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Hagen ging mit den anderen bis zu den Glacisanlagen, dort wo der Schwedenobelisk steht. Dann trennte er sich von ihnen. Die gingen jetzt noch ins Wirtshaus, um ihre Stimmung beim Bier ausschwingen zu lassen. Es war strenges Bierverbot in den Räumen des Jugendbundes, nur zugunsten Viktorins wurde eine Ausnahme gemacht. Man sollte nicht sagen können, daß der Jugendbund zusammenkäme, um zu saufen. Aber niemand konnte es den jungen Leuten verübeln, wenn sie besonders festliche Ereignisse wenigstens noch nachher beim Bier feierten.

Hagen schlug den Weg nach Haus ein. Zu beiden Seiten der Straße war das dunkle Rauschen der Bäume. Die Laternen standen mit brennenden Köpfen. Die beiden Reihen näherten sich einander in der Ferne. Plötzlich verlor Hagen das Raumgefühl der Perspektive. Es war ihm, als baue sich das Dreieck leuchtender Punkte senkrecht vor ihm in die Nacht auf. Nur dort, wo er ging, war es umgebogen und lag auf der Erde. Da trat er darauf und ging wie auf einem mit Leuchtkugeln besäumten Teppich. Er mußte lächeln. Sonderbare Vorstellungen waren das doch. Auf einmal schrak er ein wenig zusammen. Unter einer Laterne stand ein Wachmann und zog sein Säbelgehänge zurecht. Die Polizei, oh die Polizei, die suchte jetzt krampfhaft nach dem Übeltäter.

»Ja, da laßt sich nix machen, sagt der Revisor ...«

Ein altes Sprichwort sang und juchheite und bimmelte mit hundert Schellen. Da war eine alte kleine Stadt mit Türmen und Erkerhäusern, in der ein kleiner Junge zwischen lauter Bestauntem und um soviel Größerem herumlief. Und über diesen Türmen und Erkern aus Kindheitstagen schwebte ein Kleinstadtsprichwort wie ein flattermütiges Spruchband. Da hatte es in diesen Gustav Gruberschen Kindheitstagen in der alten kleinen Stadt einen Polizeirevisor gegeben, der war ein alter Herr gewesen und ganz sicherlich ein Nachkomme des Hauptmannes von Dinkelsbühl oder eines Schildbürger Ratsherrn oder sonst irgend eines gemütlichen Krähwinklers aus der guten alten Zeit. Er ließ sich durch Amtsgeschäfte nur ungern in seiner Seelenbeschaulichkeit stören, und wenn etwa jemand mit einer Anzeige über die Schlechtigkeit der Zeitgenossen zu ihm kam, so entwickelte sich regelmäßig folgendes Zwiegespräch:

»Also, eingebrochen haben s' bei Ihnen?«

»Ja!«

»Na – wissen S', wer's war?«

»Nein!«

»Ja, mein Lieber – da laßt sich nix machen!«

Und daraus war jenes Kleinstadtsprichwort geworden; die vollkommenste und kürzeste Formel für alle Fälle, in denen die Staatsgewalt gleich jenem ehrwürdigen Greis auf dem Dach saß und sich nicht zu helfen wußte.

In Gustav krabbelte ein übermütiges Gelüsten. Er kam nur sehr schwer an dem Wachmann vorüber. Er hatte ein unbändiges Verlangen, zu ihm zu treten und zu sagen: »Ja, da laßt sich nix machen, sagt der Revisor.« Was wäre daraus entstanden? Der Wachmann hätte ihn sicher für irrsinnig gehalten. Vergnügt in sich hineinlachend, ging Gustav weiter und trat immer mehr von dem aufgebauten Dreieck leuchtender Punkte herunter. Bis dieser Eindruck sich nicht mehr halten ließ, weil man schon so weit draußen war, wo die Laternen selten werden und sich ins Feld verlaufen.

Da bäumte sich die Stadt noch einmal mit scheußlichen Zinskasernen auf. Auf einem Schild über einer geschlossenen Ladentüre stand: Anastasia Gruber, Gemischtwarenhandlung. Im Ladenfenster daneben vertrugen sich Milchflaschen und der japanische Insektentod »Puk« und Bierflaschen und viereckige, sehr verstaubte Käseziegel, denen man gar nicht ansah, daß die bunten Umschlagpapiere nur Holzklötze einhüllten. Eine rotbraune Kuh aus Papiermaché war da, unter der ein Tiroler Moidl hockte, mit den Händen an den straffen Eutern. Das war die plastisch-symbolische Darstellung echtester Echtheit von Butter und Milch, die man nur erdenken konnte.

Ein langer Gang, in den Türen und Seitengänge mündeten. Aus jedem strömte ein anderer übler Geruch. Gustav hielt den Atem an und machte, daß er weiterkam.

Die Mutter hatte den Tisch zum Fenster geschoben, den Stuhl darauf gestellt und stand nun ganz oben und nagelte die frischgewaschenen Gardinen fest. Auf Gustavs Gruß antwortete sie mit einem mürrischen Brummen. Sie hielt einige Nägel zwischen den Lippen und konnte keine andere Antwort geben.

Gustav sah sich im Zimmer um und merkte, daß es nun galt, sich in Geduld zu fassen, bis die Mutter fertig war. Wenn man nach Haus kam, wurden die schönsten Hochgefühle immer herabgestimmt. Da klang noch die »Wacht am Rhein« in der Seele nach und hier roch es so wenig erhebend nach gestockter Milch und Käse.

Die Mutter war schlechter Laune, weil er so spät nach Hause kam. Als sie den letzten Nagel aus den Lippen genommen hatte, ging es los: ob er vielleicht nächstens nicht im Jugendbund überhaupt übernachten wolle! Es sei ein Jammer, daß ein achtzehnjähriger Bursch für nichts Sinn habe als für das Wirtshaus. Gustav hätte entgegnen können, daß er gar nicht im Wirtshaus gewesen sei, aber er verhärtete sein Herz und ließ die Mutter schimpfen. Es sei keine Ordnung und Zucht mehr in der Welt, meinte sie. Der Sohn vom Tischlermeister Schwanda sei seit drei Tagen überhaupt nicht nach Hause gekommen und werde von der Polizei gesucht. »Da laßt sich nix machen, sagt der Revisor!« dachte Gustav. Und der Eisendreher Switil sei seiner Frau durchgegangen und habe sie mit drei Kindern im Elend sitzenlassen. Und dabei habe die Frau aufs Büchel genommen und sei dreizehn Kronen und siebzig Heller schuldig. Die könne man jetzt mit Kohle in den Rauchfang schreiben. Und Gustav halte ebensowenig auf Ordnung. Wo denn die Sardinenbüchse hingekommen sei, in der die kleinen Nägel aufbewahrt würden? Jetzt lägen die Nägel in der ganzen Lade verstreut und man könne sie einzeln zusammenklauben.

Gustav gab keine Antwort. Die Mutter war herabgeklettert und er half ihr den Tisch in die Mitte des Zimmers tragen. Dann ging sie, noch immer brummend, nach vorn in den Laden, um ein Stück Wurst und eine Flasche Bier zu holen. Gustav saß unter der Lampe, zeichnete mit dem Nagel Ornamente ins Tischtuch und spielte mit dem Schatten, den seine Hand warf.

War er jetzt Hagen, oder war er's nicht? O nein, man durfte nicht kleinmütig und verdrossen werden. Der Student Viktorin hatte unlängst ein großes Wort gesagt, das ihn ergriffen hatte: Laß den Helden in deiner Seele nicht sterben! Und er hatte hinzugefügt, der Mann, der das gesagt habe, sei ein schlechter Deutscher gewesen, aber dieses Wort müsse man sich merken. Wahrhaftig, das mußte man sich merken. Das labte wie ein Schluck Nasser.

Gustav aß seine Wurst und trank sein warmes Bier, während seine Mutter, schon etwas milder gestimmt, vom Zanken ins Jammern geriet. Wie teuer jetzt alles werde und wie die Leute das nicht zahlen wollten, was man doch verlangen müsse.

Dann nahm er seinen Hut und wandte sich zur Türe.

»Du gehst noch einmal fort?« fragte die Mutter.

