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Die Komödianten. Bezug entdeckt einen Star

Thomas Bezug erwachte in vorzüglicher Laune. Die gestrige Besprechung der Aktionäre einer geplanten »Gesellschaft zur rationellen Bewirtschaftung der Erdoberfläche« hatte sichere und günstige Aussichten ergeben. Alle Weltteile hatten Vertreter entsendet, und man hatte Bezugs Vorschläge mit Begeisterung aufgenommen. In dieser Versammlung von Milliardären war das Wort »unmöglich« unbekannt, kein Einwand in Einzelheiten war von Bezug unwiderlegt geblieben, und als man schließlich auseinanderging und Thomas Bezug die Ausarbeitung des Planes, die weiteren Vorbereitungen übertrug, war es klar, daß sich die bedeutendsten Vermögen der Erde zu einem gemeinsamen Vorgehen geeinigt hatten. Bezug erwachte also in trefflicher Stimmung, teilte die auf dem Tisch seines Arbeitszimmers liegende Post an seine Sekretäre aus und zog sich an. Während er die Krawatte umband, las er die neuen Gedichte Adalberts, die wie immer auf dem Toilettentisch lagen. Dann machte er aus einem Sonett an den Frühling einen Fidibus und zündete mit ihm seine Zigarre an. Dies Gedicht erinnerte ihn an den Frühling, und obzwar sein Kopf ein wenig schwer war, fühlte er sich nicht abgeneigt, den sonnigen Morgen zu einer Ausfahrt zu benützen.

Rudolf Hainx fand sich zum Morgenvortrag ein, und Bezug begann rasch die blau angestrichenen Stellen in den mitgebrachten Zeitungen zu überfliegen, deren Mehrzahl über die gestrige Versammlung in Ausdrücken höchster Ehrerbietung berichtete. Die Presse neigte sich vor den ungeheueren Summen, die als Nummer hinter jedem Namen der Teilnehmer angesetzt waren, sprach von einer grandiosen, durchaus modernen Idee und verhieß dem Plan die beste Zukunft. Nur eines der Blätter griff die Aktionäre an, sprach von einer Gefahr, warnte die Öffentlichkeit und forderte die Gesetzgebung auf, zur rechten Zeit Maßregeln gegen diese Monopolisierung der Grundwerte zu ergreifen.

»Hm?« machte Bezug und deutete auf das Blatt.

Hainx sah über Bezugs Schulter und zuckte die Achseln: »Sozialdemokratisch!«

Mit seinem in einer goldenen Hülse steckenden Bleistift zeichnete Bezug auf den weißen Rand der Zeitung neben den ungünstigen Artikel zunächst eine Fünf und dann noch vier Nullen, indem er nach jeder weiteren Null absetzte, als erwäge er, ob es nötig sei, auch noch sie in die Wagschale zu werfen.

Rudolf Hainx sah zu und lüpfte noch zweimal die Achseln, wie wenn er eine Last zurechtrückte: »Die Leute haben Gesinnung!« sagte er.

Ohne aufzusehen, machte Bezug aus der Fünf eine Null und setzte eine Eins vor die ganze Reihe. »Jetzt vielleicht?«

»Drei Redakteure und der Herausgeber ... Jetzt wird es genügen!«

Schon war der kleine Aufenthalt überwunden, und Bezug überzeugte sich davon, daß die »Volksstimme« mit zwei oder drei anderen Zeitungen allein Widerstand zu leisten wagte. Alle übrigen umtanzten den Urheber der Idee, und als wären sie stolz darauf, sich vor ihm verneigen zu dürfen, priesen sie ihn als ein Genie, als Pfadfinder ins Reich der ungeahnten Möglichkeiten. Es war, als ob sie untereinander wetteiferten, welche von ihnen Bezugs Glorie heller und strahlender darstellen könne, als ob sie von einem Veitstanz erfaßt und herumgewirbelt, im Anblick einer ungeheueren Masse Goldes die Besinnung verloren hätten.

Die Ärmel des Rockes schoben sich hinauf und Bezugs weißliche und schwammige Arme, die an dicke, aufgedunsene Grottenolme erinnerten, wurden sichtbar. »Die Disziplin, mit der die Preßleute ihren Kotau machen, ist tadellos. Aber der da hat, obzwar er voll Gift und Galle steckt, seine Sache besonders gut gemacht.«

Über die Achsel Bezugs kam ein spitzer Finger, dessen Gelenke von Haarbüscheln überwuchert waren, die wie Gestrüpp in Runzeln saßen. »Der da ist unser Freund Herold. Man muß zugeben, daß er sich angestrengt hat. Diese Leute der Presse haben ihre eigene Ehre. Zuerst war Herold ein wenig verstimmt, weil ich ihn damals abschaffte, als er Frau Rößler – Sie erinnern sich: die Gattin des Dichters mit dem abgeschnittenen Kopf – durchaus interviewen wollte. Aber als ich ihm nun den Auftrag brachte, für uns die Trommel mit aller Kraft zu rühren, war er sofort ausgesöhnt. Sie wollen Beschäftigung haben, diese Herren, ehrenvolle Aufträge, sie wollen sich wichtig und unentbehrlich vorkommen, dann sind sie unsere Freunde.«

Mit zufriedenem Nicken schrieb Bezug neben Herolds Zeilen in seinen großen, eckigen Zeichen, die zu seinen aufgedunsenen Händen so wenig zu passen schienen, die Zahl: 500.

»Noch etwas bitte ich zu beachten, hier unter dem Strich der ›Tagesnachrichten‹ ein Feuilleton von unserem Adalbert Semilasso. Er hat wohl um Erlaubnis zum Abdruck angesucht?«

»Nein! – Inhalt?«

»Ein reicher junger Mann liebt ein armes Mädchen. Da seine Eltern ihre Einwilligung zur Hochzeit verweigern, verläßt der junge Mann Glanz und Reichtum und fühlt sich glücklich, die Armut seiner Geliebten teilen zu dürfen. Schlußtableau: Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar.«

»Unsinn!«

»Um die Wahrheit zu sagen. Die alte Geschichte ist reizend geschrieben; sie klingt wie neu.«

»Der Kerl macht uns lächerlich. Teilen Sie ihm mit, daß er künftighin alles, aber auch alles, was er schreibt und drucken läßt, mir vorzulegen hat.«

»Jawohl! Endlich: draußen sind drei Arbeiterdeputationen.«

»Werden von Ihnen empfangen.«

»Die erste kommt, um zum Jubiläum der Betriebseröffnung der Waggonfabrik zu gratulieren.«

»Ein freier Tag mit Freibier und Würstel für alle Arbeiter!«

»Die zweite meldet die Einstellung des Streiks in der Spinnerei Nummer fünf.«

»Zur Kenntnis.«

»Die dritte aus der Lederfabrik zwei verlangt Herabsetzung der Arbeitszeit und Erhöhung der Löhne.«

»Die Löhne werden herabgesetzt und die Arbeitszeit erhöht, bis sie vernünftig geworden sind. Inzwischen können Sie diese Deputation der zweiten gegenüberstellen, um ihr an einem Beispiel zu zeigen, wie ein Streik bei mir zu enden pflegt. Sonst noch etwas?«

