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Waldmenschen

Andreas Semilasso hatte es vor einem halben Jahrhundert aufgegeben, unter Menschen zu wohnen. Seine Gewohnheiten widersprachen den Gesetzen der Allgemeinheit so sehr, daß sein Leben ein beständiger Kampf war. Und so sehr er am Kampfe seine Freude hatte, so wenig sagte es ihm zu, sich durch die stärkere Mehrheit unaufhörlich besiegt zu sehen. Die Kräfte waren zu ungleich verteilt, und es war der stärksten Persönlichkeit unmöglich, sich gegen die geschriebenen Gesetze und gegen die Vorschriften der Sitte durchzuringen. Nachdem man lange genug über die Torheiten des Andreas Semilasso gelacht und über seine Extravaganzen den Kopf geschüttelt hatte, begann man die Gefährlichkeit seines Beispiels einzusehen, und das Lächeln verschwand unter Falten des Zornes. Man hatte erkannt, daß der Gesellschaft nicht ohne schlimme Wirkung ungestraft widersprochen werden durfte, und daß ein Mensch, der inmitten der übrigen durchaus nur nach eigenen wilden und unbesonnen Trieben lebte, ein Herd der Revolution, der Empörung gegen die Sitte sei. Es war, als ob eine schöne ungezähmte Bestie frei herumliefe; in ihren Zähnen und Klauen, in ihrer unbändigen Kraft lag eine unbändige Bedrohung friedlicher Bürger. Das Gesetz übersah zuerst großmütig die kleinen Verfehlungen des Andreas Semilasso, als er aber einmal einen Steuerexekutor über die Treppe hinabwarf, daß dieser ein Bein brach, bemächtigte es sich des Ungeberdigen und steckte ihn eine Zeitlang hinter sichere Mauern.

Nachdem Andreas Semilasso freigelassen worden war, überschlug er noch einmal Für und Wider und fand den Nachteil allzusehr auf seiner Seite. Er war gewiß, daß man nun, nachdem man ihn einmal überwältigt hatte, strenger gegen ihn verfahren würde und beschloß, der Übermacht zu weichen. Es war unmöglich, unter diesen verkrüppelten Menschen, denen alle Instinkte abhanden gekommen waren, sich selbst zu leben. Und da er niemals darauf ausgegangen war, Schüler zu gewinnen oder sich von der Öffentlichkeit anstaunen zu lassen, tat er, was er schon längst hätte tun sollen: er gab seinen Wohnsitz unter Menschen auf. Mit seinen wenigen Habseligkeiten, die er einem Esel auflud, zog er, einen weiten grauen, strickumgürteten Wollkittel am Leib, Sandalen an den Füßen, zur Stadt hinaus. Auf seinem Kopf saß zum Schutz des Gesichtes gegen die Sonne eine breite Strohkrempe, der Rest eines Panamahutes, von dem er den Oberteil entfernt hatte, daß die schwarzen Haare struppig hervorsahen. Wie ein massiver Heiligenschein rundete sich das gelbe Stroh um sein grimmiges Gesicht, und wie ein wandernder Apostel, streitbar und allem Luxus feind, zog er durch die Straßen der Stadt ab, von einer Horde johlender Straßenjungen verfolgt. Andreas Semilasso ließ sie hinter sich schreien und toben, als sich aber vor der Stadt ein Fleischergeselle aufstellte und ihm höhnende Worte nachrief, wandte er sich um und warf ihm einen Stein an den Kopf. So nahm er Abschied von der Kultur und bezog eine Höhle im Wald, die er auf einem seiner tagelangen Streifzüge entdeckt hatte. Nun hatte er die Einsamkeit gewonnen, nun schlossen ihn nicht mehr niedere Zimmer ein, nun war er frei, über und unter der Erde nach Gefallen zu leben. Von seiner Höhle, in deren vorderem Teil er zwei behagliche Kammern mit Fenstern, Türen und Ofen versah, leiteten verzweigte Gänge weit unter den Felsen hin zu einem Dom, dessen spitze Bogen sich hoch oben in Dunkelheiten bohrten, selbst wenn grelle Feuer in ihm brannten. Hier saß Andreas Semilasso oft in völliger Nacht auf einem Schutthügel, den herabgebrochenes Gestein gebildet hatte. Er lauschte auf die Stimmen der Tiefe. Irgendwo unten, in den Spalten des Kalkgesteins wurde ein Wasser laut, wie der Gesang des Blutes, das in den Adern kreist. Im Laufe der Jahre erforschte er seine Höhle und nannte ihre Gänge mit Namen, die wie aus alten Chroniken klangen. Der Gang des Rechtes hieß ihm einer, der, gewunden und lang hingedehnt, immer wieder im Kreise führte und sich endlich in zögernden Spiralen in der Dunkelheit verlor. Der Gang des Unrechts war ein anderer, der kurz und geradewegs zu einem Loch in der Felswand führte, von wo man einen Ausblick ins Tal hatte. In einer kleinen Kapelle, die er wegen ihrer weißen Tropfsteinbildungen die Kammer der glitzernden Pfeiler nannte, lag ein wuchtiger schwerer schwarzer Block und der hieß: die Tat. Ein schwarzer Teich im Hintergrunde einer fernen Grotte, dessen kaltes Wasser auf seiner ebenholzschwarzen Oberfläche die Fackellichter wie spitze Flammen trug, hieß der Nimmersatt. Sein Wasser quoll irgendwo tief von unten auf, erfüllte einen abgründigen Schacht, und wenn im Frühling die Schneewässer herabströmten, trat er oft plötzlich aus und überschwemmte einen Teil der Höhle, daß Andreas Semilasso mehr als einmal in Lebensgefahr geriet. Darum liebte er diesen verräterischen Teich. Es war keine bloße Spielerei, was der Einsiedler mit diesen Benennungen ausdrücken wollte Wenn ihm eine Geschichte zu Ohren kam, in der jemand durch die brutalen Gesetze der Mehrheit unterdrückt wurde, in der irgendein feineres Empfinden unter ihrem Zwang erstickte, dann ging er den Gang des Rechtes bis dorthin, wo die unerforschte Dunkelheit begann, und löschte seine Fackel aus, um zu warten, bis er die Finsternis lachen hörte. Die Kunde von einer raschen, kühnen Tat, die den Wünschen der Menge zuwider war, führte ihn in den Gang des Unrechts und zu dem Fenster, wo er dem Tal Grüße zuwinkte. Wenn er seinen Willen stärken wollte, so ging er in die Kammer der glitzernden Pfeiler und legte die Hand auf den feuchten schwarzen Block, bis er seine Kraft mächtiger und mächtiger und bereit fühlte. Alles, was ihm überflüssig und töricht dünkte, die entbehrlichen Gegenstände und die Reste seiner Mahlzeit, warf er in den Nimmersatt, und wenn er quälende Gedanken loswerden wollte, so bannte er sie mit Anspannung des Geistes in Steine, die er in den schwarzen Teich versenkte. Eines der liebsten Wunder dieses unterirdischen Reiches war ihm der Kamin Fliegempor, den er aufsuchte, wenn er heiteren Geistes werden wollte. Hier führte ein schmaler Spalt zur Oberwelt. Tannen standen über seiner Mündung und langsam sickerten Wassertropfen. Jedes Rauschen des Windes in den Ästen war hier ein wildes Brausen von seltsam schönem und bewegtem Rhythmus, wie Flügelschläge der erhabenen Engel der Schöpfung, und die fallenden Wassertropfen zählten zwischen diesem wundersamen Gesang der Ewigkeiten mit silbernem Klang die verrinnende Zeit.

