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Im Gasthausgarten »Zum General Laudon«. Adalbert tritt in die Kreise des Eleagabal Kuperus. Ein Gespräch über die Zukunft der Menschheit und eines über Tod und Leben

»Heute komme ich als Verführer«, sagte Eleagabal Kuperus, als er die Turmstube des Heinrich Palingenius betrat. Er reichte Regina lächelnd die Hand.

Regina sah ihn erstaunt an. Wie jung der Alte heute schien. Sein Gesicht war frisch und die Hälfte der Falten schien aus ihm hinweggewischt. »Ja, ja,« sagte er als Antwort auf ihren Blick, »du mußt heute mit mir gehen. Ich entführe dich dem Turm, hinab in die Welt. Komm nur.«

»Ich weiß nicht, ob der Vater ...«

»Er ist wieder in seinem Arbeitszimmer?«

»Er arbeitet. Er hat wieder die ganze Nacht gearbeitet. Sagen Sie ihm, bitte, daß er sich nicht so anstrengen darf. Was soll daraus werden? Er ist noch nicht so gesund, daß er nicht recht vorsichtig sein müßte.«

»Das hilft wenig, mein Kind. Er folgt mir doch nicht. Die Arbeit brennt ihm auf der Seele. Und je schwächer er sich fühlt, desto größer wird seine Angst, daß sie unvollendet bleiben könnte.«

Regina wandte sich ab und sah nach der Ecke hin, wo die alte Johanna saß und strickte. Da legte Kuperus seinen Arm um ihre Schultern und zog sie ein wenig an sich: »Nein, Regina,« sagte er, »sei ruhig. Er wird seine Arbeit vollenden.« Er sagte das in so festem, bestimmtem Ton, daß ihn Regina dankbar und vertrauend anlächelte. Sie war nun wieder ganz heiter und ging auf Johanna zu.

»Johanna, hörst du, wir sollen hinuntergehen. Hörst du, du gehst mit.«

Aus ihrem Sinnen gestört, zeigte Johanna ein ganz erbittertes Gesicht: »Nein, ich gehe nicht zu Bezug hinunter.«

»Aber laß doch den Bezug. Was hast du immer mit diesem Bezug. Wir wollen spazieren gehen, nicht wahr, Kuperus?«

»Nein, geh nur allein«, beharrte Johanna.

Mild wie ein Arzt sagte Kuperus: »Warum willst du nicht mitgehen? Denkst du, daß Bezug schon die ganze Welt unterworfen hat? Fürchtest du dich vor ihm? Wenn er das wüßte, würde er lachen. Du kennst sein Lachen.«

Da warf Johanna ihr Strickzeug hin, stand auf und setzte den Holzfuß hart auf die Nadeln und Maschen: »Er soll nicht über mich lachen. Es wird mir schon einmal gegeben werden, über ihn zu lachen.«

»Vielleicht! Macht euch fertig, ich gehe unterdessen zu Palingenius.«

Während Regina ihre Kleider aus dem Wandschrank hervornahm, trat Kuperus in das Arbeitszimmer des Türmers. Palingenius saß inmitten des Gestänges seiner Flugmaschine vor einem kleinen Amboß und arbeitete an einem winzigen, ungemein verwickelten Mechanismus. Gerade als Kuperus eintrat, sprang im rechten Auge der Negerin die fünfte Stunde auf und rasselnd und klirrend begann sie ihren barbarischen Tanz, bei dessen Lärm der Türmer das Öffnen der Tür nicht hören konnte. So konnte Kuperus eine Weile lautlos stehen und den in seine Arbeit ganz versunkenen Freund betrachten. Neben der gespannten Aufmerksamkeit lag ein Zug des Schmerzes in dessen Gesicht, eines körperlichen Schmerzes, der in diesem Augenblick so weit dahinten lag, daß sich Palingenius nicht die Mühe gab, seine Anzeichen zu unterdrücken. Aber der Schmerz war da, wich nicht von ihm und hatte Besitz von seinem Leib ergriffen, unstillbar, doch in diesen Stunden der Arbeit nur wie ein dumpfes Unbehagen weit, weit weg. Nach einigen Minuten stillen Zusehens lehnte sich Kuperus mit den Armen auf eine querziehende Stange, die ihm wie eine Brüstung den Weg versperrte, und sagte: »Nun – Palingenius! Was macht das Werk?«

Der Türmer sah auf, nickte dem Freund zu und senkte den Kopf sogleich wieder über die Arbeit, ohne eine Antwort zu geben. Es war ganz still, nur das leise Geräusch der im linken Auge der Negerin aufspringenden Minutenzahlen, dann ein sehr feines metallisches Klingen, das von dem künstlichen Planetensystem an der Decke ausging, und von nebenan ab und zu ein Wort Reginas oder das tiefe Brummen der alten Johanna. Alles wie auf einem ganz dünnen Hintergrund von Geräuschen aufgetragen, auf einem Netz von allerleisesten Tönen, dem Summen der wenig bewegten Luft um den Turm und dem kaum mehr hörbaren Lärm der Stadt. Endlich ließ Palingenius die Hände mit dem Mechanismus sinken, legte die feinen Zangen weg, daß es auf dem Amboß einen hellen überraschten Klang gab, und sagte: »Das Werk! ... Ich bin noch lange nicht am Ende. Jetzt bin ich dabei, seine Seele zu machen.«

»Das kleine Ding da in deiner Hand?«

»Ja. Von diesem kleinen Ding soll der Antrieb des ganzen Mechanismus ausgehen. Dieser winzige Apparat soll, in die Brust des großen Körpers eingesetzt, diesem das Leben geben.«

»Du denkst dir das so wie mit unserem Herzen, dieser wundersamen Zentralpumpe für das ganze Kanalsystem des Blutes.«

»Ja, diese feine Maschine ist aber nicht nur das Herz, sondern auch die Seele meines Apparates. Sie besorgt nicht bloß das Mechanische, was man kontrollieren, messen, ändern und verbessern kann, sondern auch das andere, über das man keine Macht hat, das Geistige oder Seelische, oder wie du es nennen magst. Etwas, worüber uns kein Einfluß zusteht. Wir müssen das Wunder hinnehmen und können nichts als staunen.«

»Höre, Palingenius. Auch ich glaube an eine Seele des Leblosen. Und warum sollte auch ein Ding, mit dem sich ein lebender Mensch seit so langer Zeit beschäftigt, nicht etwas von dessen Seele annehmen. Es ist ja gar nicht anders möglich. Aber ich fürchte, daß du diesen feinen Apparat, der sozusagen für die ganze große Maschine denken muß, etwas zu sehr verwickelt gemacht hast.«

»Wenn das Ding ›denken‹ soll, so muß es doch ganz, ganz vorsichtig gearbeitet sein, mit allen Feinheiten und aller Kunstfertigkeit.«

»Nimm dir ein Beispiel vom Menschen her. Je komplizierter ein Mensch ist, je verwickelter und feiner seine Seele, desto mehr entfernt er sich von den Ansichten des großen Haufens. Er wird immer freier und selbständiger, entdeckt den eigenen Willen und handelt nach dessen Eingebungen. Er wird nicht geneigt sein, zu glauben, was ihm von andern aufgegeben wird, er wird nicht ohne weiteres einem Auftrag folgen. Je einfacher aber seine Seele ist, ein desto besserer Diener wird er dir sein. Du willst, daß die Maschine eine Seele habe. Es wäre dein Stolz, deinem Apparat einen Willen zu geben. Aber gib acht, daß dein Wille dem ihrigen überlegen bleibe. Machst du sie ganz fein und kompliziert, so kann es sein, daß sie ihren eigenen Willen dem deinen entgegensetzt, und es könnte kommen, daß sie dir den Gehorsam versagt.«

Da stand Palingenius auf. Seine Augen waren in dem gelben, eingefallenen Gesicht groß und sprühend: »Es wäre mein höchster Triumph. Wie wunderbar, wenn sich das Geschaffene gegen den Meister empört. Ich glaube, Gott muß in diesem Augenblick den tiefsten und seligsten Schauder vor der eigenen Macht empfunden haben, als es der schönste seiner Engel, Luzifer, wagte, von ihm abzufallen. – Aber ich bin noch nicht so weit. Noch habe ich Widerstände zu überwinden ...«

»Ich bin auch nicht gekommen, um mit dir über deine Flugmaschine zu sprechen. Regina und Johanna sollen mit mir hinausgehen. An diesem wundervollen Abend ...«

Sie traten an das Fenster. Da lag die Stadt tief unten, ganz friedlich, wie nach einem erschöpfenden und läuternden Bad, und der Himmel über ihr war klar und hoch und Ewigkeiten verheißend, die unausdenkbar sind und kaum gefühlt werden können. Palingenius aber sah finster nach unten und erst, nachdem er lange in den hellen Himmel geschaut hatte, wurde sein Blick heiterer.

»Was willst du mit Regina?« fragte er, »verführe sie mir nicht zur Welt.«

»Du liebst die Welt, trotzdem du glaubst, sie zu hassen. Und du willst verhindern, daß sich Regina dieser Liebe bewußt werde. Sie ist ein Weib, vergiß das nicht. Und es mag sein, daß ihr schon irgendwo das Glück des Weibes bereit ist.«

Mißtrauisch, erwacht und den letzten Bann der Arbeit abstreifend, sah Palingenius den Freund an: »Du weißt schon wieder etwas, was wir nicht wissen?«

Kuperus zuckte die Achseln und setzte sich auf den Rücken eines kleinen Elefanten aus Ebenholz, gerade unter dem Turmfenster. Sein Kopf ragte über die Brüstung des Fensters und hatte den hellen Himmel zum Hintergrund. »Sie ist ein Weib, sage ich dir. Und die Kinder fallen von uns ab. Und es ist besser, das Leben nimmt sie als der Tod.« Er schwieg und nach einer Weile begann er, als knüpfe er einen neuen Faden an das Gespräch: »Ich habe den Erwecker gefunden.«

»Den Erwecker?«

»Erinnerst du dich nicht mehr? Wir sprachen einmal davon. Es fehlt uns ein Erwecker, ein Aufrüttler, der aus dem Unbewußten der Menschheit geboren sein muß. Die Menschheit ist nicht glücklich, im Laufe der Zeiten sind die Bezugs zu mächtig geworden. Und diesen Erwecker habe ich. Ob sie ihn hören werden, weiß ich nicht. Aber er hat die Kraft, es zu sein.«

»Du hast ihn gefunden? Wer ist es?«

»Es ist sonderbar, daß auch er in Bezugs Macht ist. Er hat sich ihm mit Leib und Leben verpflichtet. Aber wir werden ihn befreien.«

»Bezug wird sich wehren. Du wirst mit ihm kämpfen müssen.«

»Endlich. Ich freue mich auf den Kampf.«

»Und du wirst sehen, daß die Menschen auf der Seite Bezugs stehen werden.«

»Es mag sein. Aber wir werden siegen.«

»Und wer ist dieser Erwecker?«

»Ein junger Mann, ein Träumer, ein Dichter. Aber er wird zur Tat reifen. Ich folge ihm seit langer Zeit, und ich sehe, wie er wächst. Nun ist es Zeit, sich ihm zu nähern.«

Da klopfte es an der Tür des Arbeitszimmers, und gleich darauf sah Regina herein: »Wir sind fertig,« sagte sie, »und du erlaubst es doch, Vater ...?«

»Jetzt fragst du erst? Wenn du im Zweifel warst, so hättest du fragen müssen, bevor du dich fertiggemacht hast. Aber – geh nur!«

Regina wurde vor Glück ganz rot: »Du bist so heiter, Vater!« Und sie kam ganz herein, stieg über das Gerippe der Flugmaschine und fiel dem Vater um den Hals, der sich verlegen abwandte, als sei er bei einer Schwäche ertappt worden. »Geh nur!« sagte er und schob ihr die Haare aus der Stirn. Dann, als sie gegangen waren, richtete er das Fernrohr auf dem Turmgang und folgte ihnen, bis sie in entfernteren Straßen hinter hohen Häuserzügen und unter Menschen verschwanden.

