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Auch die Kühe haben ihr Innenleben, selbst wenn sie nur aus Papiermaché sind.

Man hätte es wenigstens glauben können, denn seit die rotbraune Kuh das Fenster unter dem Schild der Gemischtwarenhandlung der Anastasia Gruber hatte räumen müssen, merkte man ihr Mißvergnügen an der Milch, für deren Echtheit sie früher gebürgt hatte. Sie befand sich jetzt in einem Laden, der ihrer früheren Heimat auf der anderen Seite der Straße schräg gegenüberlag, an der Ecke einer Armeleutegasse, die ein kleines Stück bergan lief und dann plötzlich vor den Feldern erschrak und sich nicht weiter getraute. Der große Strom der Mittags- und Abendwanderung der Vorstadtfabriken ging drüben vorbei, und hier war ein einsamer Strand. Wie versteckt vor den Menschen lag der Laden.

Er sah aus wie eine Zwangsvorstellung. Alles war gedrückt und eng und lustlos. Da stand das Wandregal und da der Eiskasten und dazwischen der Ladentisch. Wenn sich drei Menschen zugleich im Laden befanden, so konnte man Angstgefühle bekommen, wie in einem mörderischen Volksgetümmel. Es kam aber selten genug vor, daß ein solcher Andrang stattfand.

Das Fenster neben der Eingangstüre war so schmal, daß eine ausgewachsene Kuh aus Papiermache darin gar nicht Platz hatte. Sie stand nun oben auf dem Wandregal, und auf ihrem rotbraunen Rücken sammelte sich der Staub. Sehnsuchtsvoll reckte sie den Kopf nach ihrem früheren Heim, das nur zweihundert Schritte entfernt, drüben an der anderen Straßenecke lag und dennoch unerreichbar war. Sie konnte es durch den schmalen Fensterschlitz gerade noch erblicken. Wenn sie hätte brüllen können, so hätte sie den ganzen Tag über wehmütig und klagend gebrüllt.

Auch dem tiroler Moidl war ein Unglück widerfahren. Noch immer saß es zwischen den Beinen der Kuh mit den Händen an den straffen Eutern, aber es hatte keinen Kopf mehr. Der war bei der Übersiedlung verlorengegangen, als das Moidl den Händen der Frau Anastasia entglitten, auf die Straße gefallen und im selben Augenblick ein Lastwagen darüber gefahren war.

So saß das Moidl jetzt kopflos zwischen den Beinen der Kuh. Es war eine gespensterhafte Melkerei.

Vielleicht waren die Kunden der Frau Gruber die rotbraune Kuh als Beglaubigung der Güte der Milch so gewöhnt, daß sie nun behaupteten, sie sei schlecht geworden, weil die Kuh nicht mehr im Fenster stand. Und weil der Zweifel sich einmal eingenistet hatte, erstreckte er sich auch bald auf die Butter und die Würste und das Bier.

Vielleicht aber kam das einfach auch daher, weil sich drüben, wo früher die Gemischtwarenhandlung der Anastasia Gruber gewesen war, jetzt der blitzblanke und funkelnagelneue Laden des Swatopluk Kožoušek befand. Das war ein Laden mit einem Marmortisch und mit einem Eiskasten, der vernickelte Griffe und Pipen hatte, nicht solche aus Messing, wie der der Anastasia Gruber.

Und das war einfach so gekommen, daß der Hausherr seine alte Mieterin, die Frau Anastasia Gruber, kündigte und an ihre Stelle den Herrn Swatopluk Kožoušek aufnahm, dem der tschechische Volksrat hier draußen ein Geschäft einrichten wollte.

»Das ist wegen der Geschichte mit ihrem Sohn,« sagten die alten Kunden, der Frau Gruber und hielten anfangs treu zu ihr. Aber nach und nach erlagen sie dem Zauber des Marmortisches, der Wurstschneidemaschine und der Registrierkasse. Der Frau Anastasia Gruber blieben die Bewohner der Armeleutegasse und andere Käufer, die das Zahlen nur vom Hörensagen kannten.

Und eines Abends war der Gustav Gruber wieder da. Stand in der schmalen Tür, schwer, gefesselt, konnte nicht weiter.