Oft kam Andreas Semilasso wochenlang nicht aus seinen Gängen und Grotten ans Licht. Dann aber faßte ihn die Schönheit eines einfallenden Lichtstrahles, das Grün der Bäume vor seiner Tür oder eine purpurne Abendröte, die er aus irgendeinem Spalt erblickte, mit solcher Macht, daß er die Unterwelt verließ und sich ganz den Wundern des Lichtes ergab. Nun begann das Leben im Walde und auf den einsamen heißen Bergwiesen, wo zwischen hohen Unkrautstauden vergessene Baumstämme lagen, aus deren Schnittflächen funkelndes Harz tropfte. Andreas Semilasso lag stundenlang neben den Stämmen, die er seine Brüder nannte, so still, daß die smaragdenen Eidechsen über seine Hände und seine Schultern krochen und züngelnd seinem Gesicht nahekamen. Was die Spechte in morschen Rinden klopften, was die Habichte und Falken schrien, was die Waldtauben gurgelten, war ihm vertraut, und die geschäftigen Ameisen, die räuberischen Laufkäfer hatten in Krieg und Frieden keine Geheimnisse vor ihm. Oft saß er nackt hoch oben auf Bäumen und fühlte sich der Sonne und dem Licht verwandt, oft stellte er sich unter den schmalen Fall eines Waldbachs und ließ die Tropfen über seinen Leib sprühen. Auf dem Bauche liegend, sah er den plumpen Schwimmkäfern in den Tümpeln am Rande des Teiches zu und fing mit stundenlanger Geduld die schlanken Grundeln in der hohlen Hand, um sie dann mit weitem Schwung in das Wasser zu schleudern. Über zackige Blöcke suchte er in mondhellen Sommernächten den Weg zum Grat des Hexensteins, wo schief gestellte und im Aufwellen geborstete Felsenplatten steinerne Abenteuer darboten. Grimmige Gesichter sahen aus den faltigen Krausen des Steins, Ratsherrnhäupter und grinsende Galgenvögel, ernsthafte Berggeister und liebenswürdige Mondscheinfrauen. In den Spalten lagen Baumwurzeln wie schlafende Riesenschlangen, und Alräunchen kicherten unter dem Moos. Von hier aus ging sein Blick über den schlafenden Wald, in dem um diese Zeit nur die alten Märchen hinter Gebüschen und unter Tannen wachten. Auf seinen Wegen fing sie Andreas Semilasso ein, stellte die schimmernden Dinger vor sich auf den Grat und ließ sich erzählen, bis der Tag begann. Im Morgengrauen liefen sie ihm davon und versteckten sich wieder in ihre heimlichen Winkel. Während die Tiefe sich immer gleichblieb, bot ihm der Wald den Wechsel der Jahreszeiten. Der Winter war dem Einsiedler nicht weniger lieb als der Sommer. Dann kleidete sich der Wald in weißen Stahl, und wenn der Wind über ihn hinfuhr, klingelten und klirrten die Zieraten seiner Rüstung. Die Berge hatten Helme auf, die Bäche versteckten sich ganz hinter starken Panzerplatten, und alle Märchen standen nun in weiß. Da die Tage nun so kurz waren, so waren die Stunden des Lichtes um so köstlicher. Über tiefverschneite Halden hinaufzuklimmen und, oben angelangt, auf einem glatten Brett den mühsamen Weg in einem Augenblick wieder hinabzusausen, war ihm oft Arbeit und Vergnügen eines ganzen Tages. Er betrieb dies Geschäft mit einem Ernst und Eifer, als ob er Hochbedeutsames vollbrächte ... Ganz der Gegenwart hingegeben und nur darauf bedacht, aus jeder Stunde die höchste Summe möglichen Genusses zu ziehen, stellte sich Semilasso immer ausschließlich auf das ein, was er unternommen hatte, und verjagte alle Bedenken, alle Zwiespälte und alle Unaufmerksamkeiten im Spiele. Der Wald stand herum und sah ernsthaft zu, wie einer, der gewohnt ist, im Scherz den tiefsten Sinn zu finden. In Kristallen entzündete die Sonne schlafende Farben.

Die Wege der Menschen waren Semilasso verhaßt. Er mied die Fahrstraßen und die Holzwege; und selbst die schmalen, kaum sichtbaren Jägersteige gebrauchte er nur selten, denn an niedergetretenen Gräsern, an geknickten Zweigen waren die Spuren der Menschen zu erkennen. Als eines Tages mitten durch seine schönste Wildnis die Markierung eines Touristenvereines geführt wurde und die Bäume, mit einem grellen Rot und Gelb geschmückt, allen Wanderern den Weg verrieten, geriet der Einsiedler in großen Zorn. Er faßte sein großes Schabmesser und ging den Zeichen nach. »Du da,« redete er eine hohe Fichte an, die sich über ihre Genossen erhob, als ob sie auf die grellen Farben wie auf eine Auszeichnung stolz sei, »ja du! Hörst du! Bist du wirklich so töricht, dir darauf etwas einzubilden, weil ein Schmierfink deinen schönen Stamm beschmutzt hat? Glaubst du, daß du nun mehr bist als die andern, die kein Ordensband tragen? Ich lasse es gerne gelten, wenn du dich freier erhebst, wenn du die Wipfel der andern überwipfelst, denn du bist schön gewachsen und hast das Un-Recht dazu. Deiner Gewalt gebe ich meine Ehrerbietung. Aber deinen Stolz auf das Gekleckse verlache ich.« Da die Fichte schwieg und sich hoch aufreckte, indem sie mit ihrer breiten Krone bloß dem Winde antwortete, als sähe sie ihren alten Freund nicht, nahm Andreas Semilasso sehr zornig das Messer und schabte die grellen Farben samt der Rinde ab, daß die Schnitzel flogen. Und so ging Semilasso von einem der geschändeten Bäume zum andern und gab ihm seine vorige Anmut und Natürlichkeit wieder.

