Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es hatte den ganzen Tag geschneit.

Jetzt war das rechte Winterwetter da, daß man keinen Weg mehr sah, und der Wald sich unter Schnee bog. Die Bauern zogen die Schlitten aus dem Wagenschuppen und hingen kleine Glocken an das Pferdegeschirr, damit man morgen zur Kirchfahrt das richtige Geläut hätte.

Der Sonnenwirt von Hochdorf im Waldviertel fegte einen Weg von der Türschwelle durch den Vorgarten bis auf die Straße. Die Weiberleut' hatten keine Zeit, die waren in der Küche und beim Baumputzen. Als der Wirt fertig war, wischte er die Stirne, stellte den Besen in die Ecke neben der Türe und stand auf seiner Schwelle. Er sah aus wie die gute, alte Zeit, und das war die Besonderheit, die sein Wirtshaus vor den anderen Wirtshäusern ringsum auszeichnete. Die nobeln Leute mochten in die Hotels laufen; ihm waren die Touristen lieber, die hatten Hunger und Durst und freuten sich, wenn man »Grüaß Gott« sagte.

Es hatte aufgehört zu schneien, und im Westen schob sich unter die Schneewolken ein schmaler grellroter Streif. Morgen würde es angehen mit Rodeln und mit Skiern. Sie mochten kommen, die Speisekammer war voll mit hausgemachten Leber- und Blutwürsten und mit wacholdergewürztem Selchfleisch, von denen er gestern ein kleines Wäglein voll aus der Stadt gebracht hatte.

Er trat ins Haus zurück und ging durch die leere Gaststube ins Nebenzimmer, wo die Marie und die Mily den Baum putzten.

»Seid's fertig?«

Sie waren fertig. Der Wirt stieg auf einen Sessel und begann die Kerzen anzuzünden. Die Fratzen warteten nebenan und trommelten jeden Augenblick an die Türe. Jetzt wurde es still. Hochleitner wußte, jetzt lagen sie auf dem Bauch und versuchten durch den Spalt unter der Türe zu sehen. Zärtliche Vatergefühle, ganz ungewöhnliche Seelenbesuche, tanzten einen schwebenden Weihnachtsreigen auf Wolken von Duft gebackener Karpfen. Die kamen aus der Küche und zogen selig verklärt durch das ganze Haus. Ein durch Fasten sehr erlösungsbedürftig gestimmter Magen sang: »Hosianna in der Höhe.«

Und nun war das Warten zu Ende.

Die Mutter kam aus der Küche, krebsrot, mit umgeschlagener Schürze, deren Zipfel vorn im Bund steckte. Hinter ihr quoll es braun und blau, Schwarzfisch und Backfisch, Gewürznelken und Zimt und Anis, hundert Versprechungen in gasförmigem Zustand.

Jetzt klingelte der Vater mit der Glocke, die man der Bleß abgenommen hatte, als sie vom Fleischhauer geholt worden war. Und das Fratzenwerk stürmte das Geheimnis.

Und stand ...

Wie alle Jahre! Als ob man einen Himmelsvorhang beiseite gezogen hätte, damit man einen Blick in die ewige Seligkeit werfen könne. Der eine Baum hatte sich vervielfacht in all' den Augen ringsum. In den Augen der Marie und der Mily brannte er ebenso hell wie in denen der Kinder, obzwar sie achtzehn und neunzehn waren und den Baum selbst aufgeputzt hatten.

Dann durften die Geschenke angesehen werden. Der Weihnachtsengel beim Sonnenwirt war ein naher Verwandter von Sankt Praktikus und brachte nichts Überflüssiges. Da hatte alles seine Beziehung zum Bedarf des Tages und der Arbeit. Die Wintersachen, die man sonst ohnehin hätte kaufen müssen, lagen als Geschenke unter dem Baum. Marie und Mily kriegten jede Leinwand auf sechs Hemden und ein Dutzend Sacktücher für die Ausstattung.

Und dann begannen die Schüsseln ihre Wanderung aus der Küche ins Gastzimmer. Unter der großen Hängelampe war der Tisch gedeckt. Heute war kein Gast zu erwarten.

Der eiserne Ofen mitten in der Stube spie Feuer. Sein langer, rechtwinklig gebogener Arm reichte durch das ganze Zimmer. Manchmal, wenn das Feuer gar zu gierig in seinen Eingeweiden tobte, knackte es wild elementarisch in seinem rotglühenden Panzer.

Der Sonnenwirt bekam den Rogen aus der Fischsuppe und alle Kopfstücke. Er stach bedächtig die aufgequollenen Augen heraus und freute sich, daß der Trockenrahmen über dem Ofen leer war.

Aber da tat sich die Türe auf, und es kamen zwei Kerle herein, die sahen gerade so aus, als wären sie aus einer Weihnachtskrippe ausgekommen. Zwei Gesellen vom Felde, die die Botschaft vernommen haben, zwei Gesellen im realistischen Stil. Sie brachten Schneegeruch und frische Luft von den Feldern, über denen die Engel jubilierten. Aber sie suchten nicht den neugeborenen König der Juden, sondern Abendessen und Nachtquartier. Mit ihren rotgebeizten Gesichtern und den Winterröcken, in deren Falten Schnee lag, sahen sie eigentlich aus wie Einkrügelgäste. Beim Sonnenwirt war der Sweater und die kurze Hose die richtige Empfehlung, nicht der Stadtwinterrock.

Aber als sie dann aus den Röcken geschält waren, zeigte es sich, daß sie guter Behandlung würdig schienen. Wenigstens der eine von ihnen. Der Sonnenwirt erinnerte sich, daß er die gute, alte Zeit vertrat. Warum denn die Herren abseits säßen, sie könnten doch auch ganz gut am großen Tisch Platz nehmen und ein Stück Fisch mitessen. Der Sonnenwirt überschlug dabei mit genialischer Geschwindigkeit, daß er für ein Stück Fisch, bei diesen teueren Zeiten und am Familientisch genossen, ganz gut eine Krone sechzig Heller rechnen dürfe.

Der eine, der Untersetzte, mit dem Wimmerlgesicht, machte nicht viel Umstände. Etwas zögernd folgte der andere mit dem schwarzen Haarbüschel in der Stirne.