»Ich komme gleich wieder.« Und draußen war er, allen weiteren Fragen und Einwendungen entronnen. Zuerst tat er einen mächtigen Schnaufer, als blase er ein böses Gewölk vor sich her, dann nahm er den Hut ab und ging auf den Hof hinaus. Da brannten ringsum in den Hofwohnungen die schwülen, dumpfen Lichter der kleinen Leute, aber oben, über den Dächern, war ein Nachthimmel mit den heitersten Sternen. Sogleich fühlte Gustav wieder den Helden in seiner Seele. Aber es war ein Held, der die Rüstung abgelegt hat und nach Zärtlichkeiten verlangt. Diese schöne Welt war doch etwas, was sich zu tragen verlohnte. Sie bestand nicht durchwegs aus Wurst, die schon ein wenig riecht, und aus warmem, schalem Bier. Sie hatte nicht bloß enge Stuben, die von der Ausdünstung einer Gemischtwarenhandlung erfüllt waren. Die Welt hatte auch Sternendome, sammtene Nächte, sie hatte Kraft und Mut und Abenteuer zu vergeben. Sie besaß Geheimnisse, heldentümlicher und zärtlicher Art, Dinge, die das Herz schlagen machten, nicht vor Zorn oder Bitterkeit, sondern vor Glück und Freude.

Neben dem großen Zinshaus wurde es auf einmal ganz ländlich. Sein Nachbar war ein plattgedrücktes ebenerdiges Häuschen von Anno dazumal, wo die Stadt noch nicht ins Wachsen gekommen war. Neben dem Zinshaus sah es aus wie der Mops neben der Dogge. Und es hatte bei Gott noch ein Schindeldach und durfte sich also gar nicht wundern, daß man es nur über die Achsel ansah. Man hatte verdammt wenig Respekt vor ihm, und die Studenten, die immer im dritten Stock des Nachbarhauses bei der Witwe Newrkla wohnten, hatten es sich zur lieben Gewohnheit gemacht, das schmutzige Waschwasser und andere entehrende Flüssigkeiten geradeswegs aus dem Fenster auf jenes Schindeldach zu gießen. Die Leute, die unter diesem Dach wohnten, paßten zu dem ganzen Hause. Sie betrieben Gewerbe, die man in der Großstadt beinahe vergessen hat. Links von der Einfahrt hauste und schuf ein Wagenbauer und rechts ein Faßbinder.

Nur durch einen Bretterzaun von dem Nachbarhof geschieden, dehnte sich eine wüste Stätte hinter dem Haus. Halb Garten und halb künftiger Bauplatz, diente sie einstweilen noch dem Wagenbauer und dem Faßbinder in Sommerszeiten zur Arbeit und als Lagerplatz. Fertiges und Unfertiges stand und lag da durcheinander. Radachsen und Speichen, Faßdauben und Faßreifen, Wagen ohne Räder und Fässer ohne Boden, und dazwischen gab es da und dort noch ein kümmerliches Hollundergebüsch oder eine hochgeschossene Gruppe von Nesseln. Ganz in den äußersten Ecken aber behaupteten sich ein Kartoffelfeld und ein Acker mit Zwiebeln und Petersilie, die warm der wagenbauerischen und der faßbinderischen Küche zinsbar.

Ein Fremder hätte sich hier bei Tage schwer zurechtgefunden, bei Nacht hätte er sich sicher nach zehn Schritten beide Beine gebrochen. Gustav aber kannte sich genau aus. Als er über den Bretterzaun geklettert war, schob er sich ohne jedes Zögern zwischen den Werkstücken der Wagenbauerei und der Faßbinderei auf eine Kutsche zu, die mitten in der Finsternis stand. Jetzt sah er sie unmittelbar vor sich und erfaßte eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

Er schwang sich auf den Kutschbock und saß neben etwas, das sehr warm und sehr weich war.

»Servus!« sagte Gustav, genannt Hagen.

»Servus!« sagte das Weiche und Warme. Und dann schwieg es still.

»Na?« fragte Gustav.

»Adieu! Gute Nacht!« Das klang bitterlich beleidigt.

Obwohl es vollkommen finster war, sah Gustav doch das Mädelgesicht vor sich. Die zusammenstoßenden Brauen, die ein wenig schiefgestellten Augen, die leichtgeschürzte Anmut der Lippen und die Nase. Sie hieß die Japanerin, irgend etwas erinnerte an Kirschblüten, obzwar sie die Tochter des Faßbindermeisters Breitnickel war. Jetzt waren die Lippen aufgeworfen, eine behende, rote Zunge leckte zornig drüber hin. Alles das sah Gustav, obzwar es vollkommen finster war.

»Aber geh, Steffi!« sagte er und wollte im Dunkeln eine Hand fangen.

»Nein! Jetzt muß ich gleich gehen! ... Na ja! ... jetzt sitz ich schon eine Stund' da. Also adieu ...!«

Gustav Gruber lächelte in die Nacht hinein. Da saß man auf dem Kutschbock eines gelblackierten Wagens, baumelte mit den Beinen und hatte etwas Warmes und Weiches neben sich, das jetzt sehr böse war, aber nicht lange böse sein würde. Das war so sicher wie ein Tag nach dem anderen kam.

»Mit deinen blödsinnigen Vereinsgeschichten!« sagte es. »Wenn du noch einmal so spät kommst ...«

»Was hab' ich hier in meiner Hand?« fragte Gustav.

Ein Schrei. »Die Theaterkarte!« Dann griffen zwei Hände, die sich so lange zu verstecken gewußt hatten, zu. Gustav hielt die Karte in der hohlen Faust, von kraftvollen Fingern umschlossen. Es drückte und preßte an der Faust herum. Eine Hand hielt sein Gelenk, die andere versuchte die Faust zu öffnen. Ein Zeigefinger bohrte sich in alle Lücken. Gustav tat, als sei er überwältigt. Langsam gab er nach, ließ einen Finger nach dem anderen aufbiegen.

Es atmete schwer neben ihm. Das Weiche und Warme rückte noch viel näher. »Du, ich danke dir auch sehr schön!« sagte es.

»Kuß!«

Zwei Lippen. Gustav war es, als könne er nie mehr loskommen. War das nicht ein Wagen, auf dem man geradeswegs der ewigen Seligkeit entgegenfuhr! Wo blieb denn diese dumme, lustige Erde? Da saß man, in den schweren Mantel der Nacht gehüllt, die Sterne waren so nahe, man hatte Lust, sie wie Glühwürmer zu fassen und dem Mädel ins Haar zu stecken. Ein Brausen von Hochgefühlen, eine Verbrüderung mit der Unendlichkeit. Jetzt ... jetzt war der Augenblick ... jetzt hätte man sie nehmen können! Gustav bog sie nach hinten, warf sich halb über sie, küßte sie keuchend ...

»Nicht ... Gustav ... nicht ...« murmelte sie mühsam.

Da ließ er sie. Aber ihre Hand behielt er, um sie wild zu drücken. Es kam ihm in den Sinn, was er von deutscher Zucht gehört hatte. Er war ein Schurke, ein erbärmlicher Hund, er war unwürdig dieser Liebe ...

»Was wird denn gespielt?« fragte Steffi nach einer kleinen Weile. Gustav besann sich. Er hatte sich vorgenommen, sie ein wenig zum Besten zu halten. Es war gut ... so kam man darüber hinweg: »Ottokars Glück und Ende!«

Steffi sagte nicht: O weh! wie er es erwartet hätte. Sie sagte gar nichts. Das war das Äußerste an Enttäuschung. Gustav fühlte, daß sie ein wenig von ihm wegrückte. »Ottokars Glück und Ende?« dehnte sie endlich langsam.

»Das ist ein klassisches Stück. Man muß etwas für seine Bildung tun.«

»Ich lern' Schreibmaschin' und Stenographieren,« sagte sie mit Nachdruck.

»Das ist nicht genug. Die Bildung fangt erst hinter der Schreibmaschin' an. Und ist das nicht fein, wenn so ein Böhmenkönig an der Falschheit seiner eigenen Leute zugrund' geht? Wenn der böhmische Löw' zum Schluß das Powidlreindl verliert?«

»Na ja!«

Es war seltsam, da sprach man von ganz anderen Dingen und Gustav fühlte dabei, wie ein großer Augenblick immer näher kam. Eine Eröffnung, die zu machen war. Es konnte nicht länger verhohlen werden, alles dieses Schäkern und Scherzen war kindisch und läppisch; ohne Sinn vor der Gewalt und Wucht dessen, was da zu sagen war. Wenn das einmal geschehen war, dann war diese Liebe über das Tändeln hinaus, dann war sie wie in Erz geprägt, durch ein ganz großes Vertrauen beglaubigt. Durch dieses Wort riß Gustav die Geliebte an sich, trennte sie von der übrigen Welt. Da konnte dann keiner der jungen Herren mehr an sie heran, die ihr sonst nachliefen, da war sie ihm dann eng und unauflöslich verbunden.