Die Mutter hatte eben ein Paket Kunerol aus dem obersten Regalfach holen wollen und stand mit dem Rücken gegen die Türe und mit erhobenen Armen. Sie wandte den Kopf über die Schulter zurück ... und da sanken die Arme langsam herab, glitten über die Fächer und fielen dann schwer ins Leere. Es war, als ströme die ganze Kraft des Körpers aus ihr durch die hängenden Hände zur Erde. Endlich kam ein Zittern in diese verdrehte Starrheit. Die linke Schulter schob sich vor und die rechte wich zurück, bis der Rücken an dem Regal lehnte.

»Jesus!« sagte die Mutter.

Gustav trug dieselben Kleider wie damals vor zwei Jahren. Die waren geschont worden, aber ihn hatte es mitgenommen. Auf einmal sah Frau Gruber wieder das vergitterte Fenster ihrer bösen Träume vor sich und das Gesicht ihres Jungen dahinter. So war es also gewesen ... ganz so ... man konnte nicht sagen, woran man das merkte, aber es war irgendwie, als sei das ganze Gesicht voll weißer Brandnarben.

»Ich bin zuerst drüben gewesen,« sagte Gustav und zerdrückte die Worte eigentümlich zwischen Zunge und Gaumen.

»Ja, ja ...« nickte die Mutter.

Gustav blickte sich in dem Laden um. »Ein bissel eng, aber freundlich ist's da ...« Nur sprechen, nur sprechen!

Die Mutter kam hinter dem Tisch hervor, auf Filzschuhen, wie immer. Aber Gustav kam das merkwürdig vor, er war das Klappern von derben Stiefeln und von Holzpantoffeln auf steinernem Boden gewöhnt. Sie war hervorgekommen und stand nun vor dem Sohn und wußte nicht, was sie wollte. Es wollte ihr die Arme heben, aber da war eine Scheu, die es nicht zuließ. Ihr Herz war ein einziges martervolles Schluchzen der Zärtlichkeit, aber da war eine Kruste, durch die nichts hindurch konnte.

»Du hast mich nicht erwartet?« sagte Gustav, und in seinen Augen wuchsen die Schatten.

»Ich hab' gewußt, daß du in diesen Tagen kommen mußt.«

Plötzlich wurde Frau Gruber vor ihrem Kind verlegen. Die ganze Armseligkeit dieses Ladens, die erniedrigende Enge ihres Lebens trafen sie wie ein erwachtes Schuldgefühl.

»Geh hinein,« sagte sie hastig und unsicher, »ich komme gleich.«

Das Wohnzimmer lag hinter dem Laden, genau so wie es drüben gewesen war. Es lag auf dem Grund eines Schachtes, in dem jetzt abends aus Hinterfenstern Lichtfetzen herabgeworfen wurden. Sie hockten im Dunkeln wie rötlich glimmernde Kröten.

Als Frau Gruber das Zimmer betrat, hatte Gustav schon die Hängelampe angezündet. Er stand vor dem alten, vierschrötigen Wäscheschrank und hielt einen gläsernen Stiefel von Spannenlänge in der Hand. Vorn auf dem gläsernen Schaft stand »Gruß aus Olmütz«, darunter sah man eine Stadtansicht und über das Ganze waren ein Fichtenzweig und ein Weidenzweig mit Kätzchen malerisch im Halbkreis gebogen. Es war aber nicht die gläserne Herrlichkeit an sich oder eine besondere Liebe zu Olmütz, die Gustavs Hände zittern ließen. Dieser spannenlange Glasstiefel war mit dem Duft einer besonders süßen Erinnerung angefüllt. Ein Sommerkleid wehte, ein reisefrohes Gesicht nickte aus dem Wagenfenster, eine übermütige Stimme rief: »Was hab' ich mitgebracht?« Und dann drehte sich die ganze Welt im Kreise und ein gläsernes Ding blitzte in der Sonne.

Frau Gruber kannte die Geschichte des gläsernen Stiefels, und das Herz hing ihr schwer und schmerzhaft in der Brust. Sie stellte den Teller mit Wurst und die Bierflasche auf den Tisch, und es überkam sie, daß alle Scheu und Verlegenheit von ihr abfiel und das mütterliche Leid hervorbrach. Sie trat zu Gustav: »Armer Bub,« sagte sie, »zwei Jahre ...«

Gustav sah ihr ins Gesicht. Tief lächelnd. »Es war nicht so schlimm. Ich habe viele Menschen kennengelernt ... das macht etwas aus ... du darfst dir das Gefängnis nicht ganz so schrecklich vorstellen.«

Frau Gruber wußte nichts zu sagen. Jetzt hatte sie es nicht so gemeint.