»Dös tut halt wohl, wann mr unter lauter Deutschen is,« sagte der Untersetzte, »da g'freut an das Leben erst.« Er sprach eine Mundart, deren Farbe noch nicht ganz trocken war. Man hätte nicht viel hintupfen dürfen.

Als die Tischgesellschaft staunte, daß er aus einer Gegend käme, wo es auch andere Menschen gab als Deutsche, begann er zu erzählen. Wildbewegte Geschichten von Mord und Todschlag, von Brand und Plünderung, von reitender Polizei und scharfen Schüssen. Es war, als lese man in einer alten Chronik von Trenckhusaren oder Pappenheimischen Reitern. Die Luft um den Erzähler gerann fast und stockte vor dem Wirbel seiner Worte, wie die Milch gerinnt, wenn man darin herumbuttert. Jede dieser Geschichten hatte einen Helden, und das war der Erzähler.

Wie Othello saß er da, nur nicht ganz so schwarz, und Mily war die Desdemona, nur nicht ganz so weiß und zärtlich.

Marie aber hatte es der schwarze Haarschopf des anderen jungen Mannes angetan, und wenn sie sich auch von den Abenteuern des Erzählers gepackt fühlte, so gingen ihre Blicke und ihre Neigung doch unaufhaltsam zu seinem Nachbarn.

Weit erstaunlicher noch als die Geschichten aus dem europäischen Hinterland war aber, daß der Erzähler nicht an einer Fischgräte erstickte. Denn er aß und sprach zu gleicher Zeit und angelte mit den Fingern die Gräten aus seinem Mund, mit derselben Behendigkeit, mit der er etwa bei einem Kampf sieben Ohrfeigen austeilte, bevor der Feind hatte einen Finger rühren können.

»Ja, davon wiss'n mir halt nix,« sagte der Wirt, niedergedrückt davon, daß Hochdorf so ganz abseits von der Welt lag, wo die großen Dinge geschahen.

Später, als der kriegerische Geist erschöpft war und alle Gemüter voll Blut und Ohrfeigen und Stockprügeln und dem Geklirr eingeschlagener Fenster, zog der Wirt das Grammophon hervor. Zuerst schnarchte ein berühmter Komiker einen humoristischen Vortrag aus dem Trichter. Da kam das Lachen als Balsam auf die Erschütterungen der Seelen.

Und dann kam die Musik.

Ein Walzer dudelte und krächzte um den rotglühenden Eisenofen und schlang seinen Rhythmus um den rechtwinklig abgebogenen schwarzen Eisenarm, um Tische und Bänke und Herzen.

Der Wimmerlothello sprang auf und zog Mily ins Gewoge.

Marie rückte dem schweigsamen jungen Mann näher, dem der schwarze Haarschopf in die Stirn hing.

»Sie tanzen nicht?« fragte sie.

Da stand der junge Mann auf, nahm das Mädel um die Hüften und tanzte wild und toll wie in einem Krampf, daß Marie der Atem ausging. Sie strömte ihre geheimsten Wünsche an seine Brust hin, sie war aufgelöst in bange Seligkeit. Dann saßen sie um den Tisch und tranken Unterretzbacher, der so hell und goldig war wie ein Kindergemüt, nur nicht ganz so harmlos.

Bis die Grammophonplatte wieder unter dem Stahlstift wirbelte und ein neuer Walzer aus dem Trichter stäubte.

Das war der Weihnachtsabend.

In der Nacht knarrte die Türe der Mädchenkammer. Der Sonnenwirt hörte es in halbem Schlaf. Aber er vertrat die gute, alte Zeit und die bäuerliche Einfalt und legte sich auf das andere Ohr ...

Als Standera und Gustav am Morgen eine halbe Stunde gewandert waren, wich der Wald links und rechts zurück und gab eine blaue und goldene und weiße Schneewelt frei, die von schwarzen, willkürlichen Ornamenten verziert war. Ganz unten auf dem Abhang, auf dessen Rand sich die Straße hinzog, krabbelte etwas auf langen Hölzern durch den Schnee.

Sie waren stehengeblieben und sahen hinaus.

Gustavs Lungen waren ganz von reiner Winterluft erfüllt. In seinen müden Augen lag großer Glanz, fast schmerzhaft. Er zog ein gläsernes Ding aus der Tasche hervor, das sah wie ein kleiner Stiefel aus. Die Sonne goß es mit klarem Gold aus. Dann schleuderte er es in weitem Bogen von sich. Es flog in schöner Kurve gegen den Himmel, als wolle es an der kleinen weißen Wolke da oben im Blau hängenbleiben. Dann sank es der Erde zu, von der es stammte, und verschwand weit unten im Schnee.

Gustav dachte: wer es wohl im Frühjahr finden wird? Ein Hirtenjunge ... oder ein kleines Mädel, das es nach Haus nimmt und auf seiner Kommode aufstellt ... unter einem Heiligenbild?

Standera überflog mit einem krummen Blick Gustavs Gesicht, und unter den Wimmerln lief ein Grinsen hin. Aber er sagte nichts.

*

Gegen Ende des Jahres kamen sie nach Kaiserbrunn.

Wien lag hinter ihnen, in dem es einen heftigen Streit gegeben hatte. Standera hatte nicht übel Lust gehabt, sich zu erholen und wenigstens einen von den tausend Bechern zu leeren, die das Leben hier schäumend entgegenhielt. Aber für Gustav war Wien eine Stadt, die erfüllt war von den Gespenstern der Erinnerungen. Er bestand darauf, den Weg ohne Aufenthalt fortzusetzen.

Standera mußte sich fügen, denn Gustav hatte das Geld. Aber er tat es nicht ohne Widerstand und erst nach einem mächtigen Schimpfen über die blödsinnige Fußhatscherei mitten im Winter.

Jetzt waren sie zwischen Schneeberg und Rax. Die hatten prunkvolle Mäntel aus Schnee übergeworfen, daß nur an einzelnen Stellen die nackten Abstürze hindurchsahen, und die Schleppen reichten bis ins Tal. Zwischen den Schleppenenden lag ein Häuflein von Häusern.