Die drei – Eleagabal Kuperus in der Mitte, Regina und Johanna zu beiden Seiten – hatten einen Weg eingeschlagen, der sie bald aus der Stadt hinaus auf das freie Feld brachte. Noch folgten einzelne Häuser zu beiden Seiten der schlecht gepflegten, arg zerfahrenen Straße, die zwischen reifenden Kornfeldern immer schmäler wurde. Sie kamen an der niedrigen Mauer eines Friedhofes vorbei. Hinter alten Zypressen und verwitterten Grabdenkmälern ragten die Schornsteine einer Fabrikvorstadt, die sich unten am Fuß des Hügels hindehnte. Es war ein seltsamer Mißklang: diese reinliche Stille hier oben und das lärmende schmutzige Leben dahinter. Nun gingen sie längs einer Bahnstrecke, die hier in die fruchtbare schwarze Erde eingeschnitten war.

Dann kam eine große Ziegelei, die sich tief in den lehmigen Abhang des Hügels eingefressen hatte. In den Vertiefungen standen gelbe Wasserlachen, die noch ungebrannten Ziegel lagen in langen Reihen zum Trocknen geordnet, und fast fröhlich berührte in dieser Einförmigkeit der Erdfarben, der sich auch die Häuser und Menschen angeglichen zu haben schienen, das frische Rot der fertigen Ziegel. Aufatmend stiegen die drei den Hohlweg hinauf und kamen in den kleinen Föhrenwald, wo es ganz still war. Da Kuperus und Regina wenig von Menschen zu sprechen wußten, so sprachen sie von Dingen und die alte Johanna setzte neben ihnen den Holzfuß vorsichtig auf die über den Weg gespannten glatten Wurzeln, ab und zu mit einem unwirschen Wort des Zornes über die mühselige Arbeit des Gehens, am Gespräch teilnehmend. Bis Regina sie unter dem Arm nahm und ihr die Mühe erleichterte.

So kamen sie jenseits des Waldes zum Gasthausgarten »Zum General Laudon«. Der Hügelhang sank hier zu breiten Wiesen herab, die ihm mit einzelnen grünen Zungen entgegenstrebten. Die ganze Wiesenfläche hatte, von oben gesehen, die Form eines grünen Schildes, etwas gegen die Mitte zu gebuckelt, wie ein richtiger Schild sein soll, und querüber von einem dunkleren Band durchzogen. An dem Buckel teilte sich dieses Band und schloß den Hügel ein. Ein dunkles, stilles Wasser war das Band und es floß verschwiegen und manchmal wie scheu unter alten Weiden, die sich mit struppigen Häuptern über dem schwarzen Spiegel berührten. Auf dem sanften Hügel in der Schildmitte stand ein weißes, leuchtendes Haus, dessen Fenster jetzt in der Abendsonne brannten. Ein Wartturm stieg über das Dach auf, nicht gerade bedrohlich, aber auch nicht einladend. Rings um das Haus waren schöne Bäume, und zwei weiße Brücken warfen ihre kurzen Bogen über den geteilten Fluß. In dem Winkel, den die Spitze des Wiesenschildes mit den herandrängenden Hügeln bildet, wo auch der Fluß die Fläche verläßt, um in einem engeren Tal zwischen kahlen Hängen den Weg zur Stadt zu nehmen, liegt das Wirtshaus »Zum General Laudon.« Es liegt zwischen dem Fluß und dem Abhang der Hügel in einem stillen Behagen und so einladend, daß kaum ein Wanderer der Versuchung widerstehen kann, hier einzukehren. Der Garten hat einen Teil der Wiesenfläche und einen Teil des Föhrenwaldes auf dem Hügel abgeschnitten und liegt schattig vor dem Wirtshaus, das sich mit dem Rücken vertrauend an den Hügel lehnt. An dem Gitter des Gartens führt die Landstraße vorüber und zieht, die breite schattenlose Wiesenfläche vermeidend, in einer Kurve längs des Schildrandes. Durch die Landstraße von dem Wirtshaus getrennt, liegt eine alte Mühle. Wie eine Festung sieht das Gehöft aus; alle Baulichkeiten sind von einer alten Mauer umschlossen, durch die ein einziges großes Tor führt, dessen Flügel darauf eingerichtet scheinen, mit Belagerungsmaschinen berannt zu werden. Über diese wohl zwei Schritte breite Mauer sehen die Wohngebäude mit kleinen Fenstern, die nicht viel größer sind als Schießscharten. Und die Dächer, brandfest mit schweren Ziegeln gedeckt, sitzen fest und trotzig oben darauf. Aber trotz dieses grimmigen Aussehens wirkt die Mühle nicht düster oder unheimlich, denn grüne Teppiche schmücken die Mauer an vielen Stellen, das leichte frische Grün des wilden Weins oder das ernstere Dunkel des Epheus, und die Giebelwand des einen Hauses ist bis unter das Dach dicht überrankt, daß die kleinen Fenster nur mit Mühe die Augen offen halten können. Und damit der Teppich an dieser Mauer noch recht bunt und farbenvoll werde, ist jedes Fenster mit Blumentöpfen besetzt, Pelargonien und Fuchsien und allerhand gemeinen, aber lustigen Bauernblumen, zu deren brennenden Büscheln sich die grünen Luftranken des Weines wie in Sehnsucht hinabneigen.

Hier wohnt die Müllerin, deren Sinn sich, ob sie auch schon nicht mehr jung und von der schweren Arbeit in Haus und Feld recht hergenommen ist, doch noch die Heiterkeit der Jugend bewahrt hat. Und dazu eine große Dankbarkeit gegen das Leben, das sie recht lieben gelernt hat, weil sie schon einmal an der Schwelle des Todes stand. Und eine noch größere Dankbarkeit gegen den Mann, der sie damals wieder ins Leben zurückführte, als die Ärzte schon kopfschüttelnd von ihrem Bette weggingen, um sich zu anderen Kranken zu wenden, wo ihre Kunst mehr Aussicht auf Erfolg hatte: gegen Eleagabal Kuperus. Schwerer und ernster geartet ist der Müller, aber auch er hat die große Dankbarkeit gegen den Mann bewahrt, der ihm sein junges Weib zurückgab, als sie nach kaum einjähriger Ehe dem Tod verfallen schien.

Wenn die Mühle aussieht wie eine Festung, so mag man bei dem Wirtshaus an eine italienische Osteria denken. Mit heiterer und freier Stirn sieht es in den Garten und über ihn hinweg auf die große Wiesenfläche hinaus. Die Mühle, die schon seit einigen hundert Jahren auf ihrem Platze steht, bedurfte starker Mauern und einer derben Bauart gegen schwärmende Hussitenhorden, die Osteria aber verdankt einer Laune des fürstlichen Jagdherrn ihre Entstehung, der in der fröhlichen Zeit gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts seine Gäste hier versammelte. Ihre offene Säulenhalle und das breite Giebelfeld erinnern an den Süden, aber die schönen Marmorreliefs sind nicht mehr hier, sondern im Museum der Stadt. Denn was fängt ein Bierwirt mit Marmorreliefs an. Und oft genug haben die nüchternen Besitzer, die hier herrschen, seitdem der Fürst das Haus verkauft hat, weil die großen Forste aus der nahen Umgebung der Stadt weichen mußten, schon das ganze lustige Schlößchen niederreißen wollen. Ein Wirtshaus will andere Räume als eine Jagdherberge. Aber schützend hat der Kunstverein seine Hand über den Bau gehalten und immer noch gegen die Absichten der Nüchternen ein Verbot erwirkt. So ist hier ein einziger Winkel erhalten geblieben, voll lieblichen Ernstes, geeignet zu sicherem Ausruhen, dessen Behagen selbst diejenigen anzieht, die sich nicht darüber Rechenschaft zu geben vermögen, was sie an diesem Platze so sehr lieben.

Als Eleagabal Kuperus mit Johanna aus dem Föhrenwald trat – Regina war einige Schritte zurückgeblieben, um das von einem kecken Zweig verwirrte Haar zu ordnen – und als der Blick über Wirtshaus und Mühle unten und den breiten Wiesenschild frei war, blieb Johanna stehen und zeigte auf das weiße Haus auf dem dunklen Schildbuckel. »Was Neues?«, brummte sie.

Eleagabal Kuperus sah, die Hand über den Augen, hinaus: »Nicht gerade was Neues. Das Haus steht schon ein Jahr.«

»So lange war ich nicht mehr da. Für mich ist es neu. Wem gehört das Ding?«

»Versprich mir, daß du nicht toben wirst ...«

»Ihm. Also wieder ihm. Ich hab' es gleich gedacht. Er hat seine Hand überall. Er muß alles nach seinem Willen ändern und überall schreit er einem zu: ich bin auch hier. Wie lange soll das noch dauern?«

»So, da bin ich«, sagte Regina, indem sie zu ihnen trat. Sie hatte das Haar in losere Flechten gesteckt, trug den Hut in der Hand und lief nun den beiden voran, den steilen, schmalen und vom Regen arg zerrissenen Fußweg hinab. Auf halbem Weg aber besann sie sich, kehrte um und reichte ihre Hand der Alten, die sich mürrisch und noch immer mit zornigen Blicken nach dem Haus auf dem kleinen Hügel auf sie stützte.

Im Gasthausgarten waren alle Tische besetzt, und Eleagabal Kuperus schritt nach kurzer Umschau auf einen der Tische zu, wo nur ein einzelner Mann, breitschultrig, in Hemdärmeln vor seinem Bierglas saß. »Guten Abend, Müller,« sagte er, »Sie haben hier noch Platz für uns.«

Der Mann sah auf, zeigte ein mit Mehl bestäubtes Gesicht, und als er nun Kuperus erkannte, da fuhr er von seinem Sessel, als sei plötzlich ein Fürst zu ihm getreten. Ganz rot vor Freude, reichte er Kuperus die Hand und begann sogleich die Sessel um den Tisch zu ordnen. Dann ließ man sich nieder, und Kuperus sagte auf den fragenden Blick des Müllers: »Gute Freunde hab' ich heute mit herausgebracht. Die Haushälterin und die Tochter des Türmers Palingenius, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«

Da gab der Müller auch den beiden die Hand über den Tisch hinüber, und obzwar er seine Tatze nur ganz sanft um die Finger Reginas schloß, fühlte sie doch alle Knochen krachen. Er war ein Riese und selbst im Sitzen überragte er die hohe Gestalt des Eleagabal Kuperus noch um einen Kopf. Sein Handreichen war wie ein Versprechen seines Schutzes, wie die Aufnahme in einen geheimen Bund. Regina fühlte sich sogleich zu diesem Mann hingezogen, und als er nun zu sprechen begann, mit schweren Worten, die er sorgsam abwog, wurde ihr ganz warm und wohl. Diesem Mann hätte sie sich nächst ihrem Vater und Kuperus am liebsten anvertraut.

