Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gleich vom frühen Morgen an wurde gerauft.

Der Michel und der Wenzel taten, als hätten sie vollkommen vergessen, daß sie eigentlich unter den Augen der Regierung auf einem Bankerl saßen und über den Ausgleich verhandelten. Sie ließen für diesen Tag alle Historie und Politik und Diplomatie und andere Lustbarkeiten weg und tauchten zu dem realen Untergrund aller staatsrechtlichen Probleme: zum Recht der Faust.

Es begann sogleich nach der Ankunft des ersten deutschen Sonderzuges aus der Sprachinsel. Als die Bauern auf den Bahnhofsplatz herauskamen, brüllte, pfiff und johlte es ihnen feindselig entgegen. Hier waren ein paar hundert Menschen zusammengestaut, die ihnen den Einzug in die Stadt verwehren wollten. Die Bauern hatten nicht viel Zeit zu verlieren, denn sie gedachten noch einen umfangreichen Frühschoppen abzuhalten, ehe die Volksversammlung begann.

Sie warfen sich also mit einer durch den Durst verstärkten Naturgewalt auf den Feind. Fünf Minuten später war nichts mehr von ihm auf den Bahnhofsplatz zurückgeblieben, als zerbrochene Stöcke und ausgerissene Hemdkragen.

Eine Weile später aber wurde diese Niederlage an einem Gesangverein gerächt, der, mehr auf die Macht des deutschen Liedes als auf die der Fäuste vertrauend, in die Stadt wollte. Dem stimmführenden zweiten Bassisten wurde sein tiefster Ton abgetreten. Dem Tenoristen Grasegger wurde der Stimmstock derart zusammengepreßt, daß die ganze Garnitur vom E aufwärts für alle Zukunft gelockert blieb.

Dann aber kam der Turnverein, säuberte den Bahnhofplatz und hielt den Weg für die Gäste aus der Sprachinsel frei. Wieland durfte sich zwei Selbstbinder und ein Hemdplastron wie Skalpe an den Gürtel hängen.

Als auf dem Bahnhofsplatz Ordnung gemacht war, wurde der Krieg auf die innere Stadt ausgedehnt. In den engen Straßen verfinsterten die ausgerissenen Haarbüschel die Luft.

Die christliche Nächstenliebe war auf das Dach der Jakobskirche geklettert. Da saß sie nun mit angezogenen Beinen und sah entsetzten Angesichtes, wie unten gerauft wurde.

Und die Staatsgewalt hatte im Grunde nicht viel mehr Macht als sie. Sie warf sich säbelrasselnd und helmfunkelnd zwischen die feindlichen Scharen. Sie mahnte zum Auseinandergehen, sperrte hier eine Straße und dort eine Gasse ab, drängte zurück, wurde zurückgedrängt und griff sich bisweilen einen einzelnen aus den kriegerischen Haufen, um ihn ins Loch zu stecken. Aber wenn vorn die Ruhe hergestellt war, fiel man hinten freudestrahlend wieder über einander her.

Gustav hatte als Ordner beim Festzug zu wirken und war auf zehn Uhr ins Deutsche Haus befohlen. Als er auf die Straße kam, wurde er sogleich von einem Menschenstrom erfaßt. Die tschechischen Vorstädte warfen Massen von argem Gesindel in die Stadt. Es waren bedrohliche Gesellen, zu allem entschlossen, die Taschen voll Steine, Knüttel in den Händen.

Wo die hinkamen, war die gesunde Fröhlichkeit und der Übermut des Raufens sogleich in Erbitterung und Roheit verwandelt.

Immer dichter wurde das Gedränge um Gustav. Er strebte vorwärts, wurde zurückgestoßen, suchte sich einen anderen Weg. Sein Kopf war wie zwischen Brettern festgenagelt. Die Nägel saßen ihm in den Schläfen. Nach einer Nacht rasender Gedankenflucht war das Denken eingestellt. Er wußte nur, daß er irgendwo gebraucht wurde.

Sein Herz füllte die ganze Brust aus, beengte das Atmen. Manchmal war es ihm, als müsse er in der Masse ersticken.

