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Herrn Moreks schöne Zuversicht auf seine Fähigkeit, Schicksal zu spielen, hatte einen Sprung erhalten. Es gab Exempel, denen man mit der gewiegtesten Lebensmathematik nicht beikam.

»Sehen Sie,« sagte er zu Viktorin, »ich glaube – ich habe ihn ganz falsch behandelt. Wie ich es hätte machen sollen? Wie er wieder bei mir eingetreten ist, habe ich mir gedacht: er hat zwei Jahre Kerker hinter sich, weil er etwas getan hat, was er für ein Heldenstück gehalten hat. Für sein Volk. Lassen wir ihn also, erinnern wir ihn nicht daran, halten wir ihm alle nationalen Dinge fern. Wenn er damals wieder so angefangen hätte, wie vorher, so hätte ich es ihm verboten. Und das war falsch – grundfalsch. Ich hätte ihn ruhig wieder auf seinen alten Weg lenken sollen. Dort sind seine Wurzeln. Wenn es wieder so gewesen wäre, wie vorher, so wäre er niemals auf solche Gedanken gekommen. Ich hätte ihm zeigen müssen, daß er noch immer für voll genommen wird, ja – mehr als je ...!«

Doktor Viktorin war inzwischen der Erfindung des Viktorins um ein bedeutendes Stück nähergekommen. Sein Busen war von chemischen Hochgefühlen geschwellt, und er sah seinen Namen im Geiste schon auf der vorletzten Seite eines jeden anständigen Lehrbuches der Chemie. Dort, wo die neuesten Errungenschaften verzeichnet sind. Seine Zukunft erschien ihm als eine große Retorte, in der eine höchst angenehme Goldmacherkunst vorgenommen werden würde.

Er fand den Fall Gruber gar nicht so tiefgründig und problematisch wie sein Chef. Er fand es sogar ein wenig überflüssig und lächerlich, einer so belanglosen Angelegenheit grüblerisch nachzuhängen.

»Ja, manche Leute haben eben keinen festen Kern in sich,« sagte er, »keine Willenskraft. Ein kleiner Anstoß wirft sie aus ihrer Bahn.«

»Ja, ja!« sagte Herr Morek obenhin. Er hatte gar nicht gehört, was Viktorin gesagt hatte. Seine Erörterung des Falles war nur ein lautes Gedankenordnen gewesen, kein Thema zu einer Debatte.

Gedankenvoll ging er hinaus. Er sah dem ersten Zusammentreffen mit Gruber beinahe mit Aufregung entgegen.

Dann – nachmittags – als er eben zum erstenmal seine Gedanken von Gruber weg auf den Kostenvoranschlag für die neue Dynamomaschine gelenkt hatte, klopfte es, und der Heimgekehrte war da.

Auf den ausrasierten Stellen des Kopfes waren erst kurze Haarstoppeln gewachsen. Man sah die roten Wülste der Narben. Das linke Auge war noch gelb und stak in einer tiefen Höhle.

Gustav war sehr blaß, und Morek sah, daß seine Unterlippe bebte. »Na ... da sind Sie ja!« sagte Morek und legte die Feder weg. Sie rollte über den Kostenvoranschlag hin und blieb an dem quergelegten Stahllineal liegen. Links und rechts von ihr türmte sich je eine große braune, in Verlegenheit geballte Faust.

Etwas schwer Deutbares lag in Gustavs Gesicht und Haltung. Morek hatte einmal einen Arbeiter gesehen, der eben in eine Maschine gekommen und mit Verlust zweier Finger gerettet worden war. So sah Gruber aus. Wie aus einer riesenhaften, unerbittlichen Maschine davongekommen.

»Verzeihen Sie,« sagte er von der Türe her.

»Ja ... es ist schon manchmal nicht anders,« sagte Morek. »Es hätte noch viel ärger ausfallen können. Wissen Sie, der Mensch hat mir niemals gefallen. Er hat gleich damals bei der Verhandlung einen schlechten Eindruck auf mich gemacht.«

Gustav sah, daß sich Morek bemühte, die Schuld auf den anderen zu wälzen. Er wollte seinen Teil daran. »Ich war damals in einer verzweifelten ...«

»Ja ... ja!« sagte Morek, »sprechen wir nicht mehr davon. Na ... über einen Sünder, der bereut ...« Da war dieser verdammte Kanzelton, dieses dünne Gefüge von Schuld und Reue, das die Moralisten für die Weltordnung ausgaben. »Kurz und gut,« sagte Morek grob, »Sie treten wieder bei mir ein.«

»Sie wollen mich trotzdem wieder aufnehmen?«

»Jawohl! Sie treten auf Ihren alten Platz. Melden Sie sich beim Kanzleivorstand. Sagen Sie ihm, daß Sie wieder die Auszahlungen übernehmen.«

»Nein ... nein,« sagte Gustav und senkte den Kopf.

Morek sah die roten Wülste quer über den ganzen Schädel. Es kam ihm in diesem Augenblick vor, als habe Gustav diese Hiebe um seinetwillen empfangen.

»Warum denn nicht?« sagte Morek erbost. »Selbstverständlich ist alles wie früher. Das werden wir doch sehen ... Wollen Sie sich vielleicht verkriechen? Wenn ich Sie für einen anständigen Menschen halte und Ihnen mein Vertrauen schenke ...«

Gustav erwiderte nichts. Er ergab sich.

Da stand Morek auf und legte ihm beide Bärenpfoten auf die widerstandslosen Schultern. »Na ... Kopf hoch ... tun Sie nicht, als ob Sie Gott weiß was angestellt hätten.« Nur eine peinliche Erinnerung mußte noch weg. »Ich weiß, daß Sie ein braver Bursche sind. Es wird nicht wieder geschehen, daß Ihre Mutter vor mir auf den Knien liegt. Ja ... das soll nicht wieder geschehen! Auf den Knien ist sie vor mir gelegen und hat geweint und versprochen, daß sie den Schaden wieder gutmachen will. So was werden Sie mir ersparen. Denken Sie daran, wenn Sie jemals noch mit solchen Dingen zu tun haben sollten, wie damals.«

Dann führte Herr Morek Gustav Gruber selbst in die Kanzlei und teilte dem Vorstand seine Verfügungen mit. Der alte Herr verneigte sich und schwieg. Aber Gustav fühlte den Widerstand und die stille Feindseligkeit ringsum.

Und es erwies sich, daß Gustav mit seinem Einspruch gegen Moreks Anordnungen recht behalten sollte.

Gleich am nächsten Tage standen der Kanzleileiter und Herr Wenngraf als Sprecher der Beamtenschaft vor dem Chef. Sie baten in aller Untertänigkeit, Herr Morek möge den Gustav Gruber in eine andere Abteilung geben, den Herren des Bureaus wäre es unangenehm, mit ihm zusammen zu arbeiten.

Da brauste der Wikingerzorn aus Moreks Seele. Wie zusammengeballtes Gewölk fegte sein Unwillen daher. Was denn die Herren so dächten und ob sie Angst hätten, an ihren Seelen Schaden zu leiden? Und überhaupt, eine so glattgebürstete Moralität habe er schon gefressen.

Der Kanzleivorstand wünschte sich inbrünstig an seinen Schreibtisch und auf sein Hämorrhoidenkissen zurück, er besaß den guten Gehorsamswillen und war nur ungern gekommen. Aber Wenngraf hatte die Unverfrorenheit wohlgenährter Jugend und erwiderte, man könne den Beamten nicht zumuten, sich mit einem Menschen wie Gruber in ein Zimmer zu setzen. Er hatte sich den Mitverschworenen eidlich verpflichtet, den Männerstolz vor Königsthronen zu bewahren; und überdies hatte er vorher fünf Viertel heurigen Poisdorfer getrunken.

