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Da war der Verteidiger in Strafsachen Doktor Karplus.

Er hatte einen Kopf, so viereckig wie ein Aktenschrank, und einen höchst merkwürdigen Schnurrbart, der ihm wie der eines Katers nach allen Seiten wegstand. Aber in diesem Schädel war alles nach dem System: Ein Griff, ein Paragraph! eingerichtet, und dieser merkwürdige Schnurrbart konnte sich im Kampf mit dem Staatsanwalt sträuben, wie die Spieße des verlorenen Haufens vor dem Sturm.

Auch hatte er die Gewohnheit, während des Gespräches die Hände zu reiben, als wasche er sie unaufhörlich in Unschuld. Das war eine fatale Gewohnheit und ihm selbst am fatalsten. Und wenn er sich dabei ertappte, so hielt er augenblicklich inne und ärgerte sich. Ein solches Händereiben und Waschen in Unschuld war eine ausgesprochen jesuitische Gepflogenheit. So schlichen die heiligen Väter im Roman und auf dem Theater herum. Und Doktor Karplus wollte durchaus nichts mit ihnen gemein haben, denn er war Obmann der Ortsgruppe der »Freien Schule«.

Eines Sonntags rückten Frau Anastasia Gruber und der Selchermeister Franz Kral bei ihm an. Frau Gruber war sehr verweint und aufgeregt, und entschuldigte sich, daß sie gerade Sonntags kämen, aber am Wochentag könnten sie eben nicht ihre Geschäfte sperren. Der Selchermeister fügte hinzu, er versäume auch so schon genug, denn er sei nebstbei noch Masseur und habe gerade am Sonntag seine besten Kunden. Da sah Doktor Karplus mit gemischten Gefühlen auf die dicken groben Selcherpranken, die so rot waren, man wußte nicht, von der Wurstküche oder von der Bauchmassage.

Und ob nicht der Herr Doktor die besondere Güte haben und die Verteidigung des Gustav Gruber übernehmen wolle, von dessen Fall er gewiß gehört habe?

Freilich hatte der Doktor von dem Fall des Gustav Gruber gehört. Er machte eine ernste Miene und sagte, seine Gewissenhaftigkeit erlaube ihm nicht, zu verschweigen, daß dies nach seiner Meinung ein sehr, sehr böser Fall sei.

Da sagte der Selchermeister Franz Kral, das habe er auch gesagt. Und er habe es schon immer gesagt, daß der Lausbub ihnen noch einmal etwas aufzulösen geben werde, sagte er. Denn der Selchermeister Franz Kral war der Vormund.

Doktor Karplus mußte immer die dicken roten Hände betrachten und fragte sich insgeheim, ob die wohl auch gründlich gewaschen würden, wenn sie von der Bauchmassage zum Schinkenschneiden übergingen. Und Frau Gruber tat ihm so leid, daß er halb und halb entschlossen war, die Verteidigung des jungen Menschen auf alle Fälle zu übernehmen.

Zur Vorsicht aber sagte er doch noch vorerst, daß er leider so beschäftigt sei, daß er sich in einen so verwickelten Fall durchaus nicht ohne entsprechende Vergütung einlassen könne.

Da wurde Frau Gruber sehr rot. Dann sagte sie, daß der Chef ihres Sohnes, Herr von Morek, erklärt habe, die Kosten der Verteidigung zu tragen.

Der Selchermeister Franz Kral setzte hinzu, der Lausbub habe ohnehin mehr Glück als Verstand. Der Doktor Karplus war nahe daran, dem Mann etwas sehr Unhöfliches zu sagen. Er wußte nicht daß Franz Kral zwei Söhne hatte, aus denen durchaus nichts Rechtes werden wollte. Und daß sich in seiner Masseurseele nun endlich ein jahrelang angesammelter Groll über einen jungen Menschen, der Geld verdiente und es nicht vertrank, sondern zum größten Teil der Mutter abführte, in Genugtuung gewandelt hatte.

Der Doktor war zornig. Er rieb sich die Hände und ertappte sich dabei, und da ärgerte er sich noch mehr. Und da sagte er, der Fall interessiere ihn doch so sehr, daß er ihn trotz seines Mangels an Zeit unentgeltlich übernehmen wolle.

Frau Gruber wollte ihm die Hand küssen und der Doktor hatte Mühe, sich dagegen zu wehren.

So übernahm Doktor Karplus die Verteidigung, und er übernahm sie mit Eifer und gutem Willen. Er hatte auch eine Unterredung mit Gruber. Aber von der kehrte er mit Kopfschütteln und bedenklichem Gesicht zurück, denn der Angeklagte war durchaus nicht geneigt gewesen, sich als geistig minderwertig hinstellen zu lassen.

*

An einem Freitag kam das Bombenattentat gegen Doktor Posolda vor den Geschworenen zur Verhandlung.

An diesem Tag wollte Frau Anastasia Gruber ihre Gemischtwarenhandlung sperren. Aber die Frau Breitnickel hatte sich bereit erklärt, für sie im Laden zu bleiben, denn Frau Gruber war in der letzten Zeit bei allen Streitfällen betreffs der Butter und der Eier so nachgiebig gewesen, daß man schon etwas für sie tun mußte.

»Ein Mensch muß dem anderen helfen,« sagte sie, »wenn mein Mann auch nichts Warmes kriegt. Denn die Steffi is auch bei der Verhandlung.«

»Wenn heut' nur nicht Freitag wär',« jammerte Frau Gruber.

»Geh'n S' zu den Kapuzinern,« riet die Nachbarin, »und opfern S' ein Herz. Wie ich voriges Jahr den bösen Fuß gehabt hab', hab' ich ihn aufgeopfert und in drei Wochen war er gesund.«

Frau Gruber ging zu den Kapuzinern und legte alle ihre mütterliche Angst in ein wächsernes Herz, über dem sie unzählige Vaterunser und Ave-Maria sprach. Und dann trug sie es in einen dunkeln Winkel hinter dem Aloisiusaltar, wo schon eine Menge in Wachs gebannter Kümmernisse und Krankheiten und Kränkungen lagen.

Als sie in den Sitzungssaal kam, war er schon so voll, daß sie nur mehr einen Platz ganz hinten an der Wand fand. Zu ihrem Unstern neben dem Vormund Franz Kral. Der hatte heute das Geschäft seinem Ältesten überlassen. Obzwar er wußte, daß es das Geldladel grausam zu büßen haben werde. »Schauen S' Ihnen den Staatsanwalt an,« flüsterte er, »der is ein Scharfer. Und der Vorsitzende, das is der Suchomel, der verkehrt nur in der Beseda.«

Obzwar das Mutterherz seine Angst in ein Wachsgebilde getan und sie hinter dem Aloisiusaltar aufgeopfert hatte, schlug es doch so unbändig wild, als sei ihm daraus wenig Hoffnung geworden. Ein Gedanke drängte sich immer wieder heran: so hatte es kommen müssen, weil der Gustav keine Religion hatte. Was hatte er gesagt? Er hatte den Wotansglauben. Und von den alten Germanen hatte er gesprochen und von Götterhainen und den Donnereichen, an die der heilige Bonifazius seine frevlerischen Hände gelegt hatte. So war er, so gottverlassen und ungläubig. Und jetzt, in der Stunde des Unglücks, erhob sich der Wotansglauben des Sohnes und stand wie eine Wand zwischen dem Mutterherzen und der Jungfrau Maria.

Gleich darauf begann die Auslosung der Geschworenen. Namen wurden aufgerufen. Ab und zu murmelte der Staatsanwalt etwas dazwischen.

»O je!« sagte der Selchermeister, »der Staatsanwalt lehnt alle Deutschen ab.« Die Geschworenenbank füllte sich. Es waren lauter fremde Menschen. Frau Gruber kannte nicht einen einzigen von ihnen. Sie las in ihren Mienen eine fürchterliche Entschlossenheit, sich ihrer Macht unnachsichtlich zu bedienen.

Hälse streckten sich und Köpfe bewegten sich hin und her. Zwischen einem schmutzigen Hemdkragen und einem blauen Federhut bekam Frau Gruber einen kurzen Blick auf den Saal. Die Angeklagten wurden vorgeführt. Der erste war Gustav. Sie schluchzte auf, es war fast wie ein Schrei, daß sich einige Leute nach ihr umwandten und der Selchermeister Franz Kral seine große rote Masseurpfote auf ihren Arm legte.

Gustav hatte, als er den Saal betrat, einen hellen stolzen Blick auf das Publikum geworfen. War er eines schimpflichen Verbrechens angeklagt? Was er begangen hatte, war eine ehrenvolle Tat. Und ein Mann steht für seine Taten ein. Seltsam zwiespältig hauchte es ihn aus dem gefüllten Zuschauerraum an. Sein gesteigertes Empfinden unterschied deutlich die Zweiteilung der Menge. Da saßen der Haß und die Zuneigung nebeneinander. Da wünschten ihm die einen den Untergang und die anderen die Rettung. Er lächelte, er fühlte sich allen bösen Wünschen überlegen, und wenn er auch für seine Tat bestraft wurde – seinen inneren Menschen konnte doch niemand vernichten.

Die Geschworenen sahen ihn lächeln und faßten sogleich die Meinung, daß dieser Mensch ein frecher Patron sei, der vor ihnen nicht die mindeste Ehrerbietung habe.