Plötzlich stand er eingekeilt zwischen einer festgeballten Menge und den Nachdrängenden. Es schob ihn auf eine Haustorstufe. Die ganze Straße war von einer Seite zur andern eine eingestampfte Menschenmasse. Es wogte über dieses Gewimmel von Köpfen und geschwungenen Stöcken hin. Vorn bäumte sich wütendes Gebrüll und Gekreisch auf, wälzte sich nach hinten.

Niemand wußte, warum er brüllte.

Der Vorstadtpöbel um Gustav schwang Knüttel und stieß Fäuste hoch. In der Ferne zuckten spitze Lichter um die Straßenbiegung, Lichtscherben auf Dragonerhelmen und blanken Säbeln.

Etwas weiter drinnen in der Straße hing ein Bursche an einer Laterne. Mit dem linken Arm hatte er sich festgeklammert, der rechte wies über die Köpfe unter ihm nach vorn. Der Mund stand ihm weit offen – er schrie etwas, das von dem tiefen Brüllen verschlungen wurde.

Die Köpfe und Stöcke wogten vor und zurück – und plötzlich ging ein Ruck durch die ganze Menge. Einzelne Gesichter sprangen in der Menge auf, rückwärts gewandte Gesichter, nun war ein Geflimmer von Gesichtern ... heulend floh die Masse vor den Pferden und den Säbeln.

Nur der Bursche hing an der Gaslaterne, mit weit offenem Mund brüllend, mit ausgestrecktem Arm fuchtelnd, daß es schien, als müsse ihm die Hand wegfliegen.

Gustav bekam einen Stoß, verlor seinen Halt, wurde in der Flucht mitgerissen ... die Straße zurück, eine Seitenstraße entlang, bis auf einen freien Platz, wo die zusammengeballte Masse in Klumpen zerfiel.

Unten, an der Mündung der Straße, hielt eine Reihe von Dragonern. Blaue Röcke ... Helme ... braune und schwarze Pferde ... ein weißes darunter. Längs der Häuser des Platzes klapperte eine Abteilung Reiter. Taktmäßig flogen die blauen Röcke aus den Sätteln hoch, die Karabiner baumelten quer über die Rücken.

Welche Folge von Szenen, ohne Zusammenhang. Es war wie im Kino, wenn man im Dunkeln saß und auf der Leinwand vorn Dinge vor sich gingen, die eigens für diesen Zweck erfunden waren.

Nur, daß man jetzt fort mußte ...

Wieder eine Straße mit johlenden Menschen. Ein schwarzer Knäuel klebte an einem Haus. Da war eine Polizeiwachtstube, die man gestürmt hatte. Die Fenster waren zertrümmert, die Tür aus den Angeln gerissen, die Möbel lagen kurz und klein geschlagen auf der Straße.

Nun war ein Trupp von Deutschen da, als freiwillige Wache gegen die Vorstadtbanden. Es war aber nichts mehr zu bewachen als ein leerer Raum.

Weiter ...

Aus dem Dachbodenfenster eines niedrigen Hauses schleuderte ein altes Weib tschechische Schimpfworte auf die Vorübergehenden ...

Nun ... wieder ein Polizeikordon ... niemand durfte hindurch.

Gustav wies seine Legitimation als Ordner vor.

»Passiert!« sagte der Inspektor.

Da lag das Deutsche Haus, ein roter, massiger Bau inmitten der Anlagen. Aber es war, als sei ein wütender Sturm über Beete und Büsche gegangen. Hier hatte es einen Kampf gegeben.

An einer Straßenmündung Gebrüll. Gustav sah eine Doppelreihe von Wachleuten gegen eine anstürmende Menge gestemmt. Die ganze Straße war voll Menschen, ein Gewimmel, das an den Häusern hinaufquoll.

Ein paar Dragoner standen um etwas, das auf dem zertrampelten Rasen lag. Gustav trat hinzu ... ein Pferd, mit glattem, braunem, spiegelndem Fell lag da auf der Seite. Der eine Vorderfuß war gebrochen, aus der zerfetzten Haut, aus Klumpen geronnenen Blutes stach der weiße, splitterige Knochen.

»Sie haben die Drähte über die Straße gespannt,« sagte jemand neben Gustav, »das Pferd ist hin.«

Das Tier hob den Kopf, mit großen, feuchten, qualerfüllten Augen. Es wollte sich aufrichten und sank immer wieder zurück.