Auf Moreks Gesicht sah es aus wie eine Vorahnung der Götterdämmerung. Und wer die germanische Mythologie kannte, hätte jeden Augenblick den Hornstoß Heimdalls erwarten können. Es kam auch etwas, das wenigstens einige Ähnlichkeit damit hatte. Herr Morek zog sein Sacktuch und es klang wie Rossegewieher und Trompetengeschmetter. Während er den Bart wischte, mit heftigen Strichen nach links und rechts, bändigte er den Fenriswolf seines Zornes.

Dann fragte er mit nägelgespickter Sanftmut, ob er den Herren noch mit etwas dienen könne?

Der Kanzleivorstand zupfte Wenngraf am Hosenboden. Aber fünf Viertel Poisdorfer haben dämonische Kräfte und machen die Seele standhaft wie Eisenbeton. Wenngraf entgegnete, er habe nichts weiter vorzubringen, aber einige der Herren hätten bereits erklärt, daß, wenn ihrer Bitte nicht willfahrt würde, sie es vorzögen, um ihre Entlassung zu bitten.

»So sollen sie in drei Teufels Namen gehen, wohin sie wollen,« brüllte Morek. Und damit war die Deputation so schön hinausgeworfen wie die hinausgeworfenste Deputation im ganzen Verlauf der Weltgeschichte.

Aber eine halbe Stunde später war das Gewölk der Götterdämmerung zerrissen, und der blaue Himmel der Besinnung schaute da und dort hindurch.

Herr Morek ließ den Kanzleivorstand rufen.

Der kam, schuldbewußt, ein schlotterndes Häuflein Gebein in angstgeschrumpfter Haut. Morek ging auf und ab. Immer, wenn er an seinem Kanzleivorstand vorbeikam, schwankte der im Luftzug, als hänge er schon am Galgen.

Also er habe es sich überlegt ... nicht vielleicht der Herrschaften wegen ... sondern einzig und allein wegen des Gruber, um diesem die Peinlichkeiten eines Zusammenseins mit den Herrschaften zu ersparen ... aber das bitte er sich aus, daß weiter geschwiegen werde wie bisher ... wenn ein einziges Wort über die Mauern der Fabrik hinausdringe, so sei der Betreffende geliefert ... und Gustav Gruber werde anderweitig beschäftigt werden.

Dann ging er in das chemische Laboratorium.

Doktor Viktorin stand im schwarzen Leinenkittel wie ein Zauberer zwischen Glasröhren und Retorten.

Herr Morek teilte ihm mit, daß er ihm Gustav Gruber als Laboratoriumsgehilfen zugeteilt habe.

Da machte Doktor Viktorin ein Gesicht, das schon ganz so aussah, als sei das Viktorin bereits erfunden und stehe auf der vorletzten Seite der Lehrbücher der Chemie. Und sagte: »Da muß ich denn doch sehr bitten ... Herr Morek ...«

Aber Morek stemmte die Fäuste links und rechts vom Mikroskop auf den Tisch und beugte sich so weit vor, daß zwischen seinem Gesicht und dem Viktorins nur die Breite zweier Hände war. Viktorin war es, als sei die Heiztüre des großen Schmelzofens plötzlich aufgegangen.

»Was denn? Was denn, Herr Doktor Viktorin,« sagte Morek, »jetzt möchte ich doch gern wissen, wer denn eigentlich da der Herr ist ...«

Da rutschte Viktorin aus der glorreichen Zukunft schleunigst in die Gegenwart zurück. »Bitte,« sagte er, »wie Sie wünschen.«

»Das glaube ich auch!« meinte Herr Morek.

*

So kam Gustav Gruber als Gehilfe ins chemische Laboratorium.

Das war die Welt, in der aus der Mischung zweier glasheller Flüssigkeiten ein dunkles Rot entsteht oder ein tiefes Blau. Die Welt der Wasserhähne und Tropfflaschen, der miteinander verbundenen Glasröhren, der seltsam gewundenen Kolben. Dünne Schliffe von Erzen zeigten unter dem Mikroskop die Art und Fügung des Gesteins. Mit hundert sinnreichen Methoden drang der Blick des Menschen zwischen die Moleküle und errechnete die Zahl der Atome.

Es war eine Welt der Geduld, der Sauberkeit und der Vorsicht. Denn im Reagentienschrank standen auch die Gifte, mit denen man imstande war, irgend welche Unsichtbarkeiten sichtbar zu machen.

Gustav gab sich an seine Pflichten hin, obgleich ihn Viktorin auf der Gehilfenstufe hielt und über Handreichungen und Flaschenspülen nicht hinausließ. Er war bemüht, nicht über den Tag hinauszusehen, und hielt seine Zukunft mit einem dichten Vorhang verschlossen. Sein Herz lag ihm schwer und bleiern in der Brust. Nur manchmal meldete es sich mit einem wilden Klopfen. Dann zitterten seine Hände, und er fürchtete, die alte Unruhe könnte über ihn kommen.

Eines Tages nahm ihn Morek auf sein Zimmer.

»Mein Lieber, Sie sehen sehr schlecht aus. Das geht nicht so weiter. Sie müssen sich wieder aufraffen. Sie haben sich ganz auf sich selbst zurückgezogen. Das ist ein Unrecht. Denn, wissen Sie, höher als das eigene Schicksal steht dem Mann das Schicksal seines Volkes. Wer den Blick auf das Ganze richtet, der wird für sein eigenes Leben den richtigen Maßstab finden und ist vor Übertreibungen geschützt. Mit Schwertern oder Lanzen können wir für unser Volk nicht fechten und – auch nicht mit Bomben. Nicht wahr, das haben Sie doch eingesehen? Der Kampf muß auf andere Weise geführt werden. Sehen Sie ... da haben wir den Volksrat, das ist der Generalstab. Wir brauchen einen tüchtigen und gescheiten Sekretär. Merken Sie etwas? Na also – ich habe Sie vorgeschlagen, und die Herren waren ganz einverstanden. Sie haben es redlich um die deutsche Sache verdient. Von morgen an werden Sie nur vormittag im Laboratorium arbeiten. Nachmittag sind Sie Sekretär des Volksrates. Es gibt eine Menge zu tun. Handelskammerwahlen, Gemeindewahlen ... der Volkstag ... Na, Sie werden bald eingearbeitet sein. Was sagen Sie dazu ...?«

Da war es Gustav, als müsse er die Hände heben und bitten, man solle ihn schonen. Er war alledem so fern, wie eine Lähmung dieses Teiles seiner Seele war es. Und auf einmal brauste eine ungezügelte Angst daher, schwarz quoll es aus Tiefen bis ins Gehirn. Blind und ratlos starrte er. Aber da stand etwas auf, wie ein flüssiges Erz, wurde hart: Laß den Helden in deiner Seele nicht sterben. Wer hatte das gesagt? Viktorin? Das stand mitten in der flutenden Angst.

Auf einmal lösten sich Worte aus ihm: »Ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen!«

»Na also – abgemacht!« sagte Morek fröhlich.

Am Abend nach dem Nachtmahl von Wurst und Bier holte Gustav das schwarzrotgoldene Wappenschild aus der Schublade. Stark stand der Name Hagen in Rot. Unschlüssig drehte Gustav das Schild in den Händen, betrachtete es vorn und hinten, wie etwas sehr Fremdartiges. Auf dem Rücken der dreifarbigen Merkwürdigkeit waren die Papierzacken umgeschlagen und sachgemäß an den Rand geklebt. Dort sah es freilich nicht so ordentlich und überzeugend aus.

»Was hast du?« fragte die Mutter besorgt.