Da hörte Gustav Gruber einen unterdrückten Schrei, und als er in der Richtung hinsah, erblickte er einen Hut mit blauen Federn und ein blasses Mädelgesicht. Sie war da. Sie war gekommen, wie er es von ihr erwartet hatte, und es war die Angst um ihn, die in dem leisen Schrei gewesen war. Gustav hatte ganz vergessen, daß er eine Mutter besaß.

Der Präsident stellte die Personalien fest.

Der Schriftsetzer Hükkel stand neben Gruber. Oder vielmehr, er hing auf unbegreifliche Weise in der Luft. Er war nichts als Heulen und Zähneklappen, ein Anblick zum Erbarmen.

»Halt' dich, Parsifal!« flüsterte Gustav, »nimm dich zusammen! Mach' ihnen nicht die Freude!«

Auf Parsifals anderer Seite wackelte der Photographengehilfe Standera von einem Fuß auf den anderen. Er ließ seinen Blick bald über die Decke, bald über den Fußboden laufen und schielte vor lauter Unschuld.

Ein krummbeiniger, sommersprossiger Mensch erhob sich auf den Wink des Präsidenten. Es war der Schriftführer aus dem Untersuchungsgefängnis. Er begann die Anklageschrift zu verlesen, und die schaudernde Menge vernahm, welch erschreckliches Verbrechen die drei jungen Leute begangen hatten. Sie erfuhr es freilich mit Hindernissen. Denn der Auskultant Netopil las nicht besser als er schrieb. Es klang, als habe man Erbsen in einen Blechtopf getan und rolle ihn eine Kellerstiege hinunter. Große Schweißtropfen traten auf die Stirne des Lesenden. Und um nicht ganz unterzugehen, schob er nach jedem dritten Wort ein »also« ein.

Als er zu Ende war, ging ein Aufatmen durch den Saal. Man hatte das Gefühl gehabt, ein Mensch habe eine Schlinge um den Hals und ziehe sie mit jeder Bewegung fester zu.

Der Präsident räusperte sich und fragte, ob die Angeklagten gehört hätten, wessen sie bezichtigt wurden und ob sie sich schuldig bekannten, das Bombenattentat gegen Doktor Posolda verübt zu haben?

Gruber antwortete zuerst. Seine Stimme war hell, nur vielleicht etwas dünn, so daß sie wie von einer Höhe herunterkam. Er sagte: »Ja! Aber es war keine Bombe, es war eine Höllenmaschine. Eine Bombe wird geworfen, eine Höllenmaschine aber wird auf die Zeit gerichtet.«

Hükkel hing so schief um seine Achse, daß es aussah, er müsse an sich selbst herunterrutschen. Er sagte nichts und zitterte nur.

Standera aber schielte den Vorsitzenden an und sagte vorwurfsvoll: »Ich weiß von nichts.« Dann wurden er und Hükkel wieder abgeführt.

Und nun gab Gustav auf die Fragen des Vorsitzenden seine Antworten. Sie waren knapp und fest in gutsitzende Worte gekleidet, als sei ihm nichts mehr am Herzen gelegen, als dem Hörer ein recht anschauliches Bild der Tat zu geben. Aber sie betrafen nur seinen und Hükkels Anteil. Standera blieb ausgeschaltet, als sei er nicht beteiligt gewesen. Es gelang dem Vorsitzenden nicht, Gruber zu einer Aussage zu bringen, die dem Leugnenden verderblich geworden wäre. In großen Engen rettete er sich durch ein Achselzucken: »Darüber darf ich nichts sagen!«

Hükkel kam und bestätigte widerstandslos alles, was Gruber gesagt hatte.

Nur Standera blieb noch immer dabei, daß er von nichts wisse. Das logische Schamgefühl ging ihm ab, das sich überwältigenden Beweisen unterwirft und vor Widersprüchen zum Bekenntnis zwingt.

Schwer und groß saß der Vorsitzende in seinem Stuhl, einen Kopf höher als die Beisitzer des Gerichtshofes. Seine Wangen waren von einer bläulichen Röte überhaucht, in der kleine purpurne Äderchen durcheinanderliefen. Seine große feste Nase stand besonnen und selbstbewußt über dem Mund. Es war ein Anschein von Gesundheit und Wohlwollen über seinen äußeren Menschen gebreitet und man hätte ihn vielleicht für gutmütig halten können. Aber da war dieser harte Mund, der dagegen sprach, und die hohe, kantige Stirn, die seltsam blaß mit den weinfreudigen Wangen im Gegensatz stand. Und er war einäugig wie Wotan oder wie Zischka. Aber man merkte an seiner Aussprache, daß er sich zu Zischka bekannte.

Eine Unterredung mit dem Staatsanwalt war der Verhandlung vorhergegangen. Der Staatsanwalt hatte sich darüber beschwert, daß die Untersuchung sehr gemütlich geführt worden sei. Gerade als ob es dem Untersuchungsrichter darum zu tun gewesen sei, alle mildernden Umstände ins Licht zu setzen und die Sache recht harmlos darzustellen. Übrigens sei ihm als eine höchst merkwürdige Tatsache zu Ohren gekommen, daß Hollergschwandner dem Angeklagten Gruber die Hand gereicht habe. Man könne daraus gewisse Schlüsse ziehen, und es sei vielleicht angebracht, den Herrn Präsidenten von alledem in Kenntnis zu setzen.

Es galt also einiges gutzumachen. Die Tatumstände waren klar genug, aber hier handelte es sich darum, ihre kriminalistische Wertung deutlich herauszuheben.

Der Vorsitzende ging zum Zeugenverhör über.

Zuerst wurde Herr Wenzel Lefenda, Hausmeister bei Doktor Posolda, einvernommen. Er gab eine Schilderung der Explosionskatastroph«. Es war ein Krach gewesen wie von einer Haubitze, das Haus hätte in seinen Grundfesten gebebt, und der Mörtel hatte sich von den Wänden losgelöst. Wenzel Lefenda log nicht, in seinem Gedächtnis hatte das Ereignis inzwischen ungeheuerliche Maße angenommen.

Doktor Posolda selbst war auch vorgeladen worden. Aber er war verreist, hatte sich entschuldigt und gebeten, auf sein Erscheinen zu verzichten. Seine Aussage sei unwesentlich und trage nichts zur Beurteilung des Attentates bei. übrigens widerstrebe es ihm, an einer Verhandlung teilzunehmen, bei der sein menschliches Empfinden auf Seite der irregeleiteten, verhetzten Jugend stünde.

Als der Vorsitzende den Brief zu den Akten legte, konnte man Beifallsgemurmel hören. Die Geschworenen nickten.

Suchomel stellte das sofort fest, indem er sein Auge auf die Zuhörer richtete und sagte: »Ich bitte sich jeder Beifalls- und Mißfallensäußerung zu enthalten.«

Das Verhör nahm seinen Fortgang., Der Kellner Emil aus dem Domkeller trat auf, verlegen und beflissen, und berichtete von der Verschwörung hinter der Glaswand. Und ein paar Stammgäste des Domkellers, die widerwillig bezeugen mußten, daß auch sie so was gehört hätten. Dann kam eine lange Reihe von ehemaligen Genossen aus dem »Kyffhäuser«. Die mußten alle zugeben, daß geschimpft und gelost worden war. Aber sie hatten samt und sonders nur geglaubt, daß man einen »Spaß« mache. Nie hätten sie für möglich gehalten, daß Gruber und die anderen wirklich das Attentat ausführen würden. Diesen Jünglingen erging es ziemlich übel. Der Vorsitzende bedrängte sie derart mit Fragen und Einwürfen, daß sie sich wanden, als würden sie über langsamem Feuer geröstet. Er gab ihnen zu verstehen, daß sie es nur einer fast nicht zu verantwortenden Milde und Gnade der Justiz zu verdanken hätten, daß sie nicht alle zusammen in Anklagezustand versetzt worden waren. Schweißtriefend, mit gebrochenem Seelenrückgrat, mit verrenktem Verstand und geräderten Nerven kamen sie aus der Folterung hervor.

Während dieses Verhöres wuchs in einem Mann ein schwerer Zorn. Herr Morek saß in der ersten Bank und sah, daß ein unzerreißbares Netz gesponnen wurde. Eine unsichtbare Macht stand hinter den äußeren Vorgängen der Verhandlung, sie lenkte die Fragen des Vorsitzenden, daß alles Belastende grell und wuchtig heraustrat und die eigentliche Farbe der Geschehnisse verfälscht wurde. Morek hatte in der Untersuchung seine Aussagen gemacht und seine Vorladung auch für die Hauptverhandlung erwartet. Man hatte ihn nicht vorgeladen. Nun saß er aber da, bebte vor Zorn und wollte zu Worte kommen.

Paul Karroh, Handlungsgehilfe, gewesener Obmann des »Jugendbundes«, stand vor den Schranken. Seine Würde als Obmann war in doppelter Weise und ausnehmend gründlich erloschen. Zwei Tage nach dem Attentat hatte er sie auf Wunsch seines Chefs zurückgelegt, und kurze Zeit darauf war der »Jugendbund« als Brutstätte politischer Umtriebe polizeilich aufgelöst worden. Biterolf wußte nichts; er hatte nichts gesagt; er war niemals Genosse im »Kyffhäuser« gewesen.