Er hörte Steffi etwas sagen: »Aber du weißt doch, daß ich am liebsten Operetten hab'. Ausgerechnet König Ottokars Glück und Ende muß es sein ...?

Nein, jetzt ging es nicht, jetzt konnte es nicht gesagt sein, obzwar alles dazu drängte. Gustav begann ungeduldig zu werden und brach seine lustige Lüge entzwei: »Also, reg' dich wieder ab ... es ist ja gar nicht König Ottokar, sondern die Lustige Witwe.«

Da war das Warme und Weiche wieder ganz nahe. Gustavs Arm wurde erfaßt und gedrückt, es gluckste in der Finsternis vor Vergnügen und auf einmal begannen zwei Füße gegen irgend etwas Bretternes einen Wirbel zu schlagen. Nun war sie erst vollkommen zufrieden. Und vor lauter Freude begann sie zu erzählen, daß es mit dem Maschinschreiben schon sehr gut gehe und daß der Lehrer heute gesagt habe, in sechs Wochen könne sie sich nach einem Posten umsehen. »Da hat man dann wenigstens Geld in der Tasche und kann manchmal ins Theater gehen ... und dann braucht man sich von gewissen Herren nicht mehr mit dem König Ottokar schrecken zu lassen.«

Gustav hatte etwas zu sagen, doch es war nirgends anzubringen. Er kam sich vor wie ein Geknebelter. Und neben ihm schnurrte es immer weiter wie ein Kreisel. Steffi war manchmal imstande, einen ganz wild zu machen ...

Es war auch wirklich an der Zeit, daß man endlich selbständig wurde. Alle Freundinnen hatten schon irgend eine kleine Anstellung, bei Banken, bei Advokaten. Heute früh hatte sie mit Ludmilla Tuma gesprochen, die ging jede Woche einmal ins Theater ... ins tschechische natürlich ...

Gustav fuhr dazwischen: »Du weißt doch, daß ich das nicht will. Die Ludmilla ist kein Verkehr für dich. Von den Geschichten, die man sich von ihr erzählt, will ich gar nichts sagen ... das kann wahr sein und auch nicht. Aber sie ist eine wütende Tschechin und das genügt.«

»Na, friß mich nur nicht! ... Was soll sie denn tun, wenn sie beim Doktor Posolda in der Kanzlei ist ...? Da wär' sie bald draußen, wenn sie nicht stramm wär'. Übrigens ... weißt du davon? Beim Doktor Posolda ist eine Bombe explodiert ... das ganze Stiegenhaus ist eingestürzt, es soll fürchterlich aussehen ... Der Doktor ist nur mit knapper Not dem Tod entronnen, hat sie mir erzählt. Natürlich weißt du davon ... alle Zeitungen sollen ja voll davon ...«

Jetzt, jetzt war es da ... jetzt mußte es gesagt sein. Gustavs Herz klopfte wild, aber er beherrschte sich. Er konnte nicht dafür, daß seine Stimme tief und heiser war: »Ich weiß es besser als alle Zeitungen.«

»Du hast dir es angesehen? Ist es wahr, was die Ludmilla gesagt hat, daß die eine Mauer einen Sprung von oben bis unten hat?«

Feierlich funkelten die Sterne. Die ganze Welt hielt den Atem an. Gustav sagte: »Die Bombe ist von mir!«

Kaum war es heraus, so kam es Gustav unsäglich plump und albern vor, daß er es so angebracht hatte. Es hätte ganz anders gesagt werden müssen.

»Was?« fragte die Ahnungslose neben ihm.

»Es war keine Bombe. Es war eine Höllenmaschine.

Eine Bombe wird geworfen. Eine Höllenmaschine wird gelegt und auf Zeit gerichtet.«

»Und das hast du getan?«

»Ja!« sagte Gustav einfach. Jetzt war das Peinliche überwunden, der Mannesstolz der sieghaften Tat war wieder befreit. Königliche Nacht der Enthüllung, dachte er. Wie wird sie dich lieben, wie wird sie dich bewundern, diese kleine Kröte, da sie nun weiß, was du für dein Volk gewagt hast!

»Aber Gustav,« sagte es neben ihm und die Stimme war vor Angst ganz klein, »wenn sie dich jetzt einsperren!«

»Lächerlich!«

»Aber – wenn sie dich einsperren! Hast du nicht daran gedacht?«

»Daran denkt man nicht ...«

»Aber doch ... sie sperren dich ganz bestimmt ein, wenn sie dich erwischen. Warum hast du das getan?«

»Warum? Ich habe eine Pflicht erfüllt. Aber es scheint, du verstehst das nicht.«

Gustav fühlte, wie das Weiche und Warme neben ihm sich zurückzog und in sich zusammenkroch. Ganz geduckt saß es da, vor Angst. Gustav war einem kleinen Mädel unheimlich geworden.

»Und wenn jetzt wirklich etwas geschehen wär' ... wenn es einen Menschen zerrissen hätt'?« fragte sie schüchtern.

»Wenn ... wenn ...! Wenn das Wenn nicht wär', wär' der Wenngraf ein Graf. Aber es ist nichts geschehen!« sagte Gustav. Dann fügte er düster hinzu: »Übrigens war das meine Absicht, ihm einen Denkzettel zu geben. Er hat unverschämtes Schwein gehabt!«

Jetzt wagte Steffi schon gar nichts mehr zu sagen. Dieser Gustav war ein Wüterich. Ihre Gedanken kreisten immer um das eine, das Schreckliche: »Und wenn sie dich doch einsperren ... was wird deine Mutter sagen?«

»Zuerst kommt das Volk. Und nach Sibirien können sie mich nicht schicken!«

»Nein ...« sagte Steffi, vor dem Unbegreiflichen erzitternd, »nach Sibirien können sie dich nicht schicken.« Sie hatte den Eindruck, daß dies irgendwie fesch sein sollte, aber sie konnte es nicht nachfühlen, sie hatte zu viel Angst dazu.

Eine Türe ging auf, hinten im Weltraum. Ein rötliches Licht brach hervor und bahnte sich seinen Weg quer durch alle Werkstücke der Wagenbauerei und der Faßbinderei und zwischen Hollunderbüschen und Nesselstauden. Und als es zu der gelblackierten Kutsche kam, war es von dem langen, mühsamen Weg sehr schwach. Aber immerhin sah Gustav so viel, daß Steffi ganz große, verängstigte Augen hatte und daß ihre Unterlippe zitterte.

»Steffi!« schrie jemand in der geöffneten Tür. Der Ton rollte dröhnend das Lichtband entlang bis zu der gelblackierten Kutsche.

Gott sei Dank, sprach etwas sehr vernehmlich in Steffis Untergründen. Sie atmete auf. »Ich muß gehen!« sagte sie. »Gute Nacht!« Mit einem Satz war sie vom Kutschbock unten und nahm sich nicht einmal die Zeit, Gustav einen Kuß zu geben. Als sie ein paar Schritte getan hatte, kehrte sie noch einmal um und reichte Gustav eine feuchte, kalte Hand. »Gib acht,« flüsterte sie, »und laß dich nicht erwischen.« Dann verschwand sie zwischen einer Nesselstaude und einem mächtigen Faß. Die Türe klappte zu, das Lichtband war fort, alles war wieder in die Nacht zurückgesunken.

Noch eine Weile saß Gustav allein auf dem Kutschbock, dann glitt er langsam herab, schob sich durch den Hof und kletterte über den Zaun.

Als er sich zu Bette legte, sagte er sich, daß alles ganz anders gekommen sei, als er es erwartet hatte. Der große Jubel war ausgeblieben, die Begeisterung hatte sich nicht eingestellt. Sie hatte kein Verständnis für Heldentum. Mein Gott, man konnte nicht alles von einem einzelnen Menschen verlangen. Jetzt lernte sie Schreibmaschine und Stenographieren. Daß dieser Gedanke sehr viel Bitternis in sich hatte, das konnte Gustav aber schon nicht mehr klarstellen, denn gleich nachher war er fest eingeschlafen.