Standeras zorniger Mißmut war an diesem Tag wüst ins Kraut geschossen.

»Jetzt hab' ich's satt ... schau dir meine Stiefeln an. Da rinnt's rein und da raus. Meine Füße sind wie Eiszapfen. Es ist eine Schinderei. Wenn ich mit einem Schnupfen davonkomm', so ist es das reine Wunder.«

Es war richtig, Standeras Schuhe klafften wie lechzende Entenschnäbel. Gut, meinte Gustav, sie würden hier über Nacht bleiben und die Stiefel sofort zum Schuster schicken. Morgen würden sie fertig sein und sie könnten weiterwandern.

»Wie weit denn noch?« jammerte Standera.

Wie sie es verabredet hatten, bis Mürzzuschlag. Dort wollten sie dann in die Eisenbahn steigen und bis Triest fahren. Jetzt würde es ja erst recht schön, hier zwischen den Bergen. Morgen würden sie bei der Singerin sein und abends ...

»So ein Blödsinn,« schnaufte Standera, »es fällt ihnen gar nicht ein, uns zu verfolgen. Hast du etwas in den Zeitungen gelesen? Nicht ein Wort. Es ist aufgelegte Narretei ... so eine überspannte Vorsicht.«

Gustav gab keine Antwort. Sollte er dem Genossen sagen, daß er wandern wollte und wandern mußte, um am Abend todmüde zu sein und das Grauen der Nächte nicht fürchten zu müssen?

Sie stiegen hinter dem Stubenmädchen her, das schlank und schnell über die düsteren, noch nicht erhellten Treppen lief. Am Ende eines Ganges schloß das Mädchen eine Türe auf. Das Zimmer sah sie an, fremd und kalt und nüchtern. Verdrossen und grau sank der Tag vor dem Hoffenster.

»Brauchen Sie etwas?« fragte das Mädchen aus kalter Dämmerung.

»Waschwasser, bitte,« sagte Gustav.

Sie stand einen Augenblick, wie horchend, als sei ihr etwas Seltsames befohlen worden. Dann schritt sie zum Waschtisch, nahm den Krug und ging hinaus.

»Du ... die ist fesch,« sagte Standera, »soviel man in der Finsternis sehen kann.« Er saß auf dem Bettrand und zwängte ächzend die Schuhe von den Füßen. »Geh', zünd' die Kerze an, damit man was sieht, wenn sie kommt.«

Die Kerze fraß ein kreisrundes Loch in die Dunkelheit, von dessen Rand ein gelbrötliches Flimmern über die Schatten bis in die Ecken lief. Dort krabbelte es noch wie feinste, goldene Pinselhärchen am Ufer der absoluten Finsternis.

Gustav trug das Licht in Händen und wollte es eben auf den Waschtisch setzen, als das Mädchen mit dem Waschwasser kam. Sie neigte den Krug über die Schüssel, das Wasser rann in breitem Bogen aus dem Schnabel. Eine Menge von Licht schwamm auf diesem Bogen mit.

Gustav hob die Kerze. »Sofka!« sagte er, das klang wie ein Streichen von rauhen Händen über Seide, rissig und weich zugleich.

Sie neigte den Krug zurück, daß der Wasserbogen brach, und hob langsam den Kopf. Langsam sank auch der Arm mit der emporgehobenen Kerze. In diesem Augenblick waren die Lippen der beiden Menschen nur um einer kleinen Regung Breite voneinander entfernt. Diese Stunde war ein Tor, das hatte Gustav gefühlt, als er in das Zimmer trat. Wohin führte das Tor dieser Stunde?

Standera war plötzlich da, aus Vergessenem emporgewachsen. Mit einem nassen, klaffenden Stiefel in der Hand stand er da und starrte dem Mädchen ins Gesicht.

»Meiner G'selcht's,« sagte er, »das Fräulein Sofka aus Pankrazien! Ah – da legst dich nieder.«

Sie wandte sich langsam und schwer zu ihm: »Ja – sehen Sie, was man nicht alles erlebt, nicht wahr?« Das waren ganz unbelebte Worte, aus einem Vorrat wahllos herausgegriffen.

Standera zog den schuhlosen Fuß in die Höhe. In seinen durchnäßten Strümpfen fror es ihn auf dem kalten Boden. Durch die abstehenden Ohren schimmerte das Licht der Kerze auf dem Waschtisch. In seiner grobschlächtigen Seele war keine Ahnung davon, daß er sich hier keineswegs auf der Höhe befand.

»Ja, Sie müssen uns erzählen ... alles,« sagte er mit schleimiger Begeisterung, »wir werden Sie verstehen. Wissen Sie, wir sind nämlich Globetrotter.«

Irgendwo, weit hinten im Weltall, klingelte es unangenehm schrill.

»Entschuldigen Sie,« sagte das Mädchen und schickte sich an zu gehen.

»Aber Sie kommen nachher hinunter, wenn Sie hier fertig sind. Wir warten auf Sie. Werden Sie kommen?«

»Ja,« sagte Sofka, nahm den Blick zurück, der mit dem Gustavs verschränkt gewesen war und ging.

»Das is ein Mädel, Sapperment,« staunte Standera hinter ihr drein. »So ... was ... so ein Mädel.« Er konnte sich nicht beruhigen, fand den Zufall äußerst freundlich und meinte, es sei dem Mädel immer schon anzusehen gewesen, daß sie einmal durchgehen werde. Sie habe so etwas in ihrem Wesen gehabt ... so etwas Merkwürdiges ... aber er hätte nicht gedacht, daß er sie einmal als Stubenmädel finden würde. Dazwischen ächzte er vor Anstrengung, balgte sich mit dem zweiten Stiefel, und als er ihn endlich abgezogen hatte, schleuderte er ihn mit einem mit Türken und Kruzinesern gespickten Donnerwetter von sich.

Dann wurde der Hausknecht gerufen. Er übernahm die Stiefel und gab an Standera einstweilen ein Paar Schlapfen mit herabgetretenen Fersen ab.

»Wir müssen in die Schwemme gehen,« sagte Gustav, als sie unten im Hausflur standen, unschlüssig, ob sie sich nach links oder nach rechts wenden sollten.

