die Kugeln drangen mit einem dumpfen Ton ein, wie wenn ein Wollsack mit einem Knüttel geschlagen würde. Adalbert, der weit hinten stand, wunderte sich darüber, daß zwei Menschen neben ihm niedersanken, als sei ihren Körpern plötzlich der Halt entzogen. Heulend flohen die Arbeiter, von den Bajonetten der Soldaten verfolgt, und Adalbert rannte mit den andern, von einer schrecklichen Angst ergriffen, die von den Kameraden auf ihn überging. Vollkommen gleich war er mit diesen fremden Menschen vor dem drohenden Tode; er nahm sie als seine Schicksalsgenossen an und fühlte das allgemeine Entsetzen auch in sich. Draußen vor der Stadt, wo die Gemüsegärten beginnen und die Ziehbrunnen mit ihrem einen dürren, im Gelenk scharf gebogenen Arm in den Abendhimmel stachen, hielten sie an, ein geschlagenes Heer, in dem jeder einzelne nur auf seine Rettung bedacht ist. An einen morschen Gartenzaun gelehnt, sah Adalbert einen alten Mann mit einem breiten Gärtnerhut bei seiner friedlichen Beschäftigung. Mit vorsichtigen Schritten ging er zwischen späten Blumen, den Überresten des Sommers, umher und begann schon mit den Vorbereitungen, um die Fruchtbarkeit eines künftigen Sommers zu fördern und zu bändigen. Adalbert begann tiefe Zusammenhänge zu ahnen, und sein Inneres schluchzte, nun, da sich der Schrecken in Wehmut und Sehnsucht aufzulösen begann. Mit einem Herzen voll schwerer und hallender Glocken schritt er längs der Zäune unter einem opalfarbenen Himmel dahin und dachte an nichts. Hinter einem Strauch hörte er ein leises Wimmern. Da lag ein Mann, tot, mit zerrissenen und blutbefleckten Kleidern, einer, der sich schwerverwundet hierher geschleppt hatte, um zu sterben. Sein Weib lag über ihm; ihre Hände, die zu beiden Seiten des Toten im Gras halb versteckt waren, schlossen sich manchmal im Krampf ihres Schmerzes. Adalbert erkannte in dem Mann einen der Arbeiter, die ihn schützend umringt hatten und gleich ihm ihr Recht auf Arbeit vertraten. Es war der Mann, der gerufen hatte: »Meine Kinder haben Hunger.« Zuerst wollte Adalbert neben dem Weib niederknien und, über ihren Leib gebeugt, Gutes und Liebes sprechen, dann aber sah er ein, daß seine Worte vor diesem Schmerz klein und armselig waren, und in dem Wunsche, sich dem Toten dankbar zu erweisen, legte er den größten Teil seines Geldes neben die verkrampfte Rechte der Frau.