Morek hatte dem Verteidiger Doktor Karplus einen Wink gegeben. »Bestehen Sie auf meiner Einvernahme,« flüsterte er ihm zu.

Als der Vorsitzende das Zeugenverhör schließen wollte, beantragte der Verteidiger noch die Einvernahme des anwesenden Herrn Gießereibesitzers Morek. Der Vorsitzende blätterte in den Akten und sagte, Herr Morek habe in der Untersuchung nur so unwesentliche Aussagen gemacht, daß man ihn gar nicht vorgeladen habe. Auch der Staatsanwalt meinte, man könne verzichten. Aber Doktor Karplus bestand darauf, daß er gehört wurde, und endlich stimmte der Vorsitzende nach einer kurzen Anfrage bei den Beisitzern zu.

Morek erhob sich und trat vor das Tribunal.

Langsam und schwer begann er zu sprechen. Von dem sogenannten Verbrechen der jungen Leute wisse er nichts. Hükkel und Standera seien ihm gänzlich unbekannt. Was er zu sagen habe, betreffe Gustav Gruber. Er habe den jungen Mann als fleißigen und pünktlichen Arbeiter kennengelernt und könne ihm das beste Zeugnis ausstellen. Wenn man über eine solche Tat urteilen wolle, so müsse man vor allem fragen, wie der Mensch beschaffen sei, der sie verübt habe. Die vorbedachte Tötung eines Menschen sei ein Mord, wenn ein Mensch aber in einer momentanen Aufwallung der Leidenschaft erschlagen werde, so spreche man von einem Totschlag, und der werde vom Gesetz ganz anders beurteilt. Genau so müsse man hier unterscheiden. Der ganzen Anlage der Tat nach könne sie gar nicht in der Absicht unternommen worden sein, einen ernsthaften Schaden zuzufügen, alles sei so kindlich und unzulänglich gewesen, daß sie nur einen demonstrativen Zweck gehabt haben könne. Sie sei nichts als eine Art von Katzenmusik gewesen. Und das stimme auch zum Charakter des Angeklagten Gruber, der kein Radaubruder und kein verkommener Mensch sei. Nur eine irregeleitete Phantasie habe ihn verführt.

Der Vorsitzende hatte sich zurückgelehnt und sein Auge geschlossen. Aber nun, da der lebendige Blick weg war, war es fast schaurig zu sehen, wie die Höhle des ausgeronnenen Auges in den Saal starrte. Ein Lächeln lief irgendwie auf diesem Gesicht zusammen.

Suchomel unterbrach den Sprecher: »Wenn man die Augen zumacht, so könnte man glauben, daß der Herr Verteidiger redet.«

»Ich will dem Herrn Verteidiger nicht vorgreifen,« sagte Morek, »ich will nur den Charakter des Angeklagten Gruber beleuchten.«

Der Vorsitzende schlug sein Auge wieder auf: »Ich habe Sie nur sprechen lassen, um den Herrn Verteidiger zu überzeugen, daß Sie uns nichts zu sagen haben.«

Morek stand mit geballten Fäusten: »Ich muß sprechen, weil man hier darauf auszugehen scheint, diese lächerliche Attentatsgeschichte zu einem fürchterlichen Verbrechen aufzubauschen.«

Der Vorsitzende schlug mit der flachen Hand leicht auf den Tisch und sagte leise und durchdringend: »Nehmen Sie sich in acht, Herr Morek, noch eine solche Äußerung, und Sie werden es zu bereuen haben.«

Neben Steffi Breitnickel saß ein junger Mann, der trug eine weißrotblaue Rosette im Knopfloch. Während der Aussage Moreks unterhielt er sich mit seinem Nachbarn. Er machte halblaute, höhnische Bemerkungen. Steffi verstand genug, um sich darüber zu ärgern, daß er es versuchte, Morek lächerlich zu machen. Eine Weile trug sie es. Dann zischte sie scharf und zornig: »Ruhe!«

Der junge Mann wandte sich ihr überrascht zu. Er hatte ein hübsches, regelmäßiges Gesicht, frisch und kühn und lustig wie ein junger Ringkämpfer. Er lachte Steffi an. Er wagte es, sie anzulachen. Dann kehrte er sich wieder seinem Nachbarn zu und sagte: »Eine nette deutsche Maus!« Steffi war empört.

Man war zur Einvernahme der Sachverständigen übergegangen. Der Professor der deutschen Technik Karmasin erklärte, daß die sogenannte Bombe nicht viel mehr als ein Kinderspielzeug gewesen sei. Eine Sardinenbüchse, mit Tapezierernägeln und Glanzsplittern gefüllt! überdies habe sie viel zu wenig Explosivstoff enthalten und sei durchaus mangelhaft ausgeführt gewesen. Der Vorsitzende hatte den Sachverständigen viel zu fragen: wieviel Explosivstoff denn eigentlich nötig sei, um einen erheblichen Schaden anzurichten, und ob nicht auch Glassplitter geeignet wären, schwere Verletzungen herbeizuführen?

Dann wurde der Gerichtsarzt Doktor Borkovec befragt. Sein Deutsch erinnerte etwas an das des Schriftführers Netopil. Er führte sehr umständlich und mit großem Ernst aus, daß durch die bei der Explosion entstandenen feurigen Gase leicht ein Menschenleben hätte gefährdet werden können.

Der Selchermeister Franz Kral flüsterte Frau Anastasia Gruber zu: »Werden S' sehen, das geht nicht gut aus.« Sie hatte den Kopf an die Wand gelehnt und gab keine Antwort. Sie hörte jemanden lachen. Das war der Gießereibesitzer Morek, und er hörte auch nicht auf zu lachen, als ihm der Vorsitzende vom Fleck weg fünfzig Kronen Geldstrafe diktierte, und meinte, die bei der Explosion entstandenen feurigen Gase des Doktors Borkovec seien viel mehr wert als fünfzig Kronen. Darauf wurde Herr Morek mit sanfter Gewalt aus dem Saal entfernt.

In diesem Augenblick wurde Steffi heftig auf den Fuß getreten. Der hübsche, junge Mensch, der neben ihr saß, lächelte sie an, sagte »Pardon!« und lächelte weiter, mit seinen kühnen, großen Augen so nahe an den ihren, daß sie darin die Fenster des Saales gespiegelt sah. Sie war empört. Sie wäre ihm am liebsten mit den Nägeln ins Gesicht gefahren.

Für Frau Anastasia Gruber aber war dieses Lachen des Herrn Morek schrecklicher als die ingrimmigste Miene des Staatsanwaltes. Es war ihr, als sei mit diesem Lachen die Sache ihres Sohnes aufgegeben. Es schlug wie mit Hämmern gegen ihren Kopf, es stieß wie mit Fackeln gegen ihr Herz. Sie lehnte an der Wand mit zitternden Knien und hörte die helle Stimme Gustavs, der jetzt noch einmal vernommen wurde, wie hinter einer Türe. Der Vorsitzende, der Verteidiger, der Staatsanwalt befragten ihn. Auch ein dicker Bierbrauer von der Geschworenenbank glaubte seinen Scharfsinn dartun zu müssen. Gustav antwortete mit der Freudigkeit eines Bekenners, mit dem Mut eines Mannes, der die Folgen seiner Tat auf sich nimmt.

Warum er das getan habe, fragte der Vorsitzende.

»Für mein Volk habe ich es getan!« antwortete Gruber.

Ob er denn geglaubt habe, seinem Volk mit einer solchen Tat zu nützen?

»Ja!« antwortete Gruber, »damit man sieht, daß die Deutschen am Rand ihrer Geduld angelangt sind.«

Der Verteidiger erhob sich. Er beantragte, den Geisteszustand des Angeklagten Gruber untersuchen zu lassen. Da wandte sich Gruber blitzschnell um. Er wußte einen Hut mit blauen Federn im Saal. Schon vorhin, wie sein Chef gesprochen hatte, war er tief beschämt gewesen. Man sollte nicht von ihm meinen, daß er durch einen anderen um Gnade bitten lasse. Aber die Ehrerbietung und die Liebe schlossen ihm den Mund. Wie sollte er dem Wiking Morek widersprechen! Jetzt aber riß es Gustav herum. Dieses war zuviel.

Ein Hut mit blauen Federn war da irgendwo im Saal.

»Ich verwahre mich dagegen,« sagte er. Sein Gesicht war heiß und purpurn. »Ich verwahre mich dagegen. Ich habe ganz genau gewußt, was ich getan habe.«

Der Vorsitzende machte eine bedauernde Bewegung gegen den Verteidiger. Doktor Karplus stand und rieb sich die Hände. Er ertappte sich dabei, ließ die Arme sinken und ärgerte sich. Dann wandte er sich an die Kollegen ex offo, die Hükkel und Standera zu verteidigen hatten, und zuckte die Achseln. Es war das Achselzucken, mit dem man die Verantwortung von sich abschüttelt. Der Kollege sah Doktor Karplus an und schüttelte den Kopf. Es war das Kopfschütteln, mit dem man den Unbegreiflichkeiten dieser Welt begegnet.

»Lassen Sie mich hinaus,« sagte Frau Gruber zum Selchermeister Kral mit erlöschender Stimme.

»Was haben S' denn?« fragte er.

Sie gab keine Antwort und quetschte sich an ihm vorbei. Es war ihr unmöglich, länger zu bleiben. Ein Schrei formte sich in ihr, rang sich aus der Tiefe los. Er hätte den Saal erfüllt und die Wände zerrissen.