Dann saßen sie am Tisch, und Gustav schlitzte seine Krakauer Wurst seitlich auf und zog ihr die knisternde Haut ab. Frau Gruber hatte den Laden gesperrt. Es kam jetzt ohnehin niemand mehr. Man brannte nur umsonst Licht. Das tiroler Moidl ohne Kopf brauchte keines, die molk ihre Kuh auch im Finstern weiter.

Frau Gruber hielt die Bierflasche zwischen den Beinen und zog aus Leibeskräften an dem Kork. Das war noch immer derselbe Patentkorkzieher, der niemals seine Pflicht erfüllte.

Gustav legte die Gabel hin, daß sie gegen den Tellerrand klirrte, und stand auf. Ein wahnsinniges Angstgefühl hatte ihn plötzlich ergriffen. Die Kehle war ganz eng und glühend heiß, die Stirne stand mit einem Schlag voll Schweiß. Er machte einen Schritt gegen das Fenster zu, um es aufzureißen. Aber was hätte das geholfen ... man war auf dem Grund eines Schachtes ... Lichtfetzen lagen da zwischen alten Töpfen und Aschenkisten, die auf den Mistbauer warteten. Wo war da die Nacht, die freie, wundergewährende Nacht, die sternfunkelnd und raunend über den herbstlichen Feldern stand? Sich über die feuchten Schollen werfen, sich einwühlen, die harten Stoppeln an den Wangen fühlen und dann ruhig liegen bis zum Morgen, bis mit dem sinkenden Tau das Licht herabträufelte ...!

Es tat einen Knall, der Stöpsel fuhr aus dem Flaschenhals, weißer Schaum quoll nach. Frau Gruber hob den purpurroten Kopf: »Was hast du?«

Gustav sank zusammen, seine linke Hand tappte nach der Tischecke, um den Mund, in den herben Furchen, kroch ein Lächeln. »Nichts,« sagte er, »ich hab' dir helfen wollen.«

Sie saßen einander gegenüber und die Mutter sah immer auf die Hände des Sohnes, die über der Mahlzeit oft so seltsam zwecklose Bewegungen machten, als sei es ihnen gar nicht um Wurst und Brot und Bier zu tun. Sie wagte den Blick nicht zu seinem Gesicht zu heben.

»Der Herr Morek hat gemeint, daß du früher kommen wirst,« sagte sie, als es nicht länger zu ertragen war, »du kannst einen Teil in Einzelhaft verbüßen.«

Gustav gab eine ruhige Antwort. »Ich hab' ja drum angesucht. Aber die Kommission war dagegen. Der Gefängnisarzt hat gesagt, daß ich es nicht aushalten kann.«

»Wie waren sie gegen dich?«

»Mein Gott – der Arzt hat mich ja nicht leiden können. Deshalb war er auch dagegen. Ich hätte es ja ausgehalten. Aber er hat gemeint, er tut mir etwas an, wenn ich mit anderen beisammen sein muß. Ich hab' Glück gehabt. Den größten Teil der Zeit war ich mit anständigen Menschen in einer Zelle.«

»Mit anständigen Menschen?« fragte Frau Gruber, und der Ton ihrer Worte war wider ihren Willen rauh vor Staunen.

»Ja,« sagte Gruber, »mit einem Italiener, der seinen Kameraden gestochen hat. Und mit einem anderen, der sich taubstumm gestellt hat. Und mit Hükkel.«

Wie konnte Gustav sagen, daß das anständige Menschen waren?

»Hükkel ist gestorben?« fragte die Mutter.

»Ja!«

Hinten stand das schmale Bett Gustavs an der Wand. Die rote Decke mit dem breiten Rand blauer Blumen war darüber gebreitet. An der Wand war das dreieckige Schild aus schwarzem, rotem und gelbem Papier, in dessen rotem Balken der Name Hagen stand, mit Reißnägeln angeheftet. Genau so wie in der alten Wohnung. Und ein schwarz-rot-gelbes Band schlang sich herum – genau so, wie es drüben gewesen war.

Gustavs Blick ging sachte über diese Dinge.