Als er in die Stadt zurückkehrte, durchschritt er in den Vorstädten eine Zone hellster Erregung. Das Ereignis des Nachmittags wurde in verschüchterten Gruppen besprochen, das Gerücht vergrößerte die Zahl der Toten und der Verwundeten ins Fabelhafte, und Arbeiter, die dabei gewesen waren, schilderten die Vorgänge mit lebhaften Gesten. Adalbert glaubte jeden von ihnen an einem gemeinsamen Zuge zu erkennen, an einer Verwunderung, daß er noch am Leben sei und an einem immer wieder aufgerüttelten Entsetzen, das sie aus ihren Schilderungen auffahren ließ, als hörten sie plötzlich Trommelwirbel und Kommandorufe. Diesen Leuten, denen nichts ferner lag als der Gedanke an Empörung und Revolution, war dies alles so überraschend gekommen, daß sie ganz verwirrt nach Zusammenhängen suchten und sich abmühten, Erklärungen zu finden. Die innere Stadt trug die gleichgültige Maske ihres Verkehrs und Geschäftslebens, aber doch war auch hier unter der immer gleichen Oberfläche ein Nachhall der Infanteriesalven und des Geschreies der Verwundeten. Auf dem Bahnhof, wohin Adalbert auf seiner ziellosen Wanderung geriet, sprach man von dem blutig beendeten Streik, und wenn er sich näherte, schwieg man mit einem Blick scheuen Staunens auf sein Arbeitergewand. Man betrachtete ihn wie eine Sehenswürdigkeit, und die ganz Klugen reimten sich zusammen, daß man hier einen Anführer der Empörung vor sich habe, der vor seiner Verhaftung zu entkommen suche. Mit langen, schleichenden Schritten ging ein Mann in einem grauen Überrock hinter ihm her; Adalbert fühlte sich bewacht und wollte gehen, als er bemerkte, daß sich die Reisenden vor einem Schalter drängten und dann, mit Koffern und Schachteln bepackt, die Wartehalle verließen. Aus einem Gespräch erfuhr er, daß man hier für Geld Entfernungen kaufen könne; für den Rest seiner Ersparnisse, den er auf das Brett des Schalters legte, gab ihm der Beamte ohne zu fragen eine Karte, und Adalbert folgte dem Strom der Reisenden zu einer Reihe niedriger schwarzer Häuschen mit vielen Fenstern. Bescheiden drückte er sich in eine dunkle Ecke und ließ seine Zukunft an sich herankommen ohne zu fragen, selbst ohne irgendeine Neugierde nach ihrem Verlaufe zu fühlen. Er begann etwas ganz Köstliches zu erleben: sein eigenes Schicksal wurde ihm wie das eines Dritten, wie eine Geschichte, die man abends weglegt und morgens vielleicht wieder aufnimmt, wenn man gerade nichts anderes zu tun hat. Ein heiterer Gleichmut strahlte auf seine Erlebnisse, der Augenblick wurde ihm wieder wichtig genug, um seinetwillen den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterbrechen. Er sah auf den beleuchteten Perron hinaus, auf dem verspätete Reisende, von keuchenden, schwer bepackten Dienstmännern gefolgt, zum Zuge rannten. Nahe der offen stehenden Restaurationstür saß ein Stammgast, von diensteifrigen Kellnern umtänzelt, und sah mit dem Behagen des Nichtstuers auf die Wichtigtuerei der andern. Dem fühlte sich Adalbert verwandt; er war Zuschauer gleich ihm – auf einem Punkte vollkommenen Gleichgewichtes, absoluter Beharrung, wo er jedem Anstoß von außen, gleichgültig aus welcher Richtung er kam, ohne weiteres folgen konnte. Die Scheiben des Waggonfensters trübten sich von dem hier immer dichter werdenden Qualm und Dunst, und es schien, als ob das Licht draußen um den Körper des ruhigen Stammgastes erhöhte farbige Ränder lege. Das Signal zur Abfahrt wurde gegeben, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Bahnhof glitt vorüber, auf den Wechseln stieß und schüttelte der Wagen, und immer rascher schossen die Signallichter quer über die Fenster. Wohltuend empfand Adalbert die rasche Bewegung und folgte dem Rhythmus der Fahrt mit seinem ganzen Körper.

Im Waggon saß eine Anzahl von Bauern und schlichten Städtern, die sich in lauten Worten unterhielten. Ein paar junge Burschen scherzten mit dem Bauernmädel, das, ihre steifen, knisternden Röcke immer wieder verlegen niederdrückend, neben Adalbert Platz genommen hatte. Der Geruch der frisch gestärkten Kleider wollte ihn zu einer Vergangenheit führen, in der sich mit diesem Geruch die Erinnerung an schöne Sommerabende verband; aber Adalbert beharrte in der Gegenwart und ließ sein Glück und seinen Schmerz weit dahinten. Die Stationen der Strecke folgten einander, die Reisenden wechselten und die lauten Reden wurden schläfriges Gemurmel. Nur ein junger Mann mit einem Klumpfuß sang unaufhörlich laut vor sich hin, wie um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und zu beweisen, daß er durchaus nicht trüben Gemütes war. Vor den Fenstern lag eine bleierne Finsternis, in der man weite ebene und nun ganz totenstille Flächen ahnen konnte. Mit dem Kopf des eingeschlafenen Mädchens auf seiner Schulter, sah Adalbert hinaus und war frei von Wünschen und von Sehnsucht. Dann schlief auch er ein und lag starr mit zurückgelegtem Kopf und halboffenem Mund im gelblichen Lichtkreis der Deckenlampe.

