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Das Haus des Eleagabal Kuperus und die Witwe des Dichters

Hinter dem Dom, wo sich die Dächer der kleinen Häuser um enge Höfe zusammendrängen, verlieren die Gäßchen ihre Richtung und weichen, von alten grauen Fronten beengt, vor plötzlich vortretenden Ecken zur Seite, steigen über Stufen hinab und hinauf, bis sie, auf allen Seiten von den Häusern umstellt, in irgendeinem Winkel enden. In diesem innersten Kern der Stadt hat die neue Zeit, die an der Erweiterung des Umkreises arbeitet, noch nichts geändert, und unter dunklen Torbogen, in düsteren Nischen, vor deren schwarzen Heiligenbildern zitternde Lämpchen brennen, kauert die Vergangenheit. Die Stufen, an denen die Häuser hinabsinken und emporsteigen, sind von vielen Tritten glatt und schlüpfrig geworden, daß die alten Weiblein zur Winterszeit nur zaghaft und unter Stoßgebeten zum Dom zu gehen wagen. Was an Freude und Leid über diese Stiegen getragen wurde, hat gleichermaßen an den runden Löchern in ihrem Granit gearbeitet, in denen nach sommerlichen Regengüssen kleine Wasserlachen stehen und im Winter länger als anderswo Eiskrusten knistern. Versonnen und manchmal ein wenig verdrießlich sehen die alten Häuser aus kleinen Fenstern nach den wenigen Menschen, die hier mit Bedacht über das holprige Pflaster gehen, als hätte die Hast und Unruhe, die dem Domberg vorbeibraust, noch keine Macht über sie. Man sieht hier sehr viele alte Leute. Das Leben scheint sich in diesen stillen krummen Gäßchen länger hinzudehnen als anderswo. Und wenn man Sonntags alle diese alten Männlein und Weiblein zum Dom wandern sieht, dann ist es wie im Reiche der Erinnerung, wo die Schatten des Gewesenen umhergehen. Doch die Jugend lebt mitten unter den alten Leuten grausam, unbändig und lärmend wie draußen und trotzt mit dem Recht der Gegenwart zwischen den grauen Häusern, tobt über Stiegen auf und ab und läßt sich gleich dem Sonnenschein nicht daran hindern, das Glück der Kraft zu spenden. Die Alten sehen zu und lächeln, denn hier sind Vergangenheit und Gegenwart noch nicht im Streite. Darum liebt das Alter auch grüne Pflanzen und weiße Gardinen, und viele der kleinen vielscheibigen Fenster leben von einem grünen Flor. Im Sommer nicken die blutroten Knospen der Fuchsien über hölzerne Gitter, und breitblättrige Pelargonien stehen würdig im Hintergrund. Dann gibt's auch ganze Fenster voll von blühenden Hyazinthen, die in allen Farben prahlen, und beim Rahmenmacher, der auch Tiere hält und Vögel ausstopft, kann man ausländische Blattpflanzen und wunderliche Orchideen sehen, daß alle Kinder weit umher gezwungen sind, vor seinen Fenstern stehenzubleiben und mit ihren Fingern gegen die Scheiben zu tupfen. An großen Festtagen im Sommer stellt er seine Passionsblume aus, die schöne und traurige Blüte, die alle Werkzeuge der Marter Christi zeigt, die Nägel und den Hammer und sogar die gräßliche Dornenkrone. Hier hält man noch etwas auf Festtage, hebt sie unter den Tagen der Arbeit hervor, und sogar die Häuser ändern ihr Gesicht zur Osterzeit, zu Pfingsten oder am Fronleichnamstage. Wenn der Umzug durch die engen Gäßchen kommt, wenn die Glöckchen bimmeln und der weiße Weihrauch in breiten Wolken über den Köpfen der Priester schwimmt, dann flackern Reihen von Kerzen in den Fenstern, und Heiligenbilder schauen aus verschlafenen Augen in das viele Licht. Und zur Pfingstzeit fehlt die grüne Birke an keiner Tür, so daß es aussieht, als habe der Frühling jedem Haus einen Strauß an die Brust gesteckt. Dann schaut alles so hell und heiter in die Welt, daß man fast nicht glaubt, wie viele sonderbare Geschichten hinter den altersbraunen Türen und kleinen Fenstern schlafen; heimliche und unheimliche Geschichten, die an trüben Tagen und in den langen Winternächten erwachen.

Nahe dem Hauptaufgang zum Dom, den zwei steinerne Heilige mit kalten, leeren Augen bewachen, steht ein Haus, um das sich viele solcher Geschichten spinnen. Denn hier wohnt Eleagabal Kuperus, von dem man sich in den Häusern um den Dom höchst merkwürdige Dinge erzählt, der in der Phantasie der Jugend vom fahlen Glanz des Geheimnisses umgeben ist und dem die alten Weiblein scheu ausweichen, wenn er ihren Weg zum Dom kreuzt.

Sein Haus ist sicher das älteste hierherum und hat einen schiefen Giebel auf seinem faltigen braunen Gesicht sitzen, wie einen alten Hut. Bei trockenem Wetter scheint seine Front staubig und zerfurcht, wenn aber der Regen gegen seine Wände schlägt, dann kommen auf ihnen uralte Bilder hervor: Isaaks Opferung, das Urteil Salomos, der Durchzug der Juden durch das rote Meer und viele andere, denen die Leute hier oben keine Deutung wissen. Wie eine geheime Schrift durch die Sonne oder das Wasser geweckt wird, so tauchen diese Bilder aus der Feuchtigkeit, recken sich über alle Flächen zwischen den Fenstern und zeigen sich, untereinander mit Ranken aus Pflanzen und Tierleibern und mit unleserlichen Sprüchen verbunden. Über der Tür aber, die reich geschnitzt und mit rostigen Eisenbändern beschlagen ist, wird dann eine Gestalt sichtbar, die im Gewande einer fernen Zeit dasteht, in einer Hand ein Schwert und in der andern Hand einen Schlüssel hält. Aus ihrem Munde geht ein Band hervor, auf dem in altertümlichen Buchstaben geschrieben steht: »Glaube dem Wunder«. Das Seltsame an dieser Gestalt und das Seltsamste am ganzen Haus aber ist dies, daß die Hand, die den Schlüssel hält, aus der Mauer hervorragt in wirklicher, greifbarer Form, eine Hand, die mit ihren gekrümmten Fingern, mit den Sehnen und den deutlichen Adern dazwischen so sehr der lebendigen Hand eines Menschen gleicht, daß man die große Kunst ihres Bildners bewundern muß. Wenn der Regen in seinen Furchen verrieselt und die Sonne die Wand getrocknet hat, dann sind die Bilder und Sprüche verschwunden, und nur die Hand hält über der Tür ihren Schlüssel, als wachse sie aus der Mauer hervor und wolle anzeigen, daß hier ein Verschlossenes und nur durch sie zu Öffnendes sei. Und auch diese Tür – sie ist der Schrecken und das nie ausgeschöpfte Rätsel der Kinder, denn ihr Schnitzwerk zeigt den Besuch Sauls bei der Hexe von Endor. Das lebt rund um den Helden von mißgestalteten Leibern, von greulichen Fratzen und von Lindwürmern. Oben speit ein Drache Feuer aus, und unten schwimmt der Leviathan in einem Meer von lauter spitzen Wellen und bläst aus seinen Nasenlöchern mächtige Wasserstrahlen.

Unter all den Leuten, die Absonderliches von Eleagabal Kuperus und seinem Haus zu erzählen wissen, zeichnet sich die alte Frau Swoboda aus, die im Dome schlanke Kerzchen für die Seelen im Fegefeuer anzündet. Sie ist es, die in einer Mondscheinnacht gesehen hat, wie die Finger der Hand über der Tür sich einzeln vom Schlüssel lösten und ausstreckten, genau wie die Finger einer Menschenhand, die einen Krampf überwinden will. Und sie ist es, die im Morgengrauen eines trüben Wintertages deutlich gesehen hat, wie die Drachen und Ungetüme der geschnitzten Tür durcheinanderwimmelten und wie Saul den Arm erhob, um sie zu bannen. Nun schwört sie darauf, daß Eleagabal Kuperus ein Zauberer sei, und eine Legion alter Weiber steht hinter ihr, die dasselbe behaupten. Aber auch die Männer, die über dieses Geschwätz nur lachen, meiden doch den alten Mann in dem geheimnisvollen Haus, und wenn ihm einer in der Dämmerung der schlecht beleuchteten Gassen begegnen soll, dann geht er lieber auf die andere Seite. Selten nur schrillt die Klingel unter der Hand mit dem Schlüssel, und immer ist es ein Fremder, irgendein Mensch aus der brausenden Stadt dort unten, der den Eleagabal Kuperus in seiner Burg besucht.