Standera begriff, Sofka würde ins Extrazimmer nicht kommen können. Dort war alles Glanz und Gloria und weißgedeckte Herrlichkeit.

Auf der anderen Seite des Flures war der Bereich der grün gestrichenen Tische.

In einer Ecke saßen zwei Holzknechte und ein Heger.

Gustav und Standera setzten sich einander gegenüber, und der Platz zwischen ihnen, an der Schmalseite des Tisches, war für Sofka aufgehoben.

Standera rührte im trüben Brei seiner Pankrazer Erinnerungen. Er sprach von seinem Aufenthalt wie von einer hohen Schule des Lebens.

»Hast du damals wirklich nichts mit der Sofka gehabt?« fragte er.

»Nein!«

»Hast also keine Ansprüche auf sie?« drang Standera weiter vor. Ein krummer Blick klebte einen Moment auf Gustavs Gesicht. Gustav merkte, daß Standera der Hochdorfer Erfolg zu Kopf gestiegen war. Er wußte zuerst nicht, was er sagen sollte. Endlich zuckte er die Achseln: was für Ansprüche sollte er haben?

Nun saß Standera freudiger Erwartung voll bis zum Rand. Aber diese Erwartung wurde immer dünner und durchscheinender, je weiter der Stundenzeiger auf dem Zifferblatt der Schwarzwälder Uhr rückte.

Sofka kam nicht. Nur einmal, als die Türe aufging, war es wie ein flüchtiges Wehen eines Kleides draußen auf dem Flur. Die Zeit drang mit festen Schritten in die Nacht hinein.

Die beiden Holzknechte erhoben sich und gingen. Der Heger begann ein bierschweres Gespräch über drei Tische hinüber, mit woher und wohin und Betrachtungen über diesen und die vergangenen Winter, über Wildschäden und Touristenunfug, der Heger war einer von denen, die sich freuten, wenn sich jemand in den Looswänden den Hals brach.

Zuletzt aber wurde es auch ihm zu spät, und er tappte zur Tür hinaus.

Standera saß zusammengesunken und mürrisch. Die Erwartung war in Müdigkeit aufgelöst und seine Sinne schwammen haltlos. Ganz kleine, rotgeränderte Augen zwinkerten machtlos.

»Die Gans, die blöde,« sagte er, »was glaubt denn die von uns!«

Und nach einer Weile: »Gehen wir! Sie kommt ja nicht.«

»Geh' nur,« sagte Gustav, »ich möchte nur meiner Mutter einen Brief schreiben. Dann komm ich auch.«

Jetzt war es Standera, als sollte er vielleicht doch noch warten. Aber Gustav weckte den schlafenden Kellner und bat um Briefpapier und Feder.

Als Gustav zu schreiben begann, brummte Standera etwas, erhob sich und schlappte hinaus.

Nun ging die Feder langsam knirschend über das Papier. Das Ticken der Uhr war wie an Gustavs rechter Schulter. Es waren leere Worte, die sich da reihten, eines zog das andere wie an Händen aus dem Dunkel, aber sie hatten alle geschlossene Augen und blasse Stirnen.

Die Türe hinter Gustavs Rücken ging, Flurkälte wehte heran.

Jemand fragte: »Wem schreiben Sie da?«

Gustav sah über die Schulter in Sofkas Gesicht: »Meiner Mutter!«

Sie saß schwer auf den Platz nieder, der ihr bestimmt gewesen war. Legte die Arme weit über den Tisch und faltete die Finger ineinander.

»Warum kommen Sie so spät?« fragte er.

»Ich habe gewartet, bis der andere fort ist.«

Gustav schob den Briefbogen von sich. Die Feder rollte über den Tisch, bis vor Sofkas Finger. Sie besah sie, wie ein merkwürdiges Ding, von dem viel abhängt.

Fragen strömten ineinander, unausgesprochene Fragen. Sie stiegen wie Luftblasen aus dunkeln Gründen, und wenn sie an der Oberfläche angelangt waren, so zergingen sie ins Wesenlose. Aber noch standen ihre Schemen ringsum und starrten. Endlich begann Gustav zu sprechen. Daß Hükkel gestorben sei ... Er wunderte sich, daß er gerade damit begann. Und auf einmal fragte er doch: wie denn das gekommen sei?

Da war es, als wehrte Sofia mit verbissenem Trotz etwas von sich; nicht anders, als es eben immer zu kommen pflege! »Man läuft in die Welt hinein und glaubt, sie warten schon auf einen. Hinter jeder Ecke steht eine Tür und oben darauf ›Willkommen‹, und wenn man zu jemand kommt: ›ich bin die und die und empfehle mich gehorsamst zu Ihren Diensten‹, dann sagt er: ›Gott sei Dank und Sie kommen wie gerufen. Setzen Sie sich und fangen Sie nur gleich an!‹ Nein – mein Lieber. Es gibt zu viel Menschen auf der Welt. Und was ich kann, das können tausend andere auch. Da muß man nehmen, was kommt ... denn schließlich: man will leben.«

Sie sah Gustav an, feindselig, zornerfüllt, als trage er irgendwie die Schuld an alledem. Er wollte sagen, daß es doch nicht anders geworden wäre, wenn er ihr nachgegeben hätte. Im Gegenteil, noch viel schlimmer –

Da war aber auch schon der Grimm aus Sofkas Gesicht geglitten, und ihre verkrampften Finger lösten sich. Der Blick ihrer Augen war eine Bitte, es war, als lege sie einen weichen Mantel um sich und um Gustav zu gemeinsamer Umhüllung. Sie waren ganz enge beisammen.

Hinten im Haus rumorte es.

Der Kellner im Eck tat einen jähen Schnarcher, der plötzlich abbrach. Sie sahen sich um. Er saß da, ganz willenlos in Schlaf gelöst; der Kopf war auf die Brust gesunken, über der sich das fleckige Hemd bauschte, eine Hand lag auf der Tischplatte, die andere hing zwischen den weit geöffneten Knien herab. Die gekrümmten Finger auf dem Tisch zuckten in seltsamen Reflexen.