»Sie kommen zu selten heraus«, sagte er. »Meine Frau is ganz traurig, wenn Sie so selten kommen.«

»Sie wissen, wie ich lebe. Wenn ich aber ausgehe, so habe ich nur zwei Ziele, den Turm meines Freundes und diesen Platz hier. Und was macht die Frau?«

»Mei Gott, ma hat immer z' tun. Die Dienstleut sind unverläßlich. Überall muß ma selbst dahinter sein. Aber – derf ich die Frau hol'n. Sie möcht sich freun.«

»Holen Sie die Frau!«

Als der Müller gegangen war, schwiegen die drei. Hinten, auf den Stufen der Treppe, die zu dem Portikus des Wirtshauses führte, saß ein Harmonikaspieler, der jetzt in einer seltsamen Umbrechung mit sehr viel sonderbaren Zwischenakkorden und falschen Läufen einen Walzer hören ließ. Der Wirt kam heran, langsam und gleichgültig mit der Serviette schlenkernd, eher mißmutig als beflissen. Er hatte es nicht nötig, besondere Höflichkeit aufzuwenden, seine Gäste waren ihm sicher, denn es gab keinen schöneren und bequemeren Ausflugsort in solcher Nähe der Stadt. Nachdem er aber Kuperus erkannt hatte, veränderte er augenblicklich sein Benehmen und trat scheu und unterwürfig an den Tisch heran. Gleich allen anderen fürchtete er den alten Mann, von dem so merkwürdige, geheimnisvolle Geschichten umgingen.

Er nahm die Bestellung aufmerksam entgegen und ging. Und da kamen auch schon der Müller und seine Frau aus dem großen Festungstor in der Umfassung der Mühle. Sie, bedeutend kleiner als er, ging neben ihm und strich die große Schürze glatt, die sie wohl eben umgenommen hatte.

Regina sah den Riesen an und sagte: »Der könnte in einer der Geschichten leben, die mein Vater aufgezeichnet hat.«

»Er stammt aus einem alten Geschlecht. Und wie gefällt er dir, Johanna?«

Johanna antwortete nicht. Ihr hartes Männergesicht war regungslos und ließ keine Deutung zu. Und es war keine Zeit weiter, in sie zu drängen, denn nun waren die beiden heran und fast schüchtern begrüßte die Frau zuerst Eleagabal Kuperus, dann die andern und nahm zwischen Regina und Johanna Platz, indem sie sich sogleich mit heiterer Frage an das Mädchen wandte. Eleagabal sah einen Augenblick lang freundlich nach ihr hin, nickte dann, als ob er einen Gedanken bei sich bestätigte, und sagte zu dem Mann: »Man sieht, daß sie sich am nächsten der Jugend fühlt. Sie ist noch immer so munter und frisch. Das brauchen Sie. Sie sind ein wenig zu ernst.«

»Na, manchmal wird s' scho brummig, 's geht nicht immer so, wie man wüll. Dann fahren wir scho auch inanand. Aber sie kann so gut lachen. Lach'n kann s', ja. Noch immer. Da wird dann all's bald wieda gut.«

»Und warum geht denn nicht alles so, wie man will?« sagte Eleagabal vorsichtig wie ein Steuermann zwischen Klippen.

»Mei Gott, allerhand G'frett, daß die Dienstleut nicht recht parier'n, das is noch das wenigste. Aber auch sonst. Da krieg'n wir jetzt a Nachbarschaft, die mir gar nicht paßt. Aber scho gar nicht.«

»Wen denn?«

»Den Herrn Bezug, glaub ich. Es weiß keiner was G'wisses. Uber ich glaub' halt, er is es. Denn der kauft ja jetzt alle Felder zusamm' weit und breit. Und bei uns im Dorf hat er schon die Hälft' herumkriegt, der Kerl, den er da ausg'schickt hat. Was will denn der Bezug mit den Feldern und mit dem vielen Wald machen?«

»Er hat sich ja auch hier bei euch ein Haus gebaut.«

»Ja, das kommt mir vor wie die Spinn' im Netz. Drin sitzt er und spinnt seine Fäd'n.«

»Er baut noch viele solche Häuser in der ganzen Umgebung.«

»Bei mir war der Kerl auch und hat meine Felder und mein' Wald kaufen woll'n. Auf was, frag' ich. Was macht der Bezug damit? Aber bei mir kommt er nicht an. Was tut so ein Bauer, wenn 'r kein Feld mehr hat? Er geht in d' Stadt und wird Arbeiter in der Fabriken. Dank' schön. In dem Schmutz und dem G'stank und dem Lärm. Da bleib' ich lieber Bauer und mahl' mein Getreid' und den andern Leuten auch das ihre.«

»Aber Sorgen macht's euch doch.«

»Gedanken macht's halt, weil ich nicht versteh', auf was er denn das viele Land braucht. Will er 'leicht die ganze Welt aufkaufen?«

»Vielleicht!«

Johanna hörte nicht auf das Gespräch der Frauen und saß ganz den Männern zugewendet. Nun reichte sie plötzlich ihre Hand über den Tisch hinüber dem Müller. Der nahm die Hand und sah erstaunt in die erglühenden Augen Johannas. »Der Hund, der elende!« sagte Johanna. Fragend schaute der Müller auf Kuperus.

»Sie hat einen alten Haß auf Bezug«, sagte Kuperus.

»Ja, auf Bezug«, wiederholte Johanna, ließ des Müllers Hand frei und saß wieder mit krummem Rücken da, nach einem tiefen Zug aus ihrem Glas vor sich hinstarrend.

»Aber im Ernst,« sagte der Müller, »was kann 'r wollen?«

»Ich sag es ja: vielleicht will er sehn, wieweit sein Geld reicht.«

»Bis zu mir reicht's nicht. Das weiß ich. Da kann er mit Kanonen von Gold kommen.«

»Sie haben ja auch eine hübsche Festung.«

Der Müller sah sich um und umfaßte sein Heim mit einem warmen Blick: »Ja, fest is es schon, mein Haus, und sicher.«

»Es könnte sein, daß wir einmal ein sicheres Haus brauchen.«

»Dann kommen S' zu mir, Herr Kuperus, nur zu mir. Ich machs Tor zu und schlag' jedem den Schädel ein, der hineinwüll. Jedem!«

Beim Garteneingang entstand ein kleiner Auflauf. Eine Gruppe von Menschen drängte dort, und Kinder liefen zwischen den Beinen der Erwachsenen herum. Dann kam der ganze Knäuel in den Garten herein, öffnete sich und von Neugierigen umdrängt, standen fünf sonderbare Kerle da. Es waren Musikanten mit eigentümlichen Instrumenten, und an ihren bestäubten und zerrissenen Kleidern sah man die Spuren einer langen Wanderung. Nun sahen sie sich um, ob sie nicht verjagt würden, und nach einer kurzen Beratung nahmen sie ihre Instrumente vom Rücken.

»Die armen Teufel,« sagte Regina, »die scheinen sehr hungrig zu sein. Das Elend sieht ihnen aus den Augen.«

Die Musikanten schienen auf ihren Fahrten schlimme Erfahrungen gemacht zu haben, denn noch immer zögerten sie zu beginnen. Aber endlich siegte die Erwägung, daß sie doch wohl hier auf einen Verdienst rechnen und längstgefühlte Forderungen ihrer Leiber befriedigen konnten. Eben wollten sie ihre Instrumente an den Mund setzen, als der Harmonikaspieler vor ihnen erschien. Er hatte einen dicken, zornroten Kopf, riß dem ersten sein Instrument, eine Art Klarinette, fort und fuchtelte ihm damit vor dem Gesicht herum. Zuerst noch wortlos vor Empörung, fand er rasch die ganze Beredsamkeit des in seinem Besitz Gestörten: »Wos, ös Bagasch', ös wollt's an da 's G'schäft vaderb'n. Ös G'sindel, da bin i, vastand'n! Seit dreizehn Jahr'n spüll i da auf. Ka andrer net! vastand'n! Bagasch'! Ka andrer derf da spülln. Nur i! Vastand'n! Schaut's, daß raus kommt's, ös Zigeuner. Geht's in eua Saulandl und spüllts den Schweinen auf mit eura Saumusik. Da gibt's des net. Vastand'n!«

Das Publikum, das zuerst den fremden Musikanten geneigt schien, ließ die Schadenfreude über das Mitleid siegen und freute sich des Spektakels. Von hinten schrie einer dem rasenden Harmonikaspieler zu: »Recht hast, Franzl, schmeiß sie raus. Raus mit die Zigeuner.« Man lachte, stieg auf Sessel und Tische und hetzte den kleinen Mann, der die Bissigkeit eines Bullenbeißers hatte, gegen die Fremden. »Hab' i net recht,« schrie der Kleine, nach jedem neuen Erguß seiner Wut, »hab' i net recht?«

Und eine Schar von Jungen antwortete, lachend und gröhlend in der Tonart eines Kirchenresponsoriums auf jede dieser rhetorischen Fragen: »Recht hast, Franzl!«

Demütig trat einer der Musikanten, während sich die andern wie bedrohte Hunde zurückzogen, vor und streckte die Hand zaghaft nach der Klarinette aus. Aber der Harmonikaspieler schwang das Instrument drohend in der Luft: »Nix; erst raus da! Erst raus, ös Bagasch, raus. Dann schmeiß i euch den Schmarrn an den Schädel.« Und er rannte gegen den Mann an, der sich vor ihm zurückzog. Der Fremde hatte einen Uniformrock, einen blauen Rock mit Frackschößen und roten Achselklappen, und ein Knebelbart trug dazu bei, an die Karikatur eines französischen Generals zu erinnern. Mit kleinen bittenden Handbewegungen schien er den Harmonikaspieler zu beschwören.

»Glaubst, du Zigeuner, i versteh' dei' Sausprach. Da wird Deutsch g'redt, vastand'n!« schrie der. Und der Chor der Jungen, die sogleich für den Fremden einen verächtlichen Spitznamen gefunden hatten, eiferte ihn an: »Schmeiß ihn raus, den Schweinegeneral.« Da sprang der Harmonikaspieler auf ihn los und riß ihm eine der Achselklappen herab: »Jetzt aber vaschwind, sonst mach i an Fetzenbinkel aus dir.«

Bestürzt und schmerzlich wandte sich der Mann und erhielt von dem Harmonikaspieler einen Tritt, daß er gegen die Genossen hintaumelte. Alles brüllte vor Lachen. Der Müller erhob sich: »Da muß ich ein End' mach'n.«

»Bleiben Sie«, sagte Eleagabal Kuperus.

Unter den Musikanten stand ein junger Mann und trat dem anstürmenden Harmonikaspieler entgegen.

»No, no, was is?« fragte der und blieb stehen.