»Du bist müde,« die Mutter erhob sich, ging zum Bett und nahm die Decke ab. Gustav sah, daß das Bettzeug frisch überzogen war. Sie hatte ihn doch erwartet.

Langsam legte er die Kleider ab. Er sah mit Erstaunen, das waren nicht die plumpen Sträflingskleider, sondern sein eigener Anzug.

Die Mutter hatte das rote Lämpchen unter dem Bild des heiligen Aloisius aus der eisernen Klammer gehoben und goß frisches Öl nach. Bild und Lämpchen waren neu zwischen den alten Dingen.

Sie fühlte den Sohn hinter sich und zitterte, denn sie erwartete, daß er jetzt von Wotan anfangen werde. Und sie war entschlossen, den heiligen Aloisius zu verteidigen, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Er hätte ihr sicher geholfen, wenn ihr zu helfen gewesen wäre.

»Mutter,« sagte Gustav ... »Mutter ... ich habe nur zwei Briefe von ihr bekommen ... im ersten Jahr. Und seither nichts ... was ist mit ihr?«

Die Ölflasche klirrte ein wenig gegen den Rand des roten Glases. »Es geht ihr gut,« sagte Frau Gruber, ohne den Sohn anzusehen, »sie hat eine Stelle bei einem ... bei einem Advokaten ... seit einem halben Jahr ... sie verdient ... ich glaube, achtzig Kronen monatlich.«

Ein tiefes Atmen war hinter ihr. Dann knarrte das Bett, Hände strichen über frisches Leinen.

Die Mutter befestigte das rote Lämpchen, strich ein Zündholz an und entzündete den Schwimmdocht. Auf einmal war sie an Gustavs Bett und wußte gar nicht, wie sie hingekommen war. Sie saß auf dem Bettrand, strich über seine Wangen und sagte immer nur: »Mein Einziges ... mein Einziges ...!«

Gustav sog die Zärtlichkeit mit seiner ganzen lechzenden Seele ein und sah ihr mit hellen Augen ins Gesicht. Er hielt ihre harten, trockenen, faltigen Finger fest.

»Wir wollen schlafen gehen!« sagte er.

Als Frau Gruber im Bett lag, sah sie nach dem roten Lämpchen hinüber und betete. Sie hatte es doch nicht gewagt, wie sonst vor dem heiligen Aloisius niederzuknien, denn wer konnte wissen, ob dann nicht doch der Wotan irgendwie zum Vorschein kam. Sie betete also vom Bett aus, daß ihr Kind an seiner Seele keinen Schaden genommen haben möge. Denn daß er einen Messerstecher und einen Betrüger für anständige Menschen erklären konnte, das hatte sie in tiefe Bestürzung versetzt.

*

Am nächsten Morgen verwunderte sie sich sehr. Als sie erwachte, war Gustav, dem die Einteilung des Pankrazer Tages noch im Blut lag, schon auf und kniete auf dem Bett. Er war damit beschäftigt, mit seinem Taschenmesser die Reißnägel aus der Wand zu ziehen. Das schwarz-rotgelbe Band lag auf dem Kopfpolster, das Schild mit dem Namen Hagen pendelte am letzten Nagel. Dann glitt es herab. Gustav nahm Schild und Band und trug sie in die unterste Schublade der Kommode.

Frau Gruber fragte nicht ...

*

Gustav schien zuerst nicht zu wissen, was er mit dem neuen Leben beginnen sollte. Er saß tagsüber im Wohnzimmer und zählte, wie oft die Ladentüre ging. Es war ein betrübliches Zählen, und das Murmeln und Hantieren, das dann entstand, klang auch nicht nach großen Geschäften.

Erst in der Abenddämmerung ging Gustav auf die Gasse, lief den Feldern zu und rannte auf den verworrenen Wegen kreuz und quer, während die Schollen dampften und die Nebel dünn vor den glänzenden Sternbildern hinzogen. Ein Kreuz stand da in der Dunkelheit, durch einen Bahneinschnitt kam immer um dieselbe Zeit der Eisenbahnzug, neben der Ziegelei, die sich gierig immer weiter in den lehmigen Abhang hineinfraß, reckte sich das gespreizte Eisengerüst des Windmotors. Manchmal wurde das Stangenwerk von einem Feuerschein angeflogen. Der kam von den Flammen, die bisweilen aus den Essen und den Kaminen des Herrn Morek hochschlugen.