»Ich bin fertig.«

Mit einem Kopfnicken wurde Hainx entlassen, und Bezug vollendete seine Toilette. Dann suchte er seine Frau auf. In einem dämmerigen Zimmer, das nach Spezereien und ätherischen Ölen duftete, lag Frau Agathe auf einem Sofa und schnitt die siebente Zitrone an. Seit Jahren nur mit der Erhaltung ihrer Gesundheit beschäftigt, hatte sie, nachdem sie alle berühmten Ärzte befragt und alle Bäder besucht hatte, sich allerlei Natur- und Wunderkuren ergeben. Einige Monate hindurch war ein Teil des Hauses in eine Kaltwasserheilanstalt verwandelt gewesen, und man konnte morgens die Herrin ihre bloßen Füße durch den Tau des Gartens schleifen sehen. Dann hatte sie den berühmten Schäfer Kaltenbauer berufen lassen und hatte ihr Leben nach seinen Vorschriften eingerichtet. Allerlei seltsame Tränklein und Mixturen standen umher, und Kaltenbauer ging mit seinem schlauen, glattrasierten Gesicht unter dem Schleier eines Geheimnisses, verwandelte einen Teil des Parkes in einen Kräutergarten, in dem er Stechwurz, Fingerhut und Nachtschatten zog, und fing allerlei Käfer und Gewürme, von dem er die wunderbarsten Eigenschaften wußte. Unter dem Einfluß seines Nachfolgers, eines amerikanischen Gebetsheilkünstlers veränderten die Zimmer der Gnädigen abermals ihr Aussehen. Alles Profane wurde entfernt, an Stelle der Photographien und Gemälde bedeckte eine Reihe von gerahmten Heilsprüchen die Wände und das Stillschweigen versteckter Kapellen breitete sich aus, nur von dem Gemurmel unaufhörlicher Gebete, von den Aufschreien verzückter Andachten unterbrochen. Dann, als auch alle Gebete sich machtlos erwiesen, die sechzehn Krankheiten der Frau Agathe zu vertreiben, begannen alte Weiber aus und ein zu gehen. Nach längeren Verhandlungen entschied sich Frau Bezug für eine Zitronenkur, die ihr das älteste und ehrwürdigste dieser Weiber vorgeschlagen hatte. Vom täglichen Genuß dreier Zitronen beginnend, stieg sie bis zu fünfundzwanzig Zitronen täglich und sank dann wieder bis zu drei, um neuerdings den Gipfel zu erstürmen. Dieser Kur unterzog sich die Kranke mit einer Ausdauer und einer Pünktlichkeit, die dem Glauben an ihre unbedingte Wirksamkeit entsprang. Sie fühlte sich von Schmerzen freier, behauptete einen klareren Kopf zu haben, und die Krämpfe ihres Magens ließen nach. Selbst der Herzfehler und die Lungenschwindsucht wichen vor der Macht dieser Kur, und die brave Ratgeberin wurde zur besten Freundin der Frau Agathe.

Da es Frau Agathe nicht liebte, gestört zu werden, wenn sie sich bei einem Akte ihrer Kuren befand, so tat sie, als höre sie den Gruß ihres Mannes nicht, und begann, nachdem sie die Zitronen in Scheiben zerschnitten hatte, langsam zu essen. Bezug sah ihr eine Weile zu und näherte sich ihr dann von rückwärts, während seine Salzseeaugen zu grausamem Glimmern erwachten. »Guten Morgen«, schrie er ihr plötzlich gellend ins Ohr und zog sich dann zurück, um die Wirkung abzuwarten. Die Zitronenscheibe war Frau Agathe entfallen, ihre Hände griffen nach den Ohren, dann sank sie auf das Sofa zurück. Zur Decke des Zimmers gewandt, schienen die Augen durch sie hindurch den Himmel anzuflehen, und jede Gebärde, die schlaffe Haltung der Hände, durch die ein leises Zucken ging, die schiefe Stellung des Kopfes rief eine Welt zum Zeugen dieses Martyriums an. Dann sah Frau Agathe ihren Mann mit dem Blicke eines Opfers an und erwiderte seinen Gruß mit einer leisen Krankenstimme: »Guten Morgen.«

Das Flimmern der Salzseeaugen erlosch. Tot lagen sie in der Wüste unter den haarlosen Augenbrauen. »Ich habe dir etwas zu sagen und habe dich deshalb aus diesen Träumereien erweckt.«

Mit einem tieferen Senken des Kopfes deutete Frau Agathe an, daß sie zu hören bereit war.

»Du weißt ja, daß ich unsere Tochter für den Fall des Eintritts gewisser Umstände dem Professor Hecht zur Frau versprochen habe. Es ist nun so weit, daß diese gewissen Umstände Tatsachen werden, und schon in der nächsten Zukunft werden einige Bedingungen erfüllt sein, die mich zwingen, mein Versprechen teilweise einzulösen.«

Gewaltsam versuchte es Frau Agathe, die Aufmerksamkeit einer guten Mutter aufzuwenden. Sie setzte sich sogar auf dem Sofa auf. Aber die Anstrengung hatte ihren vom Schreck geschwächten Körper so erschöpft, daß sie wieder hinsank wie eine Fliege im Herbst. »Entschuldige,« murmelte sie und griff nach der Zitronenscheibe, die vor ihr lag, »ich fühle mich sehr unwohl.«

»Du wirst es trotzdem übernehmen müssen, Elisabeth darauf vorzubereiten, daß die öffentliche Verlobung demnächst stattfindet.«

Die gekräuselten Lippen der Frau Agathe hielten noch im letzten Augenblick ein Wort des Widerspruchs zurück. Sie besann sich. Wenn sie ihrem Mann Widerstand leistete, so zog sie sich selbst nur Unbequemlichkeiten zu, ohne ihn von seinem Entschluß abbringen zu können. Entweder er schrie auf sie los, daß er es so haben wolle, und das zerrüttete ihre Nerven, konnte ihr sogar bei dem schweren Herzfehler gefährlich werden. Oder er kam mit Gründen, und das war noch beschwerlicher, weil es sie zum Nachdenken zwang. Darum schob sie rasch eine Zitronenscheibe in den Mund, schüttelte sich ein wenig, blies die Nüstern auf und schwieg.

Bezug verfolgte seinen Sieg. »Hoffentlich hast du mehr Einfluß auf sie als ich. Elisabeth ist ein sonderbares Mädchen. Für ihren Vater hat sie nichts als einen kalten Gehorsam. Ich will aber, daß sie einsieht, wie sehr meine Befehle zu ihrem Wohl beitragen. Alle andern sollen gehorchen ohne zu fragen. Aber meine Kinder ... meine Tochter soll doch einsehen ... Kurz, es wird deine Aufgabe sein, sie zu überzeugen ...«

Mit einiger Verwunderung sah Agathe ihrem Mann nach. Es war, als ob sie unter seinem Panzer plötzlich ein Klopfen gehört hätte, als rühre sich dort etwas. Das war sonderbar genug, und während sie eine neue Zitrone anschnitt, versuchte sie fast, darüber nachzudenken. Aber zur rechten Zeit besann sie sich, daß ihr die Wunderfrau anempfohlen hatte, sich größter Ruhe des Gemütes zu befleißen, und rasch tauchte alles Fragen unter das Interesse für ihre Kur.

Bezugs Laune war so prächtig wie das Frühlingswetter. Auf dem Hofe stand sein Automobil, blitzblank in allen Metallbestandteilen, mit gewaltig angeschwollenen Gummireifen, und der Chauffeur zog seine Mütze. Von der Sonne war das rote Leder des Sitzes erwärmt, und während die Maschine aus dem geöffneten Hoftor hinausschoß, lehnte sich Bezug mit Behagen zurück. Nie noch hatte er im Bewußtsein, über eine ungemeine Kraft vollkommen zu herrschen, so viel Befriedigung gefunden als heute, da die Häuser zu langen, niederen Bändern zu verschmelzen schienen und die Menschen wie Schatten aus seinem Wege sprangen. Es machte ihm Vergnügen, das Automobil durch einige verbotene Straßen fahren zu lassen und den wütenden Gebärden der Wachleute zu trotzen. Nun peitschten die Pappeln einer schattigen Allee wie Ruten vorbei, Vorstädte kamen entgegen und blieben zurück, spielende Kinder rannten schreiend auseinander, die Maschine schien sich über den Boden zu erheben, und das Sausen der Luft wurde zu einem dünnen Ton, dessen Höhe mit der Geschwindigkeit der Fahrt stieg. In seinem Wagen zurückgelehnt und von diesem vibrierenden Ton seltsam erregt, genoß Bezug seine Gedanken. Er dehnte die Vorgänge der letzten Tage zu Betrachtungen aus, verfolgte jeden von ihnen bis in seine Ausläufer und spann sich in ein Netz von Fäden ein. So war die Schlinge, die er der Welt über den Kopf werfen wollte, so waren die Fundamente seiner Herrschaft. Er begann zu zittern, als seine Gedanken an die letzten Möglichkeiten seines Triumphes rührten.