*

Zwei Tage später kam ein fremder Herr in das Bureau der Eisengießerei Willfried Morek. Er grüßte bescheiden und fragte leise: »Welcher der Herren ist der Praktikant Gustav Gruber?«

Gruber war eben dabei, sein Gabelfrühstück zu essen. Ein Stück Wurst aus der mütterlichen Gemischtwarenhandlung und eine Semmel. Er erhob sich von seinem Platz, aber er konnte nicht antworten, denn er hatte eben den Mund voll.

Der fremde Herr trat an ihn heran und sagte sehr verbindlich: »Ich habe mit Ihnen zu sprechen, dürfte ich Sie bitten, mit mir hinauszukommen.«

Gruber verwunderte sich über den fremden Herrn. Der trug einen schwarzen Knebelbart und zwinkerte beständig mit den Augen. Gustav dachte, er sieht eigentlich komisch aus: wie ein Franzose, der einen Witz machen will. Es wäre sehr zum Lachen gewesen, wenn Gustav nicht ein eisiges Gefühl im Unterleib gehabt hätte, ein Gefühl von Zusammenziehen der Kälte, das sehr unbehaglich war.

Der fremde Herr schritt voraus und Gustav folgte ihm. Die Gesichter seiner Kollegen sahen seltsam verschwommen aus. Hinter der Türe wandte sich der Franzose um und zwinkerte heftig. »Sie sind also der Praktikant Gruber?« fragte er noch einmal, aber gar nicht mehr so liebenswürdig wie drinnen im Bureau.

Gustav nickte. Er konnte mit dem verdammten Bissen Wurst nicht fertig werden. Als ob er Baumwolle im Mund gehabt hätte.

»Sie müssen mit mir gehen! Holen Sie Ihren Überzieher und Ihren Hut! Sie sind verhaftet!«

Gustav war hilflos. Er würgte mit aller Kraft an der Wurst. Aber die Muskeln der Speiseröhre waren wie gelähmt. Endlich zwängte er den Bissen ganz nach hinten, drückte verzweifelt, und es war, als treibe ihm die Wurst im Hinuntergleiten den Schlund auseinander.

Er fühlte, man müsse etwas einwenden. Man müsse fragen: »Warum?«

»Das werden Sie selbst am besten wissen. Machen Sie keine Umstände!« sagte der zwinkernde Franzose grob.

Der Buchhändler Palm ist für sein Volk erschossen worden, dachte Gustav, und die Schillschen Offiziere haben auch ihr Leben lassen müssen. Mich wollen sie einsperren. Einen Augenblick war es ihm, als sei es eine ganz leichte Sache zu entfliehen. Er brauchte dem Franzosen bloß einen Stoß zu geben und über den Hof zu laufen. Seine Gedanken standen wohl auf seinem Gesicht. Der Franzose zwinkerte: »Sie ... draußen steht ein Wachmann! Holen Sie jetzt Ihren Hut.«

Gustav wandte sich und ging ins Bureau zurück. »Was ist denn los?« fragte der dicke Wenngraf, dessen Schreibtisch an den Grubers stieß. Gustav fiel der alte Bureauwitz ein, das war der Wenngraf, der ein Graf wäre, wenn das Wenn nicht wäre.

»Nichts,« sagte er, »ein Bekannter ... ich bin gleich wieder da!« Er nahm seinen Hut und seinen Spazierstock und ging zur Türe. Alle sahen ihn an. Was war denn an ihm zu sehen, er beherrschte sich doch wie ein Held?

»Du ... dein Gabelfrühstück!« schrie ihm der dicke Wenngraf nach.

Gruber machte eine Handbewegung. Mochte es aufessen, wer wollte.

»So!« sagte der Franzose, »na sehen Sie ... also gehen wir ...«

Der Chef kam den Gang entlang. Nie war Herr Morek Gustav so breit und gewaltig erschienen, nie hatte seine Verehrung für diesen Mann ihm seine eigene Existenz so unbedeutend erscheinen lassen. Eine Eingebung war plötzlich da: Hinstürzen, seine Knie umklammern, um Rettung flehen. Er riß den Hut vom Kopf.

Der Chef blieb stehen: »Was ist denn? Was haben Sie denn, Gruber?«

Der Franzose grüßte bescheiden. Er war wieder ganz die liebenswürdigste Beflissenheit. »Entschuldigen, Herr von Morek, ich bin sehr ... Sie müssen entschuldigen. Ich bin beauftragt, den Herrn Gruber zu verhaften.«

Morek sah aus wie ein zürnender Germanenhäuptling, blondbärtig, mit blauen flammenden Augen. Knapp vor dem Fäusteheben und Losstürzen. Der Franzose sank ganz in sich zusammen. »Wer sind Sie?« fragte Herr Morek unheimlich verhalten.

»Ich bin der Zivilwachmann Frühauf.« Und der Franzose zog den Messingadler hervor und hielt ihn vor sich hin wie ein Amulett gegen eine Gefahr.

Herr Morek hob die Hand. Gustav glaubte, er würde jetzt zuschlagen; der Messingadler würde davonfliegen, in einem Bogen ins Wesenlose verschwinden, der Franzose würde versinken. Und man würde aufwachen und sich freuen, daß alles nur ein Traum gewesen war. Der Morek schlug nicht. Er knurrte tief und drohend, aber er ließ die Hand sinken. Der Messingadler war stärker als sein Zorn.

»Warum wollen Sie ihn verhaften?« fragte er nur.

Jetzt besann sich der Franzose auf Diensteid und Ansehen und Pflicht und die anderen Grundwahrheiten seines inneren Menschen. Er machte einen Versuch zu lächeln und zuckte mit den Achseln.

»Herr, sagen Sie mir, um was es sich handelt ... glauben Sie, ich lasse mir meine Leute so ohne weiteres aus dem Bureau davonführen? Ich will wissen, was los ist. Ich habe ein Recht dazu.«

Da sah Frühauf ein, daß es manchmal angebracht ist, von einer Grundwahrheit des inneren Menschen abzugehen, wenn dadurch ein peinlicher Zusammenstoß vermieden werden kann. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und trat Herrn Morek einen Schritt näher: »Es handelt sich um dieses Bombenattentat auf den Herrn Doktor Posolda.« Und sogleich trat er zurück wie jemand, der eben selbst eine Mine angezündet hat.

Aber Morek sah ihn schon gar nicht mehr an. Jetzt hielt der Chef Zwiesprache mit seinem Praktikanten. »Gruber!« sagte er. Das war eine besorgte Frage, ein liebevoller Vorwurf und auch ein bißchen Staunen. »Gruber ... Sie Unglücksmensch ... wie kommen Sie zu einer solchen Geschichte?«

Gruber richtete sich auf und sah seinen Chef frei und kühn an. Dieser Mann hatte Anspruch darauf, die Wahrheit zu erfahren.

»Nein« ... rief der Chef, noch ehe Gruber ein Wort hatte sagen können, »nein, Sie brauchen mir gar nichts zu sagen ... ich weiß es, ohne daß Sie es mir versichern, ich weiß, daß Sie es nicht gewesen sind. Es ist gut, ich glaube es Ihnen! Gehen Sie jetzt. Ich werde dafür Sorge tragen, daß Sie nicht länger in der Untersuchungshaft bleiben, als es unbedingt nötig ist. Verlassen Sie sich auf mich. Kopf hoch, Gruber!«

Der Franzose berührte seinen Arrestanten am Ellenbogen. Er war sehr froh, daß die Sache so glatt abgelaufen war. Aber den Messingadler behielt er in der Hand, als Talisman, so lange, bis er sich aus dem Bereich der Hausmacht des Herrn Morek fühlte ...

Eine halbe Stunde später fuhr der Hüttenchef Morek im Automobil vor dem Laden der Gemischtwarenhändlerin Anastasia Gruber vor. Eine ungeheuere Staubwolke drang bei der offenen Türe hinein und legte sich in feinen Schichten auf Grieß- und Mehlsäcke, auf die blauen Stangen mit Zichorie, auf die blanken Wagschalen, auf die Glasgefäße mit Bonbons, auf die Würste und die Bierflaschen und auf die Kuh im Fenster.

Frau Gruber stritt eben mit Frau Breitnickel über einen Posten im Büchel, denn Frau Breitnickel behauptete, Frau Gruber habe vorgestern die Butter zweimal aufgeschrieben. Außer Frau Breitnickel war noch ein ganz kleines Mädel da, das mit der Nase gerade bis zum Ladentisch reichte. Es hielt einen Kreuzer in der Hand, und der war ganz warm geworden; denn es wartete schon eine halbe Stunde, bis es daran käme.