Einer der Dragoner hielt den Karabiner im Arm. Er sah den Offizier an. Der wandte sich ab und nickte. Der Dragoner setzte den Karabiner an die Schläfe des Pferdeschädels. Schnuppernd bewegte sich die weiche Schnauze.

Ein Knall ...

Drüben an der Straßenmündung antwortete ein Gebrüll.

»Jetzt werden sie sagen, wir haben geschossen,« sagte wieder der Jemand neben Gustav.

Das Pferd streckte sich mit schwer atmenden Flanken. Die Beine fuhren aus, das abgebrochene Stück wurde an einem Hautfetzen hin und her gezerrt. Ein Rieseln lief unter dem glänzenden Fell dahin, ein Muskel über der Schulter schwoll auf einmal fausthoch an. Dann war es, als würde dies alles weggewischt ... die Lefzen zogen sich von den gelben Zähnen zurück, langsam quoll eine rosafarbene Zunge vor ...

Da fegte es aus der Straßenmündung über den Platz daher.

Wirbel von Menschen voran, dann die breite brüllende Masse ... Wachleute ohne Helm, mit blutigen Gesichtern.

Unter der Säulenhalle des Deutschen Hauses war auf einmal ein blanker Stachelzaun von Bajonetten ... eine gelbe Feldbinde ...

Und dann waren um Gustav nichts als Gesichter und Fäuste.

Wieder hatte ihn ein unwiderstehlicher Strom erfaßt und trug ihn durch eine von Getöse erfüllte Dunkelheit. Die Arme waren ihm an den Leib gepreßt. Sein Körper war wie mit Binden umwickelt.

Nun hörte die Bewegung auf, liste sich in ein Drängen und Drücken. Hoch über den Köpfen der Masse ein dreieckiger Giebel mit Figuren. Ein steinernes Viergespann im blauen Sonntagshimmel ... das Theater ...

Jemand sprach über die Menge hin ... er stand irgendwo erhöht, Gustav streckte sich ... auf einem roten Automobil stand der Redner. Mit weit hinausgeschleuderten Armen riß er die zornigen, die empörten, die begeisterten Zurufe aus der Menge. Es schien, als werfe er sie sich in den weit aufgerissenen Mund, um sie bebend vor Gier zu verschlingen.

Und das war ... ja, das war jemand von weit hinten ... aus schon verdunkelten Zeiten ... das war dieser Doktor Posolda ... auf den man, wie sonderbar, einmal ein Attentat verübt hatte ... aber mit einer Höllenmaschine, Herrschaften, keineswegs mit einer Bombe.

Es wäre interessant gewesen zu hören, was er sprach ... was er sprach, denn es mußte doch irgendwie zu allen diesen Dingen passen, zu der zerstörten Wachtstube, zu dem erschossenen Pferd, zu den laufenden Menschen. Aber es war nichts zu verstehen ... die brüllten immer dazwischen ... riefen einander zu ... stachelten sich selbst zu gleißender Wut.

Die Köpfe bewegten sich hin und her, Gesichter kamen und schwanden. Bald war die ganze Menge von hellem Licht übergossen, dann lag sie in breitem Schatten. Man wußte nicht, kam das von ziehenden Wolken oder erzeugte die Menge die ungeheuere Anhäufung von Kräften, Licht und Schatten aus sich selbst?

Auf einmal trieb ein Gesicht daher. Ein junges, frisches Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart, einer klaren Stirn und kühnen Augen.

Ein Strampelrhythmus dröhnte in Gustavs Ohren, der kam aus einem Tanzsaal, und jetzt saß ein Mädel da, mit breitem Leib, mit Striemen im Gesicht und zerquetschten, angeschwollenen Fingern.

Der nicht ... der hätte jetzt nicht hier sein dürfen ... der nicht. Das war nicht gut ... Und es war, als werde eine Hemmung plötzlich gelöst. Ein Leben raste in unzähligen Bildern vorüber, von lichtem Überschwang zu vollkommener Düsterkeit ...

Etwas in Gustav dehnte sich aus, erfüllte ihn bis in die Fingerspitzen. Er war groß, angeschwollen wie ein Luftballon, ein Etwas mit weichen elastischen Wänden, die jedem Druck nachgaben und sich trotzdem ausdehnten. Und dabei hatte er unendlich lange Arme, die von einer unbändigen Kraft angespannt waren.