»Mein Gott, wie spät es geworden ist,« sagte Sofka. »Und Sie ...?« fragte sie nach einer Weile.

Gustav suchte in der Wirrnis. Und er? Nun – er habe Arbeit gefunden. Aber es habe ihn daheim nicht gelitten. Und nun habe er einen Posten in Graz bekommen ... ja, in Graz.

»Und dieser Mensch, mit dem Sie da sind ... ist das Ihr Freund?«

»Nein,« sagte Gustav hastig, »er wandert nur mit mir ... ein Stück ... er geht nach Cilli ... die Feiertage über ... mit dem neuen Jahr treten wir ein.«

Sofka erhob sich langsam. Sie müßte morgen bald aufstehen und sie sei müde. Aber in ihren Augen war ein Flackern.

Sie nahm eine Kerze aus der Küche und leuchtete die Stiegen hinan. Auf jeder Stufe drehten sich die Schatten seltsam um sie her. An ihren Füßen festgewachsen, strebten sie von ihnen fort zu grotesken Tänzen und Verschlingungen.

Vor einer schmalen Türe machte Sofka Halt.

»Hier schlafe ich!« sagte sie.

Beider Atem ging schnell. In Sofkas Augen war dieses Flackern, das sprühende Funken auszusenden schien. Die Finger ihrer Hand, die leicht in der Gustavs lag, bewegten sich.

In ihm war etwas Spitzes, Bohrendes. Es brach sich schmerzlich Bahn. »Sofka ... ich weiß ... Sie haben Unglück gehabt ... es ist Ihnen gegangen wie jedem armen Mädel ...« Was wollte er nur? Um Himmelswillen, was wollte er nur? ... Warum sagte er das nur?

Die Finger aus seiner Hand waren fort. Sofka stand vor ihm und hob die Kerze hoch. Das Licht floß über ihren Arm, über ihre Schultern, über ihr Gesicht. Nur Augen und Mund lagen im Schatten. Ganz starr war dieses Gesicht im fließenden Licht. Gustav wußte nicht, ob es Haß deckte oder vernichtende Trauer.

»Ja ... so!« sagte sie langsam, wandte sich und ging durch die schmale Türe. Ein Riegel schnappte.

Gustav stand im Finstern, mit geballten Fäusten ... in Scham und Reue.

*

Schuster lassen sich immer mehr Zeit als andere Menschen. Die Schusterei ist ein besinnliches Handwerk, und gute Sohlen wollen sorgsam genagelt sein. Einem Vergolder kann man davonlaufen, und bei einem Buchbinder hat es keine Eile. Aber wer sein einziges Paar Schuhe einem Schuster gibt, der ist ihm ausgeliefert und muß warten, und wenn er es noch so eilig hat.

So tiefsinnig diese Betrachtungen auch waren, so vermochten sie Standera doch nicht die richtige philosophische Beschaulichkeit zu vermitteln. Er saß mißmutig in einer Ecke des Gastzimmers, als scheckige Zuwiderwurzen, und besah sich die illustrierten Unglücksfälle in den Wiener Blättern. Es war ihm trotz mehrerer Viertel Wein nicht sehr behaglich in seiner Haut. Nun hätte man sich hier von der Fußhatscherei ein wenig erholen können, wenn diese verdammte Unruhe nicht gewesen wäre. Wurden sie etwa verfolgt? Nein, gewiß nicht; Herr Morek, der edle Germanenfürst, hatte geschwiegen. Stand ihm vielleicht etwas bevor? Nichts als ein blödsinniger Umweg über verschneite Straßen.

Also was war es dann, dieses Trommeln und Zerren und Prickeln in den Nervenenden und dieses Gehopse in den Adern?

Am Nebentisch saß Gustav und schrieb an seinem Brief, den er gestern nicht fertiggekriegt hatte. Standera schaute bisweilen von einer illustrierten Mordtat auf und schnellte einen Blick nach dem Genossen. Er geriet immer mehr in Wut, als sei Gustav irgendwie für diese Verzögerung verantwortlich.

Ein paar Skiläufer fielen in das Gasthaus ein und klapperten im Flur mit den Hölzern. Dann kamen sie ins Extrazimmer, laut und prahlerisch, als hätten sie soeben den ganzen Winter gekauft. Nun saßen sie, ein Frauenzimmer in Hosen zwischen sich, mit gerunzelten Stirnen über den Frühstückskarten.

Standera schielte gehässig aus seiner Ecke hervor. Ja, Herrschaften, heute saß man auch im Extrazimmer für Nobelgäste. Heute wartete man nicht mehr auf ein Stubenmädchen, auf eine dumme Gans, die nicht kam. Man war kein armer Hund, der in der Schwemme sitzen mußte, wenn er auch nicht wollte.

Plötzlich fiel Standera etwas ein. Wie wäre es, wenn sich Gustav bewegen ließe, das Geld zu teilen? Standera sehnte sich nach dem Selbstgefühl einer wohlversehenen Brusttasche. Und dann diese Wonne, beim nächsten Streit zu erklären: dort ist dein Weg und hier ist der meine.

Er stand auf und trat vor die große Wandkarte des Semmeringgebietes. Mein Gott, was für ein blödsinniger Umweg das war, den Gustav da wieder eingeschlagen hatte. Wahrhaftig, mit der Kirche ums Kreuz. Schon der Umweg über das Waldviertel war so ein Unsinn gewesen. Als ob Gustav eine Angst vor geraden Linien hätte und nur in Kurven vorwärts kommen wollte.

Standera trat auf den Flur hinaus und ließ sich kalt anwehen. Von dieser Sofka war keine Spur. In einer Ecke standen die Skier. Standera nahm einen von ihnen und bastelte an den Riemen und Schrauben und lächelte höhnisch dazu.

Einer der Skiläufer trat in die Türe, ein breitschulteriger Mensch in blauem Wollhemd. »Sie, lassen S' die Bretteln stehn,« schnauzte er.

Standera fletschte die Zähne. Hinspringen und dem Kerl mit der Faust ins Gesicht schlagen! »Na ... na ... es wird nicht weniger werden!«

Aber er trat den Rückzug an und stellte das lange Holz wieder an seinen Platz. Dieser Mensch war von demselben Kaliber wie Gustav, es war dieselbe hochnäsige, eingebildete Art, die einem die Hände zu Fäusten krampfte.