»Marandjossef!« sagte Frau Breitnickel, indem sie die Staubwolke falkenäugig durchdrang, »mir scheint, der Herr von Morek!«

Da stand er auch schon, der Herr von Morek, er stand im Automobilmantel in der Gemischtwarenhandlung der Frau Anastasia Gruber. Frau Gruber war sich mit einemmal schamvoll der Niedrigkeit ihrer Existenz bewußt. Sie fuhr hinter dem Ladentisch herum, als suche sie einen Ausgang. »Mein Gott, der Herr von Morek ... Küß die Hand, Herr von Morek ...!«

Noch immer staunte Frau Breitnickel mit offenem Mund.

Um Herrn Morek sanken die Staubwolken. Er hob sich immer mächtiger aus ihnen, blondbärtig, blauäugig, ein germanischer Heerführer im Automobilmantel. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Frau Gruber,« sagte er.

Frau Breitnickel verzog sich. Aber sie sah noch, wie Herr Morek Frau Gruber über den Ladentisch hinüber die Hand reichte. Sie schüttelte den Kopf und begab sich sogleich zu ihrer Nachbarin, der Frau Danek, mit der sie so gute Freundschaft hielt, wie nur je zwischen einer Faßbindermeisters- und einer Wagenbauersgattin gehalten wurde.

Der leutselige Herr Morek aber sagte: »Es betrifft Ihren Sohn, Frau Gruber.« Die Frau tat einen Schrei. Das Mutterherz drehte sich ihr um und um. Sie vergaß augenblicklich, welche Ehre ihr durch den Besuch erwiesen worden war. Jetzt war der leutselige Chef nur der Unglücksbote. Wenn ein vornehmer Herr zu armen Leuten kam, was konnte das Gutes bedeuten?

»Er hat etwas angestellt,« stammelte sie, und das Weinen stand ihr schon in Augenhöhe.

»Er hat eine große Dummheit gemacht. Nein ... nicht bei mir. Leider nicht bei mir ...! Erschrecken Sie nicht, Frau Gruber ... es ist nicht so schlimm, wie es aussieht ... man hat ihn heute im Bureau verhaftet! Er soll diesen Doktor Posolda beinahe in die Luft gesprengt haben. Die Bombengeschichte ... Sie wissen ja.«

Frau Gruber wurde ganz gelb und ihre Zähne klapperten gegeneinander. Dann brach das Weinen los, und im Augenblick war die ganze Gemischtwarenhandlung von Jammern und Klagen angefüllt.

Sie hatten vergessen, daß noch jemand da war. Ein kleines Mädel, das mit der Nase gerade bis zum Rand des Ladentisches reichte und einen heißen Kreuzer krampfhaft in der kleinen Faust hielt. Es schaute die weinende Frau mit großen, angstvollen Augen unverwandt an.

»Sie dürfen den Kopf nicht verlieren, Frau Gruber. Es wird nichts so heiß gegessen, als es gekocht wird. Leider kann man ja nicht unbedingt behaupten, daß Ihr Sohn an der Geschichte unschuldig ist. Ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß die Polizei diesmal nicht danebengegriffen hat. Ihr Sohn ist ein sehr phantasievoller junger Mann. Seine lebhafte Einbildung hat ihn zu diesem Stück verführt. Er hat ja doch vor Jahren schon einmal nach Südafrika durchbrennen wollen. Nein ... es ist nichts als Unbesonnenheit. Ich habe den Burschen gern, kann ich Ihnen sagen. Er ist ein fleißiger und tüchtiger Arbeiter.«

Frau Gruber aber schluchzte trotz aller Tröstungen unaufhaltsam weiter. Sie sah ihren Sohn verloren, in Sträflingskleidern, das Gesicht an ein Kerkergitter pressend.

»Ich werde mich für ihn einsetzen, Frau Gruber. Verlassen Sie sich darauf, wozu hat man seine Abgeordneten, nicht wahr? Die ganze Geschichte hat ein politisches Gesicht. Es handelt sich darum, ihre Harmlosigkeit nachzuweisen ... das ist nicht so schwer ...«

Das Für und Wider glitt an Frau Gruber vorüber. Sie war unfähig zu Erwägungen. Sie wußte nur, daß man Gustav verhaftet hatte.

Es wäre am besten, wenn Frau Gruber jetzt gleich mit ihm Schritte für ihren Sohn unternähme, meinte Morek.

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie konnte doch nicht ihr Geschäft sperren. Jetzt war Monatsbeginn, jetzt kamen die Leute, um zu zahlen und neue Einkäufe zu machen.

»Dann gehe ich allein zu Doktor Lorenz. Verlassen Sie sich auf mich, ich gebe nicht zu, daß Ihrem Sohn etwas geschieht. Kopf hoch, liebe Frau Gruber ... na, adieu ... ich komme wieder und sage Ihnen, was ich ausgerichtet habe.« Und Morek reichte wieder die Hand über den Ladentisch. Frau Gruber blieb zurück, mit einem ganz leisen Gefühl von Hoffnung. Wenn sich ein solcher Herr ihres Jungen annahm! ... Vielleicht blieb er doch davor bewahrt, sein Gesicht an ein Kerkergitter zu pressen und in Sträflingskleidern bei Bauten Handlangerdienste zu tun oder mit einem Handwagen armer Leute Umzug zu bewerkstelligen.

Ein leises Weinen war da irgendwo.

Frau Gruber sah auf. Da war ein kleines Mädel, dem die Tränen aus den Augen rannen. Es wischte mit den geballten schmutzigen Fäusten im Gesicht herum und sah schon aus wie marmoriert.

»Was willst du denn?« fragte Frau Gruber.

»Um ... um ... an Kreuzer Zuckerln,« schluchzte das Kind und legte ein heißes Zweihellerstück auf den Ladentisch.

Da bekam es so viel Zuckerln, wie es anderswo nicht für zwanzig Heller bekommen hätte – trotz der teueren Zeiten.

*

Herr Morek sandte dem Doktor Lorenz seine Karte ins Allerheiligste. Er wurde sogleich angenommen.

Doktor Lorenz war sehr erfreut, Herrn Morek bei sich zu sehen, denn Morek gehörte dem Deutschen Volksrat an und war beim Wählerverein und allenthalben voran, wo man einen Mittler zwischen sich und der Menge brauchte.

Und womit er Herrn Morek dienen könne?

Morek brachte sein Anliegen vor. Ein leichtsinniger Bubenstreich, nicht wahr? Und man dürfe nicht zugeben, daß wegen einer solchen Dummheit ein Menschenleben vernichtet würde. Es sei ja anzunehmen, daß man sich von tschechischer Seite bemühen werde, eine große Aktion daraus zu machen ...

»Allerdings,« warf Doktor Lorenz ein. »Wenn man die Zeitungen liest ...«

Nun eben. Und da sei es Pflicht, diesem Bestreben entgegenzuwirken. Man müsse seinen Einfluß aufbieten, und Doktor Lorenz sei der geeignete Mann dazu.

Doktor Lorenz war Politiker bis zur Bewußtlosigkeit. Und das war wörtlich zu nehmen. Denn er war imstande, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf geweckt wurde, eine wohlgeordnete Kandidatenrede zu halten. Er hätte die Fehler sämtlicher Regierungen seit Einführung der Verfassung an den Fingern herzählen können, wenn er genügend viel Finger zur Verfügung gehabt hätte. Und er war im Besitz der Geheimwissenschaft, wie Österreich geholfen werden könne. Sehr einfach dadurch, indem man ihn zum Minister machte. Aber das sagte er nicht laut, weil man ihm das am Ende als Streberei ausgelegt hätte. Er dachte es nur bei sich und steckte es sich als Ziel seiner Wünsche. Vorläufig wäre er als Abschlag auf seine berechtigten Ansprüche mit einer Erhebung in den Adelstand zufrieden gewesen. Das aristokratische Äußere hatte er sich schon zurechtgelegt, obgleich er selbstverständlich demokratisch gesinnt war. Er hielt etwas auf wohlgepflegte Fingernägel und tadellose Kleidung und war überzeugt, daß man ihm das nicht verübeln könne, weil ein einsichtiger Mensch niemals vom Schneider auf den inneren Menschen schließen würde. Man konnte ein deutschgesinnter Mann sein, auch wenn man keine Röllchen trug.

Neben diesem klug beherrschten Führer mit den kühlen Augen und der klaren Stirn war Herr Morek, obzwar er ein Automobil besaß, wie der wilde Barbar aus den germanischen Urwäldern. Lorenz hatte für solche Männer ein feines, überlegenes Lächeln. Selbstverständlich ein Lächeln nach innen. Mit Temperament war in Österreich keine deutsche Politik zu machen.