Die Frau, die an einem von schwerem Dunst und geheimen Stimmen erfüllten Winterabend über die große Stiege heraufkam und langsam über den kleinen Platz vor dem Dom schritt, zögerte ein wenig vor der Tür des Hauses, in welchem Kuperus wohnte. Hier oben waren nur noch wenige Lichter wach, und eines von ihnen stand unbeweglich wie ein starres Auge in der Stirn dieses Hauses. Frau Swoboda, die aus der Sakristei des Domes kam, sah, wie vor der Tür des Kuperus eine dunkle Gestalt nach der Klingel tastete, und schickte erschauernd ein kurzes Gebet um das Heil dieser armen Seele, die sich hier dem Bösen überantwortete, zum Himmel. Als sie um die Ecke des Gäßchens gekommen war, hörte sie das Gekreisch der Glocke, und frierend und der eigenen Gottgefälligkeit froh hüllte sie sich fester in ihr großes Umschlagetuch.

Die Frau, die zu Eleagabal Kuperus eingelassen sein wollte, hatte eine Weile zu warten, bevor sich die schwere Tür öffnete. Die von dem Kampf mit dem Nebel ermatteten Strahlen einer nahen Gaslaterne regten das Schnitzwerk der Tür zu ringelndem Geranke auf, glitten über die Hand mit dem Schlüssel hin und strandeten an dem Ufer des Dunkels, das schwer über dem Ende des Gäßchens lag. Leise ging die Pforte auf. Ein langer Gang ließ die Frau in das Innere des Hauses, in dem sie lautlos über weiche Teppiche schritt. Links und rechts gaben leuchtende Buchstaben, die sich zu Worten ohne begreiflichen Sinn vereinigten, Hieroglyphen, Keilschriftzeichen und glitzernde Symbole so viel von einer beunruhigenden Dämmerung, daß hohe, dunkle Bilder und Statuen zu erkennen waren, die längs des Ganges den Eintretenden begleiteten, wie eine wehmütige Melodie plätscherte ein Springbrunnen in einem rot beleuchteten Raume, in dem sich die Bilder rings an den Wänden sammelten, hier wartete ein Diener, dessen behaarter Kopf, dessen kleine spitze Ohren und dessen böse glimmende Augen ihn einem Wolfe ähnlich machten, und hob die Hand zu einer schweigenden Gebärde. Die Frau folgte ihm durch einen schmalen Weg zwischen zwei Wänden von Büchern, bis er aus einem Becken eine Kugel nahm und sie mit silbernem Klang wieder zurückfallen ließ. Aus den Falten eines Vorhangs, die kühl um ihr heißes Gesicht wehten, trat sie unter eine Kuppel aus Glas, die sich über einem Zimmer aus Marmor wölbte. Wie in einem Tempel strebten zwei Reihen von Säulen empor, aber auf ihren breiten Kapitälen, von denen Tierköpfe zwischen Schnörkeln herabsahen, lastete kein Gebälk. Sie waren scheinbar zwecklos, nur um ihrer selbst willen in diesen Raum gestellt, dessen unteren Teil sie gliederten, während sich die Kuppel ungestützt und frei darüberspannte wie ein Symbol der Unendlichkeit des Himmels. Alle Arten von Marmor setzten die Buntheit dieses Gemaches zusammen, vom weißen Marmor der Tiroler Brüche bis zu den geflammten, gezackten, gestirnten Farbenwundern der seltensten Abarten. Über die Wände rieselten rote Bäche, als ob dort oben aus einer verborgenen Öffnung ein kleiner Blutstrahl hervorkäme, der, sich verzweigend, über die glatte Fläche fließt; daneben waren Platten, die wie Landkarten bemalt waren, dann schienen zarte Farne, Moose oder kleine Bäumchen in den Stein eingeschlossen, nun blühten Korallen und ließen ihre Äste weit auseinandergehen, als ob sie alle herrlichen Kräfte ungefesselten Wachstums entfalteten. Leuchtend ergossen die weißen, gelblichen und elfenbeinfarbenen Marmorarten ihre makellosen Flächen und machten den Blick zur Erfassung neuer Farbenspiele fähig. Dieses Gemach zeigte eine starre Leblosigkeit, die gleichwohl vom heftigsten Leben sprühte, eine Ruhe, in der eine unbändige Bewegung brauste, es glich einem Kopf, in dem verworrene Gedanken stürmen, in dem die seltsamsten Einfälle wohnen, von denen keiner laut wird oder in wirkliches Leben tritt. Über diesem Gewirr lag die Kuppel fest aufgeschraubt, damit nichts davon nach außen dringe, gewölbt und gläsern wie die Hornhaut eines Auges, auf dessen Netzhaut die köstlichsten und wunderbarsten Farben spielen.

An dem Marmortisch in der Mitte, von den beiden Säulenreihen rechts und links bewacht, saß Eleagabal Kuperus. Seine Hand lag auf dem Tische, seine Finger folgten irgendeiner Ader des Marmors, seine Lippen bewegten sich. Nun sah er auf und sein Blick hüllte die fremde Frau in einen Schleier von Fragen. Tief innen in einem Kopf, der ebensoviel von einem alten Patriarchen als von einem alten Raubtier hatte, lagen diese fragenden Augen. Über ihnen ging eine hohe Stirne empor, die in so viele gleichlaufende Falten gezogen war, daß man bei einem andern darüber gelacht hätte, unter ihnen begann ein weißer wilder Bart, ein verworrenes Gestrüpp, das nach allen Seiten auseinanderstrebte, doch in eine Richtung gezwungen, auf die Brust niederfiel. Zwischen dem Gestrüpp klaffte die dunkle Höhle eines Mundes, aus dem zwei Eberhauer hervortraten. Die Schneidezähne waren verlorengegangen, aber die Eckzähne des obern Kiefers hatten sich zu seltener Kraft entwickelt, und wenn Eleagabal Kuperus lachte, so krochen sie wie krumme Messer aus ihrer Scheide. Um den kahlen Schädel lag ein dünner Kranz von weißen Haaren, der sich bei starken Affekten wie unter elektrischen Wirkungen zu sträuben schien.

Zögernd trat die Frau auf ihn zu und legte ein rundliches Paket, das sie unter ihrem Mantel getragen hatte, vor ihn auf den Tisch.

»Sie sind mir willkommen«, sagte Eleagabal Kuperus und winkte dem Diener mit dem Wolfsgesicht, der hinter der Frau in der vorgebeugten Haltung eines Raubtiers gelauert hatte, daß er sich entferne. »Sie sind mir willkommen«, sagte Eleagabal Kuperus noch einmal, und die Frau fühlte, wie sein Blick sie durchdrang. Dann fügte er hinzu, und seine Hand deutete nach dem rundlichen Paket: »Sie bringen mir den Kopf Ihres Mannes.«

Ein Zittern kam über die Frau, und der Tisch, an dem Eleagabal Kuperus saß, begann sich schnell um seine Achse zu drehen, so schnell, daß es schien, als ob sich der Mann vor ihr vervielfache. Schwindelnd griff sie nach einer der Säulen, aber sie zog ihre Finger rasch zurück, denn der Stein war so heiß, daß er ihr fast die Haut verbrannte.