Der junge Mann streckte die Hand aus: »Zurück!« sagte er. Und als der andere zögerte: »Marsch – augenblicklich!« Und sein Blick und seine Gebärde ließ keine Wahl.

»Die Klarinette her!« Der Harmonikaspieler reichte das Instrument und zog sich in den Schutz der Menge zurück. Mit einemmal war der Lärm vorbei. Man sah gespannt nach dem jungen Mann und wartete, was er beginnen würde. Aber der kümmerte sich wenig um das Aufsehen, das er erregt hatte. Er winkte den Musikanten, ihm zu folgen, und gab draußen vor dem Garten die Klarinette ihrem Eigentümer, der sie mit leuchtendem Gesicht entgegennahm.

»Ihr seid einem rabiaten Burschen in die Hände gefallen«, sagte der Retter. »Aber ich möchte nicht, daß ihr glaubt, hierzulande seien alle so.«

Der General näherte sich und begann stockend zuerst, dann erregter und fortgerissen, in seiner Sprache etwas zu erzählen; es war eine biegsame, klangreiche Sprache, mit vielen Vokalen, und manchmal glaubte der junge Mann, der General spreche Italienisch. Vieles aber war ihm fremd, und so blieb ihm das Ganze unverständlich.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte er lächelnd. »Aber vielleicht versteht einer Deutsch. Ihr sollt mit dieser Karte nach dem weißen Schloß dort auf dem Hügel gehen, dort übernachten und euch verpflegen lassen und morgen Geld zur Weiterreise erhalten.«

Der General zuckte die Achseln und begann abermals eine lange Rede, wobei er lebhafte und doch gemessene Bewegungen machte, als ob die Worte dadurch deutlicher werden müßten. Jetzt, da die Angst von ihnen gewichen war, wurde deutlich, daß in Haltung und Gesicht der Fremden ein strenger Ernst lag. Etwas Stolzes und sogar Beherrschendes, das jetzt aus der Brandung der aufgeregten Gefühle wieder auftauchte. Ein edler Anstand und eine bedeutende Art, als wären sie Sprößlinge eines alten Geschlechtes, die nur durch erbitterte Verfolgungen verschüchtert waren. Aber von dem, was der General erzählte, verstand der Retter noch immer nichts. Er lächelte und ließ den andern reden, der in seinem Bemühen immer dringender wurde.

»Erlauben Sie,« sagte da jemand neben dem jungen Mann, »ich sehe, Sie können sich nicht verständigen. Wollen Sie nicht meine Dienste annehmen. Ich kann genug Rumänisch, um zu wissen, was der Mann sagt.«

Eleagabal Kuperus wandte sich mit einer Frage an den General. Der zuckte auf, als er seine Sprache hörte, und begann noch einmal von vorne, rascher, aber doch ohne eine gewisse würdige Art des Sprechens zu verlieren. Als er zu Ende war und Kuperus zu übersetzen anfing, sah er dem Dolmetsch genau auf den Mund, als ob er so feststellen wollte, ob der auch nichts verschwieg.

»Es sind rumänische Musikanten, Herr,« sagte Eleagabal Kuperus, »arme Teufel, die schon seit Tagen nichts Ordentliches gegessen haben und auf dem Weg in die Heimat sind. Das gibt noch eine lange und mühsame Wanderung, und sehen Sie nur, wie demütig und verprügelt diese stolzen Römerstämmlinge schon jetzt sind. Sie waren als Mitglieder einer internationalen Musikkapelle in irgendeiner Ausstellungsstadt aufgenommen, aber die Gesellschaft zerbarst nach kurzer Zeit. Jetzt müssen sie sich durchschlagen, so schlecht es gehen will. Das ist ihre Geschichte. Und nun muß ich Ihnen noch den Dank der Leute aussprechen, das hat mir der Führer streng aufgetragen. Sie wollen immer des jungen Deutschen gedenken.«

»Wollen Sie nun auch den Leuten übersetzen, was ich Ihnen zu sagen habe?«

»Gewiß, gerne!«

Und nun widerholte der Retter seine Einladung. Während der Übersetzung wurden die Augen des Generals immer größer und die andern drängten sich hinter ihm zusammen, mit stummen Blicken nach dem jungen Mann. Aber der Dank war nicht maßlos und überschwenglich, sondern gemessen und feierlich wie ein Gelöbnis. Nun nahm der General die Karte, auf die Adalbert einige Zeilen geschrieben hatte, warf einen Blick darauf und noch einen Blick nach dem jungen Mann. Es war, als liege eine besondere Macht in diesen dunkeln Augen. Dann winkte der General den Genossen, und sie zogen ab, in gleichmäßigem Schritt, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Sie sind Adalbert Semilasso«, sagte Eleagabal Kuperus.

»Haben Sie meine Karte gesehen?«

»Nein. Aber ich kenne Sie schon lange Zeit ...«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie sind ... sagen wir: ›Hausdichter‹ bei Thomas Bezug. Das Schloß dort drüben gehört ihm. Nicht wahr?«

»Jawohl ... ich ...«

»Ich heiße Eleagabal Kuperus. Sie haben sich sehr brav benommen. Darf ich bitten, mit mir zu kommen? Ich bin in Gesellschaft ...«

»Verzeihen Sie ...«

»Kommen Sie nur! Es gibt Augenblicke in unserem Leben, wo die Fäden des Schicksals sich verknüpfen. Man muß da jeden Schritt erwägen, vielleicht führt er irgendwo vorbei, wo wir sonst nicht mehr hingelangen können, als in diesem einzigen Augenblick. Wir tragen dann eine Trauer in uns und wissen nicht worum. Es ist der Schmerz um das unbewußt Verlorene.« Stark und fest sah Kuperus auf Adalbert und der fühlte in diesem Blick einen großen Willen. Das Sonderbare war ihm noch nicht so entlegen, daß er seinen Reiz nicht gefühlt hätte, und er folgte dem Alten in den Wirtshausgarten. Man sah von einigen Tischen nach ihnen hin und Adalbert fühlte sich mit Unbehagen aufmerksam betrachtet. Nun trat Kuperus zur Seite – da saß das wunderbare Mädchen an dem Tisch, an den er Adalbert geführt hatte. Jenes Weib, das ihm schon viel heimliches Glück und heimlichen Schmerz gegeben hatte – und saß da und gab ihm die Hand wie die andern ... und sprach zu ihm ... und Adalbert antwortete, irgend etwas ... Worte, die ihm gerade kamen ... und dann fiel eine große Rührung und eine jauchzende Freude über ihn. Im Kreise der Menschen, die ihm vor einer Viertelstunde noch ganz fremd gewesen waren, wurde er nun mit einemmal beredt, als hätten sie unendlich viel Gemeinsames. Adalbert sprach eindringlich, warm und empfand seine Worte wie eine Flamme. Dann aber, als die Dämmerung sank, wurde er wieder stiller und stiller und ließ die andern, deren Gespräch er belebt und beschwingt hatte, reden.

Nur Johanna saß unter den andern, mißtrauisch verschlossen, und sah manchmal von der Seite in Adalberts Gesicht.

Man sprach von dem Fürsten, dessen Festen einst das Waldhaus gedient hatte, von dem besonderen Reiz der Gegend, die aussah, als ob sie nach Art eines Parkes künstlich angelegt worden sei, und das Mädchen sprach den Wunsch aus, einmal unter den hängenden Zweigen auf dem stillen Wasser des Flusses hinzugleiten.

»Man soll Wünsche immer sogleich erfüllen, wenn sie zu erfüllen sind,« sagte Adalbert, »der Wirt hat einen Kahn hier liegen. Und wenn es Ihnen recht ist, rudere ich Sie ein wenig auf und ab.«

Sie saßen im Boot, das Mädchen am Steuer und Adalbert, mit starken Schlägen bemüht, den Kahn rasch gegen die starke Strömung zu treiben. Hier, unter den dichten Weidenköpfen, auf dem schwarzen Wasser des schmalen, aber tiefen Flusses war es schon fast ganz dunkel. Die Ufer waren wie Wände und durch Lücken der Zweigmassen brach nur manchmal ein Stück des Himmels durch, über den ein seltsamer, geheimnisvoller Schein hinzuzittern schien. Weit drüben, vor dem Loch, das durch die Hügelwand gegraben war, pfiff ein Eisenbahnzug, schrill, wie in Angst vor der Finsternis, die vor ihm lag. Und dann war alles nur noch stiller und friedlicher und dunkler, als sei der Schrei ein Licht gewesen, das jäh die Nacht durchbrach. Langsamer wurden Adalberts Ruderschläge, dann wandte er den Kahn und zog die Ruder ein. Leise trieben sie, manchmal von hängenden Zweigen gestreift, mit der Strömung den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie sahen einander nicht. Adalbert hielt seine Hand ins Wasser und fühlte es, wie man manchmal im Traum rinnende Dunkelheiten fühlt.

»Ich weiß Ihren Namen noch nicht«, sagte er.

Aus dem Dunkel kam eine Stimme: »Regina.«

»Ja ... ja ... Regina.« Er wußte es schon. Er wußte es doch schon. Und dann sagte er: »Nun hab' ich Sie doch endlich gefunden.«

Sie fragte nicht, warum er sie gesucht und wie lange. Auch sie wußte es ja.

Durch die Zweige kamen die Lichter des Wirtshausgartens, runde blöde Lichtklumpen, die stumpf in das schwarze Wasser fielen. Nun würden sie landen und Lärm würde wieder ringsum sein, dachte Adalbert. Und wer weiß, ob sie sich so bald wiedersehen würden, sicher würde es nicht bald eine so gute Gelegenheit geben, mit ihr zu sprechen. Aber was hatte er ihr denn zu sagen? Daß ihn eine Linie an ihr so unendlich gerührt hatte, diese sanft abfallenden Schultern und der Ansatz der Arme? War es das?

»Regina!« sagte er zögernd. Ihr Schweigen forderte ihn auf, zu sprechen. Aber was wollte er denn sagen ... ja, er wußte ja gar nichts, gar nichts.

»Ich habe eine Schwester«, sagte er endlich. »Sie heißt Nella, und sie hat mich sehr liebgehabt. Und ich habe sie auch sehr liebgehabt. Aber sie ist in die Welt hinaus und ist mir verlorengegangen. Wie lange hab' ich schon nichts von ihr gehört?«

»Hat sie nicht geschrieben?«

»Es war so sonderbar mit unserer Jugend, daß wir uns nicht hatten Nachricht geben können. Wir wußten beide nicht, was das ist; die Welt. Das hab' ich erst bei Bezug gelernt.«

»Sie sind bei Bezug ...?«

»Ja!«

»Dann lassen Sie um Gottes willen die alte Frau nichts davon merken, die an unserem Tisch sitzt. Sie haßt Bezug wie den Teufel.«

»Da hat sie recht. Ich hasse ihn auch ... wie den Teufel. Er ist auch der Teufel ... der Teufel ...«

»Wenn Sie ihn hassen, warum gehen Sie dann nicht von ihm fort?«

»Wenn ich nur fortgehen könnte. Ich bin gefesselt an Händen und Füßen. Er hat mich in seiner Gewalt.«

»Das gibt es doch nicht. Wir sind doch keine Sklaven. Wir haben doch unsere Freiheit.«

»Ich habe sie nicht. Aber fragen Sie nicht weiter. Sprechen wir nicht mehr davon. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein andermal mehr davon, wenn uns ein guter Zufall wieder zusammenführt. Ich habe Ihnen mehr gesagt, als ich jemals jemandem gesagt habe. Und eigentlich wollte ich von meiner Schwester sprechen ...«

Sie schwiegen, und Adalbert, der über den Bereich der Wirtshauslichter hinaus wieder in das Dunkel gefahren war, wandte den Kahn, als man ihnen vom Ufer aus nachrief: »Hallo, Regina.« Es war, als ob der Name hier wie ein leichter Duft und ein schwaches Summen über den Wassern schweben geblieben wäre, als ob er keinen Ausweg aus der von den Wänden der Weidenstämme begrenzten Dunkelheit finde.