Zwanzig Jahre waren verflossen, seitdem der Einsiedler in den Wald gezogen war, zwanzig Jahre mit Sommer und Winter, mit dem Doppelleben zwischen Tiefe und Licht, und Andreas Semilasso war nun fünfzig Jahre alt. Sein Körper war wie das Holz der Eichen, seine Hände wie die klammernden Wurzeln der Fichten, die das Gestein zersprengen, sein Gesicht, das er von wucherndem Haarwuchs freihielt, wie die Felsgesichter des Hexensteins, seine Augen wie das Wasser des Waldteiches, blau, wenn es heiter, und graubraun wenn es stürmisch war. Die Bauern der Umgebung hatten sich an den Bewohner der Felsenhöhle gewöhnt, und da sie nicht wußten, welch ein Heide er war, hielten sie ihn für einen Heiligen. Freilich war er ein sonderbarer Heiliger. In ihrem Verhältnis zu ihm war die Furcht stärker als die Verehrung, denn er nahm, was er zum Leben brauchte, ohne dafür zu bezahlen und beglich seine Rechnung auch nicht nach Art anderer Einsiedler durch Gebet, guten Rat oder heilende Tränklein. Selbst die Weiber hatten sich daran gewöhnt, seine grimmigen Liebkosungen zu erdulden. Zuerst hatte es Kämpfe gegeben. Die streitbare Mannschaft eines Dorfes war ausgerückt, um Semilasso für seine Übergriffe zu züchtigen. Aber als sie vor die Höhle kamen, trat ihnen der Einsiedler mit einer jungen Fichte in der Hand entgegen, die er wie einen leichten Stab um den Kopf kreisen ließ, furchtbar anzusehen, als ob er vom Zorne Gottes ergriffen sei. Wie ein Prophet des Alten Testaments trat er unter sie und rief: »Wer wagt es, Hand an mich zu legen? Wißt ihr, wie sich der eine Gott in seinen Geschöpfen zeigt? Habt ihr noch Augen zu sehen, was Gott gefällig ist? Ich sage euch, was ich lebe, ist vor dem Ewigen wahrer als das, was euer Pfarrer predigt!« Seine Worte waren schwer und wild, und stürzten auf sie nieder wie Felsen. Sie verstanden ihn nicht, und darum schien es ihnen, als spräche Gott aus ihm. Scheu zogen sich die Nächsten zurück und nahmen den Hut ab, die Fernerstehenden folgten ihnen, und endlich verlor sich der Haufe im Wald, bis sein Gemurmel vom Rauschen der Wipfel aufgelöst wurde. Noch einmal empörte sich einer gegen den Unbequemen. Dem geizigen Morbeser war es zuviel, als sich Semilasso in einer Woche zufällig aus seinem Hofe zweimal Hühner für seinen Tisch holte, und er zeigte den Diebstahl dem Gendarmen an. Am nächsten Morgen stürzte er von der morschen Leiter, die zum Heuboden führte, herab und blieb auf der Stelle tot. Dieses Zeichen verschloß allen Zeugen den Mund, und dem Gendarmen war es recht angenehm, daß alles zugunsten des Einsiedlers lag und daß er nicht gegen ihn einzuschreiten brauchte. Seit dieser Zeit breitete sich vollkommenes Stillschweigen über alles, was man für Semilasso tat; weder der Pfarrer noch die weltlichen Behörden erfuhren etwas davon, daß hier einige Dörfer einem Tyrannen zinsten. Semilasso erleichterte die Lasten, denn er bedurfte nur wenig für sich, und man gewöhnte sich daran, ihm wortlos seinen Tribut zu überlassen. So zerrissen alle Fäden zwischen ihm und der Welt, und man vergaß auch ihn.

Wenige Tage nach seinem fünfzigsten Geburtstag, dessen Eintritt Andreas Semilasso an den Kerben seines Annalenbaumes feststellte, brach ein furchtbares Unwetter los. Eine Familie landfahrender Akrobaten, die fern von menschlichen Wohnungen auf der Straße vom Gewitter überrascht wurde, verließ den in einem Augenblick unter Wasser gesetzten leinenüberdachten Wagen und suchte im Walde Zuflucht. Das Haupt der Familie, ein Mann, dem aus dem unbedingten Gehorsam der Seinigen eine unbedenkliche Rechthaberei als Rückgrat der Persönlichkeit gewachsen war, führte sie, das stolpernde Pferd am Halfter nach sich ziehend, im Walde umher, indem er vorgab, hier ein Waldhüterhaus zu wissen. Als die Nacht einbrach und das Unwetter nicht im mindesten nachließ, gestanden es sich alle außer dem Führer ein, daß sie irregegangen waren. Man konnte nicht einmal mehr die Landstraße wiederfinden. Endlich brachte sie der Zufall vor die Höhle des Andreas Semilasso, durch deren Fenster der behagliche Schein eines Feuers kam. Der Einsiedler trat auf seine Schwelle und schien bereit, die Verirrten mit grimmigen Worten davonzujagen. Da sah er im flackernden Licht der gepeitschten Fackel die jüngste Tochter des Landstreichers, der die durchnäßten dünnen Kleider um einen wunderbaren Körper klebten. Er trat zurück und gab den Eingang frei. In dieser Nacht teilte Nella das Bett des Semilasso. Und als am andern Morgen die Akrobaten sich aufmachten, um weiterzuziehen, erklärte Nella, bei dem Einsiedler in seiner Höhle bleiben zu wollen. Der Vater fluchte und drohte, die Mutter bat und weinte, denn jener wollte die geschickte Seiltänzerin und diese das Kind nicht verlieren. Doch da erhob sich Andreas vom Herde, wo er noch eine Mahlzeit für die Gäste bereitet hatte und trat vor die Eltern. Er nahm einen Strick von der Felswand und wand ihn rasch um sein eigenes und das Handgelenk Nellas. »Ich gebe ihr mein Haus und meinen Herd«, sagte er, »und mache sie zu meiner Gefährtin. Sie ist mir fester verbunden als durch den Segen und die Zeremonien der Menschen, denn ihr Blut ist dem meinen verwandt.« Da sahen die Eltern die Entschlossenheit der beiden und erschraken vor der Größe und der Macht Semilassos. Sie gaben alle Hoffnung auf und ließen sich ohne Widerspruch von dem Einsiedler auf die Landstraße zurückbringen. Andreas Semilasso sah zu, wie das Pferd vor den Wagen gespannt wurde und stand, bis die weinenden Geschwister und die Eltern aufstiegen. Dann gab er allen die Hand und kehrte in die Höhle zurück, wo Nella den Steinboden mit frischen Fichtenreisern bedeckt hatte und wo ihr rotes Kopftuch als Schmuck der grauen Wand über dem Bette ausgespannt war.