»Nehmen Sie die Dinge so, wie sie nun einmal sind. Der Tod ist ein mächtiger Herr, fast so mächtig wie das Leben, und manchmal ist es, als ob er es überwinde. Ich ehre Ihren Schmerz, und ich will Ihren Wunsch erfüllen.«

»Sie wissen, was ich Ihnen vortragen wollte?«

»Ich weiß es. Ihre Liebe war groß, und ich beuge mich vor der Liebe.«

Da brach die Frau in ein Weinen aus und sah verzweifelnd um sich, denn sie fühlte sich so schwach, daß sie einer Stütze bedurfte. Eleagabal Kuperus erhob sich und trat zu ihr; er legte einen Arm um ihre Schultern, und es geschah das Seltsame, daß Frau Emma Rößler, die mit Grauen und Angst zu diesem verrufenen Greis, zu diesem unheimlichen Mann gekommen war, den Kopf in das dichte Gestrüpp seines Bartes verbarg. So standen sie beide ganz still, und das Schweigen knisterte wie eine blaue schmale Flamme. Dann führte er sie zu seinem Stuhl an dem Marmortisch und ließ sie niedersetzen.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Gatten, der ein Dichter war und nur eines nicht zu gestalten verstand – sein Leben.«

»Es scheint, daß Sie ihn kannten,« – Eleagabal Kuperus lächelte und die beiden Eberzähne krochen aus der Höhle seines Mundes, während seine Hand ihr bedeutete, fortzufahren – »sein Name war in aller Leute Mund, und seine Zukunft stand glänzend und wunderbar vor ihm. Aber trotz aller Verheißungen und Versprechungen blieb seine Gegenwart trüb und düster. Er verstand es nicht, sich auf den Markt zu stellen und seine Werke mit prahlerischen Gebärden auszurufen. Man gab ihm immer wieder Hoffnungen auf den Weg und erkannte sein Talent an. Ah, er hatte nicht einmal den stolzen Trost, verkannt zu werden. Aber man kaufte seine Bücher nur gerade so viel, daß wir in einer bürgerlichen Behaglichkeit leben konnten, während er nach einem Überfluß dürstete, der seinen Künstlerlaunen gestattet hätte, sich zu entfalten und noch Schöneres, Unerhörtes hervorzubringen. Wir waren nicht reich genug, um uns über die Mittelmäßigkeit zu erheben, und nicht arm genug, um vom Los des Dichters sprechen zu können. Mit den Blicken auf einen fernen Gipfel ging er gleichmäßigen, zuletzt schon ein wenig müden Schrittes eine Straße, die weder genug beschwerlich, noch genug von Wundern begleitet war. So rann sein Leben dahin. Er konnte nicht Kämpfer genannt werden, aber er war auch kein Glückskind, dem Sterne in den Schoß fallen. Mit ruhiger, besonnener Arbeit erwarb er gerade genug, um ein Leben zu führen, das dem von Tausenden gleicht, bis er am Ende versank ohne allzu großen Schmerz, ohne eine Spur von Tragik, außer der, daß hier einer verstummte, dem das Schicksal hätte gestatten sollen, sein Letztes auszusprechen.«

Eleagabal Kuperus stand vor der Frau und hörte ihr zu, indem er mit der Hand über den langen Bart hinstrich, wie ein Gärtner, der seine Büsche streichelt. Die Falten seiner hohen Stirn bewegten sich. Es war, als ob Gedanken über sie hinliefen. »Sein Leben und sein Sterben ist nicht so trostlos, wie es Ihrer Liebe erscheint. Sein Leben hätte nicht glänzender sein dürfen, denn ich weiß es, daß dann seine Kraft in weicher Dämmerung zerflossen wäre. Aber er hätte es reicher und tiefer machen können, denn er hatte ja Ihre Liebe. Und darum sagte ich, daß er es nicht zu gestalten verstand. Aus der Tiefe kommt alles Glück. Und sein Sterben war nicht trostlos, denn er war am Ende dessen, was ihm der Welt zu geben bestimmt war. Sein Andenken darf Ihnen heilig sein, denn es ist keine Verminderung seines Wertes, wenn ich Ihnen sage, daß er ›kein Letztes‹ mehr zu geben hatte, daß er nur noch Fortsetzungen, nicht Steigerungen geschaffen hätte. Um sein Haupt strahlte die Glorie jener bescheidenen Unsterblichkeit, die Menschen zu vergeben haben. Hätte die Welt sein Letztes erwarten müssen, so wäre sie ungeduldig geworden und hätte ihm auch den Ruhm für das bestritten, was er an Werten in sie gesetzt hat. Aber Sie sprachen mir von ihm, nun sprechen Sie noch von sich selbst.«

»Von mir ist nichts zu sagen, als daß ich ihn liebte.«

»Die Liebe ist nur eine. Aber ihre Erscheinungen sind so vielfach und wechselvoll wie die bunten Bilder der Welt, und nie wird die Natur ermüden, ihre Blüten in immer neuen Gestalten zu erwecken. Es ist das Spiel ihrer festlichen Tage.«

Die Glaskuppel wölbte sich höher empor, und ein köstliches Verstummen sank von ihr herab, das an glatten Marmorwänden wie Silber erklang. Dann begann die Frau, und ihre Hände strichen mit spitzen Fingern über die kühle Fläche des Tisches: »Er hat mich emporgehoben, als ich nahe daran war, zu fallen. Meine Jugend habe ich unter fremden Leuten zugebracht, in deren Häusern ich verzogene Kinder zu unterrichten hatte. Man duldete mich am Tische, damit man nicht durch die Unarten der Jungen und die kecken Fragen der kleinen Mädchen allzusehr gestört wurde. Aber man vergaß niemals, mich fühlen zu lassen, ein wie gutes Werk es sei, sich meiner Arbeit zu bedienen. Die erwachsenen Söhne und die Herren des Hauses verwandelten sich oft genug in zärtliche Werber, wenn sie mit mir allein waren; sie brachten kleine Geschenke und Blumen, die sie mich baten, vor ihren Müttern und Gattinnen zu verstecken. Und da ich nicht gesonnen war, ihre Winke und Wünsche zu verstehen, so konnte ich nirgends eine Heimat finden. Die Wanderung machte mich müde, und in dem Hause, das mich zuletzt aufnahm, ermattete mein Widerstand an dem ungestümen Drängen des Herrn, der mit einer unheimlichen Macht über seine ganze Umgebung begabt war. Ein furchtbarer Herr, der etwas von der Grausamkeit und Lüsternheit assyrischer Eroberer hatte. Es war ein Abend in einem stillen Park, an dem ich nach einem schweren Sturm fühlte, daß meine Kraft gebrochen sei und daß ich bald unter seinem Willen stehen würde. Schwäne zogen auf einem schmalen Fluß, und von weither kamen die Töne einer Musik, wie blaue Vögel mit großen Schwingen. Da sprach mich ein junger Mann an, und seine ersten Worte sagten mir, daß ein Dichter neben mir stehe. Er fühlte sich in meine Seele ein und las meine Verzweiflung und meine Bedrängnis. So gut war jedes seiner Worte, die mich mit weichen Händen zu streicheln schienen, daß ich ihm nichts verbergen konnte. Da bot er mir an, sein Glück und sein karges Leben zu teilen, und ich nahm es an wie ein Geschenk eines alten Freundes. Er führte mich aus dem Hause meines Bedrängers fort, schlug seine Drohungen in den Wind und ließ sich nicht durch dessen Zähneknirschen und Wutgebärden einschüchtern. Dann lebten wir sechs Jahre in einem Traum und ... waren ... glücklich.«

Der lange Bart des Eleagabal Kuperus zitterte auf seiner Brust. Sein Finger folgte einer roten Marmorader des Tisches, an dem eine junge blonde Frau saß, deren Augen von einem schon versunkenen Glanz noch geblendet schienen. Das dunkle Tuch war von Kopf und Schultern auf den Schoß zurückgesunken, und alles Licht des Raumes, das aus unsichtbaren Quellen floß, schien sich auf ihrem blassen Gesicht zu sammeln und strahlte verklärend von ihm zurück.

»Haben Sie mir alles gesagt?« fragte Eleagabal Kuperus.

»Ich habe eine Summe gezogen. Sie heißt: wir waren glücklich.«

»Warum verschweigen Sie mir, daß Sie Ihr Gatte betrogen hat?«

»Es war sein Recht als Dichter, und indem er immer zu mir zurückkehrte, erhöhte er nur meinen Triumph.«

Da neigte sich Eleagabal Kuperus vor und küßte die junge Frau auf die Stirne, und sie sah ihm ruhig in die Augen, als er sie bei der Hand faßte. »Nun will ich gerne Ihren Wunsch erfüllen.«

»Er sprach von Ihnen mit Verehrung und entwarf viele Pläne, wie er sich Ihnen nähern wollte. Von Ihrem Leben ging eine große Macht über ihn aus. Dieser hat die Kraft und den Mut, sagte er oft, alles von sich abzuschütteln, was ihm nicht taugt. Er hat seine Insel geschaffen, an der die Welt vorüber muß. Hohe Dämme zog er um sein Leben, und nur schmale Wege führen zu ihm. Nun kommt er selbst auf einem schmalen Weg. Es war sein Wunsch, seinen Kopf zu bewahren. Wollen Sie ihm Ihre Kunst verweigern?«

»Ich wartete auf ihn, und er kam nicht. Nun will ich ihm meine Kunst nicht verweigern. Folgen Sie mir.«