Ein fürchterlicher Knall platzte wie eine Bombe in das Gewirk seiner Wünsche. So plötzlich wurde er aus dem Wagen herausgeschleudert, daß er noch, als er schon im Straßengraben lag, einen Augenblick von seinen Gedanken nicht loskommen konnte. Neben ihm erhob sich der hinkende Chauffeur und rannte auf die Maschine zu, die auf der Seite liegend im andern Straßengraben keuchte. Einer der Gummireifen war geplatzt, und Bezug mußte sich darein ergeben, hier in diesem elenden kleinen Dorfe zu warten, bis der Schaden gut gemacht war. Wie über eine persönliche Beleidigung erzürnt, trieb er die neugierigen Jungen davon, die sich um das verunglückte Automobil versammelten. Als sie aber immer wieder zurückkehrten und Bezugs gestürzte Herrlichkeit grinsend zu verspotten schienen, überließ er das Automobil seinem Chauffeur und den Burschen, die er zu Hilfe geholt hatte. Mit zornigen Schritten ging er auf Wiesen und Feldwegen um das Dorf. Es waren ein paar Häuser, die hier im Tal zwischen bewaldeten Bergen lagen. Ein seltsamer Wald übrigens, mit großen kahlen Flecken im dunkeln, vom Winter noch gebräunten Grün wie das Fell eines räudigen Tieres. Als Bezug auf die andere Seite des Dorfes kam, sah er auf einem Rasenplatz zwei Wagen einer wandernden Komödiantentruppe. Einige Männer rammten mit schweren Schlägen Pflöcke in den Boden, verbanden sie mit morschen Brettern, während einige Jungen ein Zeltdach auseinanderzerrten, dessen Falten von Nässe aneinanderklebten. Aus einem der Wagen trugen zwei Weiber die armseligen Gerätschaften der Komödianten in die Sonne. Dieser fremden Welt des Elends und erbärmlichen Vergnügens schenkte Bezug seine freigewordene Aufmerksamkeit. Indem er hier zusah, machte er sein Gefühl der Überlegenheit lebendiger und überwand eine Art von Beschämung, die ihn seit dem Unfall nicht verlassen wollte. Die Geschicklichkeit, mit der die Männer das Holzgerüst ihrer kleinen Bühne zusammenfügten, war bewundernswert. Jeder Handgriff geschah an seinem Orte und zur rechten Zeit, jede Bewegung war auf das Notwendigste beschränkt, daß alle Verwirrung vermieden wurde. Trotzdem ließ es sich der Anführer nicht nehmen, mit lauter grober Stimme Befehle zu erteilen, den einen und den andern anzuschreien oder auch nur einen Namen mit einem italienischen oder einem ungarischen Fluch dahinter auszurufen. Dabei rührte er selbst nicht eine Hand, stand in seinem braunen Samtwams wie ein König unter seinen Sklaven und ließ die schwarzen Augen blitzen. Er hatte etwas Malerisches an sich, etwas im Atelier Anerzogenes, wie ein Modell, das den Beruf gewechselt und das doch noch die Pose seines früheren Lebens beibehalten hat. Unter den andern unscheinbaren und grobknochigen Gesellen war er der schöne Mann, und in diesem Bewußtsein hatte er sich seine Ausnahmsstellung angeeignet. Keiner kümmerte sich um ihn, niemand folgte seinen Befehlen, aber dem Häuptling schien es weniger darum als um das Befehlen selbst zu tun zu sein. Seine Stimme wechselte ihren Klang, als ob er auf ihr spielte. Nachdem er eine Zeitlang rauh und grob drauflos geschrien hatte, gab er ihr einen tiefen vollen Glockenton, ein wahrhaftes Geläute. Jedes Wort rollte aus seinem Munde, schwang lange in der heißen Luft dahin und schien sich in ein Summen zu verlieren, das in der zitternden Glut des Mittags über der Wiese schwebte. Aber auch der neuen Tonart gaben die Männer wenig Gehör. Sie ließen sich in ihrer Arbeit nicht stören und beschleunigten oder verzögerten wegen ihres Anführers nicht einen Schritt, nicht eine Bewegung der Hand. Inzwischen war aus dem Rasen eine kleine Bühne herausgewachsen, die nun mit einem Vorbau von Schranken und einer Anzahl von Bänken das Publikum einzuladen schien. Über Bühne und Zuschauerraum spannte sich das Zeltdach, dessen Stricke mit Pflöcken an dem Boden befestigt wurden. Einige Bilder, die in grellen Farben die wunderbarsten Dinge versprachen, bildeten den Schmuck der Wände und zugleich die Verheißung unerhörter Genüsse. Da sah man einen Mann, der ganze Klumpen Feuer verschlang, und, während ihm die Flammen noch aus dem Mund loderten, sich schon ein ungeheures Messer durch den Leib rannte, daß man die Spitze hinten herauskommen sah. Da sah man eine Pyramide von sechs Männern, die steif wie Holzfiguren einer auf den Achseln des anderen standen. Da sah man die Enthauptung einer Frau; mit einer fürchterlichen Wucht sauste ein breites Schwert auf ihren Hals, der Kopf flog im Bogen vom Rumpf, und aus der Wunde des Halses sprudelte ein blutiger Geifer. Da sah man Dogo, den Wunderhund, auf einem Dreirad fahrend, auf dessen Lenkstange seine vorderen Pfoten lagen. Da sah man Nella, genannt »die fliegende Fee« hoch oben auf einem Drahtseil, in einer graziösen Stellung, nur mit der Spitze des einen Fußes das Seil berührend, während der andere weit ausgestreckt bis an den oberen Rand des Bildes reichte. Da sah man auch Schlangenmenschen, die in eng anliegenden Kostümen, in schillernden Schlangenhäuten den Kopf zwischen den Beinen durchsteckten, und, auf dem Bauch liegend, mit den Zehen Messer und Gabel gebrauchten oder ihren Leib zu einem Knoten verschlangen. Hier hatte die Kunst des Malers ihren Gipfel erreicht. Wenn sich seine Gestalten sonst durch eine beharrliche Verachtung aller Proportionen auszeichneten, so war in diesem Bilde alles Menschliche von ihnen fern: Anhäufungen von Gliedmaßen, eine Verknotung von allerlei Überbleibseln, die den Eindruck erweckte, als sei hier dargestellt, wie bei der Schöpfung alles Mißlungene, alles Überflüssige zusammengeballt worden sei, um gänzlich umgeknetet und von neuem verwertet zu werden. Nirgends wurde es so deutlich als hier, daß der Mensch aus Lehm gemacht ist.

Bezugs Laune hob sich in der Betrachtung aller dieser Unzulänglichkeiten, und er suchte die Modelle dieser Bilder an den lächerlichen und kindischen Ähnlichkeiten zu erkennen. Die Frau mit dem üppigen Busen, deren Kopf im Bogen vom Rumpf flog, trug dort auf beiden Armen die Blechhülsen der Lampen herbei; das jüngere Weib neben ihr, die sich jetzt so stark bückte, daß unter den kurzen Röcken die nackten Beine bis zu den Knien sichtbar wurden, war sicher eine der Schlangendamen; die Pyramidenmänner waren eben dabei, neben dem Theater eine Schießbude zu errichten, in welcher der Feuerfresser die schmutzigen, zerschossenen Blechscheiben aufstellte. Unweit davon lag Dogo, der Wunderhund, unter einem Busch und nagte an einem Knochen, den er irgendwo im Dorfe gefunden hatte. Der Mann aber, der als rotgekleideter Henker auf dem Bilde der Enthauptung das Schwert schwang, war in dem redseligen Anführer selbst zu erkennen. Mit einer Verbeugung und einem Kratzfuß kam er an Bezug heran: »Wird der Herr uns die Ehre erweisen, unserer Eröffnungs-Gala-Vorstellung beizuwohnen? Ich erlaube mir die höfliche Einladung zu machen.«

»Wann wollen Sie denn eröffnen?«

»Heute abend, Euer Hochwohlgeboren, und wir spielen hier, je nachdem, acht, zehn, vierzehn Tage. Unsere Produktionen sind höchst sehenswert, und wir haben die allerhöchsten Herrschaften schon unter unseren Gästen gehabt.«

»Wie ist Ihr Programm?«

»Äußerst reichhaltig, Herr Graf. Spannend, amüsant, interessant, mit einem Worte sehenswert und fulminant. Diese Bilder hier geben nur einen kleinen Teil unserer Programmnummern.«