»Regina ... Regina ...!« sprach Adalbert vor sich hin, und dann fuhr er fort: »Ich habe sie sehr liebgehabt. Und manchmal denke ich mit Schmerzen an sie zurück. Und so voll Sehnsucht und Wehmut. Einmal war ich in dem großen Zirkus in der Stadt, und da schien es mir, als sei sie eine von den Frauen, die dort ihre Künste zeigten. Sie ging auf dem Seil und lächelte ins Publikum hinunter. Sie war es natürlich nicht. Ich habe mich genau erkundigt. Aber manchmal, bei gewissen Bewegungen, besonders wenn sie sich auf dem Seil so mit einem Ruck umwandte, glaubte ich, sie müsse es sein. Natürlich viel größer und schöner als damals; denn wir waren ja noch Kinder, als wir uns trennten. Ich mußte immer hinsehen, wie sie da auf dem Seil ging, beständig in Gefahr, denn man hat ja gehört, daß sich Seiltänzer trotz der Netze erschlagen haben. Und ich dachte: wenn das wirklich meine Schwester wäre ... und diese Angst wurde so arg, daß ich aufstand und wegging. Ich habe sie sehr liebgehabt.«

Nun waren sie wieder vom äußersten Strahl der Wirtshauslaterne getroffen worden und glitten durch lichtgefurchtes Wasser. »Und Sie erinnern mich, ich weiß nicht wodurch ... aber es ist so, an Nella«, sagte Adalbert, als sie schon ganz nahe der Landungsstelle waren.

Es war noch etwas mehr als eine bloße Feststellung, es war eine Bitte, die Regina verstand. Und als sie nun ausstiegen und ihr Adalbert dabei behilflich war, drückte sie leise seine Hand als Antwort.

Man war im Begriff aufzubrechen und wartete nur noch auf die beiden.

»War's schön auf dem dunkeln Wasser?« fragte Eleagabal Kuperus, und Johanna sah lauernd mit mißtrauischen Blicken nach Adalbert.

»Sehr schön war es«, antwortete Regina und ihre Unbefangenheit befriedigte die Alte. »Wenn wir uns erlauben dürften,« sagte der Müller, »so möchten wir die Herrschaften halt recht schön einladen. Kommen S' einmal zu uns. Auch der Herr Semilasso ... das wird uns immer freun. Kommen S' nur. Ein Topf Milch oder ein Schluckerl Wein wird sich schon finden. Und ein Stückl G'selchtes zum Zubeißen.«

Vor dem Gartentor wollte sich Semilasso verabschieden, aber ein Blick Reginas mahnte ihn daran, sich nicht zu verraten, und dann sagte Eleagabal Kuperus gleichzeitig: »Ich möchte Sie einladen, uns zu begleiten, und wenn es Ihnen nicht zu spät ist, auch noch auf den Turm der Domkirche zu steigen.«

»Auf den Turm?«

»Ja. Auf den Turm. Wir wohnen, das heißt, Regina wohnt hoch über der Stadt. Ihr Vater ist Türmer. Kommen Sie mit, Sie werden in Heinrich Palingenius einen seltenen Mann finden.«

Johanna brummte etwas.

»Nein, Johanna,« sagte Kuperus, »das ist etwas anderes, von mir eingeführt, wird Semilasso sehr willkommen sein.«

»Aber, ob es so spät noch angeht ...?«

»Wenn wir mitten in der Nacht kommen, so finden Sie den Vater noch wach,« sagte Regina, »das ist es ja, was uns Sorgen macht, er schläft fast nicht mehr, seit er an seiner Flugmaschine arbeitet.«

Und während sie auf der Landstraße der Stadt zugingen, erzählten Kuperus und Regina von den Plänen und Arbeiten des Türmers. –

Heinrich Palingenius saß an seinem Tisch und las in dem großen Buch, in dem er die Geschichte des Turmes aufgezeichnet hatte. Als die Tür aufging, und er unter den heimkehrenden einen Fremden erkannte, stand er auf und schlug das Buch mit starkem Krach zu. Dann trat er zurück, als sammle er sich zu einem Angriff. Aber Kuperus winkte ihm zu und sagte: »Ich bringe dir einen neuen guten Freund.«

»Bürgst du für ihn?«

»Ich bürge für ihn.«

»Junger Mann,« sagte Palingenius, »außer den drei Menschen, die hier wohnen, ist nur mein Freund Eleagabal hier aus und ein gegangen. Seit dreizehn Jahren, junger Mann. Sie kommen auf eine Insel, wo man anders lebt, als dort unten. Wenn Sie zu uns kommen wollen, so müssen Sie die Art der Menschen dort unten vergessen.«

»Ich kann es,« sagte Adalbert, »denn bevor ich zu den Menschen dort unten kam, habe auch ich auf einer Insel gelebt.«

Regina, die nicht ohne Besorgnis dem ersten Zusammentreffen mit dem Vater entgegengesehen hatte, war erstaunt, wie rasch und glücklich sich alles abwickelte, und bemühte sich nun, es Adalbert recht behaglich zu machen. Sie nahm ihm den Überrock ab und holte aus den Schätzen eines Wandschrankes eine köstlich geschliffene Karaffe mit einem grünen Likör. Inzwischen hatte Palingenius eine leise Frage an den Freund gestellt:

»Ist es er?«

»Er ist es!«

»Du hast gewußt, daß du ihn heute finden wirst, und bist deshalb ausgegangen?«

»Vielleicht.«

»Und Regina! Hast du sie deshalb mitgenommen ... denkst du ...«

»Schweig' jetzt. Wir werden sehen.«

So schwer und lastend die ersten Minuten nach dem Empfang gewesen waren, so rasch wurde das Gespräch nun leichter und freier, als alle um den Tisch saßen. Zuerst wollte es Adalbert scheinen, als habe man ihn in eine geheime Gesellschaft gebracht, bald aber erkannte er, daß er in einen Kreis von tiefen und nur gegen den Lärm der Welt empfindlichen Menschen eingeführt worden war.

Dankbar und glücklich, daß er den Fremden wohlwollend empfangen hatte, wandte sich Regina an den Vater: »Du hast heute ein schweres Stück Arbeit hinter dir, Vater ... und es ist gelungen. Nicht wahr?«

»Ich glaube, daß es gelungen ist. Das Herz meiner Maschine ist fertig.«

»Nun wird es darauf ankommen, ob es den schweren Körper beherrscht«, sagte Kuperus.

»Ich hoffe es. Es wird ihn beherrschen. Es zittert in meiner Hand, so fein und empfindsam, wie ein lebendiges Ding. Und dann werde ich fliegen können ... fliegen ...«

»Und die Menschen bald nach dir, wenn du recht behältst.«

»Die Menschen. Ja – mögen sie es auch erlernen. Ich glaube noch immer daran, daß sie dann besser werden.«

»Wenn sie lang genug Zeit dazu haben«, sagte Kuperus.

»Wie meinen Sie das?« fragte Adalbert, der gespannt zugehört hatte.

»Ich meine: daß es wohl sehr lange dauern wird, auch wenn sie fliegen können. Und daß vielleicht das Ende der Welt oder sagen wir besser: der Tod dieser Erde eher da sein könnte, als der Tag, an dem man sagen dürfte: alle Menschen sind gut. Die lieben Unverbesserlichen aber denken nicht an ein Ende aller Dinge und leben darauflos, als hätten sie eine Ewigkeit vor sich. Und vielleicht ist es so gut, denn – wer weiß – wenn sie an ein Ende dächten, ob sie da nicht erst noch weniger gesonnen wären sich zu bessern.«

Adalbert Semilasso sann vor sich hin, denn was er hörte, war ihm so neu, daß es sogleich seine Phantasie aufreizte und zu rasender Arbeit anspornte. Von diesen Dingen einer so überaus wichtigen Angelegenheit des Menschengeschlechtes war im Haus Bezugs niemals gesprochen worden. Es ergriff ihn mächtig, alles zu wissen, was man hier über die Zukunft der Erde dachte. Und nach einer Weile fragte er: »Das Ende aller Dinge? Der Tod der Welt? Wie soll das sein? Was darf man sich darunter vorstellen? Ist denn diese Welt nicht ewig?«

Palingenius und Kuperus sahen einander an, wer von ihnen die Antwort übernehmen sollte. Und während sie sich mit Blicken, in denen auch eine Art von Rührung war, verständigten, sagte Regina leise: »Nein, sie wird nicht ewig sein. Einst war sie ein glühender Feuerball, dann, im Erkalten, zog sie sich zusammen und umhüllte sich mit der Kruste, auf der wir leben. Und einmal, in ferner Zukunft noch, aber doch schon absehbar, wird sie ganz erkaltet sein und leer und öde wie der Mond, auf dem keine Luft mehr ist und kein Wasser und kein Leben.«

Adalbert staunte sie an: »Sie wissen das alles und ... ich weiß nichts davon.«

»Ich hätte taub sein müssen, um nicht in meines Vaters Wohnung einiges von diesen Dingen zu hören.«

»Regina hat recht,« sagte Eleagabal Kuperus, »diese Erde wird voraussichtlich den Tod des Erfrierens sterben. Wenn nicht vorher irgendein kosmisches Ereignis eintritt, das sie zertrümmert.«

»Ist das doch möglich?« fragte Regina.