Eleagabal nahm die Hand der Frau und schritt mit ihr auf die marmorne Wand zu. Keine Tür war sichtbar, und die Frau schrak zurück, als ihre Stirne fast den Stein berührte. Da sah sie, daß das grüne und rote Geäder des Marmors wie Ranken über einer klaren Durchsichtigkeit hing, daß es sich als feines Nesselwerk vor eine Öffnung spannte; und als die Hand des Mannes hineingriff und die Ranken aufhob, schritt sie hindurch. Ein anderer Raum lag vor ihr, eine Art Laboratorium mit marmornen Wänden, wie der Kuppelsaal mit einer Reihe von Säulen, von demselben milden, versöhnlichen Licht erfüllt, das aus unsichtbaren Quellen kam. Rings an den Wänden standen marmorne Postamente, auf denen unter Glasscheiben menschliche Gliedmaßen lagen, Arme, Beine, Hände mit dem Anschein des Lebens, deren Schnittfläche noch frisch und blutig schien. Eleagabal Kuperus hob eines der Gläser ab und lud die Frau ein, den Arm, einen runden schönen Frauenarm, zu berühren. Emma folgte ohne Grauen und Ekel und fühlte, daß die Haut weich und schmiegsam war, daß das Fleisch unter dem Druck ihrer Finger nachgab. »Dieser Arm ist dreißig Jahre alt, er gehörte meiner Tochter Konstanze«, sagte Eleagabal. »Ich habe lange darüber nachgedacht und geforscht, bis ich diese Art erfand, das Leben vor dem Tode zu erretten. Die alten Ägypter bewahrten die Leiber ihrer Toten für das Leben in der Unterwelt. Aber diese vertrockneten, zusammengeschrumpften Körper, deren Höhlung man mit Spezereien füllte, die man mit endlosen Binden umwickelte, sind schrecklicher als die Verwesung, denn sie haben das nicht mehr, was das Leben so wunderbar macht, den schönen Schein der Form.« Er wies in eine Ecke, in der aus verwittertem Holzsarg ein mit schwarzer runzliger Haut überzogener Kopf sah, um dessen Stirne ein schmaler Goldreifen zu glühen schien. Emma erschrak und wandte sich rasch ab, um Eleagabal zu folgen, der ihr mit Erklärungen voranschritt. Von Postament zu Postament leitete sie sein Wort, von einem Andenken an seine Lieben zum andern, und überall bewunderte sie die Vollkommenheit dieser Kunst, die Vollkommenheit ihres Sieges über den Tod. Verwandte und Freunde hatten Teile ihrer Leiber in dieses merkwürdige Museum abgegeben, und so viel Jahrzehnte auch seit ihrem Tode verflossen waren, ihre Glieder hatten sich hier in unveränderter Frische erhalten. Vor einem Glassturz blieben die beiden stehen, unter dem der Kopf eines Negers auf glänzender Spiegelscheibe lag: »Der Kopf war nicht das Beste an meinem Hassan,« sagte Eleagabal Kuperus, »aber es war ein starker Schädel, der dicke Bretter zersplitterte und der mehr als einmal Hiebe, die mir galten, selbst auffing.« Die Bewegung, mit der Eleagabal in den dichten Haarpolster griff, hatte etwas schmeichelnd Zärtliches, die Weichheit der Liebkosung, die man einem treuen Hund zuteil werden läßt. Emma empfand, daß es schön war, von diesem Mann geliebt zu werden. Ein wenig vom Hauch der Ewigkeit, von einer durch den Tod ununterbrochenen Fortdauer sympathetischer Beziehungen lag in diesem Raume, dessen Postamente ringsum in gemessenen Abständen die Versicherung wiederholten, daß das Vergessen hier unbekannt sei. Tempelfrieden und Heimatsruhe gaben hier ein tiefes Glück. Hier konnte sich nichts mehr ereignen, die Zeit war festgehalten, gestaut, und floß nur in jenem Maße, in dem es dem Herrn des Ortes gefällig war, langsam und ohne Wellenschlag. Ihre Wasser, die draußen den Geruch der Kloaken mit sich führen, die oft den Schmutz menschlicher Unzulänglichkeit, die Kadaver verfehlter Wünsche treiben, waren hier geläutert und klar, durch ein Machtgebot von allen Unsauberkeiten gereinigt. So losgelöst von allen Beziehungen, gleichsam in sich selbst und durch sich schwebend, eine Welt im Raume, lag hier die Ruhe, und so fremd die Dinge der jungen Frau waren, so seltsam ihr Äußeres vor sie trat, so zufrieden und unbedenklich gab sie sich ihnen hin. Während sie dies in sich weiterspann und immer weiter in Unendlichkeiten hinausglitt, veränderte sich das milde Licht des Zimmers, wurde stärker und strahlender, und es schien, als ob rötliche Lichtbündel von den Säulen ausgingen, bis die Marmorwände in einem glühenden Rot lagen. Wie durch Rubinglas blutete das Licht, und alle Gliedmaßen auf den Postamenten zuckten in diesen starken lebendigen Strahlen.

Mit einem langen Blick nahm Eleagabal Kuperus von den Andenken seiner Toten Abschied und wandte sich zu einem Tisch, der in der Mitte des Raumes sonderbare Instrumente, Gläser und Retorten trug. Zwischen funkelnden Messern, Lanzetten und Klammern, so scharf und sicher wie die Erkenntnis der Wahrheit, lag der verhüllte Kopf des Dichters, von dem Emma in diesem Augenblick wußte, daß er doch auf dem Marmortische des Kuppelsaales zurückgeblieben war. Aber es blieb ihr nicht Zeit, nachzusinnen, wie er hier hereingekommen sein mochte, denn der Greis hatte den runden Pack mit einer sanften Zärtlichkeit aufgenommen und begann die Hüllen zu entfernen. Als das geliebte Haupt zum Vorschein kam, wollte der Schmerz ätzend aus Tiefen aufsteigen, aber er wich unter dem guten und wundertätigen Blick des Alten. Schon hatte die Verwesung die Schatten der Zerstörung vorausgesandt. Die Augen lagen tiefer, der Mund klaffte offen und war von einem trüben Schaum benetzt. Mit geronnenem Blut klebte die Schnittfläche des Halses an der Leinwand. Unter der gleichmachenden Arbeit des Todes hatte dieser Kopf alle Bedeutsamkeit verloren und zeigte nunmehr die arme, trübe Menschlichkeit, die ein reicher und feiner Geist einst zu überwinden bestrebt gewesen war. Die behutsamen Finger des Kuperus hoben die Lider von den Augen des Toten. Die Gattin, die sich dem Tun der Leichenwäscherinnen widersetzt hatte, die deren handwerksmäßiges Gebaren wie eine Schändung empfand, sah dies mit der Rührung an, mit der man es hinnimmt, wenn der Freund das liebkost, was man selbst am liebsten hat.

»Du bist mir willkommen, armer Dichter, willkommener, als je einer von denen, deren Leib meiner Kunst unterworfen wurde. Nun bist du bewahrt davor,« und nach kurzem Besinnen fügte Eleagabal Kuperus mit einer Sentenz aus einem Werke des Toten hinzu: »die Blöcke eigener Größe zu Schottersteinen für die Landstraßen des Publikums zu zerschlagen.«

Staunend stand die Gattin: »Sie kennen seine Worte.«

»Ich lebe nicht in der Welt, doch ich lebe mit ihr. Soll ich Ihnen ein Gleichnis sagen? Ewig unbewegt bleibt der Punkt, in dem sich gleiche Kräfte kreuzen, die nach entgegengesetzten Richtungen streben. Er beharrt in allen Strömen, die ihn wechselnd durchfließen und nimmt an allem Anteil. In diesem Punkte lebe ich, in der Möglichkeit, mich überallhin zu ergießen. Doch das Beste und Feinste ist der Ruhe vorbehalten. Alles kommt zu mir und immer tiefer wird mir die Welt.«

Er hob die Hand: »Geh, meine liebe Freundin. Du brachtest einen Strom von Schönheit und Liebe. Meine sorgfältigste Kunst wird dir das Andenken an den Gatten erhalten. Dir muß ich nicht erst auftragen, was bei den andern not tut: daß du nie dies Teuere von dir gibst, denn nur in den Händen der Liebe wird die Unsterblichkeit bewahrt.«

Irgendwo in der Marmorwand raffte er das Rankenwerk der Adern auf und ließ die Frau in den Kuppelsaal treten, wo der Diener mit dem Wolfskopf wartete, um sie aus dem Hause zu geleiten.