Jemand schrie. Adalbert erwachte und sah das Mädchen neben sich, halb aufgerichtet, beide Hände an die Schläfen gepreßt, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Auch die übrigen Mitreisenden waren aufgesprungen, und der junge Mann mit dem Klumpfuß hatte ein Fenster geöffnet und hing mit halbem Leib aus dem Wagen. Gellende Pfiffe kamen von draußen, ein Geschrei, und unter Adalbert schien ein Gekreisch den Boden des Waggons zu erschüttern.

»Jessus Maria!« schrie das Mädchen.

Es krachte, als ob im Körper eines Riesen alle Knochen zerbrochen würden. Nun hob sich plötzlich der vordere Teil des Wagens, alle taumelten zurück, ein Stoß von rückwärts warf sie nach vorn, das Licht an der Decke verlosch und Adalbert fühlte sich in eine Finsternis geschleudert, die von Ächzen, Krachen und Geschrei erfüllt war.

Als er die Besinnung wiedererlangte, schüttelte ihn die Kälte der Herbstnacht. Er lag auf freiem Felde und sah kleine Lichter in der Dunkelheit wandern. Ferne brannte der entgleiste Zug. Man hob ihn und andere Verletzte auf und brachte sie in das Wirtshaus eines nahen Dorfes, wo man aus Bänken und Stroh Lager bereitet hatte. Die Lampe an der Decke schwang leise zu dem Wimmern der Menschen, und an der Wand hing ein gekreuzigter Christus, scheußlich und schmutzig wie ein Verbrecher, blutrünstig und qualverzerrt, mit herabgesunkenem Kopf, als ob er sich ganz in den eigenen Schmerz vertiefe, um den Schmerz der andern nicht zu sehen. Vor dem Gitter, hinter dem der Wirt sich und seine Schnapsflaschen verwahrte, standen die Träger und ließen sich in großen Gläsern einen gelblichen Schnaps geben. Das plötzliche Aufhören eines Stöhnens neben ihm ließ Adalbert den blutenden Kopf wenden. Hier lag das Bauernmädchen mit vorgewälzten, starren Augen, eingezogenen Beinen und herabgerissenen Kleidern. In ihrem Unterleib stak ein großer Holzsplitter, dessen Ende zwischen dem zerfetzten Hemd hervorsah. Ihre Haut war dort, wo sie nicht von Blut bedeckt war, seltsam weiß. Sie war eben gestorben. Ein Stück weiter saß der sangeslustige junge Mann auf einer Bank und ließ den Klumpfuß lose herabbaumeln.

»Sehen Sie,« sagte er, als er Adalbert erkannte, »nun ist der Fuß ganz zum Teufel!« Dann begann er wieder leise zu summen.

Diese ganze Szene, das öde Wirtshauszimmer, die Männer vor dem Schankgitter des Wirtes, der verzweifelte Christus an der Wand, das Gewinsel der Verwundeten, prägte sich in Adalbert ein und gerann in ein Bild, dessen Bedeutung ihm bis jetzt noch fremd schien, dessen Sinn er aber nachzugehen entschlossen war.