Nun lebte Andreas Semilasso mit einer Gefährtin und führte sie in alle Wunder der Tiefe ein und gab ihr von allen Entzückungen des Lichts. Fünf Jahre waren wie einzelne Tage. Dann gebar ihm Nella einen Sohn. Andreas Semilasso nahm ihn auf den Arm und ging mit seinem Weibe auf den Hexenstein, wo der Blick nach allen Seiten frei war und von wo man ganz fern am Horizonte aus einem Kissen von Qualm Schornsteine und spitze Türme ragen sah. Er hob den Knaben zum Licht empor und nannte ihn Adalbert. Als Adalbert fünf Jahre alt war, bekam er eine Schwester, die den Namen der Mutter erbte. Die Spiele der Kinder waren von der Natur umkreist; Steine und Pflanzen wurden ihnen vertraut und Adalbert lernte von seinem Vater die Rufe der Habichte und Falken und die heiseren Laute der Krähen verstehen. Die Vermehrung der Bewohner zwang zu einer Erweiterung der Höhle, und eine dritte Kammer nahm Vorräte und Gerätschaften auf. Eine kleine Wirtschaft erwuchs unter den geschäftigen Händen der Mutter, ein geordneter Platz trug allerlei Küchenpflanzen und eine Zucht von Hühnern gackerte im umzäunten Hof. Nun konnte Andreas Semilasso auf den Tribut der Dörfer verzichten. Man vergaß ihn ganz; nur unter den Holzfällern und Jägern lebte sein Dasein wie eine Sage. Den Kindern war der Wald der liebste Freund, und mit den Märchen, die in seinen heimlichen Winkeln versteckt waren, wechselten die Geschichten der Mutter, die von der Landstraße und vom Leben eines großen Ungetüms, das Stadt geheißen war, berichteten. Noch fürchteten sie die Tiefe und sahen mit Verwunderung, daß der Vater oft tagelang aus den finstern Schlünden nicht wiederkehrte, in denen sie ihn verschwinden sahen. Eng aneinandergeschmiegt, Schulter an Schulter und mit eng verschlungenen Händen, standen die Kinder am Rande der Finsternis und starrten hinab, ob sie nicht irgendwo tief unten die Fackel des Vaters sähen, lauschten, ob sie nicht den Widerhall seiner Schritte hörten. Das Geheimnis der Dunkelheit zog sie an und stand wie eine große Frage im kleinen Kreise ihrer Erlebnisse und Vorstellungen. Durch irgendeine seltsame Verkettung der Gedanken konnte Adalbert nicht davon loskommen, daß es im Innern der Erde aussehen müsse wie in einem Ameisenhaufen. Verwirrende Gänge, kreuz und quer, plötzliche Erweiterungen, in denen weiße, larvenähnliche Gestalten zu Hunderten übereinandergeschichtet sind, weiche Walzen mit ewig hungrigen, verlangenden, fressenden Mäulern. Das Gewimmel von arbeitenden Kobolden dazwischen, von raschen braunen Gesellen mit sechs Beinen und zwei scharfen Beißzangen anstatt eines Kopfes. Diesen Phantasien folgte Nella mit weit aufgerissenen Augen, und wenn sie sich vor Grauen schüttelte, dann bat sie den Bruder, aufzuhören und ihr Freundlicheres zu erzählen. Und Adalbert begann von den braunen Waldfrauen zu sprechen und vom verwunschenen Zaunkönig, der einmal über eine ganze Stadt geherrscht hatte und nun ganz klein geworden war, weil er sich früher im Übermut allzu groß gedünkt hatte.

Eines Abends trat der Vater hinzu und hörte die Geschichte vom Zaunkönig. Da faßte er den Jungen bei der Schulter und fragte, indem seine Augen ihr Blau in Graubraun wandelten, wer ihn diese Geschichte gelehrt habe. Adalbert sah fröhlich auf: »Niemand,« sagte er, »diese Geschichte habe ich selbst erfunden.« An diesem Tage lernte der Knabe zum erstenmal den Atem der Finsternis kennen. Der Vater führte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in einen jener Gänge, die Adalbert schon längst zu betreten gewünscht hatte. Zuerst war nur eine glückselige Neugierde in ihm, dann aber, als es immer tiefer in den Berg ging, als die Wände preßten und die Decke drückte, wuchs die Furcht, rasch wie ein unheimlicher Riesenpilz, in der Brust und legte sich feucht und rauh auf seine Lungen. Endlich blieb der Vater stehen und sagte: »Dein Märchen vom Zaunkönig ist ein Unsinn. Wer die Macht hat, soll Mut haben; wer Mut hat, soll auch Über-Mut haben, denn dieser ist die Blüte aller Kraft. Nur die Schwachen sind strafbar, und Reue und Sühne sind die schlimmsten Feinde des Menschen. Für die Schwäche deiner Gedanken strafe ich dich, indem ich dich die Nacht, die ich dir als Freundin zuzuführen dachte, zuerst als Feindin kennen lehre. Bleib hier, bis ich wiederkomme!« Dann ging der Vater fort und seine Fackel verschwand hinter den Felsen. Nun lernte Adalbert das Dunkel als Feind kennen. Es kroch klebrigen Leibes heran und tastete mit nassen großen Händen über sein Gesicht. Oft glaubte er ein Antlitz vor sich zu sehen, ein ungeheures, trauriges und doch grausames Antlitz. Dann fuhren Funken über sein Sehfeld, seine Augen begannen zu schmerzen und es schien ihm, als ob sie vor Anstrengung, einen Schimmer von Licht zu erhaschen, aus dem Kopf treten wollten. Mit beiden Fäusten preßte er sie in den Kopf zurück und rieb die Augäpfel, wütend vor Schmerz und von einer Angst vor dem Unbegreiflichen geschüttelt. Wispernde Stimmen kamen heran, und die Vorstellungen vom Leben der Tiefe erwachten in ihm, daß er mit einem Schrei die Hand zurückzog, als ob er eine der weichen, weißlichen, larvenähnlichen Gestalten berührt habe. Endlich kreisten seine Gedanken so toll, daß es ihm unmöglich war, einen von ihnen festzuhalten und nur ein Geschwirr, ein wüstes, verworrenes Getöse in seinem Kopf toste.

Von diesem Tage an hütete sich Adalbert, seine Geschichten zu erzählen, wenn er seinen Vater in der Nähe wußte. Denn es war ihm unbegreiflich, was sein Vater von ihm verlangte, und stets erschien ihm der Gang seiner Fabeln als das einzig Richtige und als das Selbstverständliche. Aber Andreas Semilasso fand genug andere Anlässe, mit seinem Sohne unzufrieden zu sein. Bei jedem Gespräche, bei allen Hantierungen entdeckte er bei ihm eine von der seinen ganz verschiedene Art, eine weiche Hingebung, eine schwärmerische Anbetung der Milde und Güte, und immer klarer wurde es dem Alten, daß der Sohn nicht imstande sei, ihn zu verstehen und sein Leben fortzusetzen. Durch die Strafe der Finsternis nahm er dem Knaben nur die Offenheit und den Mut seiner Bekenntnisse, ohne ihm die stählernen Nerven und das harte Herz geben zu können, das er an seinem Sohne erziehen wollte.

Die Mutter litt unter diesen Szenen und unter den Vorwürfen Semilassos, der ihr seinen Verdacht nicht verhehlte, daß sie ihm das Blut der Kinder verdorben hätte. Wenn die kleine Nella ähnliche Anlagen zeigte, so kümmerte ihn das weniger, aber seinen Sohn hätte er gerne auf seinen eigenen Wegen gesehen.

Adalbert Semilasso aber war ein Dichter und sah die kleine Welt in seinem Kreise nicht mit den Augen des Herrschers, sondern mit den Augen des Geliebten. Er bezwang sie nicht, sondern gab sich ihr hin.

Als er zwanzig Jahre alt war, starb die Mutter, und Andreas begrub sie am Fuße des Hexensteins zwischen Brombeergebüschen und Schlehdorn. An dem Steine, den er über ihr Grab wälzte, wachte er eine lange Winternacht hindurch. Dann kam er in die Höhlenwohnung, und es war, als ob er niemals eine Gefährtin an seiner Seite gehabt hätte. Aber das unbändige Blut des Greises, das aus Wald und Felsen die Lebenskraft aufgenommen zu haben schien, brauste noch wild und stürmisch. Wie die Felsen schien er hart, unempfindlich und gegen die Zeit geschützt, nur für die geheimen Stimmen der Tiefe zugänglich. Seine Begierden reckten sich nun, da die Mutter tot war, nach der Tochter. Als Nella endlich die Sprache seiner Augen und seiner glühend zitternden Hände verstanden hatte, wich sie ihm aus, aber seine Angriffe erneuerten sich immer ungestümer und unbedenklicher. Dann kam eine Nacht, in der ihn sein Blut zur Anwendung von Gewalt zwang, und Nella rettete sich nur durch eine schnelle Flucht in den Wald. Zwei Tage lang kam sie nicht zurück. Am Abend des dritten Tages, als sich Semilasso eben entfernt hatte, um sie zu suchen, kam Nella vorsichtig den Abhang über der Höhle herab. Der Bruder saß vor der Höhle auf einem Baumstumpf und war dabei, das Klopfen des Spechtes in Worte umzuprägen. Sie rief ihn an, er erhob sich, ging ihr entgegen und streckte ihr beide Hände hin.