*

Vor der Tür stand sie kurze Zeit still und sah nach dem Dom hinüber, dessen ungeheures Gewicht, von der Nacht und ihren schweren, unbewegten Nebeln verstärkt, den Hügel, auf dem er stand, einzudrücken schien. Die von mühsam flackernden, einsamen Gaslaternen bekämpfte Dunkelheit kroch dem Fuße des Domes zu und zog sich an seinen Mauern empor, als ob sie wirklich vom Erdboden verschlungen würden. Von dem Gedanken erfaßt, daß sie in diesen menschenleeren Gassen leicht dem Angriff eines Betrunkenen ausgesetzt sei und noch mehr von der Vorstellung des sinkenden Domes geängstigt, wagte sich die Frau nicht von der Tür des Eleagabal Kuperus weg. Über der von den unbehaglichen Spielen der Dunkelheit und des trübseligen Lichtes zu einer steinernen Fratze verzauberten Front des Domes mit dem breiten, redseligen nun verschlossenen Maul, mit der barocken Estrade darüber und den wie verwunderte Augen hochgezogenen Fenstern reckten sich zwei ungleich hohe, stumpfe, gedrungene Türme. So unorganisch und wesensfremd wuchsen sie aus dem wuchtigen Schiff, wie Finger, die aus einem Kopfe entspringen. Nach dem Eindruck harmonischer Ruhe und weiser Bescheidung, den Emma in dem Kuppelsaal und dem Museum des Eleagabal Kuperus empfangen hatte, schien ihr dieser Dom seinem Hause gegenüber ein lauerndes Ungetüm aus Stein, mit einer hochmütigen, verzerrten Grimasse auf die Hand über der Tür hinschielend, bereit, irgendeinen furchtbaren mörderischen Anschlag auszuführen. Wie die Masken kriegerischer Völkerschaften, die gräßlich bemalten Schilde, die Medusenhäupter auf den Harnischen, die aufgesperrten Rachen der Helme, bannte und verzauberte der Anblick dieses in der Finsternis versinkenden Domes. Die freundliche Gebärde der Gastlichkeit, mit der er am Tage die Beladenen zu sich winkte, hatte sich in dieser von unruhig murmelnden Stimmen erfüllten Nacht in einen Zug abscheulicher Schadenfreude, widerwärtiger Heimtücke verwandelt, die darauf bedacht schien, Furcht und Entsetzen zu verbreiten. Und nun kam – immer deutlicher aus dem Gewirr der Stimmen anschwellend – eine traurige und unerbittliche Melodie, ein langhingedehnter, trostloser Gesang, der, auf wenigen Tönen verweilend, auf und ab stieg, als wolle er sich um so eindringlicher einbohren. Etwas Wüstes und Ödes lag in ihm, wie Hauch, der über unermeßliche Ebenen herkommt, aus denen ein Zauberwort alles Leben getilgt hat, etwas Giftiges und Erregendes, wie ein Wind, der über Schlachtfelder fegt. Dieser Gesang, dieses unerträglich einförmige Summen, schien zwischen dem festgeschlossenen Mund des Domes hervorzudringen, als suche eine darin eingeschlossene Stimme den Ausgang. Anschwellend und ersterbend wellte dieses monotone Summen, und wenn es sich auch im Nebel bis zum Flüstern verlor, so verließ es die bebende Frau doch nicht einen Augenblick. Sie wußte, daß dies einen Bezug auf ihr Leben hatte, daß sie in ihrer jüngsten Vergangenheit unter diesem Gesang gelitten hatte, aber sie war unfähig, sich zurechtzufinden und vermochte nicht einmal zu sagen, ob dies ein Erlebnis der Wirklichkeit oder des Traumes war. Noch immer stand sie an der Schwelle des Eleagabal Kuperus und hielt sich an dem eisernen Ring, der aus den Schnitzereien der Tür vorsprang. Irgendein Aberglaube hatte sich in ihr festgesetzt und ließ sie befürchten, daß sie einer feindlichen Macht verfallen sei, wenn sie den Domplatz betrete.

Aus dem Dunkel des Gäßchens kamen langsame Schritte, die von einem dumpfen Widerhall an den Hausmauern verdoppelt wurden. Die Nacht hatte Füße bekommen und wandelte über den Domberg. Es war aber nur ein Wachmann, der mit schweren Beinen, vom langen Dienst ermüdet, durch den Nebel kam; seine Bewegungen waren schlaftrunken und schienen im dichter gezogenen Nebel planlos wie die Fahrt eines Schiffes, das die Richtung verloren hat. Er ging an der Frau vorüber, sah ihr scharf ins Gesicht, mit jenem prüfenden Blick, den Wachleute zur Nachtzeit einsam wandelnden Frauenspersonen gegenüber anwenden; dann schritt er zögernd weiter und blieb unter der einsamen Straßenlaterne stehen, bereit, mit aller Strenge seines Amtes zu walten. Seine Helmspitze begann unter einem Strahl zu glimmen, als ob sie ein blaues Flämmchen trüge. Sein Erscheinen durchbrach den Bann dieses Platzes. Nun faßte Emma wieder Mut. Sie ließ den Ring, an dessen Kälte ihre Finger erstarrt waren, los. Dann überschritt sie den Platz, und zwischen den beiden mürrischen Heiligen aus Stein, um deren erhobene Arme sich der Nebel sammelte, stieg sie zur Stadt hinab. Die kalten, leeren Augen der Heiligen und die verdoppelten Schritte des Wachmannes folgten ihr.

Als sie nach Hause kam, war die Nacht weit vorgeschritten, und in der Bäckerei, deren Kellerfenster erleuchtet waren, sah sie die Jungen mit Schwingen bereit stehen, während die dicke Meisterin ihnen die Semmeln für den Morgengang zuzählte. Schon regte es sich hie und da in dem weitläufigen Gebäude, jenes erste frühe Geräusch war erwacht, mit dem verschlafene Mägde ihre Unlust zur Arbeit und ihre Empörung über alle, die noch nicht ihre Betten verlassen müssen, kundzugeben pflegen. Auf der Treppe zum dritten Stock erschrak sie vor dem Lehrjungen des Schusters, der aus irgendeiner Mägdekammer von verbotenen Freuden kam. Dann schloß sie die Tür ihrer Wohnung auf, in der noch der aufdringliche Geruch von Totenkränzen und von Weihrauch mit dem schrecklichen Duft der beginnenden Verwesung stritt. Sie öffnete eines der Fenster im Schlafzimmer und ließ mit der nebelerfüllten Luft des Wintermorgens die ersten leisen Geräusche der Straße herein. In dem großen Lehnstuhl, in dem der Verstorbene auszuruhen pflegte, erneuerte sie noch einmal die Erlebnisse dieser Nacht. Nun, da sie nicht mehr durch die Nähe des Eleagabal Kuperus geschützt war, erschien ihr alles wundersam und schreckhaft; sie entsann sich kleiner Einzelheiten, die, aus dem Zusammenhang gerissen, den Eindruck grausamer Träume hinterließen. Der Diener mit dem Wolfskopf, dessen schleichenden Tritt sie wie eine Gefahr hinter sich fühlte; der Negerkopf, dessen Haut im roten Lichte wie violetter Samt erschien; und die Mumie mit den brüchigen gelben Binden und der runzeligen schwarzen Stirn. Und plötzlich war wieder jene wüste, trostlose, einförmige Melodie da, unter deren unaufhörlich an- und abschwellenden Tonfolgen sie alle Martern der Angst erduldet hatte. Sie ging ihr mit dem Entschlusse nach, sich von ihr zu befreien, indem sie feststellte, woher sie ihr gekommen war. Die Worte, die Worte ... sie konnte die Worte nicht finden, es mußten Worte in einer fremden Sprache sein. Ja, es waren lateinische Worte, und nun wußte sie es auf einmal, daß es die Worte eines Psalmes waren, den ein bartstoppeliger, feister Priester am Sarge ihres Gatten gesungen hatte, während er den Leichnam mit geweihtem Wasser besprengte. Diese Worte hallten in allen Domen; diese Melodie war die Stimme menschenleerer Kirchen; eine endlose Litanei von den Schrecken des Todes, die den Lebenden unaufhörlich die Seele erfüllte. Niemand war sicher davor, diese Melodie plötzlich laut und drohend vor seinem Ohre zu hören, wenn ihm einer seiner Lieben starb; wo sich diese Worte einmal zu ihrem traurigen Zuge erhoben hatten, dort prägten sie sich den Wänden ein; sie sogen sich in Möbel und Kleider und waren Herrscher über den Raum. Sie mischten sich mit dem Duft der Totenkränze und der Verwesung, siegten über das Leben und ermatteten es durch die unablässige Erinnerung an den Tod. Müde hingen die Arme der Frau über die Lehne des Stuhles, in genau derselben Haltung, wie sie ihr oft bei ihrem Gatten aufgefallen war. Als sie dies bemerkte, schauderte sie zurück und nahm eine andere Lage ein. Dann schlief sie ein. Draußen aber wurde das Leben der Straße immer lauter und drängender und steigerte verlangend seine Kraft.