»Was wünschen Sie also, was ich tun soll?« fragte er.

»Irgendwie eingreifen ... dem armen Teufel helfen. Sie werden schon einen Weg finden.«

Doktor Lorenz legte eines der schlanken Beine über das andere. Gelbe Halbschuhe und schwarze Seidenstrümpfe wirkten niederschmetternd elegant. Morek erinnerte sich, daß er in seinem Fabrikrock losgefahren war, mit dem großen Ölfleck auf der linken Brustseite. Er schaute ein wenig unsicher auf den gelben Halbschuh, der auf- und niederwippte.

»Wie denken Sie sich das?« fragte der Abgeordnete wieder. »Die Justiz geht ihren Gang. Kann ich ihr in das Rad fallen? Ja, wenn man früher davon erfahren hätte, bevor die Sache offiziell geworden ist. Da hätte man noch beschönigen und vertuschen können. Aber jetzt ... Untersuchungsrichter ... Staatsanwalt und so weiter ... haben Sie eine Ahnung? Lassen sich die etwas dreinreden? Ich riskiere, wenn ich irgend etwas unternehme ... wissen Sie, was ich riskiere? daß man mir sagt: Herr Doktor, Sie als Advokat könnten wissen, daß wir unter Amtseid stehen, wir sind Beamte. Darauf reden sich die Herren immer aus, wenn sie etwas tun sollen, was ihnen nicht paßt ...«

Morek rückte so heftig in seinem Stuhl, daß man durch Krachen daran erinnert wurde, er sei nicht aus einer Stahlhütte hervorgegangen, sondern nur aus einer Tischlerwerkstatt.

»Ich verlange doch nicht von Ihnen, daß Sie die ganze Justiz bestechen sollen. Aber Sie sollen mit den Leuten sprechen. Ihr Einfluß reicht so weit, daß Sie ihnen eine mildere Auffassung beibringen können. Sie brauchen doch nicht geradezu zu reden, aber doch so, daß man merken kann, es wäre Ihnen sehr lieb, wenn die Sache im Sand verliefe. Jeder wird Ihnen zu Gefallen sein. Jeder hat doch irgend welche Anliegen und Wünsche an einen Abgeordneten und wird bereit sein, sich ihn zu verpflichten.«

»Nur Sie haben keine Anliegen,« lächelte Lorenz.

»Nein – Gott sei Dank!« Das war ganz überzeugend und herzhaft aus den Tiefen gehoben. »Wenigstens nicht für mich ...,« setzte Morek dann leiser hinzu.

Lorenz sah ein, daß das Wetter Westnordwest stand. Er war ein kluger Seefahrer und richtete seine Segel nach dem Wind. »Sie haben recht! Es ist diese übertriebene deutsche Ängstlichkeit. Diese dumme Achtung vor fremdem Pflichtgefühl. Wir müssen unsere Gewissenhaftigkeit oblegen, wir müssen lernen, rücksichtslos zu sein, wie unsere Gegner. Sonst kommen wir nicht weiter. Wir kommen von einem Bedenken ins andere. Gut, ich verspreche Ihnen, daß ich mich für Ihren Schützling ... wie heißt er? ... Gruber! ... verwenden will.«

Ein Notizblock lag auf dem Schreibtisch. Der Abgeordnete trug mit seiner festen schönen Schrift den Namen Gruber ein.

Morek empfahl sich. Ein paar Bemerkungen über Theater und Sommerreisen flatterten als Ausklang des Gespräches hinterdrein. Was sollte man sich sagen, um den unangenehmen Eindruck zu verwischen? Jeder behielt eine Enttäuschung zurück. Morek fand, Lorenz habe sich ungebührlich lang zureden lassen. Und Lorenz hatte nicht gedacht, daß Morek so unbequem werden könne.

Ihm war die Sache sehr peinlich. Ja, wenn nicht gerade jetzt die Stelle im Vorstand der Landesbank zur Besetzung gekommen wäre. Das war die Stelle, auf die man schon lange gewartet hatte. Man hatte Anspruch darauf, man hatte sie fast so gut wie im Sack. Ein Übereinkommen war zwischen Deutschen und Tschechen geschlossen worden, und die Stelle sollte diesmal einem Deutschen zufallen. Wer da vor allen anderen in Betracht kam – das war der Doktor Lorenz. Man wollte einen ruhigen, vornehmen Politiker im Verwaltungsrat, keinen Radaubruder. Es war nur selbstverständlich, daß man diesen Aussichten durch ein gewisses Entgegenkommen entsprechen mußte. Und gerade jetzt, in diesem kritischen Augenblick, sollte man sich in eine Angelegenheit mischen, die von der anderen Seite offenbar für höchst bedeutsam angesehen wurde?

Lorenz mahnte sich selbst zur Vorsicht. Er war ein umsichtiger Seefahrer und lief nirgends ein, ohne sorgsam den Grund zu prüfen.

Am Abend gab es eine Sitzung in Sachen der Neubesetzung jener Stelle. Doktor Posolda war da. Er nahm die Glückwünsche der Freunde und Kollegen zu seiner wunderbaren Rettung entgegen. Er machte ein tiefernstes Gesicht, voll Dankbarkeit gegen ein gütiges Schicksal. Man sah ihm an, daß er sich deutlich bewußt war, vom Hauch des Todes gestreift worden zu sein.

Lorenz kam und drückte ihm die Hand.

»Man könnte lernen, an Gott zu glauben!« sagte Posolda, indem er den Händedruck erwiderte.

»Ja ... es ist unheimlich, wenn man bedenkt, was so ein blödsinniger Bubenstreich für Folgen hätte haben können ...,« sagte Lorenz. Er sprach durch die Nase, das war der äußerste Grad von Gelassenheit.

Doktor Posolda funkelte ihn aus seinen kleinen Bauernaugen an. Die roten Wülste der fast haarlosen Augenbrauen zitterten über diesem Blick wie Sülze.

»Herr! Ein planvolles Attentat ... ein sorgfältig vorbereitetes Attentat nach russischem Muster. Ich hoffe, daß die Richter anders darüber denken wie Sie ...«

Oha – das Riff, auf das man beinahe aufgefahren wäre! Und Doktor Lorenz ließ schleunigst den Anker fallen.

*

»Sie waren also vor drei Jahren schon einmal auf dem Weg nach Südafrika?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Ja!« sagte Gustav Gruber.

»Jetzt sind Sie achtzehn Jahre. Damals waren Sie also fünfzehn. Was haben Sie eigentlich in Südafrika tun wollen?«

Gruber schwieg. Er konnte doch dem Untersuchungsrichter nicht sagen, daß er hatte Gold graben und Diamanten finden wollen. Es schwebten ihm sehr undeutlich Steppen mit stachligen Gebüschen vor, nackte Felsen, ein Zug von schweren Wagen mit Dächern aus Segeltuch, Männer mit Patronengurten und breitkrämpigen Hüten, nackte Zulus mit ovalen Schilden aus Büffelhaut, Antilopen, Lagerfeuer. In seinem Kopf klopfte ein Wort: Assagai!!! Aber alles das, dieses Undeutliche und Verworrene, lebte von dem Hochgefühl einer schrankenlosen Freiheit. Die war jetzt ganz bis ans andere Ende der Welt gewichen. Hier stand man in vier kahlen, schmutzigen Wänden, an denen sich Aktenregale aufbauten, vor einem Schreibtisch, an dem ein Herr mit einem Zwicker saß, dem sehr viel Macht gegeben war. An einem Stehpult lehnte ein struppiger, sommersprossiger Mensch mit krummen Beinen, der Frage und Antwort in einem in der Mitte gefalteten Bogen eintrug. Vor den Fenstern war eine Hofmauer, deren oberer Teil von der Sonne beschienen war. Dann ein rotes Dach, auf dem ein Tauber einen Liebestanz rund um eine weiße Täubin aufführte. Aber die Täubin tat, als habe sie etwas unendlich Interessantes in der Dachrinne gefunden und als sei der schönste Liebestanz minder wichtig als dieses Ding in der Dachrinne.

Das sah man alles zwischen Frage und Antwort, während man den Strich überschritt, der zwischen beiden gezogen war.