»Ich muß dich verlassen, Brüderlein«, sagte Nella und küßte ihn.

»Du willst mich mit dem Vater allein lassen?«

»Es muß sein, ich kann nicht mehr hier bleiben.«

»Was willst du tun?«

»Ich habe die Landstraße gefunden und bin ins Dorf gekommen.«

»Du willst ins Dorf hinaus?«

»Ich will noch weiter. Ich will in die Stadt und vielleicht sogar noch weiter. Auf dem Dorfplatz fand ich die grünen Wagen mit den kleinen Fenstern, von denen uns die Mutter erzählt hat. Ein großer Mann stand dabei, und als ich den Zipfel eines Hauses von Leinwand hob, klopfte er mir scherzend auf den Rücken. Er nahm mich mit hinein und zeigte mir viele hölzerne Bänke und ein Gerüst, auf dem seine Leute alle Abende spielen. Auch die Kleider hat er mir gezeigt, dehnbare Häute, die man über die Beine zieht und die ganz glitzernd und silbern sind. Dann dünne Röcke aus einem Stoff, der ganz durchsichtig ist.«

»Das sind die Kostüme, nicht wahr? Mutter hat es Kostüme genannt.«

»Ja, und er nahm meine Arme, hob sie auf, schlug mit der Schneide der Hand hierher, er umfaßte meine Knöchel und hob mir die Röcke bis zum Knie. Und dann fragte er mich, ob ich mit ihnen gehen wolle und auch am Abend vor den Leuten tanzen und diese glitzernden Häute tragen.«

»Und du, und du?«

»Ich dachte an unsere Höhle und an den Vater, der so schrecklich ist, und da habe ich gesagt, daß ich mit ihnen gehen will.«

»Ich will mit dir gehen, Nella.«

»So komm.« Aber dann besann sie sich: »Der Vater ... soll er ganz allein bleiben? In seiner Einsamkeit ... Wird er das ertragen können ...?«

Da küßte Adalbert die Schwester und hielt sie mit keinem Wort mehr zurück.

»Weißt du, Brüderlein,« sagte Nella und legte den Arm um seinen Hals, »ich ziehe hinaus, und wenn ich alles gesehen habe, was es draußen zu sehen gibt, so komme ich wieder zurück und hole dich.«

»Versprich es mir!«

»Hier gebe ich dir meine Hand!« Nella küßte ihn noch einmal, gab ihm die Hand und ging mit einem Lebewohl davon. Langsam stieg sie wieder den Abhang hinan, winkte noch einmal, und dann griffen die grünen Büsche nach ihr, schlugen über ihr zusammen und verbargen sie. Nur noch ein leises Schwanken der Zweige war dort oben ...

Am nächsten Morgen kam der Vater und trug die Spuren der Nacht an seinen Kleidern und in seinem Gesicht. Adalbert, der auf seiner Streu von einem großen Tor geträumt hatte, das, von großen gelben und roten Blumen mit Menschengesichtern umwunden, auf Nella herabsah, die in einer glitzernden Haut hindurchschritt, Adalbert, der die Wünsche wie große Vögel rings um sein Bett sitzen sah, richtete sich auf und erkannte an der Miene des Vaters, daß er mit den Felsen und den Bäumen heimliche Zwiesprache gehalten hatte. Mit einem Blick nach der leeren Blätterstreu, auf der sonst Nella schlief, ging der Alte daran, die Morgenmahlzeit zu bereiten. Nicht mit einem Wort fragte er nach der Tochter, weder an diesem noch an einem der nächsten Tage. Stillschweigen deckte sich über ihre Flucht. Zuerst schien es, als ob der Vater, müder als sonst, seine Wucht und Schwere abgelegt hätte, aber bald raffte er sich wieder auf. In den Tagen seiner Erschlaffung hatte er einen neuen Annalenbaum für seine Tageskerbe erwählt, denn der alte war von mehr als Manneshöhe bis herab zur Wurzel mit den scharfen, tiefen Zeichen eines im Walde verbrachten Lebens bedeckt. Mit Erstaunen sah Adalbert, daß der Vater den neuen Baum weit tiefer unten einzukerben begann, als hoffte er nicht mehr auf die Fülle von Tagen, die den alten Baum genarbt und durch das herrische Leben des Einsiedlers getötet hatten. Zum erstenmal wurde sich Adalbert dessen bewußt, daß der Vater ein alter Mann war. Aber kaum hatte er sich an diesen Gedanken gewöhnt, als Andreas Semilasso eines Tages die Kerbe nicht unten an die Reihe der übrigen anfügte, sondern hoch oben in den Baum schnitt, in der Höhe, wo das erste Zeichen des alten Annalenbaumes saß. Nun war es ihm klar, daß der Alte noch weiterzuleben gedachte, daß seine Müdigkeit die Instinkte und Gelüste seines noch immer kraftvollen Leibes nicht überwältigt hatte. Wieder ging Andreas in die Tiefen seiner Höhle und zu den Freunden im Walde, und da Adalbert lieber saß und träumte und klangvolle Worte aneinanderfügte, als daß er für das Haus gesorgt hätte, verfiel die Wirtschaft. Die Hühner liefen in den Wald, der Garten trug wunderliches Unkraut und üppige, grelle Blumen, und der Forst, der von ihm verdrängt worden war, reckte sich wieder nach ihm aus.

Vater und Sohn sprachen wenig miteinander. Es schien, daß der Alte es vermeiden wollte, seinen Sohn auf Wegen zu finden, die nach andern Zielen als den seinen führten. Andreas Semilasso frischte seine alten Hoheitsrechte auf, tyrannisierte wie früher die Dörfer der Umgebung und fand in der durch die Zeit ins Ungeheuerliche gewachsenen Sage von seiner furchtbaren Macht eine Bundesgenossin, die ihm die Bauern gefügig machte. Adalbert aber ging gesenkten Hauptes herum und weinte vor Glück über die Spiele des Lichtes in den Tautropfen oder über die bunten Kiesel und die zarten zitternden Wasserkringel des Baches. An weichen Sommerabenden aber weinte er aus einem unerträglich süßen Schmerz, dem er vergebens die Erlösung durch das Wort suchte. Es waren wunderbare Stunden mit zarten Schleiern, aus Sehnsucht und Wünschen gewoben; sie kamen und neigten sich alle zu ihm herab und küßten ihn auf die Stirne, die so heiß von Gedanken war, und auf das Herz, in dem das Blut sang. Und einmal, da er es am wenigsten erwartete, als er, ganz lang hin ins Gras gestreckt, nur die weißen wechselnden Wolkenränder betrachtete – Inseln voll Blütenschnee in einem ganz, ganz blauen Meer –, da kam eine Stunde und nahm ihn sachte bei der Hand und sprach: Du willst dein Schwesterlein. Nun war das Wort gefunden, und Adalbert wußte mit einem Male, daß ihm nichts fehlte als das geschwisterliche Herz, in das er sich ergösse. Seitdem lag er nicht mehr regungslos und träumerisch, um zu warten, bis sie ihm zurückkehrte, sondern er zog ungeduldig aus, und abwechselnd glaubte er, er ziehe ihr nach, und dann wieder, er ziehe ihr entgegen. Denn er war so voll von wundersamen Geschichten und klingenden Worten, daß er sie nicht mehr in sich verschließen konnte. Alles in ihm drängte der Schwester entgegen. Aber er kam nicht weiter als bis in die nächsten Dörfer, und vergebens suchte er den grünen Wagen, die mit Leinwand umspannte Bühne und den großen Mann, dem die glitzernden Häute über dem Arm hingen, auf allen Plätzen. Die Dorfjugend, die erst vor ihm gewichen war, weil sie die Kraft des Vaters auch in dem Jungen fürchtete, lief hinter ihm drein, als sie erkannt hatte, daß er scheu und zaghaft war. Sie verhöhnten ihn und warfen ihm Steine nach. Adalbert aber ließ sich nicht abschrecken und suchte immer wieder die grünen Wagen auf den Plätzen der Dörfer.