»Ich soll Sekretär beim Volksrat werden!«

Was war das nun wieder? In welchem Verhältnis waren da Ehre und Gefahr gemengt? O Gott, jenseits des Gemischtwarenladens gab es halt eine Menge Dinge, in denen man sich gar nicht auskannte. »Warum? ... wird es dir nicht schaden?« und dabei hob sich eine alte Runzelhand, die gewohnt war, zitternde Kreuze zu machen.

Gustav zuckte die Achseln: »Herr Morek will es doch! Kann ich es ihm ab schlagen?«

»Nein ... nein,« sagte die Mutter eifrig, »was fällt dir ein? Wenn Morek es will ...«

Und nachher, vor dem roten Licht, hob Frau Gruber ihr Herz zum heiligen Aloisius: er möge Gustav zum Sekretär des Volksrates gesegnen. –

Es mußte wohl so sein, daß sich der Heilige grundsätzlich nicht um politische Dinge bekümmerte, denn Gustav verspürte nicht viel von einem Segen.

Noch am nächsten Nachmittag trat er in das Bureau des Chefs, entschlossen, alles vor ihn hinzubreiten.

Morek sah von seiner Arbeit auf: »Sie brauchen sich nicht immer erst bei mir abzumelden, Gruber. Ein für allemal: Nachmittag gehören Sie der nationalen Arbeit.« Damit wies Morek lächelnd auf die beiden gekreuzten Hämmer aus vernickeltem Stahl, die als Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch lagen: »Glück auf, das gilt auch von Ihrer Arbeit!«

Da drängte Gustav alles zurück, warf eine schwere Falltür darüber und ging.

*

Und nun erfuhr er, wie es gemacht wird.

Früher war er Statist gewesen, mit großen Gebärden, mit Schild und Lanze. Jetzt saß er an den Schaltern für die Beleuchtung und den Signalen für Soffitten und Versenkung. Er half die unscheinbaren Dinge tun, die Notwendigkeiten des Betriebes regeln. Da gab es eine Menge Sachen, von denen das Parterre keine Ahnung hatte. Es gab eine Kulissendiplomatie, eine Taktik der Rollenbesetzung und der Spielplanbildung, eine regelrechte Buchführung. Man machte Donner und Blitz, man machte »Zusammensturz« und machte Volksgemurmel.

Als Gustav Gruber an diesem Punkt seiner Vergleichungen angelangt war, erschrak er heftig, daß alle Bilder vom Theater hergeholt waren. Er hatte mit Männern zu tun, die das alles ganz anders nahmen. Denen waren das ernsteste Angelegenheiten, die stießen sich gar nicht an die Kleinlichkeit von Wahlarbeiten, von Statistiken und an der Mühseligkeit eines unterirdischen Kampfes Zug gegen Zug. Wotan und Donner hatten Asgard verlassen und kümmerten sich um die Kleingewerbetreibenden. Die Kräfte der Völkerwanderung, der Überschwang von Rassenwildheit waren gezähmt und dienten dazu, die Kandidatenliste bei den Handelskammerwahlen durchzubringen.

Gustav konnte kein Herz zu diesen Dingen fassen. Jene Unruhe und dumpfe Traurigkeit kam wieder über ihn, wie damals.

Einmal, als er über den Hof der Gießerei ging, wurde er daran erinnert, daß es noch Wildheit und Haß gab. Ein schmerzhafter Schlag traf seine Schulter. Er wandte sich und sah ein Stück Ziegel zu seinen Füßen. Ein blauer Kittel verschwand hinter einem Haufen Brauneisenstein.

Da wußte er, daß ihn die Zeitungen des Feindes wieder entdeckt und den Arbeitern gemeldet hatten.

*

Eines Abends traf er Steffi auf der Straße.

Gerade unter einer Straßenlaterne war es, und er sah zwischen grauem Hut und Pelzbesatz einer in den Frühling hinübergenommenen Winterjacke ein blasses schmales Gesicht. Er stand einen Augenblick mit gelähmten Beinen.

Dann wußte er nur das eine: Kein Mensch war da, dem man sagen konnte, wie es war, als dieser. Plötzlich waren Worte da für bloß Gefühltes, das Unsagbare lag in Klarheit, brauchte bloß hingesprochen zu werden. Er hatte ihr zu sagen: So bin ich jetzt ... sieh mich an. Ich bin zurückgekommen, verwirrt und ganz aus allem Gewesenen gehoben. Du hättest mich wieder an meinen Platz stellen können. Du hast es nicht getan. Du hast meinen Glauben, meine Begeisterung, mein Herz. Gib sie mir wieder ... gib mir meinen Glauben und meine Tapferkeit ...

Er ging hinter Steffi drein, mit schnellen Schritten.

Sie fühlte ihn hinter sich. Auf einmal warf sie sich auf die Straße, mit angstvoller Hast, zwischen die Züge der heimkehrenden Arbeiter. Ein vollbesetzter Wagen der elektrischen Bahn kam daher. Mit einem blauen Licht vorn, um das ein heftiges Geklingel tobte. Ein grelles Licht sprang plötzlich auf den Hebel, auf dem die Hand des Motorführers ruhte. Drinnen im Wagen ein Gedränge von Damenhüten und aufgehobenen Armen an den Riemen der Decke. Von der hinteren Plattform beugte sich jemand weit vor und rief einem Vorübergehenden einen lachenden Gruß hin.

Steffi lief auf den Wagen zu, um vor ihm über die Straße zu kommen. Da fauchte von drüben, aus dem Unvermuteten, ein rotes Automobil in glatter knapper Kurve über die Schienen, mit dem Ungestüm des Benzintemperamentes.

Tuten und Klingeln bäumten sich gegeneinander.

Und Steffi dazwischen ...

Zerrissen, zerstückelt ...

Eine Ewigkeit Höllenangst. Etwas Blutendes, ein Bündel zerfetzter Kleider auf den Schienen ...

Nein ... der graue Hut war drüben auf der anderen Seite der Straße.

Drüben ... der Straßenbahnwagen und das Automobil waren schon weit auseinander.

Gustav kehrte der Atem zurück, die Lungen gaben verdickte, vergiftete Luft von sich.

Nein, nein ... ich verfolge Sie nicht mehr, mein Fräulein ... wenn Sie solche Furcht vor mir haben ... wenn Sie es vorziehen, sich zerstückeln zu lassen.

Gustav sah um sich. Es schien, die Welt hatte nichts von dem bemerkt, was vorgegangen war.

Er wandte den Blick zu den Sternen.

Aber über die Stadt war eine rötlich bestrahlte, gleichmäßige Decke von Dunst hingespannt.

*

Der Turnvater Jahn, derselbe, dessen Büste einmal bei der »Wacht am Rhein« mit einem schwarzen Schlapphut bedeckt gewesen war, hatte seinen Tempel in der Jahngasse.

Von außen sah der Rohziegelbau aus wie eine gotische Landkirche in England. Aber drinnen wurde keineswegs der Gott Zebaoth angebetet, sondern der Gott Bizeps, und Vater Zahn war sein Prophet. Man diente ihm durch Rumpfbeugen, Kehren, Wenden und Kippen, mit eisernen Stäben und Hanteln und auf noch absonderlichere Arten, indem man etwa in eine mit Gerberlohe gefüllte Grube sprang, auf langen mit Querhölzern gespickten Stangen über alle irdischen Dinge hinauskletterte oder an Strickleitern um einen Mittelpunkt kreiste, bis man meinte, die Welt sei von Gott als Ringelspiel erfunden.

Wenn man dem Turnvater Zahn nur genügend lange gedient hatte, so stellte sich mit der Schwellung der Muskulaturen eint zunehmende Vereinfachung der psychischen Vorgänge ein. Das war ein Zeichen, wie gesund das Turnen ist. Und manche erreichten es, daß sie sogar auf dem Unterbewußtsein Schwielen bekamen.