Gegen Mittag endlich brachte der Schuster die Stiefel.

Sie waren genagelt wie für die Ewigkeit, und jeder von ihnen war um ein Kilo schwerer geworden.

Nach dem Mittagessen brachen Gustav und Standera auf.

Gustav stand unschlüssig im Flur, sah nach rechts und links.

»Na, komm' nur,« sagte Standera, »die ist andere Kavaliere gewöhnt.«

Im Vorübergehen warf Gustav seinen Brief in den Postkasten neben der Türe.

Dann schritten sie zwischen den Schleppenenden der Schneemäntel der Berge. Neben der Straße stieß die Schwarza tiefschwarzes Wasser gegen Felsblöcke und Eiskrusten. Es war ein mühsames Gehen, denn mit dem sinkenden Tag kam wieder neuer Schnee. Still und sanft und unerbittlich. Es war wärmer geworden, und an den Stiefelsohlen ballte sich der Schnee zu festen Buckeln.

Standera fluchte alle Viertelstunde seinen Ingrimm herunter. Gustav stapfte stumm, und wenn Standera nach ihm hinsah, dann war es ihm, als sei hinter diesen unbewegten Mienen ein heftiges Arbeiten von Gedanken.

Nicht weit vom Weichtalwirtshaus kamen ihnen zwei Holzknechte entgegen, von denen erhandelten sie zwei derbe Stecken.

»Schaut's, daß zur Singerin kimmt's, 's macht no mehra Schnee!« gab der eine einen guten Rat auf den Handel darauf.

Felsen und Schnee und ächzende Bäume links und rechts und die Straße ganz verzagt dazwischen. Die Schwarza schien in große Tiefen gesunken. Schluchten klafften, und eisiger Hauch der Höhen kam mit den stürzenden Wassern. Und immer wieder neue Windungen der Straße.

Plötzlich blieb Gustav stehen. Standera tat noch drei Schritte, dann wandte er sich um. »Na,« sagte er wütend. Der Schweiß lief ihm über den ganzen Körper.

Gustav stand da. Klein und unwichtig inmitten einer Welt, die der Winter den Urzuständen zurückgegeben hatte. Halb in die Dämmerung gehüllt, die zwischen den Schneeflocken sank. Die Schultern, die Falten der Ärmel, der Hut waren mit Schneepelzen besetzt.

»Nein ...« murmelte er, »es geht nicht. Es ist aus. Wozu soll ich mich quälen? Ich muß zurück.«

In diesem Augenblick, da Gustavs fester Wille gebrochen schien, hielt sich aber auch Standera nicht länger. Die helle Wut brach aus: »Na also – jetzt kommst du auch darauf. Seit drei Tagen predige ich das. So ein wahnsinniger Einfall ... jetzt haben wir eine Menge Zeit versäumt. Wir könnten schon längst in Triest sein. Keine Katz kümmert sich um uns.«

Gustav bewegte den Kopf hin und her, es war eher ein Drehen als ein Schütteln: »Nein ... nicht nach Triest ... nach Haus!«

Wo war denn da ein Stampfwerk plötzlich mitten in der Winterwildnis von Felsen und Schnee? Ein Stampfwerk und eine surrende Kreissäge? »Was,« fragte Standera in das Getöse, »was denn? Nach Haus ... nach Haus?«

»Ja!«

Gustavs Gestalt sah aus wie zerfressen. Der Schnee auf Hut und Schultern und Ärmeln hatte seine Umrisse in den Hintergrund von Weiß gewischt.

»Gewissensbisse?«

Keine Antwort. »Der verlorene Sohn! Der reuige Sünder ... du Schlappschwanz! Schlappschwanz!« Und Standera stürzte vor, mit gehobenem Stock.

Da sah er es, daß der andere ganz zusammengeballte Kraft war. Nicht schwächliche Reue, sondern eisenharter Entschluß, Urgestein des Willens.

Der Stock sank. »Alles soll umsonst gewesen sein? Und ich ... und ich?«

»Du kannst tun, was du willst!«

»Kann ich das ... ohne Heller! Du hast mich ja nur so mitbaumeln lassen. Und wer hat den Gedanken gehabt?« Und auf einmal verschwand der ganze Zorn wie in einem Trichter, nur noch die Angst war da: »Du ... Gustav! Gib mir Geld ... ein paar hundert Kronen ... ich verschwind' ... du kannst nach Hause zurück ...«

»Was noch da ist, bring ich zurück.«

»Was macht's dem Morek aus, wieviel du ihm zurückbringst.«

»Nur noch so viel darf ich nehmen, daß ich zurück kann.«

»Komm nur noch bis Mürzzuschlag und zahl' mir die Fahrt nach Triest, dann schlag' ich mich schon durch.«

»Hier auf der Stelle kehr' ich um.«

»Gustav! Das ist ein Wahnsinn ... es ist ja schon stockfinster ... wir müssen schauen, daß wir zur Singerin kommen.«

»Ich kehr' um!«

»Hast gehört, was der Holzknecht gesagt hat?«

»Ich geh' nicht einen Schritt weiter!«

»Dickschädel, verdammter ...« Es war ein vergebliches Wüten. Standera wurde es schwarz vor den Augen. Als der Blick wieder klarer war, sah er den Platz, wo Gustav gestanden hatte, leer. Weiter hinten im Schnee bewegte sich etwas, ein Knäuel Dunkelheit auf dem grauen Grund, und die Nacht der Felsenenge schob sich ihm entgegen.

Da beeilte sich Standera, Gustav nachzukommen. Ein Brüllen stak tief unten in seiner Brust, das quoll ihm in die Kehle, er hörte es wie ein fernes Getöse unter seiner Schädeldecke. Dieser Hund! Dieser Hund! Er wäre imstande gewesen, ihn hier in der Nacht stehenzulassen – ohne einen Heller Geld.