Das waren lauter längst bekannte Dinge. Aber es war Gustav, als seien sie wie mit einer neuen Haut überzogen, die man nicht anzufassen wagte. Wie Wunden, die sich eben erst geschlossen haben. Er vermied es, sich zu ihnen zu bekennen, als fürchte er, sie könnten ihn verleugnen. Und manchmal wollte es ihn überkommen, als sei diese unerklärliche Traurigkeit nur zu besiegen, wenn er in der Nacht davonginge, bis er zu ganz fremden und unbekannten Dingen und Menschen gelangt wäre.

Den Heimweg nahm er an dem Haustor zwischen dem Faßbinder und dem Wagenbauer vorbei. Ganz langsam, damit Steffi Zeit hätte, aus dem Schatten hervorzutreten und zu sagen: »Endlich bist du da! Ich warte schon lange.« Das Haustor blieb leer, der Schatten belebte sich nicht. Die bemalten leinenen Rollgardinen waren herabgelassen. Gustav sah hinter der grünen Frühlingslandschaft mit der Ritterburg und hinter dem herbstlichen Jagdstück mit dem springenden Hirschen das Licht des Wohnzimmers ausgegossen. Der Fischer im kleinen Nachen unterhalb der Ritterburg war etwas schadhaft. Er stand da und schwenkte den Hut gegen irgend jemanden, der ihn von der Burg herab grüßte. Aber den Hut mußte man sich hinzudenken, denn der war fort, und gerade an seiner Stelle befand sich eine kleine Lücke in der bemalten Leinwand, durch die das Licht in einem feinen, dünnen Strahl hindurchstach. Wenn Gustav vorüberging, traf ihn dieser Strahl wie ein Nadelstich.

Am vierten Abend riß es ihn plötzlich in das Haustor hinein. Gustav wurde von der Dunkelheit wie von einem saugenden Trichter eingeschluckt und tappte sich im Finstern zu der Wohnungstür Breitnickels.

Herr Breitnickel saß in der Arbeitsschürze unter der Lampe und las in der Zeitung. Seine Frau stand am Ofen und klapperte mit Tellern und Eßgeschirren im Wasserschaff, aus dem heißer Dampf aufstieg.

»Jessas,« sagte sie, »der Herr Gruber.«

Breitnickel legte die Zeitung auf den Tisch und schlug mit der flachen Hand auf das Blatt. »Da schaust her ... na also, haben Sie es doch überstanden.« Sein gutmütiges Handwerkergesicht war voll neugieriger Spannung.

Frau Breitnickel wischte mit der nassen Schürze über einen Sessel und lud Gustav zum Sitzen ein. Sie hätte schon gehört, sagte sie, daß Gustav zurückgekommen sei. Und sie wäre schon längst einmal drüben gewesen, wenn sie nicht gedacht hätte, daß man ihn die ersten Tage ganz seiner Mutter überlassen müsse. Ihr Zartgefühl wäre aber kaum so fein gewesen, wenn sie nicht seit einiger Zeit ganz zu Swatopluk Kožoušeks Gefolgschaft gehört hätte. Man konnte sich doch nicht der Gefahr aussetzen, von Frau Anastasia Gruber gefragt zu werden, warum man ausgeblieben sei.

Gustav Gruber saß auf dem Sesselrand, in seiner Kniekehle sprang und zuckte ein angespannter Sehnenstrang gegen die scharfe Kante. Er hatte Breitnickels neugierige Fragen zu beantworten. Der Meister hatte sonderbare Vorstellungen vom Gefängnisleben. Sie gründeten sich zumeist auf die Schilderungen des Romans: »Der Erbe der Millionen«, der in seinem Leibblatt erschienen war. Er hatte in seiner ungemein wohlgeordneten Seele ein geheimes Kabinett, das mit allem Unerklärlichen, Romantischen, Geheimnisvollen und Schauerlichen vollgestopft war. Was seinem biederen Handwerkerdasein und seinem arbeitsfrohen Alltag im Wege gestanden wäre, schleppte er in dieses Raritätenkabinett. Er sann diesen Dingen niemals nach, wenn er an der Arbeit war, sie störten ihn nicht einen Augenblick bei einer Verhandlung mit einem Holzhändler oder beim Hinmalen der großen Buchstaben auf ein Fakturenblankett. Aber wenn die Arbeit vorüber war, dann öffnete er sein Raritätenkabinett. Da waren die Bleikammern von Venedig und die Kasematten des Spielberges von Brünn und die Nonne von Krakau, Barbara Ubryk, und eine Menge anderer kettenrasselnder Merkwürdigkeiten.