Ein Wort mit breiter Klinge blitzte vorüber – Assagai!, zerschnitt einen dünnen Faden, der bis jetzt noch etwas gehalten hatte.

Da war am Ende der langen Arme ein Hals, in den die Finger verkrampft waren ... Augen quollen vor, wurden trüb und glotzend, stumpf wie die Augen eines toten Fisches.

Und alles war in Gebrüll getaucht.

Hiebe trommelten auf Gustavs Kopf. Er sah einen riesenhaften, bloßgelegten Augapfel, groß wie eine Weltkugel. Einen opalschimmernden See, mit einem schwarzen Loch mitten im Spiegel, und ein rotes Netz blutgefüllter Adern zog sich über das Weiß des Augapfels wie rote Flußsysteme auf einem Globus, und alles war bis in die feinsten Verästelungen bis zum Bersten angefüllt ...

Langsam rollte der Augapfel ins Dunkel ...

*

Das alte Weiblein schlich den kahlen endlosen Gang entlang, an vielen weißgestrichenen Türen mit ovalen Nummernschildern vorbei. Da stand eine Wärterin in vierschrötiger Sauberkeit gerade vor der Türe von Nummer einundzwanzig.

Es war Besuchszeit, aber das Weiblein meinte, es sei besser zu fragen. Manche Menschen hatten es gern, etwas erlauben zu dürfen, was nicht verboten werden kann.

»Der Gruber? ... der Gustav Gruber ...?« fragte sie demütig, »ist er drinnen?«

Die Wärterin sah über einen hoch gebauten, von einer weißen Schürze umbauschten Busen auf das gebückte Weiblein. Ach ja, das war die Mutter! Noch einmal befragte sie die Trinkgeldhand. Aber da war nichts, nicht das leiseste Jucken der Handfläche. Da durfte sie sich keine Hoffnungen machen. Immerhin: es war die Mutter.

»Gehen S' rein,« sagte sie mürrisch und gnädig, »er is drin ...«

Gustav saß an dem langen Tisch in der Mitte des Krankensaales. An den Wänden standen diese schrecklichen eisernen Betten mit den schwarzen Tafeln am Kopfende. In einem lag ein Mensch mit nach oben verdrehten Augen und herabgeklapptem Unterkiefer und langsam atmender Brust.

Am Tisch saßen ein paar Männer in Leinenhosen und Leinenjacken. Die Hemden standen über der Brust offen, an den Füßen baumelten Pantoffeln. Drei von ihnen trumpften mit schmierigen Karten auf den gescheuerten Tisch. Gustav saß dabei und sah zu.

Er schaute auf, erblickte die Mutter und ging ihr entgegen. Sie sah ihn von unten an, in dieser letzten Zeit war sie noch kleiner geworden, nun glich ihre Haut ganz den Schalen gedörrter Birnen. Gustav zog sie zum offenen Fenster. Draußen strahlte der frühe Sommer. Bäume waren da, mit runden Kronen, und der Gärtner zerrte einen langen Gummischlauch über die Rasenflächen.

»Wie geht's dir?« fragte die Mutter besorgt.

Gustav sah sie an, ruhig und mit einem fernen Lächeln: »Gut, Mutter, ich komme schon aus dem Blauen und Grünen ins Gelbe. Das ist ein großer Fortschritt.«

Der Kopf Gustavs war stellenweise rasiert. Neben einer langen alten Narbe lagen viele neue kreuz und quer. Aber es war schon alles verheilt. Nur zwischen dem Ohr und den Schläfen saß noch eine braune Blutkruste.

»Und das Auge?«

Gustav wandte den Kopf ein wenig ab. Aber die Mutter hatte es schon gesehen, daß dieses linke Auge mit Blut gefüllt war und blicklos starrte.

»Gut,« sagte Gustav, »der Doktor meint, es wird sich geben – mit der Zeit.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Mutter, mach dir keine Sorgen! Es geht mir gut ... sehr gut!« Und auf einmal fügte er hinzu, wie gegen seinen Willen: »Ich bin ja sogar schon vernehmungsfähig.«

Was für ein Schrecknis aus dem Unbekannten war das wieder? Was für ein Wolfsgruben- und Fangeisenwort? Zitternd legte sie die Hand auf Gustavs Arm, ihre rauhen, aufgesprungenen Finger kratzten auf dem Leinen.