Gustav Gruber schritt durch die große leere Halle. Da standen lederne Ungetüme mit gespreizten Beinen. Von der Decke hingen lange Stricke und Stangen, die oben ein Gelenk hatten, so daß man an ihm affenmäßig baumeln konnte.

Die Abendsonne kam durch die schmalen Kirchenfenster und sog Staub in ihr Gold.

Gustav öffnete die Türe in den Hof. Da lag ein weiter, freier, besandeter Platz. Hinten drängten sich Bäume und Gebüsche und die griffen mit jubelnden, saftvollen Zweigen über den Zaun nach anderen Bäumen und Gebüschen. Denn gleich hinter dem Turnhof war der Stadtpark, der da über den Burgberg herunterkam und sich gerade an dem Zaun zu Dichtigkeit und Wirrnis zusammenballte.

Der Maitag hatte einen leichten Regen geschickt. Der hatte den Sand des Hofes zusammengebacken und kühl gemacht und das Grün so frisch, als sei es eben erst hervorgekommen. Und nun goß die Abendsonne ihre Güte über alles hin.

Mitten im Frühling und im Abendgold stand eine Gruppe von Menschen. Aber es war nicht etwa wie bei einer gewöhnlichen Gruppe, so wie man sie alle Tage sehen kann, daß die Menschen nebeneinander standen, sondern sie standen übereinander. Zu unterst sechs Mann, die hielten sich an den Schultern gefaßt und hatten die Arme verschränkt. Auf diesem versteiften Unterbau von Armen und Schultern standen fünf Mann, die sich ebenso hielten. Dann kam ein Stockwerk von Vieren und so fort bis zur Spitze, die von einem einzelnen Jüngling gebildet war, den seine Untermänner bei den Fußgelenken gefaßt hatten.

Vor dem ganzen Gebäude aus Jugend, Leinwandhosen und ärmellosen Hemden stand der Vorturner und besah sich die Herrlichkeit mit tiefem Ernst. Neben ihn hatte sich ein Hund hingepflanzt, ein schottischer Schäferhund in Gelb und Weiß, der tat so, als verstünde er auch etwas davon.

Gustav wartete. Der Vorturner warf Befehle hin. In einzelnen Stockwerken war ein Zusammenrücken und Schwanken. Auf einmal fühlte sich Gustav ganz voll quälender Bitterkeit. Kraft und Jugenddrang war da in der Welt, in Pyramiden aufgebaute Lebenslust unter einem lichten Himmel. Spielende Tüchtigkeit der Körper und unbedenkliche Zuversicht. Und sein Leben trieb weit von alledem dahin, in Traurigkeiten und Zweifeln.

Der Vorturner klatschte in die Hände: »Achtung! Eins – zwei – drei!«

Und auf drei brach die Spitze der Pyramide ab, der Jüngling kletterte katzenhaft auf Armen und Schultern zur Erde. In gedoppelter Bewegung folgten ihm die Untermänner: nun war ein Schwanken, Gleiten, Lösen und Springen, ein Durcheinanderpurzeln und ein befreiter, lachender Lärm.

Der Hund verlor in dem Wirbel seine Würde, bellte seinen Übermut zwischen das Gewirr der Beine und begann endlich selbst eine Vorführung. Er drehte sich rasend im Kreis, in vergnügter Jagd nach dem eigenen Schweif.

Der Vorturner kam auf Gustav zu. »Sie wünschen?« fragte er.

Gustav sah ihn an. Es war Paul Karroh, genannt Biterolf, der gewesene Obmann des gewesenen Jugendbundes. »Ja ... Sie sind ... du bist ...« sagte er verblüfft wie die Kuh vor dem neuen Tor.

»Jawohl ... wie geht es dir, Biterolf?«

Biterolf hatte unbehagliche Gefühle, drückende Erinnerungen an verflossene Dinge. Und er stürzte sich in eine heftige Herzlichkeit: »Ist das schön, daß du dich deinen Freunden gar nicht zeigst? Du bist wieder bei Morek, nicht wahr? Willst du Mitglied werden?«

»Nein,« sagte Gustav, »ich komme vom Volksrat. Wir brauchen das Programm für übermorgen!«

Übermorgen – das war der Volkstag. Und der Turnverein stand im Gefüge des Festes mit einem Schauturnen.

»Also – einen Programmpunkt hast du ja gerade gesehen. Fein, was? Freie Pyramide ... sechs Mann hoch. – Herr Buchaczek!«

Herr Buchaczek kam langsam angependelt. Er war längst nicht mehr Herausgeber, Redakteur und einziger Mitarbeiter von »Thors Hammer«. Die Stadtgemeinde, gegen die sich manchmal seine malmende Wut gerichtet hatte, war mit der Entdeckung seiner Fähigkeiten vorgegangen. Er saß nun als Kanzleischreiber in einem bürgerlichen Beruf und bekam am Ersten sein Gehalt.

Er hatte also das Vernichtungshandwerk aufgegeben und Havelock und Sandalen abgelegt. Er fand, daß das germanische Wesen keineswegs in Äußerlichkeiten, sondern in inneren Überzeugungen bestehe. Und seitdem er dem Verzehrungssteuerreferat zugeteilt worden war, fand er, daß auch Vegetarismus und Enthaltsamkeit von Alkohol nicht unbedingt für die germanische Wiedergeburt erforderlich seien. Wenn man täglich nachzurechnen hat, wieviel hunderte an Schweinen, Gänsen und Enten und anderen fleischlichen Eßbarkeiten über die Verzehrungssteuerlinie gebracht werden, so verliert sich der Vegetarismus allmählich. Das Bier kommt dann von selbst dazu.

Buchaczek kramte einen zerknitterten Zettel aus der rechten Hosentasche.

»Also: Stabreigen!« las Biterolf ab, »Kürturnen an Reck und Barren ... Vorführungen der Fechterriege ... Zum Schluß Pyramiden. Sehr gediegen, nicht wahr? Ja richtig ... das ist der Gustav Gruber, über den Sie damals geschrieben haben. Sie wissen noch, Buchaczek.«

»Sehr erfreut!« sagte der Malmer von dazumal.

Plötzlich wurde Gustav in eine stürmische Umarmung gerissen. Turnerkräfte schüttelten ihn. Seine Rippen krachten, und es staubte ihm aus den Ohren. Es war Wieland, der Junge, die Hoffnung des Turnvereines, Wieland, der Sieger im Fünfkampf der Jungmannschaft auf dem Turnfest in Frankfurt.

Sehnen aus Stahl, ein Herz aus Hartgummi, Lungen aus Leder und Jugend, blitzende Jugend in den Augen. Der hatte wahrhaftig das Zeug in sich, ganz oben, auf der Spitze einer sechs Mann hohen Pyramide zu stehen.

Jetzt hielt er Gustav an den Schultern von sich ab und sah ihm ins Gesicht. »Heil, Hagen, Heil!« brüllte er über den Hof hin. Es war wie in einer Wagneroper. Alles sah nach ihnen hin.

Biterolf lächelte mit schmalen Lippen, Buchaczek sah drein, daß man in diesem Augenblick nun und nimmer geglaubt hätte, er sei einmal Herausgeber von »Thors Hammer« gewesen.

Gustav nahm sachte Wielands Hände von seinen Schultern. Nun lagen seine Finger in den Pfoten des Turners wie in stählernen Federn. Er fühlte seine Hände in diesen Pfoten schmal und kraftlos, seine Finger waren schmerzhaft zusammengepreßt. Vom Ellenbogen abwärts gehörte sein Körper nicht mehr ihm. Unmutig wollte er sich losmachen und zog und zerrte. Aber Wieland gab ihn nicht frei ... er schien es nicht einmal zu bemerken.