Drei Männer traten ein. Der Arzt, dessen linke Wange von einer tiefen Narbe zerschnitten war, machte sich sofort daran, die Verwundeten zu untersuchen und notdürftig zu verbinden. Sein Begleiter stand dabei, sah zu und richtete Fragen an die Verletzten. Seine Kleidung war im Gegensatz zu der des Arztes sehr sorgfältig, und der Knoten seiner Krawatte tadellos, als ob er zu einem Ball ginge; seine Stiefel so sauber und glänzend, als wäre er nicht über schmutzige Feldwege, sondern über glattes Asphalt gekommen. Im Lichte der Handlaterne, die der Gehilfe des Arztes zu dessen Hantierungen bald hob, bald senkte, sah sein Gesicht so starr und leblos aus wie ein Schnitzwerk aus Holz. Indem er mit gelüpften Hosen, deren Bügelfalten er sorgfältig vor Zerknitterung bewahrte, zwischen den Verwundeten umherging und den Blutspuren, die sich mit dem Staub des Fußbodens zu einem roten Kot vermengt hatten, auswich, störte er das Bild, das sich Adalbert gemacht hatte; er ließ ihn an eine der steinernen Fratzen vom Kamm des Hexensteines denken, als ob die herabgestiegen sei und nun doch trotz allen Anscheines vom Leben im Gesicht die Kälte des Steines bewahrt hätte. Nun standen die Männer vor Adalbert. Der Gehilfe hielt die Handlaterne hoch, und der Arzt fragte wie einer, zu dessen Geschäft das viele Fragen gehört, und dem deshalb jedes Wort wichtig ist: »Was gibt's?«

»Schulter und Kopf!«

»Leuchten!«

Mit seinen großen roten Händen tat der Arzt schmerzhafte Griffe an Adalbert, denen dieser mit zusammengebissenen Zähnen standhielt.

»Es ist nichts,« sagte der Untersuchende, »Kopf: Fleischwunde, Schulter: Quetschung und Verrenkung.« In ein paar Minuten hatte er den Riß an Adalberts Kopf zusammengenäht und seinen Arm in einen festen Verband gepreßt. »Sie können aufstehen und gehen!«

Adalbert erhob sich, und es war ihm, als müßte er sich seiner Weichlichkeit schämen, daß er hier gelegen und sich als Schwerverwundeter betrachtet hatte, während er doch aufstehen und gehen konnte. Seine Schwäche verdroß ihn, und obwohl seine Beine unter ihm zitterten, versuchte er, um seine Willenskraft zu erproben, einige Male auf und ab zu gehen. Aber er mußte sich nach der vierten Durchquerung des Zimmers auf eine Bank setzen, die eben frei geworden war; den Mann, der auf ihr gestorben war, hatte man zu den andern Toten in den nebenan liegenden Tanzsaal getragen.

»Sie sind schwerer verletzt, als Sie glauben«, sagte der elegante Mann, indem er neben Adalbert trat und ihn mit seinen kalten Augen ansah.

»Ach was!«

»Oft sieht so was ganz ungefährlich aus, und die schlimmen Folgen kommen erst viel später hinterdrein.«

Das also war der Trost, den der Fremde den Verletzten spendete. Aber das paßte zu den grauen Augen und dem steinernen Gesicht, und irgend etwas – Adalbert konnte sich selbst darüber nicht klar werden – erinnerte ihn an den Vater. Trotz seiner Abneigung gegen den Mann, die sich in Gebärden und Worten des Unwillens äußerte, folgte er seiner Aufforderung, ihn vor das Haus zu begleiten. Da saßen sie und sahen von dem Hügel auf den Bahndamm hinüber, wo Arbeiter bei Fackelbeleuchtung mit der Wegschaffung der Trümmer und der Ausbesserung der Strecke beschäftigt waren. Schwarze Gestalten wimmelten dort scheinbar planlos vor den rötlichen zitternden Lichtkreisen, und auf seltsamen Wegen glitt Adalberts Erinnerung zu der Zeit zurück, wo ihn sein Vater in eine von ähnlich bewegten Flammen und von brausenden Stimmen erfüllte Finsternis gebracht hatte. Drinnen in der Wirtsstube schrie ein Weib in einem unaufhörlich auf einer Höhe verharrenden Ton. Neben Adalbert saß der Fremde, schweigsam und dunkel wie ein Bestandteil der Nacht selbst, und seine Nähe wirkte auf ihn wie die Ahnung einer Gefahr.