Anderthalb Schritte hinter Gustav stolperte und glitt Standera drein. Sie gingen im Schneelicht, das wie Dampf um sie ausgegossen war. Manchmal sprangen Felszacken vor, denen man erst im letzten Augenblick auswich. Dann stieß man gegen ein Geländer. Das Rauschen des Flusses wuchs aus der Tiefe und stand wie eine Mauer im Schneetreiben und in der Nacht.

Von dem Buschwerk des Abhanges her fegten dürre Äste über das Gesicht, wenn sie in den Graben gerieten.

Auf einmal kroch eine Lichtschlange über den Weg, und hinter einer Windung war eine helle Verheißung.

Das Weichtalwirtshaus sprach aus rotverhangenen Fenstern vom Ende der Mühsal.

Gustav schritt vorbei.

Standera rannte hinter Gustav her und faßte ihn am Ärmel: »Wir kehren nicht ein?«

»Ich will noch bis Kaiserbrunn zurück.«

Und er hastete weiter, wieder in die Nacht hinein, und Standera keuchte hinter ihm drein. Dieses Keuchen war wie losgelöst von ihm, und er hörte erbittert, wie rasch und heftig es ging.

Endlos ... längs der rauschenden Mauer in der Finsternis. Einmal fiel Standera hin, raffte sich auf, das Gesicht brannte, es stach im Knie. Lief Gustav nicht? Nein, er war noch da, schritt immer weiter aus. Auf einmal wurde etwas heiß in Standeras Hand, etwas Schweres.

»Lauf nur,« sagte er, »die böhmische Jungfrau wartet schon.«

»Was redest du?« fragte Gustav.

Da fiel etwas auf ihn, ein Keil, ein glühender Keil ins Gehirn. Der drang durch den Kopf bis auf die Zähne. Gustav drehte sich um sich selbst, ließ den Stock fallen, hob die Arme ... ein Schlag schmetterte den Keil tiefer. Gustav sah einen riesengroßen, bloßgelegten Augapfel, der langsam rollte. Dieser Augapfel war so groß wie eine Weltkugel, mit einem schwarzen Loch mitten in einem blauen, geflammten, opalschimmernden See. Über das Weiß zog sich ein rotes Netz blutgefüllter Adern, armdicke Stränge, zum Bersten voll, bis in feinsten Verästelungen hinein geschwellt ...

Langsam rollte der Augapfel ... ins Dunkel ...

Es wurde kalt ...

Als der Hausknecht des Gasthofes in Kaiserbrunn kurz nach neun Uhr vor die Tür trat, sah er beim Gitter des gegenüberliegenden Gartens einen hingesunkenen Menschen. Er dachte selbstverständlich ganz nach Art der Hausknechte zuerst an einen Betrunkenen. Aber es erwies sich, daß der Mensch keineswegs betrunken, sondern irgendwie verunglückt war. Das Gesicht war mit Blut überronnen, auf dem Kopf klafften zwei breite Wunden mit aufgequollenen Rändern, die Kleidung war vollkommen durchnäßt, als habe er im Wasser gelegen, und war in der nach dem Schneefall wieder einsetzenden Kälte zum Teil gefroren.

AIs man den Menschen ins Haus geschafft und ihm das Gesicht mit warmem Wasser gewaschen hatte, erkannte man in ihm den jungen Mann, der heute mittag in Begleitung eines anderen von Kaiserbrunn weggegangen war.

Die Gemütsbewegung der Hausgenossen war nicht übermäßig groß, die Rax lieferte häufig genug noch ärger Zerschlagene. Unter den Gästen des Wirtshauses war ein junger Arzt, der den Verletzten mit dem Material aus der gut versehenen Hausapotheke vernähte und verband. Dann wurde er in ein Zimmer geschafft, und das Stubenmädchen Sofka erbot sich freiwillig, seine Pflege zu übernehmen.

*

Es erwies sich, daß Gustav Gruber aus der Gegend stammte, in der unter dem Schutz des doppeltgeschwänzten Leuen die besten Klarinettisten und die härtesten Schädel gedeihen. Obzwar er ehedem zu Wotan und Donner geschworen hatte, schien seine Schädeldecke doch besonders gefestigt und von innen verspreizt, wie nur je bei einem Sohne der männerernährenden Hanna. Vielleicht war das noch ein Einfluß von Urväter Zeiten her, aus vertraglichen Epochen, vor der Erfindung der Königinhofer Handschrift, als die zweite mit der ersten Landessprache noch nicht so rabiat geworden war.

Jedenfalls dauerte es gar nicht lange, und Gustav war wieder so weit, daß das Wort Assagai aus seinem Kopf wich, und daß er keine Geier über Wagenzügen und keine tanzenden Zulus mehr sah. Er erwachte zum Bewußtsein eines wohlgeordneten Europa, in dem ein paar Hiebe über den Schädel immerhin nur ausnahmsweise verabreicht zu werden pflegen.

Auf dem Nachttisch fand er in einer Zündholzschachtel, auf Watte gebettet, einen Knochensplitter, dem man ihm aus seinen Wunden gezogen hatte.

Auf dem Stuhl neben dem Bett saß Sofka.

Gustav lächelte und streckte ihr die Hand hin. Soviel Kraft hatte er schon noch, um ihre Finger fest zu umschließen. Aber Sofka konnte nicht lange bleiben, denn es war die Stunde, in der ein Gasthof mit hundert schrillen Klingelzungen nach dem Stubenmädchen schreit.

Der Wirt war ohnehin ungehalten, daß Sofka ihre Pflichten an Gustavs Bett über die Bedürfnisse der unzerschlagenen Gäste zu setzen schien.

Aber Gustav blieb nicht lange allein. Er bekam hohen Besuch, den Herrn Obmann der alpinen Gesellschaft »D'Gamsecker«. Man sprach im Raxgebiet davon, daß in Kaiserbrunn ein Abgestürzter liege. Nun kam der Herr Obmann der Gamsecker, um sich nach den näheren Umständen zu erkundigen.

Wie und wo und wann?