Franz Kral sah ihr nach. Er dachte einen Augenblick daran ihr zu folgen. Aber wie konnte man jetzt hinausgehen, jetzt, wo noch so viel Interessantes bevorstand? Man konnte nicht von ihm verlangen, daß er jetzt hinausging.

Der Gang vor dem Verhandlungssaal war kühl und leer. Nur ein Mann stand an einem der Fenster, das in den Hof hinausging. Ein Mann im Automobilmantel, Herr Morek, der wegen Ungebühr Entfernte. Frau Gruber trat zu ihm.

»Sie sind es!« sagte er.

Jenseits des Hofes, im gegenüberliegenden Flügel des Gerichtsgebäudes, war die Registratur. Man sah ihr von hier in die Fenster. Endlose Reihen von mit Akten angefüllten Gestellen verloren sich in Staub und Dämmern. Zusammengeschnürte Ballen beschriebenen Papieres waren übereinandergetürmt. An einem Vervielfältigungsapparat arbeitete ein Amtsdiener in einem schmutziggrünen Leinwandkittel. Er drehte an einer Kurbel, klappte einen Rahmen auf und zog ein Blatt Papier von einer Platte. Dann legte er ein Blatt Papier ein, klappte den Rahmen zu und drehte an einer Kurbel.

Frau Gruber sah nichts davon. Sie sah etwas ganz anderes. Dort hinter den verschlossenen Türen ging die Verhandlung weiter. Vor einiger Zeit war sie in einem Wachsfigurenkabinett gewesen. Da hatte es neben anderen Scheußlichkeiten auch den Zaren Alexander gegeben. Den Zaren Alexander von Rußland auf dem Totenbett. Er lag in Lebensgröße, mit der russischen Uniform angetan, ausgestreckt, die wachsbleichen Hände und das Gesicht von Bombensplittern zerrissen. Er atmete noch, wie Wachsfiguren atmen, die ein Uhrwerk und einen kleinen Blasebalg in der Brust haben. Das sah Frau Gruber. Und der ausgestreckte Mensch trug zuerst die Züge des Doktors Posolda. Dann aber wandelte sich das Gesicht, und der da lag, war nicht mehr der Doktor Posolda, sondern Gustav Gruber. Sie fühlte wieder den Schrei in sich und erfaßte Moreks Arm.

»Na, na!« sagte er, »den Kopf können sie ihm nicht abreißen.«

Lange ... lange ... lange stand man an diesem Fenster. Die Zeit war fort. Es rieselte in den Mauern.

Dann wurde plötzlich die Türe des Verhandlungssaales aufgerissen. Sie schlug mit einem Knall gegen die Wand. Füßescharren und Stimmengemurmel quoll über die Stille. Die Geschworenen hatten sich zur Beratung zurückgezogen.

Franz Kral trat zu Frau Gruber. »Schön hat er gesprochen, der Doktor Karplus. Aber helfen wird's nichts. Der Staatsanwalt hat Messer geredet. ›Wohin soll es kommen, wenn der nationale Kampf solche Formen annimmt?‹ hat er g'sagt. ›Es ist Ihre Pflicht, meine Herren Geschworenen, einer weiteren Verhetzung der Jugend entgegenzuwirken,‹ hat er g'sagt. ›Wenn Sie dieses eine Mal die Strenge des Gesetzes walten lassen,‹ hat er g'sagt, ›so retten Sie unzählige andere junge Leute vor ähnlichen Verbrechen.‹ Sakra, scharf war er!«

Jetzt, wo man gewünscht hätte, daß die Zeit in den rieselnden Mauern bleibe, war sie da und schritt kräftig aus. Hatte es wirklich nur wenige Minuten gedauert, bis die Geschworenen zu ihrem Beschluß gekommen waren?

Die Menge drängte in den Saal zurück.

Morek faßte Frau Gruber unter dem Arm und führte sie mit sich. Niemand hinderte ihn daran, wieder den Saal zu betreten. Er stand mit der zitternden Frau ganz hinten an der Wand.

Die Geschworenen nahmen ihre Plätze ein, und der dicke Bierbrauer, der ihr Obmann war, las etwas von einem Papier ab. Frau Gruber hörte ein Gewirr von Worten, die wie an einer Kette hintereinander hergingen. Eines davon fiel ihr auf: es lautete »schuldig!« Dann war wieder eine fließende Dunkelheit und ein Murmeln darin, und dann hob sich neben einem blauen Federhut ein Mann empor, der ein schwarzes Barett aufsetzte. Und der nannte den Namen Gustav Gruber und schlug ihn an ein Brett, auf dem stand in großen Buchstaben: Zwei Jahre schweren Kerker ...

Ein Schrei drang aus der Menge.

Gustav Gruber wandte sich um. Diesmal sah er es ... nicht das Mädel mit dem blauen Federhut war es gewesen, sondern eine alte Frau, ganz hinten an der Wand ...

Als die drei Verurteilten in ihrer Begleitung von Gefangenwärtern und Justizsoldaten das Gerichtsgebäude verließen, stand eine dichte Menschenmenge vor dem Tor. Der Haß und das Bedauern waren ineinandergekeilt und gewirrt. Plötzlich schrie eine helle Jungenstimme ganz hoch am Rande des Umkippens: »Heil Gruber!«

Einen Augenblick sah Gustav das frische, begeisterte Bubengesicht Wielands. Aber, als hätten der Haß und das Bedauern nur auf dieses Wort gelauert, fielen sie übereinander her. Ein Wirbel entstand in der Menge, Arme flogen hoch, Gebrüll quoll auf. Gruber sah vor seinen Augen eine Ohrfeige von wahrhaft ungeheuerlicher Güte auf einem Gesicht, das sogleich auf die Schulter gewendet war. Ein steifer Hut wurde durch einen Stockhieb bis über die Ohren eingetrieben.

Die Gefangenwärter und Justizsoldaten, die glauben mochten, daß man die Gefangenen befreien wolle, warfen sich mit geballten Fäusten auf die Menge. Langsam, Schritt für Schritt, bahnten sie durch den Knäuel der Kämpfenden für die drei Verurteilten den Weg ins Gefängnis ...

*

Auch über der Strafanstalt Pankraz bei Prag ist derselbe Himmel wie anderswo, ein Himmel mit Wolken und Sonnenschein und Regen und den Wundem der Dämmerungen des Abends und des Morgens. Auch bei der Strafanstalt Pankraz werden Felder bestellt, gehen dampfende Pferde vor Pflügen, keimen Sommer- und Wintersaaten, halten im Herbst gebückte Weiber zwischen den Stoppeln Nachlese, knallen im Buschwald die Schüsse unter das Geschrei der Treiber.

Aber unter dem freien Himmel und zwischen den lebendigen Feldern wächst der Stein aus dem Boden. Gegliederter Stein mit Toren und vergitterten Fenstern. Mit Kanzleien und Zellen und Arbeitssälen und einer Kapelle und einer Leichenkammer. Wo der Stein beginnt, da enden die Mächte des wechselnden Himmels und der wechselnden Erde. Aus den Mächten des Himmels und der belebten Erde haben die Menschen ihre Freiheit abgeleitet, dem Stein haben sie das Gesetz nachgebildet.

Hier im Reich des Steines wird das Jahr nur in zwei Abteilungen geschieden: in die »Heizperiode« und in die Zeit, wo man nicht zu Heizen braucht. Das ist der Kalender des heiligen Bureaukratius.

Das Gesetz ist ein urgewaltiger Geist, es dringt aus den Abgründen des Seins, es ist der Träger des Lebens, wie der Stein das Gerüst der Erde ist. Aber sein Bote bei den Menschen ist der heilige Bureaukratius; das ist ein sehr kleinlicher Heiliger, sein Gewand besteht aus Kleinkonzept Lagernumero 8, seine Flügel sind aus Aktenrektifikaten gewoben, sein Heiligenschein ist eine tabellarische Übersicht. Er hat eine Dienerin und einen Diener: die Vollzugsvorschrift und den Normalerlaß.

Hinter den vergitterten Fenstern wohnt eine Menge von Geistern: der zähneknirschende Trotz, der hohläugige Haß, die blindgeborene Verzweiflung, die Heuchelei mit der glatten Haut, die Gleichgültigkeit mit den hängenden Armen und den leeren Augen und die sanfte, ruhige Besinnung, die nur wenige Anhänger hat. Draußen auf den freien Feldern, unter den Wolken des Himmels sind diese Geister sehr mächtig. Hinter den vergitterten Fenstern aber ist ihnen der heilige Bureaukratius über. Er bändigt sie mit Hieben oder mit Nadelstichen, oder er schnürt ihnen mit den Stricken der Aktenbündel den Hals zu.

Er ist ein sehr kalter Heiliger, noch kälter als Pankratius, Servatius und Bonifazius, die im Mai die Fröste bringen. Man friert in seiner Nähe, wenn man siebzehn Jahre alt ist, einerlei ob die Heizperiode oder die Zeit, wo man nicht zu Heizen braucht, in seinem Kalender steht.