»Nun wird der Hilfszug bald ankommen und Sie mit den andern in die Stadt zurückbringen«, sagte der Fremde nach einem langen Schweigen, in dem die fernen Rufe der Arbeiter und das Geschrei des Weibes doppelt laut waren.

Adalbert lachte.

»Sie lachen? Sie sind ein Philosoph.«

»Ich lache, weil ich es sonderbar finde, daß ich mir mit meinem letzten Geld nur Wunden an Kopf und Schulter gekauft habe.«

»Wohin wollten Sie fahren? Sie haben doch irgendeinen bestimmten Plan gehabt?«

»Nein, ich habe keinen bestimmten Plan gehabt! Ich habe kein Ziel.«

»Erlauben Sie! Sie müssen doch wissen, was Sie wollen. Nur wer Geld genug hat, kann sich erlauben, nicht zu wissen, was er will. Die andern sind alle Sklaven ihrer Zwecke.«

»Ich habe keinen Zweck. Ich will die Welt kennenlernen, möglichst viel von ihr kennenlernen. Aber nicht nur so oberflächlich hin, sondern tiefer, eindringlicher, bis dorthin, wo man etwas über ihr eigentliches Wesen erfahren kann. Es gibt so viele Dinge, die man gerne wissen möchte. Warum leben wir? Wohin treibt das alles? Ist es mit dem Tod vorbei?«

»Ihrem Rock nach sind Sie ein Arbeiter, Ihren Worten nach sind Sie ein Philosoph und Dichter. Was sind Sie eigentlich?«

Da sah Adalbert eine große blühende Halde vor sich, ganz mit weißem Wiesenschaumkraut, goldgelben Butterblumen und roten Pechnelken durchwirkt. Den Rand säumten schwarzgrüne Tannen und mitten darauf stand wie verwundert und ein wenig verschämt, weil sie so allein war, eine weiße schlanke Birke, deren lichtgrüner Wipfel nach den weißen Wolken sah. Es schien ihm, als drücke diese Wiese das aus, was er selbst über sich nicht zu sagen wußte.

Die rot verhangenen Fenster des Wirtshauses ließen ein trübes Licht durch, das von dem Blut der Verwundeten dort drinnen gefärbt schien und langsam über den Hang in die Finsternis versickerte. Nach einer Weile begann die Stimme neben Adalbert in der Dunkelheit: »Sie haben gesagt, daß Sie leben, um die Welt schauen zu lernen, aber Sie haben auch gesagt, daß Sie Ihr letztes Geld an diese Fahrt gewendet haben. Wie wollen Sie also Ihren Wunsch verwirklichen, wenn Ihnen das wichtigste fehlt: die goldene Brücke in die Welt, die goldene Hand, um Ihre verschlossenen Wunder aufzuschließen.«

»Ich werde mir von neuem Geld durch meine Arbeit erwerben.«

Nun lachte der Fremde: »Man sieht, daß Sie ein Dichter sind. Sie glauben an Märchen und haben das Vertrauen weltfremder Sonderlinge. Es gibt nur einen Weg, Geld zu haben, so viel Geld, daß es sich der Mühe verlohnt, davon zu sprechen, und das ist: sich selbst so teuer als möglich zu verkaufen. Nicht an die Arbeit zu verkaufen, denn die Arbeit ist ein Geizhals, der schlecht zahlt, nur gerade so viel, daß man nicht verhungert. Sie müssen sich dem verkaufen, der zahlen kann. Und um den höchsten Preis, den sie erzielen können.«