Lächelnd antwortete Kuperus: »Klammerst du dich auf einmal an die Welt? Früher hast du ruhig zugehört, wenn von dieser Möglichkeit gesprochen wurde. Ja – es ist nicht ganz unmöglich. Sehen wir doch oft am Himmel an einer Stelle, wo man nie einen Stern geahnt hat, ein plötzliches Aufflammen, das nach kurzer Zeit wieder verschwindet. Was ist das? Ein Stern, der in einem furchtbaren Zusammenstoß mit einem anderen Himmelskörper vernichtet wurde. Die Todesfackel, der Weltbrand einer Erde gleich der unseren. Aber das bleibt doch für uns unter den fernen Möglichkeiten. Weit wahrscheinlicher ist es, daß sie den langsameren Tod des Erfrierens stirbt.«

Nachdenklich sagte Palingenius: »So ist das organische Leben auf einem Erdstern bloße Verfallserscheinung. Anzeichen des herannahenden Alters und des Todes. Denn als der Stern noch jung und voll brausender Kräfte war, duldete er keine Hülle um seinen glühenden Körper. Wenn er sich aber besinnt und, nur gelegentlich noch, wie von Erinnerungen an die ferne Jugend, erschüttert, seinen Panzer gegen die Kälte des Weltraums trägt, dann geht es mit ihm zu Ende. Der Panzer belebt sich, überzieht sich mit Grün, und allerlei Getier kriecht darauf herum. Der Mensch nennt das die Schöpfung des Lebens. In Wahrheit ist das aber der Anfang vom Ende. Ein Verfallsprozeß ... ja ...!«

»Ich kann das nicht glauben,« sagte Adalbert, »es ist so schwer zu denken. Wenn für uns die Erde anfängt freundlicher und liebenswerter zu werden, soll der Betrachter daran erkennen, daß sie verurteilt ist, zu sterben?«

Kuperus trank sein Likörglas aus und setzte es vorsichtig auf den Tisch. Dann erhob er es wieder und hielt es gegen das Licht, als wolle er dessen Spiele auf den gebrochenen Flächen betrachten: »Es nützt nichts, mein junger Freund. Die Erde ist nicht mehr jung und auch das Menschengeschlecht ist nicht mehr jung. Allerlei deutet darauf hin. Wenn man genauer hinsieht, möchte man sagen: alles. Wir sind – als Gattung genommen – doch in einer langsamen Degeneration begriffen. Unsere Johanna hat Zahnschmerzen. Sie hält sich wieder ihr Tuch an die Wange. Nun, auch das ist ein Beweis dafür, daß es mit uns abwärts geht. Unser Gebiß ist in einer fortwährenden Rückbildung begriffen. Es gab eine Zeit, wo die Kauwerkzeuge des Menschen anders sein mußten als heute, stärker, noch tierähnlich, furchtbar zermalmend und mahlend. Aber heute scheinen sie uns nicht mehr so wichtig zu sein. Die Nahrung ist anders geworden, weicher, feiner, und das Essen ist keine Arbeit mehr. Darum verkümmert der dritte Mahlzahn, der »Weisheitszahn« immer mehr. Er kommt erst spät heraus, ist schwach und kränklich, kann der Fäulnis wenig Widerstand leisten, oder er fehlt überhaupt ganz. Man hat die Beobachtung gemacht und aus Schädeln aus früheren Jahrhunderten nachgewiesen, daß das nicht immer so war, daß unsere Vorfahren noch ein vollständiges Gebiß hatten. Daraus folgt, daß dieser Zahn späteren Geschlechtern wohl ganz fehlen wird. Und ähnlich geht es uns mit dem seitlichen oberen Schneidezahn. Auch der ist verkümmert und fehlt vielen ganz.«

»Was ist da zu tun?« fragte Adalbert erregt, als wäre dies seine eigenste Angelegenheit.

»Nichts«, antwortete Palingenius. »Der Prozeß geht seinen Gang. Die Kultur bringt unseren Körper herunter. Die Naturvölker sind noch nicht so weit. Und man kann sich denken, daß einmal die Zähne als ganz überflüssig verschwinden werden. Wenn man einmal die Nahrung in konzentrierter Form, als Pillen zu sich nimmt, die bloß verschluckt zu werden brauchen, wozu brauchen wir dann noch die Zähne?«

»Das wird es einmal geben, daß man die Nahrung in Pillenform zu sich nimmt, wie Medizin?« fragte Regina schaudernd.

»Man ist auf dem Wege dazu.«

Lachend zeigte Eleagabal die leere, dunkle Höhle seines Mundes, aus dem die großen, gelben Eckzähne wie Hauer hervorsahen: »Dann werden alle Menschen ungefähr so aussehen wie ich und die Dichter werden den Artikel Perlenzähne in ihrem Lexikon weiblicher Reize streichen müssen. Ja, die Zahnfäulnis nimmt zu, nicht wahr, Johanna?«

Aber Johanna, die ihr Tuch um ihr Gesicht gebunden und sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen hatte, schlief schon auf ihrem Stuhl, den Kopf nach hinten geneigt und ließ ein kurzes, röchelndes Atmen hören.

»Und so gibt es noch viele andere Zeichen, daß wir dem Ende entgegengehen«, sagte Kuperus.

»Dies zum Beispiel«, sagte Palingenius und hob sein Glas mit dem goldhell funkelnden Likör.

»Dies?«

»Nun ja ... dies! Das Bedürfnis des Menschen nach Alkohol. Seltsamer Instinkt des ganzen Geschlechtes, das von seinem Ende noch nichts wissen will und doch im tiefsten Innern bereits das Unabwendbare ahnt. Unser Organismus hat eine geheimnisvolle Tendenz, sich über das natürliche Ende hinaus zu erhalten. Das ist beim einzelnen zu erkennen, und noch sicherer offenbart sich diese Tendenz in den allgemeinen Bedürfnissen der Menschheit. Der Alkohol gehört zu ihnen. Es wird eine Zeit kommen, in der sich die Eiskappen der Pole über die ganze Erde ausbreiten, in der das organische Leben zum Erfrieren verurteilt ist. Allein der Mensch wird sein Dasein um einige hunderttausend Jahre verlängern, wenn alle Meere bereits gefroren sein werden und die Kälte des Weltraumes schon auf ihn einzudringen beginnt. Nun gefriert der Alkohol erst bei sehr viel größerer Kälte als das Wasser. Wie nun, wenn das Wasser in den organischen Wesen, vor allem im Menschen, durch Alkohol ersetzt würde, wenn die Zusammensetzung des Blutes in dieser Weise geändert würde? Wie nun, wenn in dem Bedürfnis nach Alkohol diese organische Tendenz verborgen läge? Man gewöhnt sich an alles, sagt ein Alltagswort. Ja – vielleicht gewöhnt sich der Mensch auch daran. Alle Organe erfahren eine physiologische Umgestaltung daraufhin ...«

»Und wenn der Mensch«, sagte Eleagabal Kuperus, »dann nach einem raschen Flug sich zur Erde niederlassen wird und den zahnlosen Mund öffnet, um tief zu atmen, wird er nach Spiritus riechen.«

»Es beliebt dir zu scherzen«, sagte Palingenius etwas verdrossen, nahm seinen Mantel und ging hinaus, um auf der Galerie des Turmes über die schlafende Stadt hinzusehen.

»Und alles dies gibt es zu denken ...« Adalbert sah erregt Regina ins Gesicht, »dies gibt es zu denken ... und ich habe mich noch nie damit abgegeben. Ich komme mir hier vor, als sei ich ein Mensch der Vergangenheit, der nach langem Schlaf erwacht und nun von Dingen hört, die es zu seiner Zeit nicht gab.«

»Oder vielleicht sind Sie der Mensch der Zukunft!«

»Der Zukunft? Das verstehe ich nicht?«

Kuperus schien zu warten, bis Palingenius von seinem Gang zurückkam, und fuhr nach dessen Eintritt fort: »Wo soll das mit uns hin? Immer unabsehbarer wird das Meer des Wissens. Um auch nur einiges von alledem aufzunehmen, genügt kaum ein halbes Leben. Dabei wird der Wille des Menschen, den ganzen Umfang des Wissens zu erforschen und dadurch der Welt Herr zu werden, immer zwingender. Es gibt wohl viele, die ihr Gebiet – ein ganz kleines Land – mit aller Sorgfalt abschließen, die seine Grenzen befestigen, um sich hinter Wällen und Mauern, vor dem Andringen des fürchterlichen Meeres geschützt, ihrer Spezialforschung zu ergeben. Aber selbst das kleinste Gebiet hat hier die Tendenz zu wachsen. Und je genauer es durchforscht wird, desto mehr scheinen sich seine Grenzen, trotz aller Wälle, hinauszudehnen. Viele Geister aber gibt es, die mit aller Sehnsucht die Universalität anstreben. Und das ist eine schmerzhafte Sehnsucht. Und sie ist vor diesem unendlichen Meer unerfüllbar. Nun wird ein blasses Geschlecht von Menschen herankommen, die sich immer wieder auf die Aufgabe stürzen, der Welt durch das Wissen Herr zu werden, die immer wieder entsetzt und ohnmächtig vor neuen Augenblicken zurücktaumeln. Daneben aber wird ein anderes Geschlecht entstehen. Seine Ahnen werden die Verzweifelnden von heute sein, die Verzichtenden, welche die Kleinheit des Menschen erkannt haben. Sie haben alles von sich geworfen und sagen: es ist unmöglich. Aber aus dem tiefsten Lebensunmut wird höchster Lebensmut werden. Warum sollen wir uns damit quälen, zu ergründen, was das Leben ist, da wir doch sehen, wie es ist? Herrlich, souverän, beglückend, wenn man sich ihm mit rechtem Vertrauen hingibt. Diesen Menschen wird das Dasein wichtiger erscheinen als das Wissen um das reine Sein. Bei aller Ehrfurcht vor tiefen Fragen werden sie sich die Lust an allen Genüssen bewahrt haben, die aus der einfachen Unterwerfung unter das Leben kommen.«

Nun schwiegen alle lange Zeit. Dann erhob sich Palingenius und drehte den Hahn der Lampe über dem Tisch ab.

»Was tust du?« fragte Regina, da sie nun im Dunkeln saßen.

»Der Morgen ist da«, antwortete der Türmer und öffnete die Fensterladen. Noch lag es grau über der Stadt, aber hoch oben war die Luft schon erhellt, und eine einzelne Wolke, rot und flüchtig, brachte den ersten Gruß der aufgehenden Sonne. Im Lehnstuhl am Fenster schlief die alte Johanna, und eine ihrer mageren Hände hing über die grünbezogene Lehne herab. Nun stand Kuperus auf, und Adalbert nahm gleich ihm seinen Mantel. Er dankte für die wunderbare Nacht. »Darf ich wiederkommen?« fragte er.

Und Regina antwortete mit einem fragenden Blick nach dem Vater: »Kommen Sie ... wenn es Ihnen nicht zu hoch ist, hier herauf ...« Der Türmer aber nickte ihr gütig zu und reichte Adalbert die Hand. Da wurde Regina vor Freude ganz verwirrt und wollte mit hinunter, um die Turmtüre aufzuschließen.

»Laß nur, Regina,« sagte Kuperus, »der Schlüssel steckt ja. Und es kann schon offen bleiben, nicht wahr ...«

Als die beiden hinabstiegen, blieb Eleagabal Kuperus stehen und zeigte nach der Mauer des Turmes, wo Adalbert ein schwarzes Kreuz bemerkte. »Über dieses Kreuz ist Palingenius seit dreizehn Jahren nicht mehr hinausgekommen.«

»Er haßt die Welt?«

»Er liebt sie trotz allem. Und er wird auch nicht mehr über dieses Kreuz hinauskommen ... nicht lebend ...« setzte Kuperus mit einem verlorenen Blick, wie unwillkürlich hinzu.