Da spielte ihm die Bosheit der Buben einen schlimmen Streich. Sie lauerten ihm hinter Hecken auf, und als er, immer mit den Blicken in den Wolken, durch ihren Haufen schritt, brachte ihn ein über den Weg gespanntes Seil zu Fall. Er wollte sich aufraffen, aber ein langer Bengel stieß ihn wieder hin. Nun wurde es dunkel vor Adalberts Augen, er fühlte seine Größe und Kraft und den Schimpf, den ihm, dem werdenden Mann, die Kinder antaten. Mit plötzlicher Entfaltung seiner Stärke faßte er zwei der Quäler, stieß sie mit den Köpfen zusammen, daß die harten Bauernschädel krachten und warf sie wie Säcke hin. Die Buben flohen, aber von den Feldern und aus den Häusern stürzten die Bauernburschen, fielen über ihn her und zerschlugen ihn so derb, daß er, von Steinwürfen verfolgt, eiligst fliehen mußte. Den Hang hinan rannte er seinen Verstecken zu und fühlte, wie die schwankenden Äste der Birken seine Wunden peitschten. Endlich war er aus dem Bereiche seiner Feinde, die, wie über einen großen Sieg jubelnd, unten auf der Straße ins Dorf zurückzogen. Sein Körper schmerzte ihn, sein Kopf war schwer und die Augen von rieselndem Blut verschleiert. Es war schwerer, die Schwester zu finden, als er gedacht hatte. Ganz in seine Gedanken vertieft, ging er dem Sinn dieses schmerzlichen Erlebnisses nach, suchte seine Erfahrungen dem schönen Bild der Welt einzupassen, das er sich von ihr gemacht hatte, und überhörte dabei ein leises Rauschen in den Gebüschen. Nun sah er auf. Ein junges Mädchen stand neben ihm und legte, als er aufspringen wollte, die Hand auf seine Schulter. Ihre Augen waren gut, und ihre Hand tat wohl, obwohl sie von grober Arbeit zerrissen war. Sie hatte seinem Kampf und seiner Niederlage zugesehen und kam nun, weil sie ihn vor der Einsamkeit retten wollte. Der Abend, die weichen, zitternden Farben des Horizontes, das blaue Grün der Wiesen oder das gedämpfte Brüllen einer Kuh, irgendeine vergessene Melodie, die sich nicht aus dem Meere des Unbewußten hob, irgend etwas, das der Güte und Milde der Natur nahe verwandt war, hatte ihr dies eingegeben.

Sie blieb bis zur sinkenden Nacht bei ihm und ließ ihn erst, als sie seine Wunden gewaschen und seine schmerzende Stirne geküßt hatte. Am nächsten Abend traf sie Adalbert am selben Platz und wieder umgab ihn ihre wunderreiche Sorgfalt. Die Wunden waren schon längst geheilt, und immer noch trafen sich Adalbert und Barbara an dem heiligen Ort ihrer Liebe. Mit leisen Händen nahm er die funkelnden Zeichen des Abends und steckte sie als Diadem in das Haar des Mädchens. Von der sinkenden Nacht löste er die Schleier und legte sie um ihre Schultern, daß sie die Verklärung des Geheimnisses noch höher hob. Alles was er den Tag über an schönen und blitzenden Worten gefunden hatte, die von ihm neuentdeckte Zauberei des Reimes, brachte er ihr zu, und das Bauernmädchen horchte verwundert, durch seine Liebe über die groben Blöcke ihres Lebens schwebend und ganz leicht, geadelt, der Art ihrer Eltern, ihrer Freundinnen entfremdet. Kein Hauch von Mißtrauen, von dem Haß der niedrigeren Welt gegen die höhere störte die Stunden, in denen sie, mit der rauhen Hand auf seiner Schulter, ihm zuhörte; sie verstand ihn mit dem Herzen.

Etwas wuchs in ihm, wie eine dunkle Blüte aus Glas; und wenn ihn das Mädchen küßte, dann klang die purpurne Blüte.

Eines Abends sagte er, als das Klingen ganz laut geworden war wie der Gesang großer, hallender Glocken: »Warum gehst du immer wieder ins Dorf zurück, wenn du bei mir gewesen bist?«

»Weil im Dorf meine Eltern und meine Geschwister wohnen.«

»Bin ich dir nicht mehr als dein Vater oder deine Mutter? Warum bleibst du nicht bei mir?«

Da begann Barbara davon zu reden, daß sich die Leute im Dorf dies nicht so einfach machten. Daß da Zeit verfließen müsse, daß der Pfarrer sich darum bekümmere und seinen Segen geben müsse. Aber Adalbert Semilasso verstand nichts davon. Es war so ganz selbstverständlich, daß Barbara bei ihm blieb, da sie sich liebten. Die Höhle seines Vaters bot Raum genug. »Und du wirst den Garten wieder schön machen und die Hühner aus dem Wald holen. Alles wird sein wie damals, als meine Mutter und meine Schwester noch bei uns waren.« Eine schmerzliche und schöne Vorstellung von der Einfalt des Paradieses, der in Tiefen schlummernde Traum aus der Urzeit der Menschheit bewog Barbara, alle Bedenken von sich zu werfen. Sie vergaß auf die schweren Grabsteine, die über diesem Traum lagen, mit der Kraft des Erlösers sprengte er die Gruft und feierte eine strahlende Auferstehung.

Weinend küßte sie Adalbert und versprach ihm, morgen abend wiederzukommen und dann nicht mehr von ihm zu gehen. Denn heute wollte sie noch ihre Eltern sehen und ihre kleinen Schwestern küssen, morgen wollte sie ihre wenigen Kleider packen, und dann wollte sie kommen, ohne ein Wort zu sagen, ohne Abschied zu nehmen. Adalbert hielt sie fest bei der Hand und sann, wie er in diesem Augenblick Worte geben sollte. Und während er ihre warme rauhe Hand drückte, fiel ihm ein Sprüchlein ein, das seine Mutter aus ihrem Leben auf der Landstraße gerettet und ihm oft genug vorgesagt hatte, ein kleiner Vers, in dem das Gedächtnis eines großen Dichters unter Feuerschluckern und Seiltänzern weiterlebte:

»Ich bin dein und du bist mein,
des kannst du gewiß sein,
bist in mein Herz geschlossen,
bist ganz fest gefangen,
der Schlüssel ist verloren gangen,
und du mußt immer drinnen sein.«

Mit diesem Sprüchlein verlobte er sich das Mädchen. Er wußte es nicht anders.