Aber Gustav konnte ihm durchaus keine sachgemäße Auskunft geben. Er war in der Dunkelheit abgestürzt, ohne zu wissen von wo. Man hatte irgendwie einen Weg eingeschlagen, von dem man annahm, daß er die Windungen des Tales abkürze. Man war immer höher gekommen, und auf einmal war der Schnee unter den Füßen abgerutscht ... und dann hatte das kalte Wasser der Schwarza Gustav zu sich gebracht ... er hatte sich bis nach Kaiserbrunn geschleppt.

Und wo denn der andere geblieben sei, mit dem man Gustav gesehen habe? Das wußte Gustav nicht. Aber wahrscheinlich sei er aus Angst davongelaufen, als er das Unglück bemerkt habe.

Das sei jedenfalls ein besserer Herr, der seinen Kameraden in der Not verlasse, meinte der Obmann der Gamsecker. Dann breitete er eine Menge guter Lehren vor Gustav hin und ging kopfschüttelnd in das Extrazimmer, um den anderen Gamseckern zu berichten. Das war wieder einmal ein ganz blödsinniger Unglücksfall, bei dem kein alpines Herz höher schlagen konnte. Wozu solche Leute wohl in die Berge gingen, wenn sie dann nicht einmal wußten, von wo und wie tief sie abgestürzt seien? Und ob man eine Ahnung habe, wie der Mensch ausgerüstet gewesen sei? Nämlich gar nicht, lange Hosen und einen Winterrock habe er gehabt. Er sei ein Schandfleck für die ganze Unfallstatistik.

Nachts, als sämtliche Zimmernummern still und wunschlos geworden waren, kam Sofka wieder an Gustavs Bett.

Er sollte schlafen, aber er wollte erzählen. Zwischen Mitternacht und den ersten Morgenstunden erfuhr Sofka alles, was geschehen war.

Die Kerze brannte hinter ihrem Rücken und es war ein Flimmern von Strahlen um Kopf und Schultern. Der Arm hing über die Sessellehne, und die Fingerspitzen reichten gerade bis auf Gustavs Kopfpolster herab.

»Die Ferne ...« sagte Gustav, »es war wie ein ...,« er wußte keinen Vergleich ... »Zu Hause hab' ich es nicht ausgehalten ... und dann war es auch nicht anders.« Sofka saß ganz still, vom Flimmern des Kerzenlichtes umwoben. »Wenn man ein neues Leben beginnen will ... so muß man mit dem alten ganz fertig sein ... es darf nichts Zurückbleiben ... keine Schuld ... und keine Liebe.«

Gustavs Körper regte sich unter der Decke, er hob den zerschlagenen Kopf, dessen Verband bis über die Augen reichte. Vor dem linken Auge, in das ein Bluterguß stattgefunden hatte, war nur ein zähes weißes Gerinnsel wie erstarrte Milch. Das rechte Auge sah unter dem Rand des Verbandes weg Sofkas Kopf im goldenen Strahlengeflecht.

»Ja,« sagte sie ruhig, »ich weiß es. Sie haben jemanden zu Haus, den Sie sehr lieben. Sie hat Ihnen ein großes Weh bereitet, aber Sie lieben sie noch immer. Und mit solchen Dingen sollte man fertig sein, sonst gelingt uns nichts in der Welt ... ich weiß es ... man schleppt es überall hin mit ...«

Da wandte Gustav den Kopf und suchte mit den Lippen die Finger, deren Spitzen auf seinem Kopfpolster lagen.

Sofka sprang auf. »Nein,« rief sie angstvoll ... »was wollen Sie tun?« Das Licht der Kerze stach grell in Gustavs Auge. Sofka war fort, irgendwo im Dunkel.

»Sie müssen jetzt schlafen,« kam ihre Stimme weich und mild aus dem Körperlosen, »schlafen Sie, damit Sie bald gesund werden.«

Und Gustav versuchte zu gehorchen. Aber er hörte noch den ersten Hahnenschrei. Und bald darauf das erste Klingeln, mit dem sich der Wintersport meldete. Sofka erhob sich von dem Stuhl in der Ecke, auf dem sie gesessen hatte.

Da erst fand Gustav den Schlaf.

Nach fünf Tagen war er so weit, daß er nach Hause fahren konnte.

Eine sehr unangenehme Sache war noch zu überstehen. Das Geständnis, daß er ohne Mittel sei und daß er seine Rechnung erst von daheim begleichen könne.

Zögernd bat er Sofka, sie möchte ihm den Wirt rufen.

»Was wollen Sie von ihm?« sagte Sofka unwillig und heftig.

»Es ist wegen der Rechnung ... Sie wissen ja doch ... Ich hab' nur soviel in der Börse, daß ich gerade nach Haus kommen kann.«

Sie sah ihn grimmig an: »Ach Gott ... es ist ja alles Ordnung ... es ist ja eine Kasse für solche Fälle da ... der Obmann der Gamsecker ...«

»Sofka!«

Da lief sie davon und schlug die Türe zu, daß es knallte. Auf dem Waschtisch klirrte das Wasserglas gegen die Flasche.

Als Gustav das Haus verließ, stand sie vor dem Tor, in leichter Bluse, trotz der Kälte. Auf dem alten Schnee lag eine dünne Schicht Neuschnee, scharf verkrustet, sonnenflimmernd.

»Skischnee!« sagte Sofka, »ich habe schon was gelernt.«

Gustav stand vor ihr. Sein linkes Auge war noch immer blind. Vor dem rechten drehten sich glänzende Perlenketten. Hetzen Sie wohl, Sofka!«

»Ja ... und Prosit Neujahr ... das haben wir ganz vergessen!«

»Werden wir uns wiedersehen, Sofka?«

»Nein!« sagte sie fest. Die Perlenketten vor Gustavs Auge hielten inne, schwanden. Er sah einen zuckenden Mund, ein Blick verschränkte sich mit dem seinigen ...

Der Postillon beugte sich von seinem Sitz: »Einsteigen, der Herr ... bitt' schön ... der Zug wart't net.«

Gustav stieg in den gelben Kasten des Postschlittens. Die Pferde zogen an ...

»Oha,« sagte ein dicker Selcher aus Reichenau, neben dem Gustav hingeschleudert wurde, »san Sö an Abg'stürzter? Na, i schau mir d' Berg' lieber von unten an.«

* * *

 


 << zurück weiter >>