Vor dem Haus mit der schlüsseltragenden Hand über dem Tor nahm Adalbert Abschied. »Wenn Ihnen von unseren Gesprächen der Wunsch geblieben ist, sie fortzusetzen,« sagte Kuperus, »so kommen Sie immer zu mir. Ich werde stets zu Hause sein, wenn Sie kommen. Und wenn Sie einen Wunsch haben, eine Frage, ein Leid, so kommen Sie, ich erwarte Sie.«

Geräuschlos öffnete sich die Tür – Adalbert stand allein vor dem seltsamen Schnitzwerk, sah nach der Hand empor, die in der Morgendämmerung von Blut erfüllt schien, nicht ein künstliches Gebilde, sondern ein Stück Leben. Eine alte Frau kam über den Domplatz herüber und sah Adalbert vor dem Haus des Kuperus. Sie drückte sich vorbei, mit scheuen Blicken nach der Burg des Zauberers; und eben, als sie bei der kleinen Seitentür des Domes ankam, rasselten drinnen die Schlüssel, und der kleine Kirchendiener kam hervor, noch etwas verschlafen, trat gähnend auf den Platz hinaus und sah nach dem Wetter.

»Morgen, Frau Swoboda, es ...« aber ein Gähnen erstickte die Fortsetzung der Begrüßung.

»Schaun S' dorthin,« sagte die Frau Swoboda, »steht schon wieder einer vor dem Haus. Hat schon wieder einen verhext.«

»Ja, der Teufel hat halt noch immer große Macht in der Welt. Noch immer. Und grad sucht er sich immer das Heiligste aus, wo er sich daneben breit macht.«

»Da sollt' halt doch einmal die Polizei ...«

»Gehn S', die Polizei, die halt's selber mit denen Freimaurern und allem Teufelsg'sindel.«

Dann traten die beiden in die Kirche. Frau Swoboda mit einem flüchtigen und ängstlichen Blick über die Schulter zurück, ob sie nicht noch hier, an der Schwelle des Heiligtums eine dunkle Gewalt zurückstieße.

Hinter Adalbert wurde ein Fenster geöffnet. Der Rahmenmacher beugte sich zwischen Vogelkäfigen und Blumenstöcken weit vor und sah hinaus. Nun wandte sich Adalbert und ging langsam zwischen den beiden Heiligen hindurch die Domstiege hinab. Auf dem Marktplatz begannen die Verkäuferinnen schon ihre Gemüsestände aufzustellen, und vor dem Laden eines Fleischhauers waren Lehrjungen damit beschäftigt, halbe Schweine und ungeheure Ochsenviertel auf die starken eisernen Haken aufzuspießen. Kleine Blutlachen unter den Fleischmassen zeigten, daß sie frisch zerteilt worden waren. Adalbert blieb stehen und sah nach dem Dom zurück, dessen zwei ungleiche Türme schon von der Sonne bestrahlt waren. Er sah deutlich den glitzernden Knauf und die mächtige Helmzwiebel und darunter, fein und spinnenzart, die Galerie des Türmers.

»Schönes Resedastöckl g'fällig«, sagte der Blumenhändler der neben Adalbert seine Töpfe günstig anordnete und die bunten Samenpakete auslegte.

Langsam ging Adalbert weiter durch die Straßen der erwachenden Stadt, und er sah noch oft nach den Türmen des Domes, blieb auch eine ganze Weile im taunassen Gras liegen, als er den Wald erreicht hatte, so daß er erst spät am Vormittag in der Villa anlangte. Als er in das Vestibül trat und ihm ein Diener entgegenkam, erinnerte er sich an die Musikanten von gestern abend.

»Was ist's mit den Leuten, die ich gestern hergeschickt habe?«

»Der Richard hat sie versorgt, wie es der Herr angeordnet haben.«

»Rufen Sie mir den Richard.«

Noch im Treppenhaus wurde Adalbert von Richard eingeholt, eben als er den Schlüssel in die Türe seiner Zimmer steckte. Mit den gelassenen Manieren des guterzogenen Dieners, der zwischen den Klassen der Herrschenden Unterschiede zu machen weiß, grüßte er Adalbert.

»Nun?«

»Es ist ganz nach Ihren Befehlen geschehen, Herr Semilasso. Sie haben zu essen bekommen und haben ein Nachtquartier erhalten, und heute früh habe ich ihnen Geld gegeben. Um sieben Uhr früh sind sie fort.«

»Schon fort? Es ist gut.«

Adalbert schloß auf und ging durch die Reihe seiner Zimmer bis ins Schlafzimmer, das nach dem Park zu lag. Er war ein wenig müde und mit sich uneins, ob er ausruhen oder sich bloß durch eine Waschung erfrischen wollte. Sehnsüchtig sah er nach seinem Bett. Vielleicht kam ein Traum und wiederholte ihm, was er erlebt hatte oder setzte es fort. Im Dämmer der halb zugezogenen Bettvorhänge sah er am Kopfende etwas Weißes, das vom tiefen Ton des Mahagoniholzes abstach. Neugierig trat er hin. Es war ein Blatt Papier, das mit einem Dolchmesser an das Holz genagelt war. Mit Mühe zog er das tief eingestochene Messer hervor und trat mit dem Papier ans Fenster. Worte in einer fremden Sprache, die ein wenig an das Italienische erinnerte und doch ganz anders klingen mußte. Es mochte wohl Rumänisch sein. Adalbert war erstaunt. Wie kam das Blatt hierher? Welche seltsame Art, es mit einem Messer zu befestigen? Er klingelte und wartete ungeduldig, bis Richard kam.

»Hören Sie,« fragte er, als der Diener eintrat, »haben Sie die Leute hier in meine Zimmer gelassen?«

Kalt und ungehalten sah ihn Richard an: »Wie käme ich dazu? Herr Semilasso haben doch selbst abgesperrt. Fehlt dem Herrn vielleicht etwas? Ich hab' mir aber gleich gedacht, daß ein solches Gesindel ...« Es war ein Vorwurf und zugleich ein Triumph der besonnenen Voraussicht.

»Nein, es fehlt mir nichts.«

»Jetzt erinnere ich mich, daß einer von den Leuten gefragt hat, wo die Zimmer des Herrn sind.«

»Einer hat gefragt? Gut. Gehen Sie.«

Es war weiter nichts Wunderbares dabei, wie Adalbert nach einigem Suchen herausfand.

Vom Garten aus war man an dem Spalier der Weinstöcke zum ersten Stock hinaufgeklettert, hatte hier ein Fenster geöffnet, das wohl nicht gut verschlossen gewesen war, und war eingestiegen. Aber zu welchem Zweck war man in sein Schlafzimmer eingedrungen? Was sollte die Nachricht, die man ihm hier hinterlassen hatte? Ein wenig beunruhigt, aber doch zu müde, um angestrengt darüber nachzudenken, streckte sich Adalbert auf seiner Ottomane aus und schlief ein.

Erst spät am Nachmittag erwachte er. Ein kühles Grün erfüllte sein Zimmer, und die Sonne legte glänzende runde Schilde, so gelb wie Messing auf die topasfarbenen Tapeten. Aus dem warmen Dunkel der Wände schienen unter ihrer Berührung, wo sie in schmalen, flüchtigen Streifen hinhuschte, leichte Rauchsäulen aufzusteigen; als ob sich die Farbe wieder in die leichten Bestandteile auflöse, aus denen sie gewonnen schien. Adalbert dachte an Regina und stand auf, sogleich von einer freudigen und wachen Kraft erfüllt. Es war ihm so, als habe sein Leben nichts Schweres mehr für ihn, als seien alle Hindernisse und selbst seine fürchterliche und quälende Gefangenschaft hinweggewischt. Vom Fenster aus sah er in den Park hinaus und dachte nach, ob nicht die Nachricht der rumänischen Musikanten ein genügender Vorwand sei, gleich heute zu Eleagabal Kuperus zu gehen. Vielleicht würde er beginnen von Regina zu sprechen, er war ja ihr väterlicher Freund ...

Auf einem der Parkwege unten, zwischen den im Grün aufflackernden brennenden Blüten üppiger Granatsträucher sah er ein weißes Kleid. Elisabeth! Wahrhaftig: Elisabeth! Kam die auch hierher? Und Adalbert hatte gehofft, die Tage bis zu ihrer Verlobung in Ruhe verbringen zu können. Bezug hatte ihm die Einsamkeit gestattet, damit er in der Stille seine Aufgabe erfülle. Adalbert sah das weiße Kleid zwischen den Gebüschen bald stillstehen, bald weitergleiten. Neben Elisabeth ging der Bräutigam, in einem leichten grauen Sommeranzug, mit bloßem Kopf, über den er ab und zu mit dem Taschentuch wischte. Elisabeth schien in übler Laune, sprach heftig erregt und blieb dann plötzlich stehen, daß Hecht einige Schritte vorausrannte. An einer Wegbiegung hakte ein Strauch seine Dornen in die Spitzen ihres Kleides. Elisabeth hatte sich zurückgehalten, wandte sich um und riß mit einer zornigen und ungeduldigen Bewegung das Kleid los, daß ein langer schmaler Spitzenstreifen an dem Busch hängen blieb. Dann verschwanden die beiden tiefer im Park, nur der Spitzenstreifen flatterte im leise einsetzenden Abendwind. Adalbert klingelte nach Richard und bestellte rasch ein Abendessen. Als Richard gehen wollte, fragte er: »Ich glaube, ich habe vorhin das gnädige Fräulein im Park gesehen. Ist sie hier?«

»Sie ist vormittag aus der Stadt gekommen und hat nach dem Herrn gefragt. Ich habe gesagt, der Herr schlafen. Sie hat den Auftrag gegeben, sie sogleich zu verständigen, wenn der Herr aufwachen.«

»Warten Sie noch damit. Wenn ich nicht irre, ist Herr Hecht mit dem gnädigen Fräulein im Park.«

»Herr Hecht ist nachmittag nachgekommen.«

»Sie wird nicht gestört werden wollen, warten Sie also noch eine Weile, bis Herr Hecht gegangen ist.«

»Wie Sie wünschen. Ich darf mich auf den Herrn berufen, daß ich meinen Auftrag so ausgeführt habe, wie er mir gegeben wurde.«

»Meinetwegen. Berufen Sie sich auf mich.«

Für das Abendessen nahm sich Adalbert nicht viel Zeit. Er hatte eine kleine Schüssel mit kaltem Fleisch bestellt, ließ aber die Hälfte stehen, trank eine kleine Flasche roten Wein und ging dann, nachdem er den Zettel mit der Nachricht der Musikanten zu sich gesteckt hatte, auf einer der vielen versteckten Treppen dieses Hauses davon. Zum erstenmal fand er die seltsame Bauart dieses Hauses sinnvoll. Bei aller Pracht des Innern und aller Leichtigkeit der Fassaden war das Haus doch schwer und wuchtig gebaut wie ein Fort. Die Mauern waren dick und mit Eisenplatten überzogen, die freilich von köstlichen Gobelins verdeckt waren; aber gerade diese Dicke der Mauern ließ eine Menge traulicher Winkel zu, gemütlicher Ecken und Nischen, in denen es zur Dämmerstunde wunderbar heimlich war. Die vier drehbaren Türen an den Ecken des Gebäudes glichen den Panzertürmen eines ungeheuren Kriegsschiffes. Zu diesen Türmen hatte keiner der Hausbewohner Zutritt. Und wie in einem alten Fort gab es allerlei geheime und verdeckte Türen und Treppen, die auf seltsamen Wegen unvermutet ins Freie führten. Auf einer dieser Treppen gelangte Adalbert in den Park und wollte eben zu dem Ausgang hin, der über eine der kleinen Brücken ins Freie führte, als ihm Elisabeth und Hecht entgegenkamen. Rasch drückte sich Adalbert in die Dämmerung eines großen, kugelförmigen Taxusbaumes.