»Wer hat denn diese Gemälde gemacht?«

Der Anführer trat einen Schritt zurück, als wolle er dem Fremden einen besseren Ausblick geben. Dann sagte er, indem er mit dem Zeigefinger auf seinen Samtrock tippte: »Ich, Herr Graf!« Aller Stolz eines großen Künstlers lag in diesem Ich. »Ich hätte nämlich Maler werden können, Herr Graf. Aber das Schicksal wollte es nicht. Jetzt könnte ich eine Villa in Rom haben oder am Lago di Garda und könnte roten Wein trinken, anstatt hier herumzuziehen und mich mit faulen Kerlen zu ärgern. In Rom verkehrte ich nur in Malerkreisen. Herr Anselm Feuerbach hat niemals ohne mich arbeiten wollen, er hat kein Bild gemacht, ohne mich zu fragen. Er hatte die Technik, und ich habe den Geschmack gehabt. Er hat sich den Namen gemacht, und ich blieb im Sumpf stecken.«

»Sie wollten Maler werden?«

»Mein Wohltäter wollte mich ausbilden lassen. Er hatte mein Talent erkannt. Aber er starb zu bald.« Und daran reihte Biancini, nachdem er sich mit einem neuerlichen Kratzfuß und einer Verbeugung vorgestellt hatte, eine Geschichte, in der die ewige Roma über alle Städte der Erde erhoben wurde, in der zugleich aber auch auf diesem Hintergrund die Größe seines verkümmerten Talentes deutlich hervortrat. Als er eben im besten Erzählen war, wurde er jäh unterbrochen. Vom Dorfe war mit den Schritten des Schicksals und mit der grimmigen Miene des Gesetzes der Gemeindediener herangekommen. Man hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, dem er sich nach den Anstrengungen der Nacht, in der das Wächteramt zu seinen Pflichten gehörte, hingegeben hatte. Man hatte ihn, da er nicht zu erwecken war, nach vergeblichem Rütteln mit kaltem Wasser übergossen und hatte ihm eine diplomatische Sendung anvertraut. Nun trug er mit seiner Botschaft zugleich seinen Zorn vor Biancini. Ohne Umschweife erklärte er ihm, daß der Gemeindevorstand zur Bedingung stelle, daß eine Kaution von fünfzig Gulden vor Beginn der Vorstellungen erledigt werden müsse.

Biancini schüttelte seinen Künstlerkopf, daß die schwarzen Locken flogen: »Und warum, amigo, warum? Bitte, einen Grund muß das haben.«

»Hat einen Grund!«

»Also bitte, sagen Sie.«

»Weil immer gestohlen wird, wenn solche Zigeuner im Dorf sind.«

»Wir sind keine Zigeuner, wir sind Künstler.«

»Das ist alles eins. Das letztemal haben wir zwanzig Gulden Schaden gehabt. Was soll man mit euch machen? Bei Nacht und Nebel gehen sie auf und davon und nehmen mit, was es zu nehmen gibt.« Der Gemeindediener hatte seine Erklärung an Bezug gerichtet, dessen wohlhabendes Aussehen ihm Vertrauen einflößte.

Aber auch Biancini wandte sich an ihn: »Sagen Sie, Herr Graf. Also bitte sagen Sie: Wie wird hier die Kunst unterstützt?« Und dann schrie er plötzlich: »Nein, nein, nicht einen Kreuzer. Sagen Sie es dem Gemeindevorstand. Nicht einen Kreuzer, nicht einen Kreuzer.« Vor Biancinis funkelnden Augen, vor dem hohen Pathos seiner Entrüstung trat der Gemeindediener den Rückzug an. Im Kreis seiner Getreuen sprudelte der Häuptling seinen Zorn von sich. Mit den größten Worten der Leidenschaft nahm er sich seiner geschändeten Kunst an, er schleuderte Flüche auf den Unverstand und die Rücksichtslosigkeit, er sprach Bomben und schlug mit den geballten Fäusten nach einem unsichtbaren Feind. Deutsch, Italienisch und Ungarisch vermischten sich zu einem Knäuel. Wie eine Lawine brausten seine Worte daher, die im Sturze wachsend immer wuchtiger wird. Alle Geleise der Besonnenheit blieben hinter ihm zurück, und er sprang zwischen den Bestandteilen der Schießbude herum, unfähig, nur einen Augenblick stillzustehen. Lachend sahen die Mitglieder seiner Truppe dem Schauspiel zu, und die Frau mit dem üppigen Busen drückte sich wiehernd die Seiten. Von einer Bank herab hielt er eine Rede und schwang dazu eines der Luftgewehre mit aller Erbitterung eines Barrikadenkämpfers, dem es um seine Sache ernst ist. Die Jungen des Dorfes, denen die Zeit bei Bezugs Automobil lang geworden war, hatten sich hierher gezogen und heulten vor Vergnügen nach jedem Satz. Auf dem Höhepunkt seiner Entrüstung geschah aber etwas, was Bezug für unmöglich gehalten hatte.

Ein junges Mädchen kletterte hinter dem Schreienden auf die Bank, und gerade als er beide Arme emporgeworfen hatte, faßte sie seine Handgelenke und hielt den Schwung seiner Gebärde an. Neben dem Häuptling in seinem Samtwams stand, wie aus einer Versenkung aufgetaucht, in einem einfachen netten Kattunkleid Nella, »die fliegende Fee«, und bog die Arme des Erzürnten sanft herab. Wie eine im Lauf plötzlich gehemmte Maschine schnurrte Biancini noch eine Weile weiter und blieb endlich mit einem Ruck stehen. In sein gerötetes, verschwitztes Gesicht, auf dessen Stirn schwarze Locken klebten, lachte das Mädchen, und es schien, als ob der Mann vor diesem Lachen auf die Hälfte seines Umfangs zusammenschrumpfte. Vor diesem Lachen kam er wieder zu sich. Mit einem Satz war Nella, ohne die Hände des Häuptlings loszulassen, von der Bank herabgesprungen und zog nun den Mann ohne Mühe nach.

»Taddeo, aber Taddeo,« rief sie und kreuzte die Arme des besiegten Direktors über dem Sammetwams, »welcher Unsinn, welche Unvorsichtigkeit! Wie können Sie dem Publikum eine Gratisvorstellung geben! Wer wird dann zu uns kommen, wenn er das Beste schon vorher ganz umsonst gesehen hat?«

»Wir werden überhaupt nicht spielen. Denn, o es ist unerhört, man verlangt von uns eine Kaution! Fünfzig Gulden! Als wären wir Zigeuner, die herumziehen, um Hühner und Gänse zu stehlen. Was soll man dazu sagen? Wir packen ein und fahren weiter.«

»Sie wissen, Taddeo, daß die Obrigkeit nicht immer die Wünsche der Bevölkerung vertritt. Rufen Sie das Publikum an, und Sie werden siegen wie immer. Man soll zwischen uns und diesen Mißtrauischen entscheiden. Und welcher Triumph, wenn die Leute sagen, daß uns die Obrigkeit Unrecht getan hat.«

»Aber wie kann ich mir das gefallen lassen?«

»Retten Sie Ihren Stolz, indem Sie das Beste zeigen, was wir haben.«

»Man wird uns ja nicht spielen lassen.«

»Man wird uns spielen lassen, glauben Sie mir.«

Langsam, Schritt für Schritt, war ein kleines braunes Pferd nähergekommen, hatte, indem es die Leute durch Schnauben zum Ausweichen aufforderte, sorgsam den Kreis der Zuschauer durchbrochen und stieß nun mit der weichen Schnauze an Nellas Schulter. »Ach, meine Mizzi«, rief Nella und küßte es mitten zwischen die Nüstern.

»Ach ja, ach ja, ich habe ganz vergessen. Hast du ihn gefunden?«

Da wurde Nella ganz ernst und das Lächeln ihrer Augen verschwand hinter einer Wolke. »Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Und der ...« Sie ließ ein Wort fallen und setzte dafür ein anderes, das einen ganz anderen Gedanken nach sich zog, »der Wald ist nicht mehr wie damals. Als ob der böse Feind drin gehaust hätte, als hätte ihn ein Fluch getroffen. Seine Schönheit ist dahin, seine Bäume sind von häßlichen Raupen kahl gefressen. Der Geruch dieser Bestien ist unerträglich. Man sieht die Zerstörung ja von hier.« Sie wies nach dem von braunen Flecken unterbrochenen Teppich, der sich wie das räudige Fell eines Tieres um die Schultern der Berge schlang. Aus dem Wald ragte ein seltsam geformter Felsen, und seine steinernen Gestalten schienen sich wie im Ekel über die Verwüstung ringsumher aufzubäumen, als wollten sie sich verzweifelt über die Abhänge herabstürzen. Wie ein Zug von Wehklagenden erhoben sie sich über den Wald, wie eine Reihe von schmerzerfüllten Gedanken, die im Übermaß des Schreckens starr geworden sind. – Mizzi hatte seinen Kopf auf Nellas Schultern gelegt und sah mit klugen feuchten Augen in die Richtung, die ihr Finger wies.