Hinten vollzog sich ein bedeutsames Kartenereignis. Jemand trumpfte mit harten Knöcheln seinen Sieg auf den Tisch.

Gustav war von diesem ratlosen, angstvollen Blick umfangen. Er sah sich scheu um. Nur einmal dieses graue Haar streicheln und den Arm um den gekrümmten Rücken legen. Neben den Kartenspielern saß ein ganz alter Mann, zahnlos und triefäugig. Er bewegte unaufhörlich den eingefallenen Mund und sah mit der brutalen Neugierde des Alters unverwandt herüber.

»Morgen werde ich entlassen!« sagte Gustav.

»Gustav ... was ist das ... vernehmungsfähig?«

»Na ... ja ... wegen der Untersuchung ... die Polizei war heute da ... sich erkundigen, wie das damals gewesen ist. Ein Protokoll, weißt du ... so Amtsgeschichten!«

Sieben Schwerter staken in der Mutterbrust. Ein Seufzer zerdehnte die armen Lungen. »Und jetzt wird es wieder so kommen wie damals.«

»Nein, Mutter ... nein, gewiß nicht. Diesmal ist es ja ganz anders. Das mußt du verstehen. Das sagt auch der Herr Morek. Er war schon wieder da. Vorgestern, gleich nachdem du weggegangen bist. Er hat mit dem Doktor Karplus gesprochen. Diesmal kann mir gar nichts geschehen. Da kannst du ganz ruhig sein.«

Die alte Frau fand, daß Gustav so seltsam gelassen war. Es war, als sei ein Druck von ihm genommen, sein Wesen war aufgeschlossen, als warte er auf etwas, das nun ganz sicher kommen mußte. Wie hier durch das offene Fenster die Luft herüberstrich, da wehte sie auch über einen zaghaften Keim von Hoffnung. Und dennoch saß irgendwo eine törichte Angst festgebissen, wie ein giftiges Insekt, das, ausgerissen, seinen Kopf zurückläßt, so daß die Wunde nicht heilen kann.

Leise strich die Hand über den Ärmel, leise tastete der Blick über Gustavs Gesicht.

Vielleicht wartete er nur auf jenes Wort, das bisher noch zwischen ihnen nicht gesprochen worden war.

»Weißt du, wer im Geschäft ist?«

»Wer?«

»Sie ... sie ist immer im Geschäft gewesen, wenn ich dich besucht habe. Ihre Eltern haben sie wieder aufgenommen. Aber sie ist fast den ganzen Tag bei mir.«

Gustav schloß die Augen und lehnte sich hart gegen den Stuhlrücken. Als ziehe er sich vor etwas zurück ... die alte Frau hastete weiter: »Sie wäre ja schon längst gekommen ... Gustav ... sie wäre gekommen. Aber sie hat nicht gewußt, wie ... was ... du ... sie schämt sich vor den Leuten ... aber sie wäre gekommen. Ich hätte dich schon längst fragen sollen.«

Da gingen wieder die Augen auf. Es war eine hinströmende Ruhe in ihnen. »Ja ... ja ... sie soll nur kommen, Mutter.«

»Morgen, Gustav, wenn du morgen entlassen wirst ... wir wollen dich abholen, Gustav ...«

»Ja ... ja ... morgen!«

Dann hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Saßen nur in schweigsamem Nebeneinander, in dem manchmal ein beklommenes Atmen war und manchmal ein matter Schein, wie von einem Licht in einem milchigen Kristall.

... Bis die Besuchszeit zu Ende war.

*

Der Sonntagmorgen kam mit Gloria und Glocken und Ansturm aller Lebensmächte. Gleich in aller Herrgottsfrühe marschierte schon der Veteranenverein vorüber, mit wehenden Federbüschen und frischgewaschenen Fäustlingen und weißen Festjungfrauen. Das allgemeine Krankenhaus war heute so wenig furchteinflößend, daß der Tambourmajor gar nicht an Not und Schmerz und Krankheit dachte und gerade vor dem Portal den Regentenstab in die Höhe stieß. Worauf denn eine kriegerische Musik losbrach, die war wie das Vorspiel zum jüngsten Gericht und zur Auferweckung der Toten, daß sogar an der Hinterfront des Krankenhauses die Fenster zitterten.