Als die Bedienerin pochte, schlief Emma so schwer, daß sie nicht sogleich erwachte. Frau Fodermayr begann schon zu fürchten, daß sich die Witwe etwas angetan haben könnte. In ihren Vorstellungen, die von der Phantasie der illustrierten Extrablätter beängstigt waren, stellte sich ein fürchterliches Familiendrama mit sehr viel Blut dar. Endlich öffnete sich die Tür. Frau Fodermayr, die bleichen Angesichts und mit erstarrten Fingern am Pfosten lehnte, begrüßte Frau Emma wie ein treuer Hund. Die Augen der Witwe waren noch vom Schlaf verschleiert, und ihre Glieder waren von der unbequemen Lage im Lehnstuhl steif geworden. Jetzt kam etwas Wärme in sie. Die unverstellte Herzlichkeit der Dienerin tat Emma wohl. Gerührt antwortete sie auf die besorgten Fragen nach ihrem Befinden. Dann kam Frau Fodermayr wieder mit dem Trost der alten Weiber: daß man nicht wissen könne, ob Gott nicht den Toten vor schwereren Leiden dadurch bewahren wollte, daß er ihn zu sich genommen habe. Heute fand Emma in diesem Gerede eine seltsame Übereinstimmung mit den Worten des Eleagabal Kuperus. Zwischen ihrem Besuch bei ihm und jetzt lag der Schlaf. Ihr Erlebnis mit ihm erschien ihr in der Entfernung, in der sich die Märchen und Legenden abspielen. Es erschien ihr ganz unglaubwürdig und jenseits aller Möglichkeiten, daß sie den Mut gefunden hatte, ihm ihr Anliegen vorzubringen und daß sie einige Stunden in seinem Haus gewesen war.

Nachdem sie sich gewaschen und das Haar geordnet hatte, trat sie auf die hölzerne Galerie hinaus, die außen von Tür zu Tür um den ganzen Hof dieses im Viereck erbauten Hauses lief.

In diesem Stadtviertel von kasernenartigen Miethäusern war dieses Haus eines der größten und belebtesten. Hundertzwanzig Mietpartien teilten sich in seine Räume. Es gab alle Arten von Wohnungen hier, von den kammerartigen Behausungen armer Arbeit bis zur verhältnismäßigen bürgerlichen Bequemlichkeit der Wohnung Emmas, eine Stufenleiter des Wohlstandes und der Behaglichkeit.

Dieses Haus, das, vierkantig und schwer, aus dem Bedürfnis der Großstadt gewachsen schien, schloß in seinem Hof eine lärmende Republik von Kindern ein. Niemals war der Hof im Sommer von trocknender Wäsche leer; sie hing an langen Stricken, die von einem der verkümmerten Bäumchen zum andern gezogen waren. Nun standen die Stämme kahl und trugen auf ihrer Rinde die tiefen Narben der scheuernden Stricke. Der Nebel verfing sich hoch oben zwischen den feuchten, schadhaften Dächern und sank in breiten Schichten zum Pflaster des Hofes nieder, wo die Kinder in den Winkeln mit den nassen Resten des Schnees spielten. Dieses Haus war so lange ihr Heim gewesen und diese Menschen ihre Nachbarn. Nichts anderes hatte die Welt ihrem Gatten, dem Schöpfer neuer Schönheitswerte, zu bieten gehabt. Aber es war immerhin ein Heim. Wie aber würde sich die Zukunft gestalten? Sie hatte noch nicht daran gedacht, was aus ihr werden sollte. Schwer und bang stieg sie jetzt durch die Trümmer ihres Glückes zu dieser Frage empor, wie zu einer Warte, von der aus erst der ganze Umfang der Verwüstung zu übersehen ist. Sie wurde sich nun auch der Pflichten gegen sich selbst bewußt. Während des Aufräumens bemühte sich Frau Fodermayr, sie durch viele Worte zu zerstreuen; Emma ging indessen im Arbeitszimmer ihres Gatten ruhelos auf und ab, nahm ein Buch aus den breitgedehnten Wandregalen und stellte es wieder an seinen Platz, ohne auch nur den Titel gelesen zu haben. Trümmer ringsum und nicht ein Hauch neuen Lebens.

Dem Briefträger, der einige Schreiben brachte, sah Frau Emma ohne Erregung entgegen. Was anderes konnte er bringen als leere Beileidsworte über den Tod des Gatten? Aber unter den Visitenkarten stak ein Kuvert größeren Formates. Es war der Brief eines Verlegers, um dessen Gunst sich der Lebende vergebens beworben hatte und der sich nun nach dem Nachlaß des Toten erkundigte. Er sicherte sorgfältige Bearbeitung zu und zeigte die Bereitwilligkeit an, eine Gesamtausgabe aller Werke zu veranstalten. Der Witwe war ein Honorar zugesichert, mit dem sie bescheidenen Bedürfnissen genügen konnte. Die Freude über die Wendung blieb aus, denn stärker als der Triumph über die Anerkennung war die Bitterkeit, daß sie so spät kam. Frau Emma entschloß sich, die Freunde ihres Gatten um Rat zu fragen; aber gegen jeden Namen, den sie sich nannte, erhoben sich Bedenken, bis sie endlich bei einem stehenblieb, der den Lebenden nicht gekannt hatte und der dem Toten ein strenger Richter war, und der trotzdem ihr ganzes Vertrauen hatte: Eleagabal Kuperus.

Einigermaßen beruhigt begann sie sich die Einzelheiten ihrer Zukunft auszumalen, als Frau Fodermayr einen Herrn meldete, der sie zu sprechen wünsche. »Gnädige Frau,« begann der kleine bartlose Mann, der der Bedienerin sofort folgte, als ob er eine Abweisung unmöglich machen wolle, »ich habe mir bereits gestern erlaubt, Sie aufzusuchen, aber ich traf Sie nicht zu Hause und erlaube mir deshalb, meinen Besuch zu wiederholen. Ich bin Berichterstatter« – er nannte den Namen einer großen Zeitung – »und komme, um Sie über eine sensationelle Nachricht zu befragen, die in den gestrigen Abendblättern mit dem Namen Ihres verstorbenen Gatten in Verbindung gebracht wurde.«

Frau Emma stand wortlos und bleich und brachte es nicht über sich, den Frager zum Sitzen einzuladen. Sie empfand sein Eindringen schamlos, seine Worte, die aus einem nervös lächelnden, großen Mund kamen, wie Schläge, und fühlte, wie seine Unruhe, dieses hastige Spüren nach sensationellen Geschichten ihr mühsam erworbenes Gleichgewicht gefährdete. Sie war entschlossen, den Lästigen von sich zu weisen; aber sie wünschte doch den Eintritt eines Ereignisses, das es ihr ersparte, zu handeln. Indessen fuhr der Journalist fort, sie mit Erkundigungen zu bedrängen; seine Fragen tasteten an offenen Wunden. Zu welchem Zwecke der Verstorbene verfügt habe, daß sein Kopf aufzubewahren sei? Auf welche Weise sie den Kopf konservieren werde? Ob sie schon irgendeine Anordnung getroffen habe? Ob dieser Wunsch des Gatten der Eitelkeit oder irgendeiner anderen Schwäche entsprungen sei? Und ob sie nicht geneigt wäre, einen Gipsabguß des Kopfes machen zu lassen? An den Schreibtisch des Gatten gelehnt, sah Frau Emma dem kleinen bartlosen Mann mit seinem verbindlichen Lächeln so fest in die grauen Augen, daß alles übrige verschwand. Sie wünschte diesen Blick, der unablässig von ihr zu prüfenden und zudringlichen Flügen über den Raum und seine Einrichtung fortstrebte, festzuhalten. Und indem sie bannen wollte, wurde sie selbst gebannt, als ob sie in einen Trichter sähe, in dem ein häßliches, wirres Leben wirbelte. Die Macht, welcher der Fremde diente, stellte sich ihr in einer Menge von Bildern dar; Maschinen stampften und ein wüster Lärm kam aus unterirdischen Räumen. Alle Begebenheiten der Zeit wurden hier zu "Nachrichten" zermahlen; alle Größe wurde zurechtgeschnitten, und aus Wäldern von Gedanken kreischten die Sägen eines erbarmungslosen Volkes von Zwergen. Wie Kobolde sprangen die Typen empor, Worte der Schönheit und Würde platzten zu schwarzen metallenen Buchstaben auseinander; torkelnd fielen ganze Reihen von Sätzen nieder, um sich in einer Verdrehung ihres Sinnes wieder zusammenzufügen. Zwischen schwirrenden Rädern wurden schmutzige Hände mit verkrüppelten Fingern sichtbar, die nach den zappelnden Lettern griffen und sie mit festem Druck erstarren machten, während endlose Rollen von Papier zwischen Walzen verschwanden. Kein Stillstand, kein Ruhepunkt unterbrach die taumelnde Geschäftigkeit. Die Kolonnen der Buchstaben zogen wie Heere von Arbeitern hintereinander her, unaufhörlich von den surrenden Maschinen angezogen, die sie gegen das Papier preßten, daß sich ihre metallenen Leiber in die weißen Massen eingruben. Immer toller wurde das Gewimmel. Die suchenden Hände vervielfältigten sich, vergriffen sich an zarten und hoheitsvollen Worten, zerrten den Sinn der Einsamen zur Menge herab, trieben das Leben aus dem Lebendigen, indem sie es schwarz auf weiß festhielten. Die Maschinen spien aus breiten Mäulern bedruckte Bogen aus, die sich zu Bergen anhäuften, zu Säulen auftürmten und mit der vertausendfachten Wiederholung derselben nichtigen und kleinlichen Nachrichten, derselben geschändeten und zurechtgestutzten Gedanken, derselben mordenden und von Bosheiten erfüllten Sätze die Welt zu ersticken drohten. Aus großen Höhen senkten sich Krane herab, deren Eisenklammern die Ballen anpackten und aus dem wirbelnden Trichter hoben, während die Maschinen weiterstampften und die kaum aus ihrem Gefüge gelösten Lettern neuerlich zum Dienste gezwungen wurden wie schwarze Erdgeister, die ein mächtiger Zauberer zu Sklaven gemacht hat.