Da zog ein Gemurmel die Aufmerksamkeit vom Walde ab. Es schien, als ob Nellas freudige Zuversicht nicht Recht behalten sollte, denn auf der Dorfstraße kam der Gemeindediener zurück und führte den Vorsteher nebst einigen Bauern an, die ihre Dienste der Obrigkeit zur Verfügung gestellt hatten. Mit baumelnden Armen, an denen die Fäuste wie Gewichte hingen, aufgerollten Hemdärmeln und gekrümmten Nacken, deren Sehnen schon zum Kampf gespannt schienen, kam der Heerbann des Dorfes heran und stellte sich dem Trupp der Komödianten gegenüber in Schlachtordnung auf, während der Gemeindevorstand an Biancini das Wort richtete. Noch einmal wiederholte er seinen Befehl, entweder eine Kaution zu erlegen oder augenblicklich das Gebiet der Gemeinde zu verlassen. Er war unvorsichtig genug, ein Wort zu gebrauchen, das Biancinis Tobsucht sofort neuerdings entfachte. Er sagte: Gesindel! Biancini wurde ganz weiß, dann hob er die Fäuste zum Himmel, als wolle er auf den Mann einen Blitz herabflehen. Aber Nella schob ihn sachte zur Seite und trat, von Mizzi gefolgt, vor den Obersten der Gemeinde. »Warum wollen Sie es uns unmöglich machen, hier zu spielen? Wir leben von einem Tag zum andern und haben kein Geld, um die Kaution zu erlegen. Aber wir sind anständige Leute, wenn wir auch Komödianten sind.«

Wie eine Leibgarde schoben sich die Pyramidenmänner an ihre Seite, und ihr Gemurr war so drohend, daß sich der Gemeindevorstand auf seine Schlachtreihe zurückzog. Während Biancini unbeachtet fortfuhr, seine tragischen Gebärden zu machen, und in jeder besonders gelungenen Pose eine Weile verharrte, um allen Gelegenheit zu geben, ihn zu bewundern, versuchte Nella die Männer aus dem Dorfe mit sanften Worten zu überreden. Noch gelang es ihr, den Ausbruch der Feindseligkeiten zu verhindern, aber die Lage wurde immer gespannter, je länger sich der Vertreter des Dorfes weigerte, die Bitte der Komödianten zu erfüllen. Mit dem Bewußtsein geschulter Kraft sahen die Athleten und Akrobaten auf die Bauern, die ihnen die Wucht und den Trotz der Heimatverteidiger entgegensetzten. Auf beiden Seiten wollte man nicht zurückweichen, und schon begannen die einzelnen Kämpfer ihren Gegner auszuwählen und ihre Aussichten auf Erfolg abzuwägen.

Bezug schwankte einen Augenblick, ob er es zum ergötzlichen Schauspiel des Kampfes kommen oder ob er seine Herrlichkeit walten lassen und die unerwartete Wendung herbeiführen solle. Als er aber die vor Erregung zitternde Nella ansah, sank seine Grausamkeit unter eine plötzlich aufschießende Begehrlichkeit. Im Nacken des Mädchens war eine Stelle, die er entschlossen war zu küssen, und gerade als der oberste Pyramidenmann vortrat und dem Gemeindevorstand herausfordernd vor die Füße spuckte, drängte er sich durch die Schlachtreihe und nahm den Wütenden beim Arm. Der wollte sich losreißen, aber Bezug schwenkte eine Banknote als Friedensfahne hin und her. Erstaunt griff der Bauer nach dem Papier: »Hundert Gulden? Für die da?«

»Jawohl; und jetzt gehen Sie!«

Wie die plötzliche Lösung des Knotens in einer verwickelten Komödie wirkte Bezugs Auftreten. Das Unerwartete war geschehen. Die Spannung war gelöst. Die Fäden der Handlung rollten glatt weiter. Alle Hindernisse der Verständigung waren durch einen Zauber beseitigt. Mit aller Ehrfurcht vor dem Reichtum griff der Gemeindevorstand an den Hut und gab das Zeichen zum Rückzug. Auf der heißen Dorfstraße trabten die Bauern in einem Haufen fort, aus dem von Zeit zu Zeit die Banknote wie eine Trophäe flatterte, als könne man sich nicht an ihr sattsehen. Mitten im Kreise der Komödianten stand der Retter und ließ sich eine Ansprache Biancinis, die Händedrücke der Pyramidenmänner und die verzückten Ausrufe der Weiber gefallen. Als letzte von allen gab ihm Nella die Hand und ein noch etwas zaghaftes, von der letzten Viertelstunde gedrücktes Lächeln. Zwischen seinen Beinen wimmelten die Kinder der Schlangenmenschen und Dogo, der Wunderhund, schnupperte hinten an seinen Hosen. Man konnte sich nicht genug tun in Worten der Dankbarkeit, der Bewunderung und Ehrfurcht, und Biancini beteuerte immer von neuem, daß er noch keinen edleren Kunstfreund auf allen seinen Fahrten kennen gelernt habe, und daß die Mäzene der römischen Maler, mit ihm verglichen, elende Krämer seien. Er gab sich nicht früher zufrieden, als bis ihm Bezug versprochen hatte, jeden Abend der Vorstellung auf dem Ehrenplatze – auf dem schon so viele allerhöchste Herrschaften gesessen hatten – beizuwohnen. Immer erhitzter wurden Biancinis Tiraden und die günstige Gelegenheit, seine Künste des Wortes zu entfalten, riß ihn fort. Als der Chauffeur seinem Herrn meldete, daß das Automobil zur Rückfahrt bereit sei, gab die Truppe Biancinis ihrem Retter das Ehrengeleite. Voran gingen drei Parterreakrobaten auf den Händen, daß ihre scharf abgebogenen Beine wie Heerzeichen in der Luft standen. Dann folgte ein Schlangenmensch, der seinen Körper in einen Knoten verschlungen hatte und wie eine Kröte hüpfte, indem in seinem nach rückwärts gewandten Gesicht die Augen starr auf Bezug gerichtet standen. Unter Geheul und Schellengeklingel liefen die vierzehn Kinder der Truppe vor dem Retter, der von Biancini an der einen und der Dame mit dem üppigen Busen an der andern Hand geleitet, würdevoll in der Mitte des Festzuges schritt. Hinter ihm folgten noch drei Pyramidenmänner und endlich Nella mit ihrem Pferde. Noch einmal trat Biancini vor seine Truppe und erhob die Stimme. Die Töne kamen ganz tief aus der Brust wie aus einem erzenen Schlund, rollten rund und voll in die Luft und drängten sich mit einem sinnlichen Reiz aus wie üppige Weiber, die sich auf den öffentlichen Plätzen Italiens anbieten. Mit dem Vergnügen an dem Glockenklang der Stimme wuchs Biancinis Begeisterung. »Meine Lieben,« sagte er, »wie selten ist es, daß heutzutage noch Freude an jenen Künsten zu finden ist, in die sich die letzten Erinnerungen an die göttlichen Spiele zu Olympia gerettet haben. Man nennt uns verächtlich »Komödianten« und betont das Wort, als spreche man von Menschen, die gerade nur noch geduldet werden müssen, weil man sie doch nicht gut umbringen kann. Aber ich betone mit Stolz: Komödianten, das heißt Künstler, und unsere Achtung vor uns selbst steigt in solchen historischen Augenblicken, in denen die Menschheit durch ihre auserwählten Vertreter beweist, daß sie zu uns Vertrauen, daß sie auch vor uns Achtung hat.« Der Redner verlor sich in einen Wald von üppigen Ziergewächsen des Ausdrucks, er zeigte allerlei Gärtnerkünste des Stils, blumige Überraschungen, wies jeden Augenblick einen anderen Ausblick auf seine historischen und philosophischen Kenntnisse und hätte gewiß noch lange geredet, wenn nicht der Chauffeur auf einen Wink seines Herrn das Automobil in Bewegung gesetzt hätte. Die Rede wurde durch das dreifache Hurra des Abschieds abgeschnitten. Bezug blickte noch einmal zurück und sah von der ganzen Gruppe nichts als Nella, die den Kopf an Mizzis Hals gelehnt hatte und mit leichten Händen seine Schnauze liebkoste.