Seinem Vater sagte er an diesem Abend, als sie im steinernen Zimmer beisammen saßen: »Vater, morgen bringe ich eine Freundin, die von jetzt an immer bei mir bleiben wird.«

Der Alte sah ihn an und gab dem blechernen Geschirr, das auf dem Tisch vor ihm stand, einen Ruck: »Du willst ein zweites Leben an deines binden?«

»Ja, Vater!«

»Und sie will dir ohne weiteres folgen? Wer diese Höhle betritt, kann nicht mehr zu den Seinigen zurückkehren.«

»Ja, Vater!«

»So komm mit mir, ich habe dir etwas zu sagen!« Und der Alte erhob sich, nahm die Fackel von der Wand und ging seinem Sohn voran in die verzweigten Gänge, wo die Stimmen der Tiefen flüsterten. Ein kalter Tropfen fiel auf das heiße Gesicht Adalberts, daß er erschrak und die Finsternis hinter sich noch drängender und beängstigender fühlte wie einen Spalt, der sich lebendig um die schließen will, die ihn zu durchschreiten wagen. Nach einer Wanderung von einer halben Stunde kamen sie in die Kammer der glitzernden Pfeiler. Es war, als ob die Finsternis hier in wilden Phantasien sehnsüchtig vom Lichte träumte, alle Felszacken waren mit weißen, leuchtenden Schleiern behängt, alle Rinnen und Rillen von glimmernden Strömen ausgefüllt, schwere Silberkandelaber strebten zur Höhe, Vorhangfransen aus weißer Seide hingen von oben herab, und wo sich Kandelaber und Fransen vereinigt hatten, schienen Pfeiler das Gewölbe zu tragen. Mitten in diesem geschmückten Raum lag ein großer Block, wie eine Erinnerung an die Nacht, aus der diese Herrlichkeit geboren war.

»Mein Sohn,« sagte Andreas Semilasso und legte die Hand auf diesen Stein, »ich kann nicht sagen, daß ich viel Freude an dir erlebt habe. Du hast dich zuviel hingegeben und zu wenig behauptet. Nun aber, da du ein zweites Leben mit dem deinen vereinigst, bleibt mir das Letzte und Äußerste zu tun: die geheimen Kräfte dieses Steines anzurufen, die er im Wechselstrom von mir empfing und mir gab. An meinem Annalenbaum sah ich, daß du morgen fünfundzwanzig Jahre alt bist, nun bist du reif für seine Wirkungen.

»Was soll ich tun, mein Vater?«

»Ich sage dir, dieser Stein ist ein Altar; wie die Dinge, die uns umgeben, von unserem Leben annehmen, so ist dieser Stein lebendig geworden, da er mir in meinen erhabensten Stunden nahe war.«

»Was soll ich tun, mein Vater?«

»Tritt vor den Stein, lege die Hand auf ihn und sprich mir nach: Ich will nichts anderes, als mich behaupten, ich will das göttliche Tier in mir befreien, ich will mich in allen Schauern erleben, ich will nicht an Sternen und nicht an Menschen hängen, ich will die Welt nicht an den Sohlen tragen und bereit sein, abzuschütteln, was mir lästig ist. Allem will ich verwandt sein, aber mit keinem verbunden, alles will ich tief empfinden, aber jederzeit will ich bei Besinnung bleiben, um von mir zu stoßen, was mich ganz für sich haben möchte.«

Adalbert Semilasso sprach die schweren Worte langsam nach, er fühlte die Kälte des Steines bis an den Ellenbogen dringen, aber sonst fühlte er nichts. Der Stein blieb ihm Stein. Als die beiden wieder am Tisch des vorderen Zimmers saßen, forschte Andreas umsonst im Gesicht des Sohnes. Mit einer Handbewegung wies er nach dem andern Ende des Tisches, das seinem Sitz gegenüberlag: »Dort wird ihr Platz sein.«

Am andern Abend saß Barbara auf diesem Platze. Sie war gekommen, weinend, von innerlichem Schluchzen geschüttelt und doch in Erwartung eines großen Glückes. Nun fühlte sie den Wunsch nach brennenden Zärtlichkeiten, aber unter den Augen des Alten wagte sie Adalbert kaum anzusehen, denn diese Augen waren von wilden Flammen erhellt und brannten auf ihrem Gesicht, auf ihren Händen, auf der Rundung ihrer Schultern, und wenn sie sich erhob, fühlte sie heiße Ströme um ihre Gestalt. Irgendein Unerklärliches entfernte sie von dem Geliebten und löschte die Erinnerung an die wundersamen Abendstunden aus. Sie saßen bis tief in die Nacht, und so karg die Worte waren, so schnell flossen die Stunden. Als sie sich erhoben, und Adalbert die Hand des Mädchens nahm, um sie in das Nebenzimmer zu führen, trat der Alte zwischen die beiden und stieß den Sohn zurück. Mit einem Blick, vor dem der Sohn zu zittern begann, führte er Barbara zu seinem eigenen Lager und bedeutete ihr, sich zu entkleiden. Dann wies er den Sohn aus dem Zimmer, und er folgte dem Befehl, ebenso wie seine Geliebte dem Befehl Folge leistete.

Keiner von beiden wagte Widerstand zu leisten, daß ihr Bund zerrissen wurde, daß der Vater nahm, was der Sohn erworben hatte. Nach dieser Nacht, die Adalbert, der durch das Fenster entflohen war, draußen im Wald wie ein Wolf heulend zubrachte, wagte er Barbara nicht anzusehen. Und als er endlich ihre Augen suchte, sah er, daß sie ihm fremd geworden war. Sie errötete nicht vor ihm, sie zeigte keine Furcht und keine Verlegenheit, sie nahm die Arbeiten des Haushaltes auf, als ob sie seit jeher nur darauf gesonnen hätte, die Wirtschaft dieser Höhlenwohnung zu besorgen. Alle Erinnerung war von ihr genommen. Adalbert begegnete sie mit einer liebevollen Freundlichkeit, wie eine neue Mutter dem erwachsenen Sohn begegnet. Mit Geschick vermied sie es, daß seine Vertraulichkeit in die Grenzen ihrer Zurückhaltung trat. Das Unbegreiflichste war geschehen. Der Greis von achtzig Jahren hatte über den Sohn gesiegt. In den Nächten, die Adalbert, jetzt immer fern vom Hause, auf dem Hexenstein, verbrachte, bemühte er sich vergebens, von allen tausend Fragen auch nur eine einzige zu beantworten.