Der Haß ihres Gatten gegen die betriebsame und neugierige Welt der Zeitungen brannte in Frau Emma, die den Wert eines Interviews nicht zu schätzen wußte. Und plötzlich ließ sie den Journalisten mitten im Geschwirr seiner Fragen stehen und ging in das Schlafzimmer, indem sie die Portieren mit jener runden, ein wenig scherzenden Handbewegung aufhob, die sie so oft bei ihrem Gatten gesehen hatte. Im Lehnstuhl sann sie darüber nach, wie es kam, daß sie in die Gewohnheiten ihres Toten hineinwuchs, wie in Hüllen, die abgefallen sind und auf einen neuen Kern warten. War es wirklich so, wie er oft in Dämmerstunden phantasiert hatte, daß die Taten und Wirkungen eines Menschen, alle seine Worte und selbst seine kleinen Alltagsbräuche nach seinem Tode, eine Art von Astralleib, zurückblieben und sein Leben fortsetzten? Unsichtbar wie Gedanken, aus seelischen Ausstrahlungen gewoben, körperlos und feinsten Nerven doch fühlbar wie magnetische Wirkungen oder Mondstrahlen, behaupteten sie dieses Menschen Platz in der Welt, aus der die gröbere Erscheinung seiner Materie schon gewichen war.

Nebenan hörte sie das Räuspern des Journalisten, der entschlossen schien, sie zu belagern, bis sie sich seinen Fragen ergeben hätte. Dann aber hörte sie staunend ein Gespräch zwischen ihm und einer anderen Männerstimme. Der Tonfall seiner Worte war weich und verbindlich. Die andere Stimme sprach gedämpft, doch hart und befehlend dazwischen. Eben fuhr ein Lastwagen mit klirrendem und polterndem Eisenzeug draußen vor den zitternden Fenstern vorbei, so daß der Sinn der Worte im Lärm erstickte. Aber es schien Emma, als ob die dringenden Befehle des anderen ihren Belagerer zum Weichen zwängen, und als der Wagen vorüber war, lag das Arbeitszimmer im Schweigen. Frau Emma erhob sich und trat auf die Schwelle. Da saß ein fremder Mann vor dem Schreibtisch des Gatten, hatte ein Bein über das andere gelegt, die gefalteten Hände um das Bein geschlungen und betrachtete die Spitzen seiner Schuhe, als ob es hier im Zimmer nichts Interessanteres gäbe als die runde, tadellos gebaute Kuppe der glänzenden Stiefel. Die Eleganz des Dandy, die sich von dem englisch geschnittenen Gesicht über den schweren Knoten der Krawatte bis zu den Bügelfalten erstreckte, lag als Maske über einer anderen Schicht. Sie wußte: hier saß ein gefährlicherer Gegner als der, der sie eben verlassen hatte. Unbeweglich wie ein Götzenbild, hinter dessen steinerner Fratze wilde Lüsternheit lauert, schien er ganz in sich abgeschlossen, unangreifbar, von ganz aufs äußerste gespannten Kräften erfüllt. Aus dem reichen Schatz an Vorstellungen, die sie von einem Dichter geerbt hatte, verband sich augenblicks eine von ihnen mit diesem Mann: so mußten die Sendboten aussehen, die asiatische Despoten, Herrscher über Millionen von Sklaven aneinander abschickten, um zu unterhandeln.

Der Vorhang bewegte sich ein wenig, der Fremde sah hin, gab ohne Verlegenheit seine bequeme Haltung auf und erhob sich: »Man hat mich nicht angemeldet, gnädige Frau, ich heiße Rudolf Hainx.«

Frau Emma zwang sich zu einem Kopfnicken und mit einem Lächeln, das die Mundwinkel nur ein wenig hob, fuhr er fort: »Ich bin kein Journalist, das muß ich vorausschicken, denn ich habe hier einen Herrn von der Presse gefunden, wenn ich gleichwohl in einer Angelegenheit komme, die mit der seinen in einem gewissen Zusammenhang zu stehen scheint, so muß ich Sie bitten, mich anzuhören.«

»Ich bin bereit, Sie zu hören.«

»Im vornehmsten Viertel unserer Stadt, dort, wo schon die Landschaft in die Stadt dringt, steht in einem großen Garten eine Villa, die mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet ist. Die Treppen sind von parischem Marmor und über die Wände verzweigt sich Goldintarsia. Die Möbel haben die Vereinigten Werkstätten nach Entwürfen von Riemerschmidt geliefert, die Gläser auf den Kredenzkasten sind von Tiffany in Neuyork. In einem kleinen Zimmer, dessen Fenster in allen Farben des Regenbogens schimmern, finden Sie einen Kasten, der in seinen Fächern Schmucksachen von Lalique aufbewahrt. Ein Vorraum, der wie ein Atrium ein Viereck aus dem Himmel schneidet, wird im Sommer durch einen von Hermann Obrist gestalteten Brunnen gekühlt, und da ich weiß, daß Sie Gemälde lieben, so will ich nicht vergessen, zu erwähnen, daß in die einzelnen Gemächer Bilder von Böcklin, Thoma, Manet und Leibl verteilt sind, während Klingersche Plastiken auf den Absätzen der Treppen und in den Vorhallen stehen. Ein Zimmer ist mit Originalen Hokusais, den Sie so lieben, geschmückt, und für Dämmerungen, in denen Sie Ihren Träumen nachhängen wollen, ist ein Kabinett mit Gemälden und Radierungen Rembrandts bestimmt. Alle Künste haben ihre besten Kräfte in dieses fürstliche Heim strömen lassen. Sie finden ein Musikzimmer und eine reiche Bibliothek mit seltenen Drucken und Inkunabeln, ein altrömisches Bad und einen Pferdestall mit englischen und arabischen Rassepferden. Sie werden in einem Jahre nicht alles ausschöpfen, was dieses Haus an Kostbarkeiten enthält. Es ist nicht vergessen worden, daß der Überfluß Sammlerneigungen erweckt, und darum ist in einer Halle eine Waffensammlung, in einer andern eine wohlgeordnete Sammlung von Briefmarken untergebracht. Wenn Sie durch eine Flucht von Gemächern gehen, so durchwandern Sie die Stile und Kulturen aller Zeiten, vom alten Assyrien bis zur Epoche des Biedermeier, und ich will hinzufügen, daß die Möbel und Geräte dieser Zimmer nicht geschickte Nachahmungen, sondern Originalarbeiten sind. Der Garten um dieses Haus zerfällt in einzelne Abteilungen, die Sie durch alle Gartenbaukünste und Vergangenheit entzücken werden. Sie werden die hängenden Gärten der Semiramis und die verschlungenen und gezierten Bosketts von Trianon erneuert finden. Eine Schar von Dienern wird Ihren Wünschen gefügig sein ...«