»Ich verstehe Sie nicht. Ist es denn erlaubt, Menschen zu kaufen?«

»Wer wollte es dem verbieten, der das Geld dazu hat?«

»Und wem sollte etwas daran liegen, etwa mich zu kaufen?«

»Sie sind ein Dichter. Die Dichter sind im Preis gestiegen, seitdem alle Welt begonnen hat, Bücher zu schreiben.«

»Ein Dichter? Gut! Es ist ... es ist ... wer sollte ... ich verstehe Sie noch immer nicht.«

»Nun also: ich reise in der Welt herum, um einen lebendigen Dichter zu kaufen.«

»Sie?«

»Jawohl. Ich! Ich biete Ihnen ein gutes, bequemes Leben mit allem, was Sie nur wünschen können. Sie werden Gelegenheit haben, viel zu sehen. Sie werden die Welt kennenlernen, wie Sie es nie könnten, wenn Sie trotzig dabeibleiben, sich auf sich selbst zu verlassen.«

»Und was habe ich dafür zu tun? Es ist doch nicht umsonst ...«

»Sie müssen sich meinem Herrn mit Haut und Haaren verkaufen. Solange Sie leben, gehören Sie ihm, mit allem, was Sie noch ersinnen werden und vielleicht einmal der Welt geben. Nach dem Tod können Sie mit Ihrer unsterblichen Seele anfangen, was Sie wollen. Ihr geschätzter Kadaver gehört Herrn Thomas Bezug. Aber das kann Ihnen ja gleichgültig sein.«

»Und ich werde ... ich soll alle diese wunderbaren Dinge genau sehen – ich werde Zeit haben, das Licht des Tages und die Abenddämmerung zu bewundern. Es ist wahr, wer arbeiten muß, hat dazu niemals Zeit. Und ich werde das Leben der Menschen kennenlernen?«

»Mehr als Ihnen lieb ist.«

»Und ich bin ganz an Ihren Herrn gebunden?«

»Nur in Ihren Gedanken sind Sie frei, wenn er nicht inzwischen eine Methode ersonnen hat, um auch Ihre Gedanken sich zu unterwerfen.«

Adalbert sann über die Worte des fremden Herrn nach. Was er da gehört hatte, war das Seltsamste unter all den Unbegreiflichkeiten der Welt, und verwirrte ihn mehr, als irgendein anderes seiner bisherigen Erlebnisse. War es möglich, sich so völlig zu verkaufen? Aber wenn er es tat, so waren dann alle Hindernisse weggeräumt, er konnte seine Träume in die Wirklichkeit heben, er konnte bis an die Grenzen des Erreichbaren vorrücken, und er würde, im Besitz des goldenen Zepters, über die Welt herrschen.

Von ferne hörte man einen Zug mit gellendem Pfeifen und Rasseln herankommen. Die Tür des Wirtshauses flog auf, und zugleich fiel das Licht breit und grell auf die vertretenen, wackligen Steinstufen, über die jetzt die Bahren mit den Verwundeten herabgehoben wurden. Den Trägern, die sich an dem Schnaps des Wirtes übernommen hatten, waren die Lasten jetzt zu schwer, und fluchend und ungehalten traten sie, wenig rücksichtsvoll, ihren Dienst an. Sie ordneten sich zu einem Zug, der von dem angeführt wurde, dessen Zorn am größten war.

Rudolf Hainx stand aufgerichtet neben Adalbert Semilasso und hielt ihm die Hand hin: »Schlagen Sie ein, Dichter! Kommen Sie mit mir zu meinem Herrn.«

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte Adalbert und faßte eine kalte, magere Hand, in der ein seltsames Zucken alle Sehnen spielen ließ, eine Hand, die mit einem plötzlichen Druck seine Finger einschloß, als wollte sie ihn nicht mehr freigeben.


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