Und Gustav Gruber kam nun nach zweijährigem Aufenthalt geradeswegs aus diesem Land zurück. Oh, Anton Breitnickel war nicht so ungebildet zu glauben, daß man heutzutage noch die Gefangenen an lange Ketten befestigte und alle zehn Minuten rüttelte, damit sie nicht einschlafen könnten. Oder, daß man sie in Abzugskanäle setzte, damit die Ratten an ihren Füßen nagten. Anton Breitnickel wußte, daß es in den modernen Gefängnissen Strafvollzugskommissionen gab, und daß die Gefängnishygiene erfunden war.

Aber es war doch noch genug Verbrecherromantik zurückgeblieben. Er fragte, ob es wahr sei, daß Verbrecher absichtlich etwas am Tatort zurücklassen, um nicht entdeckt zu werden? Einen blutigen Fingerabdruck? Oder gar ihre Exkremente? Und ob man diese Dinge »Wächter« nenne, oder »Schildwache« oder »Posten«? Und ob die Verbrecher besondere Talismane trügen: Diebskerzen oder Kaninchenpfoten oder Stechapfelsamen?

»Ja, ja,« sagte er, als Frau Breitnickel vor lauter Verwunderung über diese Geheimwissenschaft ihres Mannes das Abwaschwasser kalt werden ließ, »es ist allerlei Aberglauben unter diesen Leuten. Sie halten zum Beispiel etwas auf das sechste und siebente Buch Moses. Eines von diesen Zauberbüchern heißt das ›Romanusbüchlein‹ und ein anderes: ›Die geistliche Schildwacht.‹ An gewissen Tagen darf man nicht stehlen, sonst wird man sicher erwischt. Gewisse Sachen andererseits müssen gestohlen werden, wenn sie wirksam sein sollen. Zum Beispiel die Windeln von einem neugeborenen Kind. Wenn man die mit Hundefett bestreicht und um den Hals legt, so kann einem nichts geschehen.«

Aber Gustav enttäuschte den eifrigen Forscher. Er wußte von allen diesen Dingen nichts.

Herr Breitnickel schüttelte den Kopf und sah Gustav mißtrauisch und verdrießlich an. Der war am Ende gar nicht richtig eingesperrt gewesen, wie sich's gehörte.

Die Kuckucksuhr schlug neun. In dem aufgesprungenen Türchen stand das kleine hölzerne Vogelvieh und verbeugte sich neunmal vor der Gesellschaft.

Da fragte Gustav, wo denn Steffi sei?

Der Bindermeister sah seine Frau an. Die fuhr wieder bis an die Ellenbogen ins Geschirrschaff und vollführte ein grausames Geklapper.

»Ja,« sagte Breitnickel endlich ... »die Steffi ...« Die Steffi sei sehr beschäftigt. Sie habe in der Kanzlei sehr viel zu tun. Es komme sehr häufig vor, daß sie Überstunden machen müsse. Dann komme sie spät nach Haus. Aber Doktor Posolda habe versprochen, daß er ihr vom ersten Jänner an zwanzig Kronen zugeben werde.

Gustav faßte seinen Sessel mit beiden Händen. Doktor Posolda?« fragte er.

Na ja ... ob denn Gustav das nicht wisse? Breitnickel sah an Gustav vorüber nach seiner Gattin, die gebückt über dem Geschirrschaff stand. Die geröteten Arme zuckten links und rechts in zackigen Bewegungen aus der gewölbten Hüftengegend. Es wäre ihm ja auch lieber gewesen, meinte Breitnickel, wenn Steffi bei einem deutschen Advokaten untergekommen wäre. Aber davon sei keine Rede gewesen. Lauter Protektion, nichts als Protektion. Schließlich sei die Steffi alt genug, daß sie verdienen müsse. Die Lernerei müsse sich endlich rentieren. Und das bißchen Tschechisch habe sie rasch weggehabt. Der Doktor Posolda sei mit ihr sehr zufrieden. Und vom ersten Jänner an bekomme sie hundert Kronen.

»Hundert Kronen sind ein hübsches Geld,« sagte Gustav.