»Ich habe Sie angehört; wozu erzählen Sie mir das?«

»Auf einer Insel im Adriatischen Meer, die den Winter nicht kennt und alle Wunder des Paradieses in die Gegenwart trägt, ist ein anderes Haus, in der heiteren Freiheit Griechenlands gebildet, von dem Säulengang sehen Sie das Meer, das hier schöner ist als anderswo, beweglicher, launischer und das viele verschlafene Farben in sich trägt, die am Morgen und am Abend erwachend ihre Spiele treiben. Ein Altan, hoch über rauschenden Wipfeln, gibt den Blick nach allen Seiten frei und die schwerste und drängendste Sehnsucht wird dort oben leicht und flügelfreudig. Nichts steht dem entgegen, sich dort in köstlicher Einsamkeit oder mit guten Freunden einem bunten Hellenentum zu ergeben, im Angesicht des Meeres und des Himmels die Sprache der unverzagten Freude wiederzufinden und sich über allen Trümmern der Vergangenheit leuchtendere Tempel zu erbauen. Eine Barke schwankt im kleinen Hafen und rote Purpursegel schimmern durch die Wipfel der Pinien. Diese Barke gleicht dem Prunkschiff der Agrippina und wie dieses drängt sie die seltensten Kostbarkeiten auf engstem Raum zusammen.«

»Wozu erzählen Sie mir das?«

»Weil ich komme, um Ihnen das Haus vor der Stadt und jene Insel anzubieten.«

Frau Emma wand sich unter den Gedanken, die auf sie herabzustürzen schienen, von blinden und sinnlosen Gewalten aus ihren festen Lagern gerissen. Was für Bilder waren dies? Woher kam dieses Gewirr von Farben und Glanz in ihre Zukunft? Schon die Schilderung dieser Pracht war gefährlich. Und daß dieses Angebot kein Scherz war, sah sie an der ernsthaften und unbewegten Maske des Mannes, der nun ein längliches Papier aus seiner Brusttasche zog und es auf dem Schreibtisch ausbreitete. »Es ist selbstverständlich, daß ich dieses Anerbieten nicht machen darf, ohne Ihnen den sorglosen Überfluß zu gewähren, der es möglich macht, unbesorgt das Leben zu führen, das diesem Geschenke entspricht. Nennen Sie mir die Summe, die Sie für notwendig halten und seien Sie nicht bescheiden. Mein Auftrag zieht nur eine Grenze nach unten, aber keine nach oben. Bieten Sie Ihre Phantasie auf, um ein Märchen von Gold zu ersinnen. Ich bin ermächtigt, jede Zahl, die Sie nennen, auf diesen Scheck zu schreiben.«

»Sie bieten mir ungeheure Schätze an. Ich muß gestehen, daß mich dies alles verwirrt. Was wollen Sie von mir? Sie sprechen von einem Auftrag. In wessen Auftrag kommen Sie? Sehen Sie um sich, und Sie werden meine Vergangenheit erblicken. Was soll ich dazu sagen, daß Sie mich in eine solche Zukunft drängen wollen? Ist Ihr Angebot ein Geschenk? Wessen Geschenk? Und was ... mein Gott! ...«

»Sie können mein Angebot ein Geschenk nennen. Denn was Sie dafür leisten sollen, ist im Verhältnis so gering, daß es dagegen nicht in Anschlag kommt. Viele andere würden sich nicht besinnen, es um Geringeres zu geben. Ihnen aber mußten Millionen geboten werden. Bevor ich Ihnen sage, was verlangt wird, gebe ich Ihnen noch eines zu bedenken: hängt das Andenken unserer Vergangenheit an Gegenständen, an realen Dingen oder nicht vielmehr an dem zarten und unvertilgbaren Leben wacher Erinnerungen? Hätte Cäsar seinen Kriegsruhm verloren, wäre seine glorreiche Vergangenheit ausgelöscht, wenn das Manuskript seiner Denkwürdigkeiten über den gallischen Krieg in einem Brande vernichtet worden wäre, wenn ein Dieb die Rüstung, die der Feldherr im Kampf gegen Vercingetorix getragen, gestohlen hätte? Ist Timurlenks Laufbahn deshalb verändert, kann er die schönen Siegergefühle nicht mehr erneuern, wenn die Schädel seiner besiegten Feinde zermürbt und vermodert von den Lanzenspitzen fallen und wieder zu Staub werden?«

»Schweigen Sie, schweigen Sie, ich ahne ...«

»Sie haben versprochen, mich anzuhören. Man weiß es aus den Zeitungen, daß Ihr Gatte eine eigentümliche Anordnung bezüglich seines Kopfes getroffen hat. Man weiß auch, daß Eleagabal Kuperus imstande ist, den Wunsch des Toten zu erfüllen. Mein Auftrag besteht darin, Ihnen für diesen Kopf alles das zu bieten, was ich vorhin bemüht war, Ihnen mit wenigen Worten zu umschreiben.«

»Ah!«

Um die schwere Bronzesphynx, die auf dem Schreibtisch lag, spielten die zitternden Finger Emmas, aber die Augen des Rudolf Hainx lohten wie plötzlich aufflammende Sterne und zwangen ihren Blick nieder. Sie wagte es nicht mehr, ihm ins Gesicht zu sehen und ließ es geschehen, daß er sich setzte, die Feder ergriff und sich bereit machte, zu schreiben. Steil stand diese Feder, mit der ein Dichter noch zuletzt ein schwermütiges Sonett über diese Vergänglichkeit geschrieben hatte, in der Hand des Fremden. Nie noch hatte Emma eine solche Hand gesehen. Es war eine kalte, magere Hand, deren Sehnen sich von der Handwurzel plötzlich ausbreiteten, als könnten sie es nicht erwarten, zu den Fingern zu gelangen und ihnen ihre Impulse mitzuteilen. Die Finger waren gekrümmt und spitz, auf den ersten Gliedern wuchsen Haarbüschel zwischen den Runzeln einer faltigen Haut wie Gebüsche in Felsenrissen und Haarbüschel saßen unterhalb der gelblichen Knöchel. An der nur für den Zweck gebildeten Hand schien alles Weiche und Vermittelnde, die schönen Rundungen des Fleisches, die sanften Schwellungen des Fettes entfernt, um das Spiel des Ergreifens und Umklammerns nicht zu behindern. Eine Herrscherhand lag auf dem länglichen Papier, das seine Linien weithin dehnte, um eine endlose Reihe von Zahlen aufzunehmen. Böse Augen brannten wie verderbliche Gestirne über der Entscheidung dieses Augenblicks.

»Sie sagten, daß Sie in jemandes Auftrag kommen. Wollen Sie mir nicht sagen, wer Ihnen diesen Auftrag erteilt hat?«

»Ich sehe ein, daß es Ihnen wichtig ist, dies zu wissen. Sie sollen sehen, daß mein Auftraggeber die Macht hat, seine Versprechungen zu erfüllen, aber auch, daß es in seiner Macht steht, den Ungehorsam gegen seine Wünsche schwer entgelten zu lassen. Man hat mir befohlen, den Namen nur im äußersten Notfall zu nennen. Ich erweise Ihnen die Ehre, Ihr Sträuben als so schwer zu nehmen, daß dieser äußerste Notfall eingetreten ist. – Herr Bezug hat mich zu Ihnen geschickt.«

Da sprang die Frau auf den Boten los, riß ihm die Feder aus der Hand und warf sie zu Boden, daß sie zitternd inmitten eines schwarzen Kleckses steckenblieb. »Hinaus,« schrie sie, »hinaus«, und wagte es, dem Mann in die Augen zu sehen; nun hatte er keine Macht mehr über sie. Rudolf Hainx nahm seine taubengrauen Handschuhe vom Stuhl und griff nach seinem Hut: »Sie werden es bereuen!«

Frau Emma sah um sich, als suchte sie nach Waffen gegen ihn. Dann rannte sie zur Tür nach der Hofgalerie und lehnte sich gegen das eiserne Geländer, das unter ihrem Körper wankte. Sie schien bereit, das ganze Haus zu Hilfe zu rufen und gegen den Boten alle Nachbarinnen aufzubieten. Rudolf Hainx schritt an ihr vorüber, ohne sie anzusehen, ein Gesandter, der die Verhandlung abgebrochen hat und fortgeht, um den Krieg zu verkünden. Zwischen den abgeschabten schmutzigen Wänden der Treppe, die seiner tadellosen, glatten Eleganz einen Augenblick den Rahmen gaben, stieg er hinab und kam nur noch einmal zum Vorschein, um unten über den Hof hinwegschreitend im breiten Maul des Haustores zu verschwinden.


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