Als ein übermütiger Junge stand der Tag draußen im Garten und warf Hände voll blitzenden, sprühenden, spritzenden Sonnengoldes in die Krankensäle.

Unbändig viel Unvernunft war auf der Welt, allergoldenste Unvernunft. Oben auf weißen Wolken balgte sich eine ganze Bande von geflügelten Lausbuben und schmiß einander mit Wohlanständigkeiten und Würdigkeiten, die heute da unten nicht gebraucht werden konnten. Unten in den Straßen gingen die kleinen Mädels mit funkelnden Augen und wedelten mit den lichten Röcken, als sei die Welt nur dazu da, sie zu bewundern.

Die Wärterin, das Gefäß wohlgestärkter Sauberkeit, brachte Gustav seinen Anzug, denselben, in dem er eingeliefert worden war. Sie hatte alle Risse geflickt und alle Flecke ausgeputzt. Obzwar sie ganz genau wußte, daß sie kein Trinkgeld erhalten werde, war sie dennoch voller Gefälligkeit und sogar zum Witzemachen aufgelegt.

»So, da haben S',« sagte sie, »ziagn S' wieder Ihnern alten Menschen an.«

Als Gustav angekleidet war, betrachtete sie ihn mit Wohlgefallen. »Ganz fesch schauen S' aus,« sagte sie, »bis erst die Haar nachg'wachsen sein ... Jetzt haben S' noch an Kopf wie a schäbige Katz.« Dann trat sie ganz nahe hinzu und war zugleich Herablassung und Vertrauen: »Wissen S', man muß sich ja freuen, wann amal a Deutscher krank wird. Jahraus, jahrein, beinah nix wie lauter Böhm und lauter Böhm.«

Gustav dankte mit einem Kopfnicken und fuhr in alle Laschen. Alles war da. Das Messer und der Schlüsselbund und das Notizbuch und ein kleines Fläschchen in der Westentasche.

»Was haben S' denn da?« fragte die Wärterin neugierig.

»Zahntropfen!« sagte Gustav.

»Aber der Herr Primarius kommt heut erst um a zehn Uhr zur Visit. Früher dürfen S' net weg. Er muß Ihnen als gesund öntlassen!«

»Ich gehe einstweilen in den Garten ... um zehn Uhr komm ich hinauf.«

Mit dem freundlichen Lächeln eines Dankbaren und Genesenden nahm Gustav ein Stück Zucker, das er vom Frühstück aufgespart hatte, und steckte es zu dem Fläschchen in die Tasche. Da waren nun Süße und die Bitterkeit des Todes nahe beisammen.

Dann ging er hinaus in den Garten und den strahlenden Morgen. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen, und manchmal sprang so ein rundes, kleines Ding unter seinen Sohlen hervor und hüpfte in kurzem Bogen ins Gras, als sei der Übermut dieses Tages selbst im Stein lebendig.

Wie hatte die Mutter gesagt? Und jetzt würde es wieder so kommen wie damals.

Die Blätter der Bäume und Büsche trugen funkelnden Brillantenschmuck an den Rändern, feuchte Kühle wehte über die Grasflächen und manchmal zackte der Schatten einer Taube über den Weg und ein Flügelknattern stand in der Luft.

Und jetzt würde es wieder so kommen wie damals.

Wie Samt und Seide war die Luft, wie atmender Samt und in Duft aufgelöste Seide, und leicht und lind und lieblich plätscherte das Wasser des Lebens.

Und jetzt wird alles wieder so kommen wie damals.

Es waren Genesende auf allen Wegen. Sie gingen vorsichtig, mit staunenden Augen, in Segen und Gnade eingehüllt und voll Dankbarkeit und freudigen Willens. Einige waren da, die noch in Rollstühlen gefahren werden mußten. Die sahen nach links und rechts hinaus und waren denen, die schon gehen konnten, gar nicht neidisch. Als wüßten sie, daß Neid selbst eine Krankheit ist, vor der man sich hüten muß, wenn man gesund werden will.

Gustav ging um den Brunnen herum, in dem der sonntägliche Wasserstrahl tanzte. Ein paar Spatzen saßen am Brunnenrand, dicke, flügelschlagende Federbällchen, die Wasser über sich hinspritzten.