»Aber du siehst nicht gut aus?« sagte er besorgt. »Was hast du?«

Gustav verzog das Gesicht. »Nichts ... ich bitte dich, laß aus ... ich bin leider kein Athlet.« Wieland erschrak und öffnete die stählernen Federn. Gustavs Finger klebten aneinander, mit scharfen Kanten, wie stark gepreßte Zigarren.

In schlanker Kraft, in wildkühner Gesundheit stand Wieland vor Gustav, ein Festgewurzelter, in dem die ewige Jugend seines Volkes schäumte. Noch immer hatte sein Gesicht die kindlichen Formen, auf der weichen Oberlippe dunkelte ein kleiner Bart. Nur ein klein wenig Verlegenheit war da. »Ich freue mich so ... ich freue mich so ...« sagte er.

»Der Gruber kommt wegen übermorgen ... um das Programm!« setzte Biterolf ein.

»Ja, was ... jetzt kommt's endlich zum Krachen,« Wieland nahm die Arme zurück, spannte die Muskeln und ballte die Fäuste, »beim Volkstag wird endlich einmal abgerechnet. Du stehst auch auf der Rechnung, die übermorgen gezahlt werden muß. Für dich sind Zinsen aufgelaufen.«

Gustav hielt den Kopf gesenkt. »Du meinst, daß es zu Zusammenstößen kommen wird. Die Herren im Volksrat befürchten es auch.«

»Was, meinen? Was, befürchten? Selbstverständlich. Hast du nicht gelesen, was die tschechischen Zeitungen schreiben? Daß die Stadt ihnen gehört und daß es eine Frechheit von uns ist, einen Volkstag zu veranstalten. Daß sie es uns versalzen werden. Die ganze tschechische Umgebung wird übermorgen in der Stadt sein und das Gesindel aus den Vororten. Da gibt es kein Meinen und kein Befürchten ... da gibt es nur eins – dreinhauen!«

Es hob Gustavs Blick wieder empor. Da stand Wieland, roten Gesichts, bereit, sich auf den Feind zu stürzen. Seine ganze Seele war von unbändiger Rauflust gefüllt, und seine Kampfgier warf sich in die Welt der Erscheinungen als Zähnefletschen und Fäusteheben. In den nackten Achselhöhlen kräuselte sich der Flaum der Männlichkeit, die Brust wölbte sich unter dem Hemd wie ein Amboß. Ein junger Gotenkrieger vor dem Zeichen zum Angriff ... die ewige Jugend des deutschen Volkes ... trotz alledem und alledem.

Da stieg ein heißer Zorn in Gustav hoch. Dort war der Wotansglaube und der Glaube an die »Wacht am Rhein«, dort war das Unbedingte und Unbedenkliche, dort waren die Zusammenhänge, die er verloren hatte. Er aber trieb willenlos, ein Stück Holz auf langsamem, trübem Strom. Da, peitschte es ihn empor.

»Ich finde,« sagte er bebend, »daß es sehr unnötig war, die Spannung noch zu verschärfen. Was wird die Folge sein? Daß die Feindschaft zunimmt, daß ein paar Existenzen zugrunde gehen ... man sollte sich vertragen ... wir leben einmal nebeneinander ...«

Wielands Fäuste sanken und öffneten sich. Er trat einen Schritt zurück, auf sein Gesicht kroch eine Qual. »Ja, ... Gustav! Hagen! Das sagst du? ... das sagst du

Biterolf räusperte sich und Buchaczek schüttelte den Kopf.

Und nun, Zorn und Scham und Trotz, riß es Gustav noch weiter hin: »Unser Deutschtum steht nicht so fest. Ich weiß es, ich bin im Volksrat dabei. Unser Deutschtum hier ist wie ... wie ein Pappendeckelwappen. Vorne Schwarz und Rot und Gelb, sehr schön und sauber und kräftig. Wenn man es aber umdreht, merkt man, wie es geklebt ist.«

Biterolf räusperte sich wieder. Er hatte ein Vorturneransehen zu wahren und höhere Einsichten zu vertreten. »Mein lieber Gruber,« sagte er, »Sie sind noch sehr jung. Sie wissen nicht, was Sie reden. Zum Glück denken nicht alle so wie Sie.«

Auch Buchaczek meldete sich: »Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß wir Deutschen nicht nur eine Nation sind, sondern auch eine politische Partei. Und in der Politik ist nun einmal ...«

Gustav hörte nicht auf ihn. Er sah nur immer Wieland an, Wieland, den Jungen, Wieland, den Unbedingten ... der war vor ihm zurückgewichen und blickte ihn fremd und ratlos an, und immer deutlicher trat eine Härte in diesen Blick. Und dann bildeten diese Lippen ein Wort ... ein schwer gesprochenes Wort:

»Judas!«

Gustav lächelte ins Wesenlose. »Das Programm habe ich ja ...« sagte er langsam, »ich danke Ihnen ... gute Nacht, meine Herren.«

Er ging. Und es war ihm, als habe er endlich ein wundes Stück seines Seins mit scharfem Schnitt von sich getrennt und es unter dem Frühlingshimmel auf festem, kühlem Sand zurückgelassen. Er ging leicht und leer und unsagbar traurig.

Die drei jungen Leute sahen sich an.

»Was aus dem geworden ist!« sagte Biterolf.

»Und so was ist Sekretär beim Volksrat,« meinte Buchaczek.

Wieland wandte sich langsam mit hängenden Armen und sprach kein Wort. –

*

Am nächsten Morgen trat Gustav in Moreks Bureau.

»Herr Morek, ich möchte Sie bitten, mich von der Arbeit beim Volksrat zu befreien,« begann er ohne Zögern, »ich tauge nicht dazu.«

Morek sah ihn mit seinem festen Wikingerblick an. Dann erhob er sich vom Schreibtisch. »Setzen Sie sich, Gruber,« sagte er. Und Gustav gehorchte ohne Widerstreben.

Morek stand vor ihm, breit und schwer wie eines seiner großen Gußstücke.

»Sehen Sie, Gruber,« sagte er, »ich habe Sie beobachtet und war darauf gefaßt, daß Sie einmal so zu mir kommen werden. Ich habe keine Freudigkeit in Ihnen gefunden und keine Zuversicht und keinen Glauben. Und nun will ich Ihnen etwas sagen.«

Sein Blick war mild und gut. Es war ganz still in ihrer Nähe, von drüben aber, aus der Gießerei und den Maschinenräumen und von den Höfen schwang sich das Pochen, Dröhnen und Hämmern herüber und war ganz, ganz dicht an Gustavs Schläfen.

Morek streckte die Hand aus, öffnete und schloß die Finger, als greife er in dieses Summen und Pochen wie in eine weiche Masse, die sich ballen läßt.

»Das war nicht immer so hier. Sie wissen es vielleicht, daß es anders angefangen hat. Mit einem Ofen und fünfzehn Arbeitern. Und auf jedem Ziegelstein Schulden. So hab ich es übernommen. Es war kein warmer Platz, den mir der Vater hinterlassen hat. Ich habe mich ärger schinden müssen wie mein letzter Arbeiter. Nur die Verantwortung habe ich noch dazu auf mir gehabt. Aber jemand hat mir redlich geholfen. Man hat Ihnen natürlich gesagt, daß ich verheiratet gewesen bin.«

Gustav nickte. Nie, nie sprach Morek davon, er wollte keine bedauernden Redensarten daran rühren lassen. Und nun – vor ihm begann er damit ... da war es Gustav, als habe ihn Morek dadurch emporgehoben und ihn sich gleichgestellt.