Ringsum starrten die versteinerten Ratsherren, die Fratzen der Galgenvögel in den Mondschein, und aus ihrer Unbewegtheit kam ihm ein Verlangen nach Kühle, nach Erstarrung. Zaghaft schlichen sich die Märchen zu ihm heran und legten die durchsichtigen Hände auf seine Stirne; aber er stieß sie von sich, denn er wollte nichts anderes denken als diese rätselhafte Fremdheit. Wenn er an den in den Felsen gebannten Mondscheinfrauen vorbeiging und ihr heißes, bittendes Geflüster um Erlösung hörte, dann lachte er; und rings im Kreise lachten die unter dem Moos versteckten Alraunen. Eines Nachts kam die uralte Waldschlange daher, gerade über seinen Weg kroch sie. Auf ihrem Krötenkopf saß die goldene Krone, ihre grünen Augen zwinkerten, und auf dem endlos langen Leib rasselten die stählernen Schuppen, deren jede einen scharfen, sichelartig gekrümmten Dorn trug. Adalbert hatte einen so mächtigen Zorn in sich, daß er sich auf den Wurm stürzen wollte, um ihn mit bloßen Händen zu würgen. Es war ihm erwünscht, seine Arme zerfleischen zu lassen, seinen Kopf unter den Zähnen der Schlange krachen zu hören. Aber die alte, kluge Schlange sah ihn an und schüttelte den Krötenkopf. Sie lachte, daß das breite Maul wie ein tiefer Spalt rund um den Kopf ging, daß die Krone zu schwanken begann und die langen Büschel hängenden Mooses um die Ohren flogen, aus denen die Erschütterung ganze Flocken feurigen Geifers warf. Raschelnd zog sie ihren langen Leib nach und verschwand in der Schlucht. Adalbert war über ihre Freundschaft erzürnt; er hatte sie als Zerstörerin, als Vernichterin gewünscht.

Dann kam ein Tag, an dem sein durch die schlaflosen Nächte, durch die unaufhörliche Unruhe geschwächter Wille die Verzweiflung nicht mehr dämmen konnte. Der Vater war in den Wald gegangen, Adalbert war mit Barbara allein. Als er sie mit ihren raschen, anmutigen Bewegungen am Herde beschäftigt sah, als sich die Haare ihres Nackens, die er so oft geküßt hatte, vom Luftzug bewegten, da schmolz seine Starrheit, sein Stolz und seine Besinnung gingen in einem Brausen unter. Keuchend und mit seiner heiseren Stimme irgendein Wort sinnlos wiederholend, faßte er sie um den Leib und riß sie an sich, indem er alle seine Kräfte anwandte. Erst als er mit blutender Stirn in einer Ecke lag, kam er zu sich, was war ihm geschehen? Sie hatte mit harten Fäusten in sein Gesicht gehämmert, sie hatte ihrem Leib die Spannkraft eines jungen Baumes gegeben, und aus seiner Umarmung schnellend, hatte sie ihn von sich gestoßen, daß er gegen eine Kante fiel. Nun war er allein und auf dem Steinboden rann ein schmales hellrotes Bächlein seines Blutes. Durch das Fenster sah er sie draußen im Garten beschäftigt, als ob nichts geschehen wäre. Sie war mit einer Hacke dabei, ein Beet umzuwerfen und von Unkraut zu säubern. Die Schwingungen ihrer kurzen Röcke, die schmalen Knöchel, sein Blut, das er warm und fade auf den Lippen verspürte, der Schmerz, der in seinem Kopf zurückgeblieben war, verwirrten ihn, und mit einem Schrei stürzte er auf das Weib los. Da richtete sie sich auf, sprang zurück und hob die Hacke. So standen sich die beiden einen Augenblick gegenüber, dann begann Adalbert wie ein Raubtier, dem sein Sprung unmöglich wird, nach rückwärts zu gehen und verkroch sich in seine Kammer.

Abends kam Andreas Semilasso zurück. Sein Weib hatte ihn am Rande des Waldes erwartet, faßte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, am Arm und führte ihn vor Adalbert, der zusammengekauert in einem Winkel saß und von Zeit zu Zeit winselte wie ein Hund.

»Dieser da«, sagte sie, und ihr Arm zeigte unerbittlich auf ihn, »trägt Verlangen nach mir.«

Der Alte sah ihn mit glühenden Augen an: »Ich freue mich, mein Sohn, daß du stark wirst. Aber ich rate dir, zu weichen, denn noch bin ich der Stärkere, und ich halte fest, was mein ist.«

Adalbert suchte sich zu erheben, und mit einiger Anstrengung stand er schwankend auf und ging zwischen seinem Vater und Barbara hindurch. In seinen Kinnladen war ein Krampf, und er sann darüber nach, ob seine Zähne stark und fest genug wären, um dem Weib die Gurgel zu durchbeißen. Aber da stand er auch schon vor der Tür draußen und lehnte sich zitternd an einen Baum. Nach einer Weile tastete er sich empor; er fühlte Kerben in der rauhen Rinde und er erkannte, daß er an des Vaters Annalenbaum lehnte. Der Stamm stand gerade und steil und schien in seiner schlanken Pracht noch viel Raum für unzählige Kerben zu bieten.

Dies war die letzte Nacht, die Adalbert in der Nähe Barbaras verbrachte. Als die beiden in der Höhlenwohnung schliefen, stahl Adalbert aus der Werkzeugkammer des Vaters eine Säge. Mit aller Vorsicht des Diebes ging er daran, den Baum zu zerschneiden und hockte stundenlang neben dem Stamm, immer lauschend, ob das Knirschen der Säge den Alten nicht geweckt habe. Dann schlich er davon. Der Morgenwind kam über den Hexenstein, faßte in die Krone der Bäume und zauste sie. Alle gaben sich den Spielen der frühen Dämmerung hin, schwankend und fröhlich und ihrer Kraft bewußt. Nur einer, dessen Leben durchschnitten war, konnte nicht wie sonst teilnehmen; er neigte sich immer mehr zur Seite und mit einem Ächzen krachte er schwer zu Boden. Vom Lärm erwachte Andreas Semilasso und trat vor die Tür. Da lag sein Annalenbaum, glatt durchschnitten, quer über den kleinen Garten und hatte im Sturz den Zaun zertrümmert und sich tief in die weiche Erde der Beete gegraben.

Adalbert Semilasso war zu dieser Zeit an den Saum des Waldes gelangt, wo der Hexenstein mit kahlen Hängen zur Landstraße hinabsteigt. Noch war es unten finster, nur oben, hoch oben hingen die ersten fahlen Lichter des Tages. Unter seinen Füßen fühlte er eine weiche, quatschige Masse, und als er die Landstraße betrat, sah er über ihren helleren Grund einen breiten schwarzen Streifen ziehen. Er wartete ab, bis ihm der Himmel mehr Licht gab, und erkannte mit immer wilderer Freude, daß der schwarze Streifen lebte, daß er aus Milliarden braunschwärzlicher Raupen bestand, die hier die Straße überquerten. Ein Heerzug von vernichtenden, gefräßigen kleinen Bestien, von Raupen des Prozessionsspinners wimmelte vor ihm, und die Richtung des Zuges ging auf den Wald, den Adalbert eben verlassen hatte. Er wußte, nichts würde diesen Zug aufhalten, er würde den Abhang erklettern, sich über den Wald ergießen und in das Reich des Vaters die Zerstörung tragen. Der Wald würde kahl und häßlich stehen, seine Wunder und Heimlichkeiten würden entblößt werden, und in seinen Teppich würden die rastlosen Zangen der Raupen Löcher reißen, bis er von ekelhaftem Gewürm überfüllt, vom Geruch der Verwesung verpestet, und seine Schönheit und Majestät durch Abscheu und Grauen entstellt sein würde.

Adalbert schrie auf. Er schrie wie ein Falke, dessen Kriegsruf er in einsamen Stunden gelernt hatte. Dann watete er durch den unaufhaltsamen Strom der Raupen und ging seinen neuen Weg.


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