Breitnickel atmete auf. Eine Frage lag ihm am Herzen. Ob Gustav einen solchen elektrischen Bohrer gesehen habe, wie ihn die modernen Einbrecher zur Öffnung eiserner Kassen verwenden.

Nein, Gustav hatte auch keinen solchen Bohrer gesehen.

Da wurde Breitnickel sehr zornig auf diesen jungen Menschen, der die Gelegenheit, die allerinteressantesten Dinge kennenzulernen, so schmählich versäumt hatte. Er hielt ihn mit keinem Wort zurück, als er sagte, es sei spät geworden und er müsse nach Haus gehen.

Frau Breitnickel wischte die Hand in den Rock und reichte Gustav die nassen, aufgequollenen Finger. »Grüßen S' die Mutterl!« sagte sie.

In diesem Augenblick überfiel Gustav eine Angst, er könnte mit Steffi doch noch zusammentreffen. Er machte rasch einige Schritte auf die Türe zu. Aber es war, als sei diese plötzliche Angst die Ankündigung von Steffis Kommen gewesen.

Die Türe ging auf, und sie stand im Zimmer, zwei Schritte vor Gustav. Zuerst machte sie eine Bewegung, als wolle sie umkehren und wieder in die Finsternis hinauslaufen. Dann schoben sich die vier Wände des Zimmers zusammen. Sie fühlte sich qualvoll festgehalten. Es mußte einmal durchgemacht werden.

»Guten Abend, Gustav ... daß Sie wieder da sind.«

Sie trug eine schwarze Tuchjacke mit seidenem Vorstoß und seidener Einfassung, um den Hals schmeichelte sich eine kurze, graue Boa. Der weiche Velourhut saß ihr tief im Gesicht. Alles an ihr war glatt und weich, so wie ein Teppich oder ein Tierfell. Auch ihr Gesicht war glatt und weich, von einer fremdartigen Anmut, die zusammenstoßenden Brauen, die ein wenig schiefgestellten Augen, die leicht geschürzten Lippen ... die Japanerin hatten sie die Studenten der Frau Newrkla genannt, die das Waschwasser auf Breitnickels Dach zu gießen pflegten.

Da war eine Arbeitsschürze und ein nasses großkarriertes Kattunkleid mit einem dunkeln, nassen Fleck. Und dazwischen stand dieses warme und weiche Ding, daß man sich wundern mußte, wie es hierherkam.

Wo war der Männerzorn? Wo war die Entrüstung über Volksverrat und Lauheit? Wo waren Wotan und Hagen und die anderen großen und einfachen Entscheidungen? Ein Trümmerberg, eine zusammengesunkene Welt, über der die Lohe der Götterdämmerung zuckte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Gustav.

»Oh ... wir haben viel zu tun ... aber, wenn man gesund ist ...«

»Gehen Sie ... gehen Sie noch oft ins Theater?«

Steffi stand wieder fest im Zusammenhang des Lebens. »O ja ...« sie begann sich auszukleiden. Eine schottisch-karrierte, blaue und grüne Seidenbluse ... eine Seidenbluse ...! »wenn wir einmal weniger zu tun haben ... wir haben heuer eine sehr gute Operette.«

Gustav streckte eine zögernde Hand vor. »Gute Nacht, Fräulein Steffi ... meine Mutter wartet auf mich ...«

»Gute Nacht ... Gustav! Lassen Sie sich bald wieder sehen.« Sie zog einen hellbraunen Handschuh ab. Gustav hielt einen seligen Augenblick lang die Hand in der seinigen. Sie war warm und weich und ein ganz klein wenig feucht. Über den Daumenballen zog sich eine leichte rötliche Furche, die vergängliche Spur der Handschuhnaht.

»Es paßt mir aber durchaus nicht,« sagte Breitnickel, als Gruber draußen war, »daß du jeden Abend bis nach Neun in der Finsternis herumziehst.«

»Du hörst doch,« fuhr seine Gattin stachelig gegen ihn los, »daß er sie heiraten wird, wenn er Ingenieur ist.«

Da sagte der Meister nichts mehr und nahm wieder seine Zeitung vor. Steffi aber, die schon begonnen hatte, ihre Seidenbluse aufzuknöpfen, ließ mitten in der Arbeit die Hände sinken und starrte mit großen Augen, verlorenen Blickes, in die Seltsamkeit dieses Lebens.

* * *

 


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