Und jetzt wird alles wieder so kommen wie damals.

Plötzlich war der Herr Zemann da. Das war der andere Deutsche vom Saal Nummer einundzwanzig. Er reichte Gustav die Hand: »Also heute verlassen Sie uns ... jetzt bin ich wieder der einzige Vertreter der deutschen Nation.«

»Ja ...«

Herrn Zemanns gutmütiges, noch etwas hageres Gesicht wandte sich ab: »Aber bitter ... bitter ist das. Daß Sie gleich aus dem Spital ins Untersuchungsgefängnis sollen ... an einem solchen Tag.«

Gustav sah den badenden Spatzen zu. Er zuckte die Achseln. Er bereute, daß er in der ersten Bestürzung, unter dem Eindruck der Vernehmungsfolter, Herrn Zemann alles erzählt hatte.

»Ja ... ist denn das wahr, daß Sie das wirklich gerufen haben? ... Sie müßten es doch wissen. Das ist das Arge an der Sache! ... Die Rauferei, mein Gott ... das allein hat ja nichts zu sagen. Dieser Ingenieur Vozihnoi ist doch sicher schon längst gesund.«

»Es ist erfunden,« sagte Gustav, »vollkommen erfunden. Aber es sind Zeugen da, die wissen es besser.«

»Ja ... und Ihnen glaubt man nicht. Sie sind halt schon ein politischer Verbrecher. Ja ... ja, schön schauen wir aus, mein Lieber, wir Deutschen, überall. Wenn wir zum Beispiel nicht unseren Primarius hätten, der ein Deutscher ist. Ich glaub', die Herren Sekundärärzte sähen uns lieber mit den Füßen voraus aus dem Krankenhaus kommen.«

Und nun begann sich Herr Zemann über kleinliche Drangsalierungen und Vernachlässigungen zu beklagen, die er erlitten zu haben glaubte. Wenn man von diesen Dingen sprach, so verblaßte der strahlende Morgen und verlor seine Macht.

»Entschuldigen Sie,« sagte Gustav, »ich möchte noch ein bißchen spazierengehen.«

Er ließ Herrn Zemann stehen und ging weiter, auf dem knirschenden Kies, zwischen juwelengeschmückten Büschen.

Ja ... und nun würde alles so kommen wie damals.

Auf einer Bank saß der alte Mann mit den Triefaugen und den unaufhörlich mahlenden zahnlosen Unterkiefern. Als Gustav an ihm vorüberging, sah er, daß der Morgen auch diesem klappernden Skelett Kraft in die Seele gegossen hatte, und daß es stark genug war, ihm den Haß seines Volkes aus triefenden, rotumrandeten Augen ins Gesicht zu werfen.

... Alles wie damals. Untersuchung. Und Verhandlung. Und dann Gefängnis, irgendwo, wo man einen wieder zur Erbärmlichkeit herunterwürgte. Wo man die Seele brach und Kraft und Mut und Stolz mit glühenden Eisen ausbrannte. Nur daß er diesmal ohne Hoffnung war, ohne Schlüssel zu einer Zukunft. Was hatte er gerufen? »Nieder mit Österreich! Hoch Deutschland!« Das war Hochverrat, glatter Hochverrat, der Polizeikommissär hatte ihm keinen Zweifel gelassen. Es waren Zeugen da, die gehört hatten, daß er sich mit diesem Kampfruf auf den Feind gestürzt hatte. Und ihm glaubte man nicht. Denn er trug das Brandmal des politischen Verbrechers.

Eine Bank stand da, nahe der Gartenmauer, am Ende eines Weges. Hier war man allein. Von dem Sitz drang die Feuchtigkeit des Taues in den Körper. Ein Zweig streckte sich über die rechte Schulter, und manchmal fiel ein Tropfen auf Gustavs Hand, wenn der leise Wind über die Mauer sprang.

Man hatte ihm angekündigt, daß er am Tor des Krankenhauses von zwei Wachleuten erwartet werden würde, wenn er gesund entlassen war.

Hier war es schön und einsam.

Und nun würde alles kommen wie damals.

Die Mutter hatte gesagt, daß sie ihn um zehn Uhr abholen würde. Sie würde kommen, zitternd vor Freude, ihn wiederzuhaben.

Und sie ... sie wird kommen ... wird kommen.