Hecht sah blaß und entschlossen aus. So nahe kam er an Adalbert vorüber, daß dieser die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn sah. »Ich werde Sie zwingen, mich zu lieben«, sagte er.

»Wir werden sehen, ob es Ihnen gelingen wird!« antwortete Elisabeth und blieb wieder plötzlich stehen, daß Hecht einige Schritte von ihr abkam. Dabei warf sie einen raschen Blick nach den Fenstern der Villa.

»Ja, das werden wir sehen.«

Dann waren sie vorbei, und Adalbert konnte seinen Weg fortsetzen. Als er vor des Kuperus Haus ankam, war es bereits Nacht, aber sein Vertrauen in die Herzlichkeit der Einladung war so groß, daß er ohne Bedenken die Glocke zog. Leise ging die Tür auf, und Adalbert ging über weiche Teppiche durch den langen Gang, an dessen Wänden die leuchtenden Buchstaben eine beruhigende Dämmerung gaben. Im rot beleuchteten Raum, wo der Springbrunnen plätscherte, wartete der Diener mit dem Wolfsgesicht und führte ihn zwischen zwei Wänden von Büchern weiter. Eine Kugel klang hell in silbernem Becken. Und nun stand Adalbert in dem großen Raum, über dem eine Kuppel aus Glas auf Marmorwänden lag. Staunend sah er die Pracht dieses wundersamen Tempels, in dem alle Marmorarten vereinigt waren, die Säulen, die kein Gebälk trugen, und die köstlichen Farbenspiele auf der Innenseite der Glaskuppel. Staunend fühlte er die Wirkung dieses milden Lichtes, das aus unsichtbaren Quellen kam und ihn gleichsam erfüllte, das er einzuatmen schien und das ihn mit jedem Atemzug freier machte. Eine unerklärliche Kraft drang auf ihn ein, hob ihn empor, so daß er eine Stimme in sich zu hören glaubte: hier ist nichts unmöglich! Diese Ruhe der Marmorwände, die doch in den wirren Adern von lebendigstem Leben zu beben schien, kam auch über Adalbert. Er war gespannt und ruhig zugleich, voller Erwartung und doch nicht ungeduldig.

Eleagabal Kuperus erhob sich von dem Marmortisch in der Mitte des Saales, wo er gesessen hatte und trat auf Adalbert zu, hinter dem der Diener mit dem Wolfsgesicht vorgebeugt stand, wie auf der Lauer, um sogleich zuzufassen. »Ich wußte, daß Sie noch heute kommen würden«, sagte er und winkte dem Diener, sich zu entfernen.

»Ich bin gekommen, um Sie etwas zu fragen. Sie haben es mir gestattet. Aber wie soll ich sagen, wie ich es bei Ihnen finde, wie sonderbar das ist. Als ob ich auf einem anderen Stern lebte. So ... so ... mir fehlen die Worte ...«

»Und Sie sind doch ein Dichter ...«

»Ich bin ganz umgewandelt. Ich atme so leicht ...«

Kuperus sah Adalbert innig an und sagte, indem er ihm die Hand reichte: »Wie schön ist Ihre Begeisterung, viel schöner als alles das, was Sie begeistert macht. Wenn die Menschen wüßten, wieviel sie verlieren, wenn sie die Gabe verlieren, sich zu begeistern! Man wird so klar und lauter, wenn man sich ganz an etwas hingibt. Und den meisten ist das versagt. Sie bleiben trüb und dumpf, immer in sich selbst eingekerkert, befangen und gefangen.«

»Die Luft ist so hell und heiter, sie strömt wie Licht in mich ...«

»Fühlen Sie es? Ja, es ist so. Was Sie da atmen ist leuchtende Luft. Diese Räume sind ganz von leuchtender Luft erfüllt. Sie entzündet sich hier an diesen Säulen, strömt ab und zu, immer in unsichtbarer Bewegung, und alle dem Licht verwandten Wirkungen werden zugleich entfesselt. Nicht nur Lichtströme, auch elektrische und magnetische Wellen gehen durch Sie hindurch.«

»Es ist wunderbar, es ist wunderbar ...«

Adalbert saß lange schweigend auf einer Marmorbank, und Kuperus störte ihn nicht. Nach einer Stunde begann er mit einer Frage, die Adalbert ganz sanft erweckte: »Geben Sie mir das Papier, das Sie mir gebracht haben.«

Adalbert wunderte sich nicht im geringsten darüber, daß Eleagabal von diesem Papier wußte. Lächelnd nahm Kuperus das Blatt in Empfang und las es lächelnd; die großen Eckzähne waren wie Messer aus ihrer Scheide gekrochen, und trotzdem ihm das ein sonderbares Aussehen gab, war der Ausdruck der Milde in seinem Gesicht nur noch deutlicher geworden. »Sie haben sich Freunde erworben,« sagte Kuperus, als er zu Ende gelesen hatte, »es sind die rumänischen Musikanten, die Ihnen dieses Blatt hinterlassen haben.«

»Und was wollen sie von mir?«

»Sie wollen nichts von Ihnen. Sie bieten Ihnen etwas an. Hören Sie, was auf diesem Blatt steht: ›Dieses Messer‹ – das Messer, mit dem das Blatt wohl befestigt war – ›ist der Bruder von vier anderen. Fünf scharfe und rasche Brüder; die Fäuste, die sie führen, und die Köpfe darüber sind Dein, wenn Du sie rufst. Rufe sie, wenn Du ihrer bedarfst. Man wird Dich hören in Bukarest‹, und nun gibt Ihnen der Zettel eine genaue Adresse.«

»Das ist eine sonderbare Art der Dankbarkeit. Sie tragen mir an, mich ihrer Messer zu bedienen. Was soll ich mit einem solchen Antrag beginnen. Ich habe niemanden, dem ich ans Leben will.« Adalbert versuchte zu scherzen, denn es war ihm peinlich, an die Szene von gestern erinnert zu werden.

Aber Kuperus blieb ganz ernst: »Es könnte doch sein, daß wir sie brauchen. Sie haben sich gestern eine Leibgarde angeworben. Und ich glaube, diese Wächter werden treuer sein, als so manche, die einen König umgeben. Heben Sie dieses Blatt gut auf.« Und dann, als wäre jetzt genug davon gesprochen und als wäre ihm Adalberts Verlegenheit aufgefallen, lenkte Kuperus ab: »Und nun lade ich Sie ein, weiter zu gehen. Sie haben Vertrauen zu mir; das fühle ich und sehe ich. Ich will Ihnen zeigen, daß auch ich Vertrauen zu Ihnen habe. Kommen Sie.«

Er schritt auf die Marmorwand zu, die dem Eingang gegenüberlag, und Adalbert erhob sich und folgte ihm. Nun griff Kuperus in das Rankenwerk der bunten Marmoradern, schob die hängenden Netze über der Türöffnung zum Laboratorium beiseite, und die beiden gingen durch die Wand hindurch. Da standen sie im Raum, in dem Kuperus seine Präparate aufbewahrte, diese Köpfe und menschlichen Gliedmaßen, die sich den wundersamsten Anschein des Lebens erhalten hatten. Und Adalbert ging zwischen ihnen herum, wie in einem Traum, in dem die merkwürdigsten Dinge selbstverständlich sind, von Kuperus begleitet, der ab und zu ein Wort sprach. Vor der ägyptischen Mumie erkannte er, wie scheußlich diese Art war, die Reste eines Toten aufzubewahren, und er fragte Kuperus, ob er nicht daran denke, seine Entdeckung der Menschheit zu übergeben.

»Der Menschheit?« sagte Kuperus. »Ich glaube nicht, daß der Menschheit so sehr viel daran gelegen sein wird, ihre Toten in dieser Weise aufzubewahren. Es gibt wenige, die die Bilanz ihres Tun und Lassens einem Toten gegenüber so abschließen dürfen, daß für sie etwas herauskommt. Vor einer Leiche bleiben meist nur marternde Vorwürfe zurück, der Gedanke, daß man anders hätte sein müssen. Und da ist es gut, wenn den Toten die Erde bedeckt oder das Feuer verzehrt. Er wird ferner und undeutlicher, und wenn einige Zeit darüber hingegangen ist, weiß man wenig mehr von dem, was uns einmal entsetzt hat. Die Reue schweigt und eine leise Wehmut schmeichelt müde in uns. Den Toten immer noch lebend vor uns zu sehen, würde unsere Reue verlängern.«

Adalbert nickte und dachte nach. Dann sagte er: »Sie haben recht.«

Nach einer Weile begann Kuperus wieder: »Darum zögere ich auch, von einer anderen Entdeckung zu sprechen oder Gebrauch zu machen, die noch wunderbarer und fürchterlicher ist. Das Leben ist ein chemischer Vorgang, nicht wahr. Das ist sehr roh und materialistisch ausgedrückt. Denn sein Wesen, sein Eigentliches ist damit noch nicht erfaßt. Die Art, wie das Einzeldasein mit dem Weltganzen zusammenhängt. Aber der »chemische Vorgang« ist das, was wir vom Leben sehen und einigermaßen beurteilen können. Die äußere Rinde des Lebens. Also ein chemischer Vorgang, Sie werden mich nun verstehen. Ein Verbrennungsprozeß in gewisser Beziehung. Und ein Gärungsvorgang in einer anderen Hinsicht. So ist das Vorhandensein gewisser Gärungsstoffe in der Lunge zum Atmen notwendig. So unbedingt notwendig, daß beim Fehlen dieser Gärungsstoffe der Tod eintreten muß.«

Kuperus schwieg einen Augenblick, und die Falten seiner hohen Stirn bewegten sich, wie unbewußt an der Arbeit des Denkens Anteil nehmend. Dann sagte er, indem er ein Kristallglas, das mit einem Glasstöpsel verschlossen war, aus einem Wandschrank nahm: »Ich habe über die Sache nachgedacht und lange Jahre hindurch Versuche angestellt. Sehen Sie hier in diesem Glas habe ich den Gärungsstoff auf künstlichem Wege dargestellt, der zum Leben notwendig ist.«

»Sie sind also ...«

»Ja, es ist so, wie Sie sagen wollen. Ich kann, wie man zu sagen pflegt: Tote erwecken.«

»Sie sind also Herr über den Tod?«

»Nein, noch ist der Tod zu mächtig auf dieser Erde. Nicht über die Toten, aber über die Lebenden. Es gibt keinen, dem nicht angesichts des Toten Gedanken kämen, deren er sich nicht schämen müßte, wenn der Tote wieder zum Leben erwachte. Und tieferen Menschen müßte diese Scham so furchtbar werden, daß sie zum Wahnsinn treibt. Einmal – einmal vielleicht muß ich es versuchen ... einmal wird es notwendig sein. Und dann will ich auch gern ... der Rache des Todes verfallen. Denn es kann sein, daß ich selbst das Gelingen meines Versuches ... büße ...« –

Als Adalbert Kuperus verließ, war es wieder heller Morgen. Eine Nacht voll erhabener Gespräche lag hinter ihm, voll absonderlicher Gedankengänge, bei denen ihm Kuperus als Führer vorangeschritten war, und diese Nacht war verflogen wie eine einzige Stunde.


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