»Ja ... sie hat mir redlich geholfen,« fuhr Morek fort, sie hat mir die Bücher geführt, die Nächte über haben wir gerechnet. Wenn ich als mein eigener Reisender draußen war, hat sie den Betrieb überwacht. Und ich habe das alles angenommen, in der Hoffnung, es einmal vergelten zu können. Über die erste gute Bilanz haben wir uns gefreut wie die Kinder. Nun ist es immer besser geworden. Aber ... als ob das Schicksal nur darauf gewartet hätte, von dieser Zeit an ist es mit ihrer Gesundheit bergab gegangen. Sie hat wenig davon gehabt, daß unser Betrieb immer größer geworden ist ... Ein Krebsleiden. Ich habe es ansehen müssen, wie man Stück um Stück ihres Körpers weggeschnitten hat. Alle Qual ist umsonst gewesen. Sie hat sterben müssen.«

So fest das Morek auch sagte, Gustav sah doch das Zucken der Schultern und das heftige Würgen der Kehle.

»Ja, mein Lieber ... ich habe damals losbrüllen wollen, mein Haus anzünden, mein Leben vernichten. Und ich bin doch darüber hinweggekommen. Sehen Sie ... eine Einladung war da, eine Vereinsgeschichte, irgend etwas ... mein Haus war so furchtbar einsam. Ich bin hingegangen, nur um gleichgültige Menschen zu sehen. Und da ist es über mich gekommen. Irgendwo sind arme Kinder gewesen, deutsche Kinder, für die sollte etwas getan werden. Das waren Dinge, die ich oft mit ihr besprochen habe. Und es war, als sei sie da und alles, was ich tue, geschehe in ihrem Sinn. Meine Arbeit und mein Volk haben mir hinübergeholfen. Das waren ihre Vermächtnisse. Und ich habe immer deutlicher eingesehen, daß unsere eigenen Kümmernisse schwinden, wenn wir an die Not unseres Volkes denken. Ja, wir sind in Not, mein Lieber, wir müssen uns wehren. Und da dürfen wir nichts für kleinlich erachten. Da sind alle die Dinge notwendig, die Ihnen als Sekretär des Volksrates wahrscheinlich wenig Freude machen. Mir machen sie ja auch keine Freude ... ich möchte lieber dreinschlagen. Aber damit kommt man nicht sehr weit. Na ... kurz und gut ... Sie haben Schweres erlebt, mein lieber Gruber, gerade deshalb sollen Sie mir aushalten.«

Gustav erhob sich und stand im strömenden Summen. Sein Herz schlug beglückt und traurig. Nun war es so geworden, daß er wirklich aushalten mußte.

»Ich danke Ihnen,« sagte er fest.

Herr Morek nahm einen Zeichenbogen vom Tisch. »Es ist gut. Bitte ... bringen Sie das dem Werkführer Anderle in die Gießerei ...«

Gustav trat aus dem Schatten des Hausflures in den grellen Sonnenschein des Hofes. Langsam entfaltete er den Bogen. Wellen und Kurbeln und Räder strebten mit wirren Linien durcheinander. Hieroglyphen der Technik! Damit begann es, diese dürren, krausen, zarten Linien waren des Werkes Anfang. Sie wuchsen aus dem Papier in die Körperlichkeit des Daseins, füllten sich mit Wirklichkeit, wandelten sich in schwere Modelle, deren Leib dann den glühenden Gußstahl faßte. Dann stand die Macht und Pracht der stählernen Gebilde in der Welt, genau so wie Morek in der Welt stand, der Herr des Stahles und des Lebens.

Gustavs Leben aber kam nicht über den Zustand der Linienwirrnis hinaus, es blieb ihm selbst fremd und unverstanden wie dieses Blatt, auf dem die Sonne flimmerte.

Leuchtende, kleine Kugeln hüpften über die hingerätselten Kurbeln und Wellen. Aber unter dem Blatt wanderte ein stiller Schatten von Gustavs Füßen vor ihm her zur Gießerei.

Heißer Atem von Öfen hauchte ihm entgegen und von flüssigem Stahl, der im Bogen aus dem Gußloch in die Graphittiegel schoß. Überall standen die Gefäße umher, bis an den Rand voll schwerer, breiiger Glut, deren Oberfläche Inseln von Schlacke hatte. Es war die Stunde des vormittägigen Gusses. Die halbnackten Gießer trugen zu je zweien die Graphitgefäße zu den Schamotteformen. Sie hoben das Gefäß an den Trägern hoch, kippten es, und die Glut verschwand lautlos in dem Loch des Modells.

Ein halblauter Pfiff schnitt neben Gustav durch die heiße Luft. Er sah hinter einem hohen Turbinenmodell einen winkenden Arm. Ein paar der Arbeiter vor dem ersten Ofen wandten den Kopf.

Und in diesem Augenblick brach ein wilder Schweiß an Gustavs ganzem Körper aus. War es nur die Hitze in diesem Raum oder diese sinnlose Angst, die ihn plötzlich angesprungen hatte? Als treibe es ihn einem Verhängnis entgegen, als gehe er einer blinden Feindseligkeit zu. Etwas Verhülltes war da, etwas Bösartiges, körperlos und überlegen. Einmal hatte Gustav so etwas gefühlt. Als ihm aus dem gedrängt vollen Zuschauerraum eines Gerichtssaales Haß und Ingrimm entgegengeschlagen hatten.

Er peitschte sich selbst vorwärts. Wie armselig und kraftlos war er, daß er sich solchen Zuständen überließ.

Aus dem Gußloch des Ofens stand der flüssige Stahl wie ein glühender Türkensäbel in die Graphitkübel hinein. Wenn das eine Gefäß gefüllt war, so wurde rasch ein anderes hingeschoben. Was von dem Stahl danebenfloß, das blieb wirkungslos in der Sandgrube vor dem Ofen liegen. Die Beine der Arbeiter waren von unten grellrot bestrahlt, ihre Rückseiten von blauem Tageslicht kühl überrieselt. Die Gesichter starrten wie schwarze und rote Masken. Blaue und rote Dampfwolken krochen über ihren Köpfen als zähes Gewürm.

Gustav ging durch einen Engpaß von mannshohen Gußformen. Gerade dort, wo der Engpaß sich öffnete, stand der Werkführer Anderle mit zwei oder drei Arbeitern und erklärte etwas.

Zwei Arbeiter mit einem Tiegel flüssigen Stahles kamen hinter Gustav durch den Paß, mit geschwinden, kleinen Schritten. »Achtung!« schrie der eine. Gustav trat zur Seite, in einen engen Spalt zwischen zwei Formen. Es war ihm, als ducke sich drüben hinter einem breitgelagerten gußeisernen Ungeheuer ein Mensch. Ein giftiger Atem von Haß und Feindschaft überall.

Vorn am Ende des Passes hoben die Arbeiter ihren Tiegel auf die hohe Kante einer Gußform. Irgendwo platzte eine Schlackenbombe. Ein fliegender roter Schein traf die emporgehobenen nackten, gestrafften Arme.

Gustav sah den Weg frei.

Anderle zeichnete Kreise in die Luft, die Männer um ihn glotzten mit schwer hängenden Armen. Einer wischte mit der Schürze über die triefende Stirn.

Dann sah Gustav nur noch, wie sich Anderle gegen ihn wandte, sah ein jähes Entsetzen in den Augen des Mannes, einen klaffenden Mund.

Er fühlte sich nach vorn gerissen ... brach in die Knie.

Hinter ihm tat es einen schweren Schlag ... ein kalter spitzer Schmerz war an seiner Wade.

Ein Augenblick vollkommener Dunkelheit, dann kam wieder alles hervor.