Das waren so die Gedanken Sofkas über das Haus, in dem ihr Vater eine Amtswohnung innehatte. Und die kamen vielleicht davon, weil sie alle die melancholischen tschechischen Dichter gelesen hatte und weil sie einmal bei der Tante in Wien gewesen war. Sie fühlte selbst, daß diese Gedanken für die Tochter eines Strafanstaltskontrollors unpassend waren. Aber man mußte sich gegen die Kälte wehren, die vom heiligen Bureaukratius ausging, man durfte nicht warten, bis sie einem zum Herzen reichte. Oder bis sich die Gleichgültigkeit einnistete und die Arme mutlos herabhingen und die Augen leer wurden.

Es war nicht ganz ohne Grund, wenn sie der Vater früher manchmal in einer behaglicheren Stunde seine Philosofka genannt hatte.

Früher, bevor der kleine Lada gekommen war. Da hatte es manchmal solche behagliche Stunden gegeben. Aber seit der kleine Bruder da war, zeigte es sich, daß der heilige Bureaukratius das Herz der Mutter arm gemacht hatte. Wie wenig Liebe und Wärme hatte er übriggelassen! Alles, was davon noch vorhanden war, hatte sich dem Spätgeborenen zugewendet, und für Sofka war nichts geblieben. Zuerst schrie der kleine Lada vier Monate Tag und Nacht. Dann wuchs er langsam aus den Kissen zu einem kleinen Rechthaber auf. So wacklig seine Beinchen waren, so starr war sein Kopf. Wenn auch die Schädelknochen noch nicht zusammengewachsen waren, so saß hinter ihnen doch schon ein unbeugsamer Wille, den die Mutter in allen Stücken erfüllte.

Sofka stand in der Küche und rührte bittere Gedanken in die Einbrenn.

Licht brach ein, eine Türe ging hinter ihr. Der Sträfling war da, der junge Mensch, der in der Kanzlei arbeitete. Er stand vorschriftsmäßig neben der Türe, die Hände an der Leinenhose, und wartete, bis er gefragt wurde. Sofka fand, daß er übertrieb. Andere machten sich's leichter. Eine Falte entstand zwischen ihren Augenbrauen.

»Was wollen Sie?« fragte sie ungnädig. Es verdroß sie auch, daß sie da am Herd stand und den Kragen der Bluse eingeschlagen hatte, so daß der Hals im spitzen Ausschnitt schimmerte. Sie war noch nicht so weit wie die Mutter, die sich auch im Hemd und Unterrock sehen ließ, weil sie der Meinung war, die Sträflinge kamen nicht als Männer in Betracht.

»Der Herr Kontrollor läßt sagen, daß er heute auf der Kanzlei essen will und daß ihm das Fräulein das Essen hinüberbringen soll.«

Sofka mußte lächeln. Sie hatte gewußt, daß der Vater heute auf der Kanzlei essen würde. Es hatte heute morgen einen kleinen Krach gegeben. Der Vater war schlechter Laune gewesen, weil der Aufseher Sukal dreiundzwanzig Schürhaken verlangt hatte. Dieser Aufseher Sukal war ganz gewiß nicht bei Verstand. Einmal verlangte er plötzlich elf Nachtgeschirre, am nächsten Tag ein Brett aus Lindenholz, um Pantoffel daraus schnitzen zu lassen, dann fehlten wieder acht Kotzen. Jeden Tag hatte er andere Schmerzen. Er dachte offenbar bei Nacht darüber nach, womit er am Morgen den Kontrollor Wawretschka ärgern könne. Aber heute hatte er noch vor dem Frühstück, auf den nüchternen Magen hinauf, dreiundzwanzig neue Schürhaken verlangt. Jetzt mußte man die Menschheit fragen, wozu brauchte der schreckliche Kerl auf einmal dreiundzwanzig Schürhaken? Jetzt im Frühling? Waren auf einmal dreiundzwanzig Schürhaken hingeworden? Und während der Kontrollor sich diese Fragen vorlegte, hatte es auf einmal einen Krach getan. Der kleine Lada war auf den Sessel neben dem Speiseschrank geklettert und hatte etwas hinuntergeschmissen. Das war die Flasche mit den Mariazeller Magentropfen gewesen. Und das war eine himmelschreiende Missetat. Denn erstens waren diese Magentropfen gut, zweitens kamen sie aus Mariazell, hatten also etwas von der Heiligkeit des Ortes an sich, und drittens war das Unglück genau in dem Augenblick geschehen, in dem sich der Kontrollor darüber klar geworden war, daß ein Ärger auf den nüchternen Magen am besten durch Mariazeller Magentropfen bekämpft werden dürfte. Er hatte also in einem gerechten Zornmut den Lada beim Kragen gepackt, aber die Mutter hatte sich dazwischengeworfen. Da hatte es dann eine kleine Auseinandersetzung über Kindererziehung gegeben. Solche Auseinandersetzungen endeten stets damit, daß der Vater die Wahlstatt räumte. Aber er pflegte dann auch nicht so bald zurückzukehren und mittags auf der Kanzlei zu essen.

Obzwar Sofka also ganz genau wußte, warum der Vater nicht zum Essen kam, fragte sie: »Hat der Vater viel zu tun?«

Der Sträfling stand steif neben der Türe, die Hände an der Leinenhose: »Ich glaube!« sagte er.

»Sagen Sie, warum stehen Sie so vor mir,« fuhr Sofia auf, »bin ich ein Aufseher? Glauben Sie, daß ich Sie beiße?«

Der junge Mensch machte große Augen. Das Erstaunen war so groß, daß die Schatten in diesen Augen zurückwichen.

»Sie sind doch ein intelligenter Mensch ...,« fuhr Sofia fort, »warum sind Sie so ...?«

Der Sträfling wich an die Wand zurück. Was hatte er dem Mädel getan, daß es ihn verhöhnte?

Sofia zog den Blusenkragen aus dem Ausschnitt und legte ihn um den Hals. Während sie ihn hinten festhakte, standen die Arme im spitzen Winkel ab, ihre ganze Gestalt war straff und angespannt. »Ich habe mich nach Ihnen erkundigt,« sagte sie, »ich weiß, wie Sie heißen. Ich weiß, warum Sie hier sind!«

Der junge Mensch zuckte die Achseln. Was sollte man sagen? Gut – nun wußte das Mädel, warum er hier war.

»Sie hassen also das ganze tschechische Volk?« fragte sie.

Die Augen des Sträflings wurden wieder dunkel. Das Erstaunen wich und die Schatten krochen hervor. Es war eine seltsame Frage, die zu denken gab. Wie lange hatte er sie wohl schon nicht an sich gerichtet? Er wußte keine Antwort.

»Kennen Sie unsere Dichter – Herr Gruber?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein!«

Es war hohe Zeit, an die Einbrenn zu denken. Wahrhaftig, die klebte schon am Boden der Kasserolle. Sofka rührte in fanatischem Küchentempo. Er sollte aber noch nicht gehen. Der Bureaukratius war ein kalter Heiliger, aber selbst in seinem steinernen Bereich blühten Menschenherzen.

»Ich hasse die Deutschen nicht,« sagte Sofka, »... ich war einmal in Wien ...«

Das war wie eine Zauberkunst. Mauern wichen auseinander, der Küchenherd versank, die Welt war nicht mehr hinter Gittern, das Leben war nicht mehr in tabellarische Übersichten gezwängt. Breite, helle Straßen mit Baumreihen und Kieswegen und kleinen kurzen Eisentürmen, die rundherum mit Plakaten beklebt waren, und etwas Buntes, Lautes, Fröhliches mit vielen Menschen hinter Glasscheiben schob sich unaufhörlich vorbei. Ganz laut sagte jemand: »Bellaria, Umsteig!« Und dann etwas Gewaltiges, Übermächtiges mit Säulen und einem Giebel und einer aufgereckten Gestalt. Aber da strömte es über alles her, eine klingende Flut, die alles auflöste, daß es nur ein einziges Wogen war. Die Seele der Stadt sang. Sie sang den Leichtsinn und die Schönheit.

Und mitten drin stand ein tschechisches Mädel und sagte: »Ich hasse die Deutschen nicht!« Das war das reinste Weltwunder.

»Ich war bei der Tante. Wir waren im Burgtheater und auf dem Kahlenberg und im Prater. Ich möcht' in Wien leben. Waren Sie auch schon in Wien?«

O ja, man war in Wien gewesen. Einmal, auf der Osterfahrt des Gewerbevereins. Mit Herrn Breitnickel und Frau Breitnickel und Steffi. Zwei Tage Glanz und Glück.

Was denn dem Herrn Gruber am besten gefallen habe?

Ach Gott, da war ja so viel unsäglich Schönes. Der Stephansdom mit den steinernen Bäumen seiner Türme. Da war einmal einer außen hinaufgestiegen und hatte oben eine Fahne angebracht. Sollte man das für möglich halten? Und dann war eine Kanzel da, von der begriff man nicht, wie ein Mensch das aus dem Stein hatte herausarbeiten können. Und unter der Kanzel öffnete sich ein Fenster, und ein Kopf sah heraus.

Und der Stephansdom sei das Schönste gewesen?

Ach nein, da war ja noch so viel, daß man es gar nicht einmal aufzählen konnte. Schönbrunn! Und der Prater natürlich! Und abends spielte auf dem Schwarzenbergplatz eine leuchtende Fontäne! Das war wohl so ziemlich das Hübscheste, was es am Abend in Wien gab.

Ja, ja, die leuchtenden Wasserkünste hatte sie auch gesehen.