Als Bezug in den Hof seines Palastes einfuhr, stand Adalbert Semilasso, der Dichter, am Eingang des Parkes und träumte einer kleinen, leichten Wolke nach, die seit Stunden am Himmel sichtbar war und die Form einer mit weißer Seide bespannten Gondel bewahrte.

»Halloh, Dichter,« rief ihn Bezug an, »hat Ihnen Hainx meinen Auftrag ausgerichtet?«

Adalbert sank in die plumpe Wirklichkeit zurück: »Jawohl, Herr Bezug.«

»Ich habe eine andere Beschäftigung für Sie, damit Sie nicht sobald wieder in Versuchung kommen, abgeschmackte Erzählungen zu schreiben. Dichten Sie mir dreizehn Sonette an die Liebe. Sie verstehen: an die rote, die purpurne Liebe. Keinen Mondschein, sondern Champagner bitte ich mir aus. Ach, ja richtig ... woher sollen Sie das nehmen? Sie lieben ja nicht so. Aber ich werde Ihnen Gelegenheit geben. Machen Sie sich bereit, blutrot zu schreiben und dann purpurn zu dichten.«

Damit stieg Bezug die Treppe zum Turm empor. Nachdem er eine Weile in seinem Lehnstuhl gesessen und die geschnitzten Schlangenköpfe betastet hatte, erhob er sich und holte aus dem Fach den Folioband der Verpflichtungen. Auf der letzten Seite des Buchstabens B trug er Biancinis Namen ein. Dann schob er den Band von sich und nahm das Buch der galanten Abenteuer vor. Die dünne Seide der Blätter knisterte zwischen seinen Fingern, als er den Band über die Tischplatte hinschob, auf der sich der elfenbeinweiße Leib der Danae dem aus der Nacht des Ebenholzes niederrauschenden Goldregen hingab. Hastig suchte er die letzten Eintragungen auf, wandte um und schrieb auf ein neues Blatt, gleich weit vom oberen und vom unteren Rande entfernt, mit vergoldeter Pfauenfeder: Nella.

Das war Bezugs erstes Zusammentreffen mit Biancinis Truppe. Von nun an kam er jeden Abend und saß, mitten unter den Bauern, auf dem Ehrenplatz – wo schon viele allerhöchste Herrschaften gesessen hatten – und genoß den Triumph, alle Bemühungen der Künstler, alle ihre Dankesbezeugungen nur auf sich beziehen zu dürfen. Was Biancinis Truppe bot, übertraf in nichts den Durchschnitt herumziehender Komödianten und hielt sich ohne viel Abwechslung an die bildlichen Versprechungen ihrer Leistungen. Allabendlich säbelte Biancini den Kopf seiner üppigen Gemahlin herunter, allabendlich bauten die Pyramidenmänner ihre drei Stockwerke auf, allabendlich machten die Schlangenmenschen dieselben Künste. Und das war immer dasselbe. Aber allabendlich betrat auch Nella, genannt die »fliegende Fee«, das Drahtseil. Und das war jedesmal ein anderes. Ihre Leistungen richteten sich nicht an ihn allein, ihr Lächeln und der graziöse Dank nach dem schwierigen Absprung vom Seil kam allen im gleichen Maße zu, und Bezug sah mit zornigem Staunen, daß sie ihn durchaus nicht vor dem übrigen Publikum heraushob. Ihrem Ehrgeiz genügte es nicht, allein seinen Beifall zu finden, sie wollte alle hinreißen, und ihr Stolz war es, immer neue Stücke und neue Nuancen anzubringen. Mit Mißvergnügen überzeugte er sich davon, daß es diesem Mädchen, das mit allem Eifer an ihrer Kunst hing, um die Sache selbst zu tun war. Dazu kam, daß alle seine Angriffe ohne Erfolg geblieben waren. Zuerst war er, der gewohnt war, im ersten Anlauf zu siegen, geradenwegs auf sein Ziel losgegangen und hatte Nella nach einigen einleitenden Blumensträußchen mit einem Diamantenschmuck überrascht, der so blendend schön war, als hätte sich in jedem der Steine ein Tropfen flüssigen Sonnengoldes gefangen. Trotzdem Nella den Schmuck mit zitternden Händen annahm, schien es, als sei sie sich dessen durchaus nicht bewußt, daß sie sich durch die Annahme des Geschenkes zu Gegendiensten bereiterklärte. Die Gepflogenheiten der Künstlerwelt besaßen keine Gewalt über sie.

Bezug schäumte vor Zorn und änderte seine Pläne. Er wollte sie, da es in der oft erprobten Art nicht zu gelingen schien, auf zartere Weise umwerben und legte ihr sein Herz zugleich mit einigen Gedichten zu Füßen. Aber Adalbert arbeitete nicht zu Bezugs Zufriedenheit. Eines Abends war die »Gräfin« in Bezugs Auftrag zu dem Dichter gekommen und hatte ihm ihren schönen, von Wollüsten schmachvollster und verführerischster Art gesalbten Leib angeboten. Sie entkleidete sich vor ihm und tanzte nackt im roten Geriesel einer Ampel, während auf goldenen Becken Räucherwerk brannte. Im Qualm der Wohlgerüche trug ihm ihr weißer Körper eine verlockende Frische zu, und ihre Brüste zitterten vor Verlangen nach seiner jungen Kraft. Sie tanzte lange und fiel endlich vor ihm nieder, seine Knie umklammernd, und ihr Haupt mit den langen, blonden Haaren lag auf seinen gesenkten Händen. Da sah sie in seine traurigen Augen, in denen ein großer Schmerz tief unten verborgen schien, und plötzlich, mit einem jähen Aufschrei zerriß sie den Schleier ihrer Brunst, schleuderte die unreinen Fackeln von sich und begann zu weinen. Unaufhaltsam rannen die Tränen aus ihren Augen und benetzten seine Hände. Ihr prächtiger Nacken bebte vor ihm, und die Haare wallten wie ein Mantel über den Rücken. Dann stand sie auf und floh mit ihren Kleidern ins Nebenzimmer, wo sie sich ankleidete, denn sie schämte sich vor ihm. Mit dem plötzlich erwachten Fanatismus einer Reue, der den Seelen der schamlosesten Dirnen vorbehalten scheint, warb sie um seine Verzeihung und um seine Freundschaft, die ihr nun wichtiger waren als alle Triumphe ihres Leibes und an denen nun ihre Seligkeit hing. Adalbert fragte nicht ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft nach und nahm sie auf wie ein Erlöser, mit so milden und menschlichen Gebärden, daß ihre ganze Seele schluchzte. Tagtäglich kam sie nun in seine Gemächer, und wenn Bezug glaubte, daß sich die beiden den wildesten Entzückungen der Liebe überließen, saßen sie am Fenster und sahen über den grünen Park auf die Stadt hinaus und sprachen von dem Heimweh, das in ihnen lebte, oder sie schwiegen auch und vergaßen der Stunde. Die weichen Worte von Adalberts Dichtungen klangen alle in der Gräfin nach und mit einem auf einmal erwachten Gefallen an Wohlklang und Schönheit trug sie seine Gedichte in sich herum. Oft, wenn ihr heißer Leib sie gepeinigt hatte, daß sie von neuem in einen Taumel der Wollust zu stürzen gezwungen war, kam sie mit scheuen Schritten und dem Blick eines Hundes, fiel vor ihm hin und schlug die weiße Stirn gegen den Boden. Einmal hatte sie die Schere gefaßt und wollte ihr blondes, verwirrendes und sündhaft schönes Haar abschneiden. Da aber fiel ihr Adalbert in die Hand und hielt sie zurück, indem er sie warnte, die Schönheit zu zerstören. Von nun an liebkoste sie dieses Haar, breitete es um ihre Schultern, und wenn einer ihrer Liebhaber von der Pracht dieses blonden Mantels sprach, schlug sie ihm mit der geballten Faust ins Gesicht. Und ein anderesmal, als Adalbert ihre Hand gefaßt hatte und lange in der seinen hielt, sagte sie, und es war wie ein Schrei: »Du wartest, nicht wahr, du wartest auf eine, die dir gleicht.« »Ich weiß es nicht«, sagte Adalbert und sah über sie hinweg und über die Dächer der Stadt, über deren Menge der Dom mit seinen beiden ungleichen Türmen einsam zu winken schien.