Erstaunt sah sich Gustav mit den Knien und der linken Hand auf dem Boden. Der kleine, bärtige Werkmeister hielt ihn krampfhaft vorn am Rock gefaßt.

»Da schaun S',« keuchte er und stieß die Hand vorwärts.

Gustav wandte den Kopf. Schmerzhaft stach ein heißer Glanz in sein krankes, linkes Auge. Da war einen Schritt hinter ihm flüssiger Stahl über den Boden gegossen. Unter einer Wolke von Staub und Dampf rann es zäh und schwer und glühend über den Boden, hauchte Qual und Vernichtung. Breite Zungen leckten nach allen Seiten, schwarze Krusten trieben auf der weißen Glut und sprühten zerplatzend Funken aus. Der Tiegel, der vorhin auf der Kante der Form gestanden hatte, lag geleert am Rand der glühenden Lache.

»Jetzt, wann ich das nicht seh' ... is es aus mit Ihnen!« sagte Anderle.

Gustav nickte und erhob sich. Er fühlte ein wildes Brennen an seiner Wade. Dort war der Stoff der Hose versengt und zerfetzt, ein Spritzer des flüssigen Stahles hatte ihn gestreift.

Langsam und scheu verloren sich die Arbeiter, die bei Anderle gestanden hatten.

»Is Ihnen nicht gut?« fragte der kleine Mann, »soll ich Ihnen Wasser bringen?«

Aber Gustav schüttelte den Kopf, und dankte. Die frische Luft werde ihm wohltun, meinte er.

Anderle schob den Arm unter den Gustavs und der ließ es geschehen, obzwar er wußte, er bedürfe dessen nicht.

Als sie auf dem Hof standen, ließ Anderle Gustavs Arm los und sah ihm ins Gesicht. Und auf einmal riß es ihm die geballten Fäuste hoch und gegen die Gießerei. »Die Lumpen! ... die Hunde!«

»Was denn?«

»Sie dürfen niemals mehr in die Gießerei kommen, Gruber. Niemals mehr.«

»Sie meinen ...? es war ...?«

»Ja ... ich habe es gesehen. Das war verabredet. Die haben den Tiegel schon so hingestellt und der dritte hat bloß einen Stoß gegeben.«

Da rann nun endlich ein Zittern durch Gustavs Erstarrung.

»Sie sind aufgehetzt, wissen S',« sagte Anderle, »ich weiß es schon längst. Ihre Zeitungen schreiben doch jede Woche über Sie ... weil Sie auch beim Volksrat sind. Und morgen is der Volkstag. Gott weiß, wie das werden wird. Es is eine Wut in den Leuten ... und man kann nix tun. Werden S' es dem Chef melden?«

»Nein!« sagte Gustav.

»Man kann ja auch nix tun. Es is besser. Sie gehen ihnen aus dem Weg. Wenn der Chef die Kerle hinausschmeißt, so haben wir am selben Tag den Streik. Die anderen lassen sie nicht fallen ... mein Gott, es is ein Jammer, wenn man mit solchen Menschen arbeiten muß. Es sind Bestien, nicht Menschen. Aber woher soll man Arbeiter nehmen?«

Gustav erwiderte nichts. Er sah in die blaue Luft und den Sonnenschein und wunderte sich über den Schatten, der neben ihm lag, bereit, mit ihm fortzugehen, wenn er seine gesunden Glieder bewegen würde.

*

Er tat seine Pflicht, wie sonst.

Im Volksrat gab es alle Hände voll zu tun. Hier liefen die vielen Fäden zusammen, an denen das morgige Fest ging, hier waren die Triebräder des Ganzen.

Erst am späten Abend war die Arbeit beendet.

Gustav ging durch beflaggte Straßen. Der Sockel des Kaiser-Josef-Denkmals war mit schwarzrotgelbem Fahnentuch verhüllt. In den Straßen, die vom Bahnhof führten, waren Ehrenpforten errichtet, laubumkränzte Maste mit markigen Worten auf straffgezogener Leinwand dazwischen.

Erwartung spannte die Nerven der Stadt. Man sprach davon, daß ein Trupp halbwüchsiger Burschen aus der Vorstadt irgendwo versucht hatte, eine Fahne herunterzureißen. Polizei war dazwischengefahren. Eine rasch angesammelte Menge hatte zwei Verhaftete wieder befreit.

Es hätte sein können, daß Gustav jetzt mit verbrannten Gliedern, losgelöstem Fleisch und zuckenden Eingeweiden dem Tod entgegenbrüllte. Aber da sah er, wie vertraut er mit dem Gedanken war: alles dies hier könnte sein, ohne ihn. Er trug ein kleines Fläschchen in der Westentasche, seit vielen Wochen schon. Eines von Viktorins wirksamsten Giften, unter einem Zwang aus dem Schrank genommen, ohne jeden Bezug auf Sterben. Nur um des Gefühles willen: es ist da, ich trage eine Gefahr in der Westentasche. Nun aber wußte er, daß er imstande gewesen wäre, den Ernst aus dem Rankenwerk spielerischer Gedanken loszureißen. Sich zu befreien, ehe er vom Schmerz erbärmlich und armselig geworden wäre.

Wie er das so überdachte, da hob er den Kopf. Noch waren Scham und Stolz in ihm nicht ganz gebrochen.

Wie aus einer anderen Welt ging er durch die belebten Straßen. Was ging ihn das an, dieses Drängen und Stoßen und dieses Fahnenflattern? Wo stand er? So mußte es einem Unsichtbaren zumute sein, einem Mann, der einen Zauberring besitzt. Er trug Leben und Tod in sich selbst, war sein eigener Herr, und das war der Sinn des Daseins. Heute, wo er dem Tod um Haaresbreite entgangen war, hatten sich seine Augen endlich nach innen geöffnet.

Wie eine Feuersäule, wie eine Rauchsäule wandelte er. Nur vor der Ausgabe einer tschechischen Zeitung, wo sich die Menge staute und um Extrablätter balgte, merkte er, daß er die allgemeinen physikalischen Eigenschaften der Schwere, Ausdehnung und Undurchdringlichkeit mit anderen Menschenkörpern teilte.

»Was ist dir?« fragte die Mutter, als er nach Hause kam.

Gustav sah aus wie erhöht. Sein Kopf war aufgerichtet, die Augen leuchteten unter der vortretenden Stirne. Ein Glanz floß von den hohlen Schläfen die eingefallenen Wangen hinab und sammelte sich wieder weiter unten auf den Händen. So kannte die Mutter die Bilder von Märtyrern in dämmerigen Kirchenhallen. So waren die Glaubenszeugen gegen die braunroten nackten Körper ihrer Henker gestellt, bleich, gefaßt und strahlend. Verinnerlichte Kraft des Geistes gegen rohe Muskelkraft.

Die Mutter sah Gustav scheu an. »Hast du Fieber?«

»O nein!« – Gustav ging im Zimmer herum, faßte dies und das planlos an, betrachtete altbekannte Dinge, als ob er sie lange nicht gesehen hätte, summte etwas vor sich hin.

Nach dem Abendessen bat er um eine zweite Flasche Bier. Dann nahm er ein Buch vor, etwas über Erfindungen. Die Mutter sah über ihre Flickwäsche hin Ehrfurcht einflößende Maschinen. Das war etwas Erstaunliches, Gustav über einem Buch zu sehen, etwas lange nicht Dagewesenes. Er hielt den linken Arm aufgestützt, kraute mit den Fingern im Haar, die rechte Hand blätterte im Buch. Das war wie ein leises Knattern, als sprühe die Wissenschaft Funken.