Sie hatten wahrhaftig den heiligen Bureaukratius ganz und gar vergessen. Aber er hatte sie nicht aus den Augen gelassen, fuhr jetzt in den Aufseher Sukal und kam in dessen Gestalt am Küchenfenster vorbei. Und der Aufseher Sukal hob sich auf die Zehenspitzen, schaute beim Küchenfenster hinein und sah den Sträfling Gruber in bestem Gespräch mit der Sofka vom Kontrollor. Es ging dem Aufseher Sukal zwar nichts an, was dem Sträfling Gruber in der Wohnung des Herrn Kontrollors erlaubt und was ihm nicht erlaubt war. Aber immerhin waren solche Kleinigkeiten ganz gut zu wissen ... wenn man bedachte, wie man heute morgen wegen der dreiundzwanzig Schürhaken angebrüllt worden war.

Sofia und Gruber aber sprachen weiter von Wien, und das war die Welt. Die Worte gingen Hand in Hand wie artige Nachbarskinder.

»Ich möchte in Wien leben ...,« sagte Sofka. Wie oft hatte sie den Vater schon gebeten, sie nach Wien in Stellung gehen zu lassen! Wozu hatte sie den Handelskurs gemacht? Sie wußte, sie könne das Leben zwingen. Aber jetzt war an kein Fortkommen zu denken, seit Lada da war, dieses böse Kind, um das sich alles drehte.

»Wie lange ... wie lange sind Sie schon hier?« fragte Sofka.

»Ein Jahr und sieben Monate,« sagte Gruber, und sein Blick war wieder voll schwerer Schatten. Jetzt trugen die Worte Ketten.

»Was wollen Sie? In ein paar Monaten sind Sie frei. Aber ich! Wofür bin ich verurteilt. Ich sehe kein Ende.«

Ein Kinderwagen quiekte draußen auf dem Hof. Sofka erschrak. Die Mutter! Lada schrie durchdringend.

»Adieu, Herr Gruber!«

Die Einbrenn war endgültig angebrannt und stank wild zur Küchendecke. Gruber machte, daß er hinauskam. Die Frau Kontrollor schob den Kinderwagen, in dem Lada saß, herausgeputzt wie ein Prinz und unter Gebrüll mit den Armen fuchtelnd. Sie dankte seinem Gruß nicht.

Als Gruber in die Kanzlei trat, fuhr ihm der Kontrollor entgegen, ob er denn meine, er habe ihn in seine Wohnung geschickt, um sich mit Sofka zu unterhalten. Wenn so etwas noch einmal vorkomme, so werde er ihn aus der Kanzlei hinausfeuern und wieder unter die Schlosser stecken.

In einer Ecke stand der Aufseher Sukal und grinste. Er grinste im Namen des heiligen Bureaukratius und der dreiundzwanzig verweigerten Schürhaken.

Nach einer Weile kam Sofka und brachte das Essen. Der Kontrollor Wawretschka schnupperte. Die Einbrenn stank ihm verräterisch entgegen. Er brummte etwas, das klang wie: »Schöner Fraß!«

Sofka suchte Grubers Blick, ehe sie ging. Aber er schaute nicht von seiner Arbeit auf, sonst hätte er sehen müssen, daß der Blick sagte: Auch ich ... auch ich! Und daß er Band und Brücke war ...

Abends, als er in die Zelle kam, waren die anderen schon da, wie gewöhnlich. Am längsten arbeitete man in der Kanzlei.

Hükkel lag auf dem Bett ausgestreckt und hatte die Augen geschlossen. Das Abendessen stand auf dem Stuhl neben ihm.

»Wie geht's?« fragte Gruber.

Parsifal öffnete die Augen und bewegte matt die Hand. Eine überflüssige Frage! Wie sollte es einem gehen, der bei den Schustern war und eine schlechte Lunge hatte? Den ganzen Tag gebückt sitzen und auf die Sohlen hämmern. Es war immer noch besser als spinnen. Für einen Schriftsetzer gab es in Pankraz keine Beschäftigung.

»Du solltest dich wieder krank melden!« sagte Gruber.

Parsifals Augen baten: Nein! Er hatte ein paar Tage im Gefängnisspital gelegen und hatte dann selbst wieder hinausverlangt. Es war ihm gewesen, als gebe es von dort nur einen Weg: in die Leichenkammer. Die Wände waren steil und kalt, in den Nächten senkte sich die Decke wie ein schwerer Stein. Die schwarze Tafel am Kopfende des Bettes trug die Hieroglyphen des Todes. Hier in der Zelle konnte man sich vorstellen, daß es einen Tag geben würde, an dem man wieder seine Kleider bekam, und an dem man durch das Torgewölbe gehen würde, an den Wächtern vorbei ...

Parsifal dachte an seine gestreifte Hose, deren rechter Sack ein Loch hatte, durch das man den Finger hindurchstecken konnte. Er freute sich auf den Augenblick, wo er dieses Loch fühlen würde und lächelte.

Wolf Schmelkes ging in der Zelle auf und ab. »Kunst,« sagte er, »zu lachen, wenn ma a Dichter is. Ma stellt sich was vor und lacht.«

Sie wußten, daß Parsifal ein Dichter war. Standera hatte ihn um das Linsengericht eines Gelächters verraten. Jetzt trug er zum Buckel und zum Klumpfuß noch ein drittes Mal. Im Arbeitssaal und auf dem Gefängnishof lachte die Stärke und die Roheit hinter und neben ihm. Was für ein dreifach verunglücktes Stück Mensch war das doch!

Aber Wolf Schmelkes meinte es im Ernst. Irgendwie hatte sich in diesem Kopf die Ahnung einer höheren Berufung festgesetzt. »Hab' ich recht? Ich kenn mir vorstellen, was ich will – is des Wirklichkeit? Wenn ich mir a Brod vorstell, kenn ma's essen? Wenn ich mir vorstell', den Sukal trefft der Schlag – trefft er ihn wirklich? Mich laßt die Wirklichkeit nicht los. Aber a Dichter – wenn er sich a Champagner vorstellt, do steht er. Wenn er will, daß den Sukal der Schlag trefft, fallt der Sukal um und is maustot. Braucht a Dichter a Wirklichkeit? Was er will – dos is. Kenn ma an Dichter einsperren? Mich kenn ma einsperren, den Gruber kenn ma einsperren, den Zucconi kenn ma einsperren ... aber der Hükkel? Er stellt sich den großen Schlüssel vor, nemmt ihn von der Wand, sperrt sich das Tor auf und geht hinaus ...«

Hükkel starrte zur Decke, das Lächeln lag noch auf seinen Lippen und in seinen Augen. Gruber sah Wolf Schmelkes an. Der hatte einen so seltsamen Blick. Gustav verstand: Wolf Schmelkes hatte wenig Hoffnung mehr.

Zucconi, der vierte, saß auf seinem Bett, hatte den Kopf in die Hände gestützt und kratzte im dichten, krausen, schwarzen Schopf. Der war hier, weil er seinen Freund bei einer Messerstecherei übel zugerichtet hatte. Wenn er so saß und nichts sehen und hören wollte, dann wußte man, das Weib war da. Dann stand sie bei ihm, wiegte sich in den Hüften, und ihre weißen Zähne blitzten. Man ließ ihn in Ruhe.

Gruber hatte heute im Hof einen Karren mit Setzlingen gesehen. »Der Frühling ist da, Parsifal,« sagte er, »du solltest dich zur Gartenarbeit melden.«

Hükkel wandte den Kopf. Eine leise Hoffnung war da, ein zärtliches Verlangen nach Sonnenschein über schwarzen Beeten, aus denen spitze, grüne Blättchen dringen. Aber dann versank der Schimmer wieder: »Sie können mich nicht brauchen. Ich bin zu schwach.«

»Nicht werst du schwach sein,« meinte Wolf Schmelkes, »wenn das Essen immer stehenbleibt. Von lauter Vorstellungen kenn nicht amol a Dichter leben. Der Magen hat 'ka Phantasie!«

»Ich kann nichts essen,« sagte Hükkel und schüttelte sich.

»Da seht ma, der Hunger kommt von Gott. Und wenn ma nix zu essen hat, so glaubt ma, der Teufel hat ihn erfunden.« Wolf Schmelkes ging wieder auf und ab. Er sprach von den weißen, staubigen Landstraßen, die er gewandert war. Landstraßen durchs Hungerland, mit einem Bündel auf dem Rücken. Einen gefräßigen Wolf in sich, der ihm die Eingeweide zerriß. Böse, harte Bauerngesichter, Schimpfworte und Flüche auf seinem Weg. Bis ihm der große Gedanke gekommen war, dem Überfluß zu nehmen, was ihm fehlte. Und nun war seine glorreiche Zeit gekommen. Von Kulturgemeinde zu Kultusgemeinde, mit einem wunderschönen rührenden Schreiben in der Tasche, von der Leitung eines Taubstummenheims und der Vollmacht zum Einsammeln von milden Gaben. Mit rührenden Gebärden und stammelndem Mund, Wolf Schmelkes als Taubstummer.

»Is dos Betrug? ... ich frag: is dos Betrug? Wer is nicht taubstumm? Welcher Mensch hört, was um ihn vorgeht? Wer kenn sagen, wie ihm is? Niemand! Taubstumm sind mer alle. Ich hab' nur den Menschen vorgestellt, den Menschen, wie er is.«

Er war ein seltsamer Philosoph aus dem Osten, der rothaarige Wolf Schmelkes.