So wurde Bezug in seinen Hoffnungen betrogen. Es war ihm nicht gelungen, das Leben des Dichters mit den blutigen Strahlen der Liebe zu verwirren; an Stelle purpurner und aufreizender Gedichte bekam er stille, blasse Verse wie Perlen oder Tränen, Worte einer unbestimmten und gestaltlosen Liebe, ergreifend und tief und ganz ins Innere dringend, aber auch wehmütig und durchaus nicht geeignet, die Sinne einer Frau zu erregen. Gedichte wie dieses:

Meine Liebe ist keine Feuersflut,
Sie schmerzt und flackert und blendet nicht,
Sie ist keine sengende, prasselnde Glut,
Sie ist ein stilles, ewiges Licht.
Ihr Purpurlicht brennt vorm Altar,
Wo hohe, schlanke Leuchter stehn
Und alte Fenster wunderklar
Durch Weihrauchsilberwolken sehn.
Und alte Bilder hängen dort
Um ein Madonnenbild im Kreis,
Die Kanzel harrt auf Gottes Wort,
In alten Stühlen knackt es leis.
Ein Schatten tanzt an kahler Wand
Und langsam dreht die Ampel sich –
Mir ist's, als ob eine liebe Hand
Ganz leise übers Haar mir strich.

Diese Gedichte erwartete Nella mit einer seltsamen Ungeduld. Sie fragte nicht, wer sie gemacht hatte, aber Bezug war es, als fühle sie sich durch ihn hindurch zu dem Dichter. Er war ihr nichts, er blieb ihr immer nur der Überbringer.

Es war nach der Vorstellung, und Nella stand an der Treppe zum Garderobewagen, wo sie eben ihre Trikots abgelegt hatte. In ihrer lässigen Haltung war die Hingabe an die Worte der Liebe, immer wieder hob sie das Blatt in den Lichtschein, der vom Lager der Komödianten gehorsam herankroch. Da glaubte Bezug die unendliche und ewige Sehnsucht des Weibes in ihr betrügen zu können und wagte es, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Ganz aufgeregt verfolgte er seinen Sieg, als ihn das Mädchen nicht zurückstieß, und drängte sie in die Dunkelheit. »Nein, nein!« sagte Nella und begann sich zu wehren, »was wollen Sie tun!« Da ließ er sie rasch los, denn er sah, daß sie bei dem Dichter war. Und nun sah Bezug ein, daß er mit größerer Vorsicht und Geduld vorgehen mußte, und daß Nella nicht zu gewinnen war wie die leichtsinnigen Mädchen, die dem Geld nachliefen oder sich durch Sentimentalitäten erweichen ließen. Er mußte sie loslösen, verpflanzen, in einen Boden übersetzen, wo er unumschränkter Herr war. Er schlug einen anderen Weg ein. Der führte über Monsieur und Madame Biancini, und sein Bau kostete nicht mehr als einen kleinen Scheck mit drei Nullen. Besonders Madame Biancini stellte sich bald auf Bezugs Seite. Sie war nicht frei von Eifersucht und freute sich darüber, daß nun diese Zärtlichkeiten, das vertrauliche Beisammensein mit Nella ein Ende nehmen würden. Sie fühlte sich vernachlässigt und hatte schon manchmal so ingrimmig gegen ihren Mann getobt, daß sich dieser gezwungen gesehen hatte, nach der Hundspeitsche zu greifen, die stets über seinem Bette hing. Schwerer war Biancini umzustimmen. Aber als er auf dem Höhepunkt angelangt war, als er mit erhobenen Armen dastand, den schönen Kopf von schwarzen Locken umwirrt, eine Gestalt von gewaltiger und überlebensgroßer Plastik, da zog ein schmaler Papierstreifen vor seinem Blick vorüber und bewirkte die Umkehr. Er gab nicht sogleich nach, denn es sollte von ihm nicht heißen, daß er Nella verkauft habe, aber er verließ eine Stellung nach der andern und verzichtete zuletzt mit einer rührenden und wehmütigen Gebärde. »Es ist zu ihrem Glück,« sagte er, »was kann sie bei uns erreichen? Sie hat alles für eine große Künstlerin, sie wird sich die Welt erobern.«

Der künstlerische Ehrgeiz war der archimedische Punkt, von dem aus Bezug seine Kräfte wirken ließ. Langsam und vorsichtig weckte Biancini Nella aus dem Schlaf. Er sprach von den ungeheuren Fortschritten, die sie in der letzten Zeit gemacht habe. Daß es doch wahrhaftig schade sei, so viel Anmut und Kunstfertigkeit vor schmutzigen Bauernlümmels zu vergeuden. Staunend besann sich Nella auf sich selbst und gab Biancini recht. In dem Gemisch des Lichtes der qualmenden Zirkuslampen mit dem Mondschein, der durch das Gestänge des Zeltes kam, von dem man das Dach zurückgeschlagen hatte, erschien die Arbeit der Komödianten sinnlos und töricht, und der johlende Beifall der Bauern war Nella, die auf ihre Nummer wartend hinter der Bühne stand, wie ein Hohn.

Bezug war einige Abende ausgeblieben, um sein Gift wirken zu lassen. Als er wiederkam, war der Weg bereit. Er fand Nella unter den Weidenbäumen am Ufer des Baches. Mizzis dunkler Kopf lag auf Nellas Schultern, leise schnaubend verriet er Bezugs Kommen. Mit heißen Worten bewunderte der Mäcen Nellas Leistung von heute abend.

»Ach, sprechen Sie nichts davon,« sagte sie unmutig, »ich will nichts davon hören. Biancini hat mich verrückt gemacht.«

»Wie denn?«

»Er sagt, ich könne Besseres leisten. Ich verkümmere hier. Es wäre schade um mich.«

Da setzte Bezug mit Wärme ein und schob sie vorwärts. Ja ... er schäme sich fast für sie, wenn er sie so ansehe, eine Künstlerin in ihrem Fach. Und er habe sich gefragt, warum sie sich nicht schon längst losgemacht habe und ihrem Stern nachgezogen sei. Dann schloß er nachdenklich, er könne ihr vielleicht ein wenig behilflich sein, wenn sie ihm vertrauen wolle.

Nella horchte hoch auf.

Bezug hütete sich, seine Augen sehen zu lassen, und sagte im selben ruhigen und besonnenen Ton: »Gerade jetzt sucht Kutschenreuter, der berühmte Kutschenreuter, der Besitzer des größten europäischen Unternehmens, eine Künstlerin Ihres Faches. Gestern war ich gerade bei ihm und sah den Zug der Bewerberinnen. Mit übergeschlagenen Beinen sitzt Kutschenreuter da und läßt die Weiber reden. Manche schickt er nach den ersten Worten weg, andere fordert er auf, in die Manege hinabzusteigen und ihre Künste vorzuführen. Was man da zu sehen bekommt! Sie würden es nicht glauben, was alles wagt, sich Kutschenreuter anzubieten. Von Kindern mit Streichholzbeinen, die kaum auf dem Seil stehen können, bis zu Jubelgreisinnen, die mit einem verrückten Lächeln hin und her hüpfen, als wollten sie durchaus nicht zugeben, daß ihnen das Bett und ein geheiztes Zimmer weit zuträglicher wäre als das Seil und die Manege. Der einen fiel bei einem gewagten Sprung ihr falsches Gebiß aus dem Mund, die andere zerstieß mit ihrem spitzen Knie das gespannte Trikot – oh, es war ein Graus. Kutschenreuter winkte immer nur mit der Hand: hinaus, hinaus! Was wollen Sie? Von fünfundvierzig Bewerberinnen, die auf die Nachricht von der Vakanz bei Kutschenreuter aus allen Richtungen herbeigestürzt waren, nicht eine einzige annehmbar. Das Defilee war erfolglos.«