Und auf einmal wuchs so eine kleine Maschine aus dem Buch hervor, wuchs nach allen Seiten, reckte sich mit Kolben und Rädern und stand auf dem Tisch. Ein lebendiges, bewegtes, unheimliches Ding, das in einem seltsamen Takt pochte ... immer dringlicher pochte.

Da fuhr Frau Grubers Kopf, der über die Flickwäsche gesunken war, auf. Gustav saß ihr gegenüber, blaß, mit großen, entsetzten Augen.

»Mutter!« sagte Gustav, »es ist jemand an der Türe!«

Gott im Himmel, jemand an der Ladentüre ... wahrhaftig, es klopfte an der Ladentüre. Gott im Himmel – mitten in der Nacht.

»Wer ... wer kann das ...« stammelte sie.

»Mach auf, Mutter ... mach auf ...« Gustav saß wie gelähmt.

»Ja ... ja ... die Schlüssel.« Frau Gruber fuhr in alle Taschen, fand den Schlüsselbund endlich auf dem Waschtisch und lief in den Laden, die Türe hinter sich offen lassend.

Es zog Gustav langsam vom Stuhl auf. Er schwankte ... stand. Seine Füße fühlten den Boden nicht.

Draußen rasselte der Schlüsselbund ... zeitlos ... das Schloß quiekte. Jemand drückte sich durch die schmale Türe ... ein Schluchzen.

»Mein Gott ... Sie sind's« ... der Laden war zu eng für den Strom qualvollen Stöhnens, es quoll breit in das Zimmer ... und plötzlich stand mitten darin, an der Türe ... Steffi.

Sie war im Hauskleid, breiten Leibes, ein wollenes Umhängetuch schief um die Schultern. Die linke Hälfte ihres Gesichtes war stark gerötet und verschwollen, über die Stirn zogen sich zwei rote Striemen. Ihre Unterlippe zitterte wie im Fieber oder Frost, ihre Blicke duckten sich in maßloser Angst.

Man sah, daß sie sprechen wollte, aber es wurde nur ein Stöhnen. »Jagen ...« stammelte sie.

Frau Gruber schloß die Türe, stand mit gefalteten, zur Brust gehobenen Händen neben Steffi. »Mein Gott ... mein Gott ...!«

»Jagen ... jagen Sie ... mich nicht hinaus. Lassen ... Sie mich bei sich ... nur diese Nacht ... morgen gehe ich ... sie schlagen mich ja tot ...«

»Nein ... nein ... mein liebes ... mein armes Fräulein Steffi,« sagte Frau Gruber, »was ist denn nur geschehen? Nein ... nein, bleiben Sie nur ...«

Aber Steffi löste sich nicht von der Türe. Noch immer gingen ihre Blicke zu Gustav, geduckt in maßloser Angst.

Gustav schüttelte den Kopf.

»Kommen Sie,« sagte die Mutter und nahm das wollene Tuch von Steffis Schultern. Dann legte sie ihren Arm um die Hüften des Mädchens und führte sie wie ein Krankes an den Tisch.

»Setzen Sie sich.«

Steffi sank schwer in den Stuhl. Frau Gruber stand neben ihr, in einem Arm das Umhängtuch, im anderen die rasch zusammengeraffte Flickwäsche, und sah ratlos auf den braunen Scheitel.

Noch immer hielt sich Gustav an der anderen Seite des Tisches, die Faust auf dem offenen Buch.

»Was ist denn geschehen ...?« stammelte Frau Gruber, noch immer fassungslos. Steffi schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Leib, der schwer zwischen den Lehnen des Stuhles lastete, bebte krampfhaft. »Sie schlagen mich tot ... sie haben mich hinausgejagt ... hinausgejagt ...«

Sie ließ die Hände auf den Tisch sinken. Gustav sah, daß die Finger der Rechten blau und angeschwollen waren, als habe ein heftiger Schlag diese Hand getroffen. Die Nägel waren violett unterlaufen und glänzend, als wollten sie sich vom Fleisch lösen.

Auf dieser verschwollenen Hand trafen sich seine Blicke mit denen der Mutter.

In der großen Stille pochten drei gequälte Herzen.

Leise ging die Mutter zur Kommode und legte das Tuch und die Wäsche hin. Dann kam sie wieder, schlang den Arm sanft um Steffis Schultern.

»Er ... er hat sie jetzt einfach sitzen lassen,« sagte sie.

Steffi zuckte zusammen.

»Mutter!« bat Gustav.

Aber da war schon der Zorn in ihr zu mächtig geworden. »Jetzt haben sie das Mädel geschlagen ... und jagen sie hinaus, mitten in der Nacht ... und sind selber daran schuld – warum haben sie es geduldet ...«

»Mutter!« sagte Gustav noch einmal, eindringlich.

Sie hob den Kopf, sah die Qual auf seinem Gesicht und erschrak. »Ja ... ja!« sagte sie scheu.

Und dann begann die alte Frau schweigend auf und ab zu gehen. Mit einer in schweren Bewegungen hinströmenden mütterlichen Zärtlichkeit machte sie Gustavs Bett, gab den Polstern und der Decke andere Überzüge, breitete ein frisches Leintuch hin. Und warf dabei immer wieder besorgte Blicke nach dem Tisch, an dem Gustav Steffi gegenübersaß, mit dumpf gesenktem Kopf und vorgewölbter Stirn.

Dann trat sie wieder zu dem Mädchen. »Kommen Sie,« sagte sie, »am besten ist es, wenn man schlafen geht.«

Steffi legte die angeschwollenen Finger auf die kraus verrunzelte Hand der alten Frau. Es war ein seltsamer Anblick, dieses Ineinanderfügen zweier Geschicke. Langsam hob sich Gustavs Blick von den aufeinander ruhenden Händen zu Steffis Gesicht. Da stand Schmerz und Bitterkeit und Bangen, unentwirrbar verkrampft, aber in den Augen war die große Verzweiflung schon in Demut gewandelt. Sie schien Gustav fremdartiger als je. Eine kleine Japanerin, mit den ein wenig schief gestellten Augen, zwischen deren Brauen eine tiefe Falte seltsam verwunderlich und rührend war.

»Und Sie ...?« fragte Steffi ganz leise. »Und du ... wo wirst du schlafen?«

»Draußen im Laden!« sagte Gustav und ging hinaus und stand wartend im Dunkeln, bis die Mutter einen Strohsack und eine Decke gebracht hatte. Er fühlte sie in der Finsternis neben sich, angstvoll ihm zugewandt, als habe er etwas zu entscheiden. Aber er wußte nichts zu sagen und es mußte alles bleiben wie es war, schwer, zusammengeballt, undurchdringlich.

Da ging die Mutter mit einem Seufzer, der zwischen Schluchzen und Stöhnen war. Aber als sie drinnen Steffis angstvolle Augen sah, da lächelte sie, als trage sie eine neugeborene Hoffnung in sich, von der man nur noch nicht wagen durfte, zu sprechen.

An diesem Abend bekam der heilige Aloisius ein Kopfschütteln zu sehen, als Frau Gruber in das rote Lämpchen frisches Öl füllte. Es gingen auf der Welt Dinge vor, die gar nicht in Ordnung waren. Und wenn man ein Heiliger war, der auch nur einigen Einfluß besaß, so hätte man sich wohl ein bißchen besser kümmern können, daß nicht auf dem Weg vom Himmel zur Erde gar so viel Gottesgüte verloren ging.

Gustav aber, der keinen Heiligen hatte und keinen Wotan mehr, war mit dem tiroler Moidl und der rotbraunen Kuh aus Papiermaché allein, die oben auf dem Wandregal standen. Und die hatten auch keinen neuen Lebensmut zu geben, denn die vergingen in Staub und wußten auch nur vom Abbruch einstiger Herrlichkeit.

* * *

 


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