»Vielleicht hätt' ich a großer Schauspieler werden können!« meinte er. Man hatte ihm seinen Taubstummen vollkommen geglaubt. Und er wäre niemals erwischt worden, wenn er nicht den Dori Federbusch mitgenommen hätte. Aus Erbarmen, aus lauter Erbarmen, auch von der Landstraße weg, wo der Federbusch am Verhungern gewesen war. Niemals hätte man ihn erwischt, wenn der Federbusch nicht frech geworden wäre. Und wenn der Wirt in Jenikau nicht gehört hätte, wie die beiden Taubstummen auf ihrem Zimmer miteinander stritten. Niemals! Wolf Schmelkes war stolz auf seinen Erfolg. Fünf Monate als Taubstummer durch Böhmen, Mähren und Schlesien. Der Sonnenthal sollte das nachmachen. Na vielleicht, wer konnte es wissen? Man war noch nicht zu alt. Achtundzwanzig Jahre.

Wolf Schmelkes blinzelte nach dem Bett, auf dem Hükkel lag.

Und wenn der Hükkel wieder draußen war, so mußte er ein Stück schreiben, mit einem Taubstummen als Helden, den wollte Wolf Schmelkes spielen. So daß es alle verstehen mußten, dies sei der Mensch. Darin seien sie alle gleich. Juden und Deutsche und Tschechen und Italiener. Taubstumme Brüder. Und wenn sie einander hören und miteinander sprechen könnten, so würden sie nicht mit Messern stechen und nicht Bomben werfen.

Es war sehr merkwürdig. Gustav fühlte einen milden, ruhigen Blick ... eine leichte vornübergebeugte Gestalt in Generalsuniform, vor einem grünen Vorhang, von einem breiten goldenen Rahmen umfaßt. Etwas Vergessenes, eine Botschaft aus der Tiefe der Jahrtausende.

Er sah Wolf Schmelkes wieder an. Der stand hinter dem Kopfende des Bettes, auf dem Hükkel lag. Dort stand er, eine schwere Trauer war um ihn und sein Blick tastete ratlos auf dem dünnbehaarten Scheitel des Buckligen. Aber seinen Worten merkte man nichts an. Die kamen wehmütig und ein wenig spöttisch, voll Einsicht und voll Zuversicht und hielten sich so wacker, daß man nicht sagen konnte, welches von ihnen längst gedacht und welches erst zum Zweck des Trostes erfunden war.

Und da kam ein warmes Heimatgefühl über Gruber. Er war nicht ausgeschlossen, es war nicht nötig, sich in seinem Trotz zu verhärten, man brauchte nur hinzugehen und leise in den Kreis zu treten. Er rührte den Wolf Schmelkes leicht am Arm. Der wandte den rothaarigen Kopf.

»Glaubst du, daß er gehen muß?« fragte der stumme Blick.

Wolf Schmelkes nickte. Er hatte schon viele Menschen sterben sehen, drüben, in Galizien, wo der Tod im Wasser der Brunnen hockte. Die trugen solche Zeichen auf der Stirne.

Marco Zacconi erwachte mit einem Stöhnen. Er starrte um sich. Das Weib war fort, in der Dämmerung aufgelöst, von den weißgetünchten Wänden verschlungen. Seine Hände ballten sich und wurden zu Hämmern.

Gustav ging in der Zelle auf und nieder. Herz und Kopf waren voll einer unerträglichen Trauer, die war irgendwie aus dem Heimatgefühl entstanden. Und vielleicht war sie im Grund dasselbe.

Hükkel wandte den Kopf: »Was ist denn heute? Ich höre Euch so gern zu!« Ja – es sollte alles so sein wie sonst.

Gruber setzte sich auf das Bett zu Zacconi. Sie nickten einander zu. Und dann wurden sie Lehrer und Schüler, und Gruber nahm von Zacconis Lippen die Sprache Italiens. Rein und wohlklingend floß sie durch die Zelle, und Hükkel empfand sie wie Musik ...

Der heilige Bureaukratius und seine Gehilfen, die Vollzugsvorschrift und der Normalerlaß, vermögen viel über allerlei sonst mächtige Geister, den Trotz, den Haß, die Verzweiflung, die Heuchelei, die Gleichgültigkeit und die Besinnung. Aber einem kommen sie nicht auf, das ist der Geist, der den härtesten Stein durchdringt, der am Ende der Tage noch im Leeren flüstern wird, der imstande ist, das Ding an sich und die Vorstellung gegeneinander aufzuhetzen, den Klatsch.

Eines Tages, als die Buchbinder und die Kanzleiarbeiter zusammen spazierengingen, paarweise, in einem Abstand von drei Schritten, wußte es Standera einzurichten, daß er mit Gustav ging.

»Du bist ein verfluchter Kerl!« sagte er.

Gustav staunte ihn an. Standeras Blick hatte Häkchen und Saugnäpfe. »Na!« lachte er schleimig, »tu nicht so! Glück bei Weibern! Das Mädel vom Kontrollor mein' ich.«

Da wurde Gustav Gruber ungemütlich. »Halts Maul!« sagte er. Das schlug wie eine Keule nieder. Standera duckte sich, schwieg und grinste unter der Haut, daß die Wimmerln und Mitesser seines Gesichtes zuckten.

Aber Gustav hatte es längst selbst gemerkt. Der Kontrollor schickte ihn nicht mehr in seine Wohnung. Wenn Sofka manchmal das Essen brachte, dann wischte ihr Blick über Fußboden und Decke, als sei zwischen beiden nichts, woran er haften könne.

Gustav tat seine Arbeit. Es bedrückte ihn, daß dieses Mädchen um seinetwillen leiden sollte.

Aber einmal kam etwas Seltsames über ihn. Das volle Leben warf den heiligen Bureaukratius zur Seite und griff mitten in das Reich des Steines nach ihm.

Es begab sich, daß Sofka zu ganz ungewöhnlicher Stunde in die Kanzlei trat, hastig und mit flatternden Mienen.

Der Kontrollor sah erschrocken auf: »Was ist denn?«

»Du sollst sofort herüberkommen, läßt die Mutter sagen.«

»Was ist denn?«

»Der Lada ist gefallen und hat sich die Hand zerschnitten.«

Der Kontrollor warf die Feder und das Lineal hin, mit denen er an einer tabellarischen Übersicht gearbeitet hatte, und lief hinaus. Sofka fegte hinter ihm drein.

Gustav Gruber blieb allein. Die Uhr tickte mühsam durch die staubige Luft. Auch im Vorzimmer war niemand. So still war es, daß sich jeder Federstrich in die Tafel der Zeit einzugraben schien.

Da ging die Türe wieder auf. Sofka stand da, an den Rahmen gedrückt, ein Zittern rann über sie.

»Ich muß fort,« sagte sie gehetzt, »morgen abend gehe ich fort.«

Gustav hob es vom Sessel. Fort? Von hier? Fort? An dem Schreibtisch gab es eine böse, scharfe Kante. Ein wüster Schmerz sank das Schienbein hinab.

Sofka griff vor sich hin. Die heftige Gebärde stand einen Augenblick in der Luft. »Ja, ja, ja ... ich muß fort. Soll ich hier umkommen?«

Da war es Gustav Gruber ganz selbstverständlich, daß Sofka fortgehen mußte. Das war, wie wenn jemand gesagt hätte, morgen müsse es wieder einen Tag geben. Es erfüllte sich einfach ein Naturgesetz. Das warme, blühende Leben entzog sich dem Stein.

»Und Sie,« sagte Sofka plötzlich wild und haßerfüllt, »kommen Sie mit mir, Gruber!«

Gustav taumelte, lächelte wesenlos, fühlte wieder den Schmerz im Schienbein. Es knirschte in seinem Kopf, das Gehirn lag prall und schwer in seinem Schädel, fühlbar wie eine bleierne Last.

»Ja ... ja,« sagte Sofka, »ich meine es im Ernst. Ich habe mir einen Plan ausgedacht. Es geht ganz gut. Ich kann mir den Schlüssel zur Werkzeugkammer verschaffen, da ist ein gedeckter Karren darin ...«

Ach mein Gott, das war ja eine ganze Räubergeschichte, die sich dies Mädel da ausgedacht hatte. Etwas ganz Verwegenes und Unwahrscheinliches. Aber es hörte sich gut an, die Worte sprangen so rasch und lebendig dahin wie Wasser über die Felsen. Es war ein wundervoller, erfrischender Dunst, der aus diesen Worten aufzusteigen schien, der kühle, erfrischende Duft der Unbesonnenheit.

»Stehen Sie nicht so da, Gruber ...,« keuchte Sofka, »so ... dumm! Jeden Augenblick kann jemand kommen. Sie haben mich zur Schwester um Verbandzeug geschickt ...«

Ein Kind blutete für Gustav. Aber das war nichts. Gruber schloß die Augen. Die sprühende Unbesonnenheit drang in sein Blut, machte es rasend und trieb es durch seinen Körper. Ein Rad war in ihm, das schwang und sang und sauste. Licht und Wärme und Kraft. Seine Jugend lachte und schüttelte die Locken.