Und noch etwas war in dem Raum. Ein milder, tröstender Blick, der ging von dem Bild eines alten Herrn in einem Goldrahmen aus. Ein alter Herr in Offiziersuniform, der vor einem grünen Vorhang stand, die Hand am Säbelgriff, leicht vornübergebeugt, und schaute geradeaus über die Aktenbündel und Schreibtische weg, und in seinem Gesicht war zu lesen, wie schweres Erleben zu schlicht menschlichem Verstehen geworden war.

»Na also, sehen Sie!« fuhr der Untersuchungsrichter fort, »Sie können mir selbst nicht sagen, was Sie in Südafrika tun wollten. Sie wissen also nicht immer über Ihre Handlungen Rechenschaft abzulegen.«

Gruber hatte Vertrauen zu dem Untersuchungsrichter Hollergschwandner. Schon deshalb, weil man, wenn er saß, sehen konnte, daß sein Schädel mit scharfem Eisen kreuz und quer zerpflügt war. Auf der Stirn hatte er einen halbkreisförmigen Lappen, der sah aus, als brauche man bloß einen Handgriff daran zu machen, um ihn nach Belieben aufklappen zu können. Gruber fühlte, daß ihm dieser Mann nicht übelwollte. Aber es war doch sozusagen kränkend, daß man seine Geisteskräfte herabsetzen mußte, wenn man ihm zu helfen gesonnen war.

Hollergschwandner steckte einen Bleistift in den Mund und trommelte mit dem Ende gegen die Zähne. Dann sagte er: »Frage: Waren Sie sich der Tragweite Ihres Tuns bewußt?«

Der krummbeinige, sommersprossige Mensch fuhr eifrig auf der Frageseite über den Protokollbogen.

»Na ... Herr Gruber ... ob Sie sich der Tragweite Ihres Tuns bewußt waren?«

»Welches Tuns?«

Hollergschwandner ließ die Faust ärgerlich auf den Tisch fallen. »Also schaun S', Gruber, so kommen wir nicht weiter. Warum wollen Sie denn noch immer nicht zugeben, daß Sie es gewesen sind. Sie haben sich einmal die Suppe eingebrockt, jetzt heißt's sie auslöffeln. Da kann Ihnen niemand helfen. Höchstens kommen mildernde Umständ' in Betracht. Freimütiges Geständnis, Ihre Jugend ... und so. Na also ... sehen Sie, gerade Sie ... gerade von Ihnen hätt' ich mehr Selbstbewußtsein erwartet ... Sagen Sie aufrichtig: ja, ich bin es gewesen!«

Gruber fühlte etwas in sich aufs äußerste angespannt. Sein Ehrgefühl wollte sich aufrichten. Aber da war etwas Geducktes, Scheues, das in der dumpfen Stube neben der Gemischtwarenhandlung der Frau Anastasia Gruber herangewachsen sein mochte und das flüsterte: Nur kein Geständnis ... nur kein Geständnis! Er sah an dem Untersuchungsrichter vorbei, auf das rote Ziegeldach und den unermüdlichen Tauber.

»Na also,« sagte Hollergschwandner, »dann müssen wir halt weiter inquirieren. Frage: Kennen Sie den ›Kyffhäuser‹?«

»Ja!«

»Was ist das?«

»Das ist ein engerer Verband im Jugendbund.«

»Welche Zwecke verfolgt der?«

»Zwecke? Keine ... es sind die älteren Mitglieder aus dem Jugendbund.«

»Wozu brauchen Sie denn da einen engeren Verband, wenn Sie keine besonderen Zwecke haben? Sie sind auch dabei ... bei den älteren Mitgliedern?«

»Ja!«

»Sie kommen immer im Domkeller zusammen. Nicht wahr? Wo sitzen Sie denn da?«

»Im hinteren Zimmer!«

»Das ist durch eine Glaswand vom vorderen getrennt, nicht wahr? Und was tun Sie denn hinter dieser Glaswand?«

»Es wird Bier getrunken ... gesprochen ... manchmal gesungen.«

»Es wird natürlich auch von politischen Dingen gesprochen?«

»Ja!«

»Glauben Sie nicht, daß es sehr unvorsichtig ist, von gewissen politischen Dingen zu sprechen ... hinter einer Glaswand ... in einem Raum, der nicht ganz abgeschlossen ist, in dem zum Beispiel die Kellner hin und her gehen ...?«

Gruber gab keine Antwort. In seinem Kopf klopfte es: Assagai! Sein Herz war so groß und schwer, daß es die ganze Brust erfüllte. Er faßte seine linke Hand mit der rechten und erschrak über die Berührung. Diese Hände waren kalt und feucht. Da war der Emil, dieser grinsende Kellner, der so überaus höflich und dienstwillig war, daß Viktorin vor ihm gewarnt hatte.

Der Untersuchungsrichter war aufgestanden und ging zweimal durch das Zimmer. Dann blieb er hinter dem Protokollführer stehen und schaute ihm über die Schulter: »Sie ... Netopil,« sagte er, »das hab' ich Ihnen auch schon gesagt, daß man Wand mit W schreibt und nicht mit V. Und Keller schreibt man nicht mit einem l sondern mit zweien. Ja, das geht nicht, Sie müssen Deutsch lernen. Herrgott ... ist das ein konfuses Geschreibe!«

Der krummbeinige, sommersprossige Mensch steckte seine Nase noch tiefer ins Protokoll und erwiderte nichts. Seine Beine wurden noch krummer, als habe man ihm eine schwere Last auf die Schultern gelegt.

»Na ... weiter,« sagte der Untersuchungsrichter, »also die politischen Gespräche hinter der Glaswand. Sie wissen natürlich davon, daß der Doktor Posolda in der Schulfrage einen großen Sieg über die Deutschen errungen hat?«

»Ja!«

»Sie haben auch davon gesprochen, nicht wahr? Und wie haben Sie diesen bedeutenden Sieg aufgenommen? Es war doch damals eine große Empörung in der Stadt.«

»Wir haben uns nicht darüber gefreut!«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wer das war, der damals auf den Tisch geschlagen und gesagt hat: man sollte dem Kerl einen Denkzettel geben!?«

Gruber zögerte einen Augenblick. Dann sagte er leise: »Das habe ich gesagt!«

Der Untersuchungsrichter war vor Gruber stehengeblieben. Er sah ihm fest in die Augen. »Gruber ... Sie sehen, es hilft Ihnen nichts. Wollen Sie sich nicht befreien? Sie sind doch nicht feig. Ich halte Sie nicht für feig. Sie haben eine unbesonnen« Tat begangen. Aber ein Mann steht für seine Taten ein. Ein Mann hat auch den Mut des Bekenntnisses. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich nicht länger aufs Leugnen verlegen.«

Die Spannung in Grubers Kopf war unerträglich geworden. Assagai ... Assagai ... Assagai ... klopfte es in seinen Schläfen. Sein Herz war schmerzhaft ausgedehnt und drückte gegen seine Kehle. Jetzt mußte es sich entscheiden, wer er war. Er schaute hilflos um sich. Da war ein milder Blick menschlichen Verstehens und Verzeihens im Raum, und der kam von einem leicht vornübergebeugten alten Herrn in Offiziersuniform vor einem grünen Vorhang. Dieser Blick war keine Lüge. Und es war keine Lüge, daß von dem Mann vor ihm ein warmer Strom ausging. Zu dem gehörte er, der wußte das Wort, das seine Ehre und seinen Mut rettete.

»Ja!« sagte er und erwiderte den Blick des Mannes, »ich habe es getan.«

Berge stürzten von seiner Brust, ein Gefühl unendlichen Glückes war plötzlich da, machte ihn frei und löste die Spannung. Er war gerettet, er hatte sich gefunden und sein Schicksal auf sich genommen.

Und etwas höchst Merkwürdiges ereignete sich. Der Untersuchungsrichter Hollergschwandner gab dem Untersuchungshäftling Gruber die Hand, und so etwas hatte dieser Raum nicht gesehen, seit hier der ersten Frage auf der linken die erste Antwort auf der rechten Protokollseite gegenübergestellt worden war. Und dazu sagte der Untersuchungsrichter Hollergschwandner: »Sehr brav!«

In diesem Augenblick ging es wie etwas Trübes, ein Schatten, ein Mißton durch Grubers Freudigkeit. Irgend etwas Arges und Tückisches war plötzlich emporgewachsen und kauerte ihm gegenüber im Zimmer. Er sah an dem Untersuchungsrichter vorbei und gerade in das Gesicht des Protokollführers. Der hatte die Nase vom Protokoll erhoben und schaute ihn an. Die Lippen waren von den breiten, weißen Zähnen zurückgezogen und ein Grinsen ging von einem Ohr zum anderen. In den grauen, schillernden Augen saß dieses Arge und Tückische. Aber das war nur ein einziger Augenblick. Im nächsten war das sommersprossige Gesicht schon wieder hinter dem Stehpult verschwunden, und die krummen Beine zwischen den dünnen, geraden Stelzen des Pultes wurden noch krümmer.