»Und da sollte ich es wagen?«

»Sie haben wenig Vertrauen zu sich. Ein gesunder Ehrgeiz unternimmt alles. Versuchen Sie es doch. Ich will gerne den Mann vorbereiten.«

»Sie werden ihm Wunder erzählen. Und er wird enttäuscht sein.«

»Ich werde ihm die Wahrheit sagen, und er kann sich davon überzeugen, ob es die Wahrheit ist.«

Nella liebkoste Mizzis weiche Schnauze und legte ihren Kopf an seinen Hals. Nun stand sie ganz in einer blendenden Säule von Licht, gleichsam wie in einem Kristall eingeschlossen. Und Mizzi wandte sich nach ihr um und schnaubte ihr zärtlich ins Ohr. Vor Gier zitternd hob Bezug die Arme, dann wich er ins Dunkel zurück. Als Nella aufschaute, war sie allein, und von so viel Zärtlichkeit gerührt, umarmte sie Mizzi von neuem, indem sie sich dem Genuß der Empfindung hingab, unter den Menschen so einsam zu sein, daß ein Tier ihr nächster Freund sein mußte.

»Kutschenreuter erwartet Sie morgen«, sagte ihr Bezug am nächsten Abend, nachdem er vorher eine Viertelstunde mit Biancini allein gesprochen hatte. Und Biancini legte ihr wie segnend die Hand aufs Haupt, mit einer Miene, als habe er »Des Vaters Abschied« darzustellen. Nun war es also beschlossen, und Nella erschrak fast als sie daran dachte, daß sie nun ihre Kameraden verlassen müsse. »Mache mir keine Schande, mein Kind«, sagte der Häuptling, indem er die Hand vorn in das Samtwams schob und schloß an diese Mahnung eine endlose Galerie von Ratschlägen. Zwischendurch geleitete er Nella wie der Versucher auf hohe Berge und zeigte ihr von dort oben alle Herrlichkeiten des Landes der Verheißung. Er schlug in die Hände und klatschte auf die Knie, um den rauschenden Beifall und das Entzücken des Publikums auszudrücken, er verneigte sich fünf-, sechsmal nacheinander ... »nicht genug oft wirst du herauskommen können.« Dann wurde er elegisch und große, schwere Tränen rannen auf den abgeschabten Samtkragen. Inzwischen packte Nella mit Hilfe ihrer Kollegen einen kleinen Koffer, in dem sogar noch Raum blieb, weil sie die Hälfte ihres Eigentums als Andenken zurücklassen mußte. Gitta, das Schlangenweib, der schon längst ein Brokatgürtel Nellas in die Augen gestochen hatte, weinte so lange und dringend, und hielt dabei den Gürtel so augenfällig hin, daß ihr ihn Nella schenken mußte. Dafür gab ihr Gitta eine Blechkapsel, in der sich ein Barthaar des wundertätigen Christus von Trofajach befand, dem das Haar an Haupt und Kinn alljährlich geschoren werden muß. »Das ist der beste Schutz. Wenn du das mithast, kann dir draußen nichts geschehn.« Und so wurden noch allerlei andere Tauschgeschäfte geschlossen. Von Rolf, dem dritten Pyramidenmann, erfuhr Nella gegen Hingabe eines seidenen Halstuches, daß das beste Mittel gegen Schwindel darin bestehe, mit in die Herzgrube gedrücktem Daumen dreimal »Jehuboa« vor sich hin zu flüstern. Während Biancini sich abseits in Lyrik auflöste und »An der Wende des Schicksals« machte, unterlag Nellas Gutmütigkeit dem liebenswürdigen Ansturm der Kollegen. Aber sie verschenkte ihr Eigentum ohne Bedauern, und wenn ihr jemand gesagt hätte, sie solle ihm den Rest ihrer Kleidung, alles, was noch in dem kleinen Koffer war, schenken, so hätte sie es mit demselben abwesenden Lächeln ohne Bedenken getan. Es schien ihr, als sei es gut, in das neue Leben nichts aus dem alten mitzubringen. Auf der Stiege des Garderobewagens saß Biancinis Gattin, schlenkerte mit den Beinen und aß Schokoladenbonbons aus einer großen Düte, die ihr Bezug mit einer Verbeugung übergeben hatte. Dann lockte sie mit ausgestrecktem Arm Mizzi an sich, der vor Unruhe trippelnd dem Treiber zusah. Aber das Pferd wollte nichts von ihren Winken bemerken und nichts von ihren Versprechungen hören und wandte nicht einmal den Kopf. Anita zweifelte nicht, daß Mizzi in kurzer Zeit ebenso vergessen haben werde wie Biancini. Sie war mit Bezug, mit Biancini, mit der ganzen Welt, am allermeisten aber mit sich zufrieden. Behaglich lehnte sie sich zurück, legte den Kopf auf die hinter ihm gekreuzten Arme und fühlte das immer noch beträchtliche Gewicht der zwischen ihren Brüsten schaukelnden Düte wie das Versprechen eines noch lange anhaltenden Genusses.

In dieser Nacht stieg Nella auf den Hexenstein, sah den steinernen Ratsherren in die faltigen Gesichter, ging zwischen den grinsenden Galgenvögeln durch und blieb bei den Mondscheinfrauen stehen. Vorsichtig sah sie sich um und blickte tief in die hehlenden Schatten, denn sie fürchtete eine Begegnung mit dem, der hier oben den Thron seines Reiches errichtet hatte. Ihr Blut rauschte purpurn in die Stille. Da neigte sich die blasseste der Mondscheinfrauen zu ihr, indem sie ihre Starrheit zerbrach, und flüsterte ihr zu: »Leb' wohl, mein Kind, und bewahr' dich gut. Wir können nicht anders als wir müssen. So spricht dir die Weisheit des Steines.« Sanft wehten grüne Schleier um Nella, und vor übergroßer Bangigkeit drückte sie ihr Gesicht in die steinernen Gewänder der Mondscheinfrau und weinte. Trauriger war dieser Abschied, als der erste Abschied gewesen war, und das Herz schlug Nella so sehr vor einer Zukunft, in die sie getrieben wurde, ohne zu wissen, wie es gekommen war. Als sie über den Grat ging, machten die Galgenvögel alle ernste Gesichter und die Ratsherren schüttelten ihre faltigen Häupter. Aus dem Wald kam der üble Geruch der verwesenden Raupen, die im Kampf des Menschen gegen die vernichtende Brut massenweise erlagen, und die dennoch unbesiegbar wie eine Krankheit des Blutes an anderen Orten zu neuer Zerstörungsarbeit auftauchten.

Am Morgen des nächsten Tages fuhr Bezugs Auto vor, und mit einer achtungsvollen Handbewegung lud der Retter Nella ein, neben ihm Platz zu nehmen. Ihren kleinen Koffer ließ er durch eine der kostbaren Wagendecken verhüllen, und dann gab er das Zeichen zur Abfahrt. Vor der Front seiner Truppe stand Biancini und machte den betrübten Vater. Es war ihm wirklich traurig zumute und seine Tränen kamen ihm ohne Anstrengung; aber dennoch konnte er sich nicht versagen, seine Trauer ins Monumentale zu erhöhen und sich auf den schönen Eindruck zu spannen. Im Augenblick, als sich das Automobil in Bewegung setzte, brach Mizzi durch die Reihen der Komödianten und trabte wiehernd dem Wagen nach. Er setzte sich in Galopp, aber bald vermochte er der gesteigerten Schnelligkeit nicht mehr zu folgen. Da blieb er stehen, peitschte die Flanken mit dem schönen, langen Schweif und stand und stand ... Bei der Ecke, mit der der Wald die Straße zu einer Krümmung zwingt, sprang ein Mensch aus der Bahn des Wagens. Es war ein Mann, groß und wuchtig wie ein Baum, dessen hemdartiges, im Gürtel gerafftes Gewand im schnellen Sprunge flackerte. Nella erblaßte bis in die Lippen und sah ihm mit schmerzenden Pulsen nach, wie er zwischen den Stämmen rasch den Berg hinanklomm, bis er hinter einem Weißdorngestrüpp verschwand.


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