Und in den drei letzten Wochen war es sicher bereits mit Steffi so weit, daß alle Welt es sah ... Und wenn dann doch eine Torheit in der Seele aufstand, ein so recht unvernünftiges Wünschen und Hoffen, daß alle Festigkeit von Entschlüssen sich löste ... und man etwas auf sich nahm, was man dann doch nicht ertragen konnte ...?

Hier aber war es schön und einsam.

Ein Zweig bog sich zitternd über Gustavs Schulter, mit feinen, gefiederten Blättchen, mit ganz kleinen Blütenkelchen dazwischen in Rosa und Grün. Gustav streckte eine sehnsüchtige Hand aus, nahm den Zweig an seine Lippen. Und küßte den Sommer und die Jugend und das törichte drangvolle Leben. Da schlug es von irgend einem Turm zehnmal in den Sonntagsmorgen hinein.

Gustav nahm das Fläschchen aus der Westentasche, entkorkte es und träufelte seinen Inhalt auf das Zuckerstück, daß es ganz getränkt war und die Flüssigkeit über seine Finger lief. Er nahm das Stück Zucker in den Mund. Es knirschte zergehend zwischen den Zähnen, ein starker Geschmack nach bitteren Mandeln erfüllte den ganzen Mund und schien sich rasch im Körper zu verbreiten, als schmecke er ihn auch mit dem Gehirn und dem Herzen.

Es war noch ein Rest der Flüssigkeit in dem Fläschchen. Den trank Gustav aus.

Und gleich darauf tat es einen starken Schlag auf sein Herz ...

Da war es, als werde das Sonnenlicht noch viel lichter und heller ...

Etwas wie eine Rauchsäule kam aus dem Boden hervor. Und war doch keine Rauchsäule, sondern ein Mann.

Ragend.

In einem blauen Mantel, bärtig, und eine wirre Locke hing unter dem Schlapphut über das Auge. Er trug einen Speer mit einer Spitze wie lodernde Flamme. Er reckte eine Hand gegen etwas, das ganz Ehrfurcht und Glück war.

Da strahlte eine Kraft in dieses schon Namenlose, so eine Kraft, wie noch nie zuvor erfühlt worden war ... und ein Sprechen drang ein: »Komm – du Gescheiterter!«

Hinter dem Großen, Ragenden war ein Glänzen. Alte, vergessene Worte wurden Bilder: Brünne und Helm. Auf dem Kiesweg stampfte ein Roß, ein Schimmel mit wehender Mähne, stampfte mit acht Füßen. Ein Weib hielt den Zügel, einen Helm mit Adlerflügeln trug sie auf dem Haupt und lachte mit rückwärtsgeworfenem, lustigem Antlitz ...

Und wieder war dieses Sprechen, das wie starkes Licht eindrang: »Es müssen viel Kräfte an Kleinem verderben ... ehe einmal ein Großes wird.«

Da trug der Mann keinen blauen Mantel, sondern Reiterstiefel und Küraß und stemmte die Fäuste auf den Griff eines Pallasch, der vor ihm wie ein Strahl in die Erde ging ... und war doch derselbe wie früher.

Das Namenlose vor ihm wollte den Arm heben ... da war dieser Arm ein grüner Zweig mit kleinen Blütenkelchen in Rosa und Gelb ...

Aber das war alles vielleicht schon das große Träumen ...

... Als Gustav Gruber nicht bei der Visite erschien, suchten sie ihn im Garten.

Sie fanden ihn vor einer einsamen Bank, mit dem Gesicht auf dem Boden. Seine Hand hielt einen kleinen Blütenzweig.

*

Es sollte ein ganz großes Begräbnis werden. Mit allen Vereinen und Fahnenwehen und Ehrengeleite und Reden am offenen Sarg, wie es sich für einen Märtyrer und Helden geziemte.

Aber die Polizei befürchtete Kundgebungen und verbot alles Gepränge.

So wurde Gustav Gruber ohne sonderliche Veranstaltungen zu Grabe geleitet. Sehr viele Menschen gingen mit. Allenthalben auf dem Wege glänzten Pickelhauben. Aber der Sarg war unter Kränzen und Blumen verschwunden, und alle Schleifen trugen die heiligen Farben: Schwarz-Rot-Gold.

* * *

 


 << zurück