Aber auf einmal war es aus. Eine Faust griff ins Licht und zerdrückte es. Ganz plötzlich stand das Rad still und sang nicht mehr. Etwas eben ganz neu Erstandenes zerbröckelte wie morsches Holz. Asche sank und sank.

»Ach Gott, Fräulein Sofka,« sagte er, »was fällt Ihnen ein? Wie kann denn das sein? Das geht ja nicht. Das ist ja ganz unmöglich.«

Da war wieder diese hastige, greifende Geste. »Sie sind ein Feigling. Sie getrauen sich nicht ...«

Etwas Schweres war ganz tief unten. Gustav versuchte es zu heben. Aber seine Kräfte reichten nicht aus, seine Seele war lahm und kraftlos geworden. »Ja ... vielleicht. Sie müssen fort, sehen Sie. Aber – wenn ich mitgehe, dann ist es schlimm für Sie. Dann wird man ganz anders suchen, als wenn Sie allein verschwinden. Und man wird viel leichter finden.«

Nun hätte ja Sofka sagen können, daß sie sich trennen müßten, wenn sie erst draußen waren. So wie sie es ja in ihrem Plan vorgedacht hatte. Aber sie sagte es nicht. Sie stand geduckt, mit angespannten Muskeln und wartete. Jede Sekunde war eine Gefahr. Aber sie wartete.

Gustav zerdehnte ein trübes Lächeln. Und dann war noch etwas, das gesagt werden mußte. Gestern hatte ein Freund einen Blutsturz bekommen und war in die Krankenabteilung geschafft worden. Es ging mit dem armen Teufel zu Ende. Sollte man ihm die Hände entziehen, an die er sich klammerte? Auch, wenn das Gelingen gewiß und der Weg glatt und eben wäre, jetzt konnte Gustav nicht fort.

»Ja – so!« sagte Sofka. Ihre Augen waren starr, mit großen Pupillen, die Wimpern standen wie dunkle Kränze um das bläuliche Weiß. Der Blick war wie klingendes Glas.

»Aber ich ... ich gehe!«

Sie war fort, wie ein gleitender Lichtschimmer, wie der spielende Sonnenreflex eines Spiegelglases, der ins Zimmer kommt, man weiß nicht woher, und wieder hinauswischt.

Gustav sah sie über den Hof laufen ...

Man erzählte sich beim Spaziergang, daß die Sofka vom Kontrollor durchgegangen sei. Alle Sträflinge wußten es gleich am nächsten Morgen. Das Gerücht mußte durch die Steine gedrungen sein und in den Zellen um sich gegriffen haben, wie eine Wucherung. Sie war schlecht behandelt worden, das wußte man. Die Mutter hatte sie an den Haaren durch das Zimmer gezogen. Sofka hatte den kleinen Lada hinfallen lassen, daß er sich die Hand zerschnitt. Auf ihren Wangen hatten manchmal die Male von fünf Fingern gestanden.

Eine dunkle Freude war in den Sträflingen, ein inniges Verständnis verband sie miteinander. Es war, als wäre einer von ihnen selbst entwichen.

Der Kontrollor Wawretschka saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Die tabellarischen Übersichten nahmen schweren Schaden. Es kam vor, daß er Spalte 5 und 6 miteinander verwechselte und daß die Hülsenfrüchte unter die Bettwäsche gerieten.

Als ihn Gustav um Erlaubnis bat, Hükkel drüben in der Krankenabteilung besuchen zu dürfen, machte er keine Schwierigkeiten. Er erlaubte es, obwohl der heilige Bureaukratius doch ganz gewiß für diesen Fall irgend welche besonderen Vorschriften und Einschränkungen vorgesehen hatte. Aber der Kontrollor sah so aus, als ob er sich jetzt gar nichts aus dem heiligen Bureaukratius mache. Als er Gustav Grubers Frage beantwortete, hatte er den Kopf zur Seite gewandt. Ganz so, als drücke ihn eine Schuld, um die auch Gustav wisse.

Hükkel freute sich sehr, daß Gustav zu ihm kommen durfte. Er hielt seine Hand mit schweißigen, fieberheißen Fingern. Die Fenster standen offen und man hörte, wie die Sträflinge die Schaufeln und Spaten, mit denen sie im Garten gearbeitet hatten, auf einen Haufen zusammenwarfen. Das Klirren des Eisens war so ein kurzer fester Ton, der nichts von Müdigkeit hatte. Die Sehnen der Menschen waren erschlafft. Aber das Eisen sagte: Morgen wieder, morgen wieder. Es freute sich darauf, in die Erde zu beißen, Schollen aufzuwerfen, dem wilden ungeregelten Drang des Wachsens seine Bahnen anzuweisen.

Die Schwester wehte unhörbar durchs Zimmer.

Im Fensterhimmel hing eine Lerche, unbeweglich. Es schien, als sei sie mit den silbernen Ketten ihres Jubels zwischen den Himmel und die Frühlingserde festgespannt.

Hükkel hielt Gustavs Hand.

»Sie haben sie noch nicht wieder zurückgebracht?« fragte er.

Gustav konnte ihm die Freude bereiten, nein zu sagen. Da atmete der Kranke auf. Es war ganz seltsam zugegangen. Er hatte Sofka hie und da gesehen und seinem Herzen hatte sich ihre Mädchenfrische eingeprägt. Er trug ihr Schreiten in sich und die stolze Haltung des Kopfes und die leichten, überraschenden Gebärden, die man manchmal an ihr wahrnehmen konnte. Das waren seine Schätze, die er im grünen Gewölbe seiner Phantasie bewahrte. Nun war sie fort. Aber aus der wehen Gewißheit, daß er sie nicht mehr sehen würde, hob sie sich in neuer verklärter Gestalt. Nun war sie ihm die lichte Prophetin seines Lebens. Seine Zukunft hing irgendwie geheimnisvoll an ihrem Geschick. Wenn man sie nicht zurückbrachte, so würde auch sein Weg ins Freie führen, durch das gewölbte Tor, und er würde seine gestreifte Hose wieder tragen. Wenn man sie aber einfing, dann war ihm die Seligkeit des Wiedersehens, aber auch der Tod bereitet.

Eines Nachts träumte er von ihr: sie stand mitten auf einer blumigen Wiese. Die Wiese war so bunt und blumig, wie er noch nie etwas gesehen hatte. Er hätte sich eigentlich freuen sollen. Aber auf einmal tauchte er in einen eiskalten Schrecken. Irgend etwas sagte sehr klar und deutlich: So bunt und selig ist nichts auf dieser Erde. Nicht von dieser Erde! klang es in ihm nach, wie polternde Steine in einem Schacht.

Als er erwachte, war er sehr traurig. Sie konnte ja auch tot sein. Dann würde sie freilich nicht mehr zurückgebracht werden. Aber sie hatte dann seine Gesundheit und Freiheit mit ihrem Tod erkauft.

Schatten lagen auf seinem Gesicht. Gustav brachte eine frohe Nachricht. Der Direktor sollte nächste Woche sein Jubiläum feiern. Man plante allerlei Festliches: Gottesdienst, Ansprachen, ein besonderes, gutes Essen für alle Sträflinge. Der Kontrollor Wawretschka ließ Hükkel fragen, ob er nicht das Festgedicht machen wolle.

»Ich?« fragte Hükkel, und das Wort wagte sich kaum über die Lippen hinaus.

»Ja! Sie wissen doch, daß du ein Dichter bist!« Wolf Schmelkes hatte das so ausgedacht, um ihm eine Freude zu machen. Gustav stand am Fenster. Er fürchtete, Hükkel könnte die Lüge in seinen Augen sehen. Unten im Hof stand ein breites, flaches Gebäude quer vor, die Leichenkammer. Sie drängte sich unangenehm auf, man mußte sie sehen, wenn man hier oben stand. Sie zwang den Blick in die engen Fenster hinein. Ein feuchter Fleck reichte außen bis zur halben Höhe der Mauer. Er sah aus, wie eine Landkarte.

Hükkel war glücklich und lag verklärt in seinem Bett. Unter der Decke konnte man deutlich den Klumpfuß von dem gesunden unterscheiden.

Zwei Tage später sagte Hükkel, er habe die ersten drei Strophen schon im Kopf.

Er sann lächelnd vor sich hin: »Ich fühle mich sehr wohl ... vielleicht kann ich nächste Woche schon dabei sein ... Und wenn ich dann ganz gesund bin, so melde ich mich zur Gartenarbeit ... da werde ich wieder zu Kräften kommen ...«

Er hatte die Vorstellung von etwas sehr Buntem, Blumigem, Duftendem, das weithin gebreitet war. Das Eisen klirrte fröhlich und verheißungsvoll.

»Sie haben sie noch nicht zurückgebracht?« fragte er.

Nein – sie war noch immer frei und draußen in der Welt. Hükkel faßte Gustavs Hand mit schweißigen, fieberheißen Fingern.

Am nächsten Morgen waren diese Finger kalt und starr.

Hükkel lag unten in der Leichenkammer und trug seine gestreifte Hose. Der Klumpfuß stak unförmig im weißen Socken.

Durch die engen, verstaubten Fenster kam schweres, schleichendes Licht, in dem kein Atem zu tanzen wagte.

An der Wand reckte sich die dunkle Landkarte eines unbekannten Reiches, dessen Grenze mit bläulich-weißen Schimmelpilzen bezeichnet war.

* * *

 


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