Grubers Bekennerfreudigkeit war wieder stolz und aufrecht.

Hollergschwandner begann im Zimmer zu wandern. Aber nicht mehr stampfend und hart wie vorhin; sondern auf weichen, sanften Sohlen, als liege ein Teppich unter seinen Füßen. Es war aber nur Freude und Rührung, die da hingebreitet waren.

»Sie geben also zu,« sagte er, »daß Sie es waren, der das Bombenattentat auf den Doktor Posolda ausgeführt hat.«

»Es war keine Bombe, es war eine Höllenmaschine. Eine Bombe wird geschleudert, eine Höllenmaschine wird auf Zeit gerichtet.«

Hollergschwandner lächelte: »Es war eine alte Sardinenbüchse mit Tapezierernägeln, mein Lieber. Wo haben Sie das Pulver dazu hergenommen?«

»Ich – ich habe auf dem Exerzierplatz unausgeschossene Patronen gefunden.«

»Gut. Aber sagen Sie, wie sind gerade Sie dazu gekommen, die Sache auszuführen? Sie waren wütend, daß dieser Herr Doktor Posolda in der Schulangelegenheit über die Deutschen gesiegt hat. Sie haben gesagt, man sollte ihm einen Denkzettel geben. Aber zwischen Zorn und Drohung einerseits und der Ausführung einer Tat andererseits liegt noch etwas: der Entschluß zur Tat. Sind Sie vielleicht in diesem Entschluß von irgend jemandem bestärkt worden?«

»Nein! Es ist gelost worden und das Los hat mich getroffen!«

»So? Also Sie sind ausgelost worden und haben sich nicht etwa freiwillig angeboten?«

»Zuerst habe ich mich freiwillig angeboten.«

Der Untersuchungsrichter räusperte sich. Ein kurzes Knattern kam vom offenen Fenster her. Die beiden Tauben waren von dem roten Ziegeldach aufgeflogen, in den blauen, sonnigen Nachmittag hinein. Der Schatten war aus dem Schacht des Hofes emporgewachsen und langte mit grauen Fingern über das Dach.

»Sie haben also hinter der Glaswand im Domkeller gelost,« sagte der Untersuchungsrichter nach einer Weile des Nachdenkens. Dann trat er zu dem Protokollführer und sah ihm über die Schulter: »Netopil, ich bitt' Sie um Gotteswillen, Keller mit zwei l! Und das brauchen S' doch überhaupt nicht zu schreiben. Das ist doch nur die Einleitung zu einer Frage. Frage: Sind Sie allein ausgelost worden?«

»Ja!« sagte Gruber.

»So? Es hat Ihnen also niemand dabei geholfen?«

»Nein!«

»Sagen Sie die Wahrheit, Gruber. Es nützt Ihnen ja doch nichts. Es ist ja sehr schön, daß Sie die anderen nicht verraten wollen. Aber Sie sehen, wir wissen alles. Es nützt Ihnen nichts.«

Gruber stand aufrecht da, er nahm die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich habe es allein getan, Herr Untersuchungsrichter.«

Die Sonne war von dem Ziegeldach fort. Aber sie durchleuchtete noch den klaren Septembernachmittag über allen Dächern und Schornsteinen der Stadt mit dem Duft ihres flüssigen Goldes.

Hollergschwandner drückte auf den Knopf einer elektrischen Klingel, die auf seinem Schreibtisch lag. Draußen in den öden, kalten Gängen des riesenhaften Steinblockes läutete es irgendwo.

Schrill.

Ein Gefangenenwärter trat ein. Hollergschwandner gab ihm ein Zeichen mit dem Kopf, ohne ein Wort zu sagen. Dann ging er schweigend auf und ab.

Gustav Gruber war sehr glücklich und zufrieden gewesen. Aber nun brannte eine Unruhe in ihm. Welche fürchterliche Maschine war das, in die er da geraten war! Wenn sie eine Hand erfaßt hatte, so zog sie den ganzen Menschen nach. Wo war da die Freiheit einer großen Entschließung? Wo war die Selbstherrlichkeit eines heroischen Willens? Der Freund vor ihm verharrte in ernstem Schweigen.

Füße scharrten draußen auf dem Gang. Die Türe ging auf. Mehrere Menschen traten ins Zimmer. Ein plumpes Stampfen, wie von einem Klumpfuß ...

Gruber wandte sich zögernd um.

Da standen seine Bundesbrüder Parsifal und Hildebrand. Aber hier waren sie nur der Schriftsetzer Hükkel und der Photographengehilfe Standera.

Gruber wurde ganz blaß, und unwillkürlich fuhr ihm die Hand zum Herzen, das ihm auf einmal wieder schwer und groß in der Brust lag. Die Maschine ... die den ganzen Menschen ergriff, wirbelte ihn herum.

Hollergschwandner sah von einem zum anderen. Hükkels Gesicht war aschgrau, sein Blick schlich auf dem Boden hin. Standera trug eine krampfhafte Zuversicht in den Augen. Aber die Topfgriffohren waren dünn und durchscheinend und standen noch mehr ab als sonst.

»Ich habe Sie holen lassen,« sagte der Untersuchungsrichter, »um Ihnen mitzuteilen, daß Gruber gestanden hat. Zunächst für sich allein,« setzte er rasch hinzu, »aber ich möchte Ihnen ernstlich empfehlen, seinem Beispiel zu folgen. Das ist ein freundschaftlicher Rat, den ich Ihnen gebe.«

Standera knurrte etwas vor sich hin.

»Was sagen Sie?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Ich weiß von nichts.«

»Überlegen Sie sich's, Standera! Sie haben die ganze Sache mit einer geradezu kindlichen Unvorsichtigkeit betrieben. Ich habe Ihnen die Zeugenaussagen vorgehalten. Na ... und Sie, Hükkel?«

Parsifal fuhr zusammen, als hätte er einen Stoß erhalten. Das Bein, an dem der Klumpfuß hing, knickte ein. Er mußte einen raschen Schritt machen, um das Gleichgewicht zu bewahren.

Er blickte auf und sah um sich, wie ein Kranker, der das Auge des Arztes sucht.

»Ich weiß doch, daß Sie drei ausgelost worden sind. Wenn Sie gestehen, so haben Sie einen Milderungsgrund mehr zu dem Leichtsinn und Unverstand, den Sie geltend machen dürfen.«

Gruber wollte etwas einwerfen.

»Schweigen Sie jetzt!« fuhr ihn der Untersuchungsrichter an.

Parsifal senkte den Kopf. Sein krummer Rücken war höher als der Hals.

»Geben Sie also zu, daß Sie an der Sache beteiligt waren?«

Der Bucklige bewegte den Kopf hin und her, wie ein Tier, das nicht aus noch ein weiß.

»Soll ich Ihr Schweigen als Geständnis nehmen? Sie müssen es mir aber deutlich und ausdrücklich sagen.«

»Ja!« murmelte der Schriftsetzer.

»Na ... also sehen Sie. Gott sei Dank! Na und Sie, Standera? Haben Sie sich's überlegt?«

Standera hatte inzwischen das Gesicht Grubers mit wütenden Blicken zerfetzt. Jetzt nahm er seinen Zorn von ihm, wandelte ihn in gekränkte Unschuld und richtete seine Augen auf den Untersuchungsrichter. Es zuckte unter der Haut seines Gesichtes, daß alle Mitesser und Wimmerln in Bewegung waren.

»Ich weiß von nichts!« sagte er weinerlich.

Der Untersuchungsrichter ließ die Faust schwer auf den Schreibtisch fallen. »Wie Sie wollen, Standera ... wie Sie wollen.« Er überlegte noch einen Augenblick. Dann sagte er: »Abführen!«

Der Gefangenwärter öffnete die Türe. Aber während die drei Burschen sich aneinander vorbei und auf den Gang hinausschoben, nahm Standera die Gelegenheit wahr, Gruber etwas zuzuflüstern.

»Du bist ein Vieh!« zischte er ingrimmig an seinem Ohr.

* * *

 


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