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IX.

Leutnant von Wendlau verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Stand er doch vor einem der wichtigsten Ereignisse in seinem noch recht jungen Leben.

Duelle in Offizierskreisen sind weit seltener als man im Publikum glaubt. Er hatte noch nie eins mitgemacht, wenn er nicht eine Schlägermensur dazu rechnen wollte, die er einst auf Kriegsschule in der großen Turnhalle mit einem Kameraden ausgefochten. Aber das war doch eine halbe Kinderei gewesen. Der Assistenzarzt hatte die paar Schmisse zugenäht, sie kamen beide auf ein paar Wochen ins Lazaret und dann war die Sache gut, während jetzt ...

Erschrocken dachte er immer wieder daran, daß es sich bei dem Duell zwischen Parsenow und Stayningen unzweifelhaft um Leben und Tod handele ...!

Gelesen hatte er viel dergleichen. Er wußte aus den Romanen, daß bei solchen Gelegenheiten die Gegner sich stets »mit kalter Höflichkeit« grüßen und, wenn der Schuß fällt, unfehlbar »ein Rabe sich krächzend vom beschneiten Ast erhebt.« Auch war er darauf gefaßt, daß ihm Parsenow mit vielsagendem Händedruck noch eine Locke und einen Brief an die Geliebte übergeben würde, und er kam sich äußerst wichtig und feierlich vor, als er fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, am nächsten Morgen durch die leeren und halbdunklen Straßen in Parsenows Wohnung schritt. Der Graf saß vor dem Kaffeetisch, auf dem noch eine Lampe brannte. Er rauchte eine Cigarette und sah äußerst gleichgültig aus.

Wendlau setzte sich neben ihn und sah auf die Uhr. Der Diener schenkte ihm Kaffee ein. Beide schwiegen.

»Erlauben Sie?« sagte endlich Parsenow scherzend, indem er ein Gläschen mit Cognac in der Hand erhob.

Der Leutnant verbeugte sich und stotterte verlegen eine Bejahung, ohne die Frage zu begreifen. Es war eben sein erstes Duell und er wußte nicht, daß ein großer Teil der Paukanten es vorzieht, mehr oder minder angezecht den Kampfplatz aufzusuchen. Am frühen Morgen, wo der Magen übernächtig und empfindlich ist, bringen auch kleine Gaben Alkohol diese Wirkung hervor.

Bei Parsenow war dies freilich nicht zu besorgen.

Er hatte das Gläschen geleert und starrte schweigend vor sich hin. Auf dem Tisch lagen zwei Briefe, an Frau Hilda von Braneck und Herrn Krakauer adressiert.

Es herrscht tiefe Stille in dem halbdämmernden Gemach. Von der Straße her dringt Wagenrasseln und fröhlicher Lärm. Eine Reihe Kremser fährt da vorbei. Sie befördert das Personal einer großen Firma im Nordosten der Stadt, die heute ein Geschäfts-Jubiläum feiert, zu einem Herbst-Ausflug hinaus in den Grunewald. Dichtgedrängt sitzen die Männer, die Frauen und jungen Mädchen in langen Reihen auf den Bänken. Zwischen ihnen die noch halb verschlafenen Kinder. Bunte Papierlaternen schaukeln an den Seiten, um des Abends zur Heimkehr angezündet zu werden, ein Bierfäßchen schwebt an starken Ketten unter dem Wagen, von dem Vorderplatze neben dem Kutscher wimmert stoßweise eine Drehorgel.

Ab und zu wird ein Versuch zum Singen unternommen, aber noch ist die Stimmung zu frostig in dem kalten Herbstmorgen. Man verstummt wieder. Die Männer reichen sich schweigend die Gilka-Flasche und wischen sich den Schnurrbart, die Frauen zupfen den Kindern die Kleidchen zurecht, und während die Wagen weiter und weiter über das endlose Pflastern dahinrasseln, harren ihre Insassen mit einer innerlichen, fast stumpfsinnigen Freude des genußreichen Tages in Feld und Flur, des großes Tages, von dem schon seit Wochen in den staubigen Fabriksälen die Rede gewesen.


Schon rollt die Wagen-Colonne auf dem glatten Kurfürstendamm dahin. Es ist ein kalter rötlicher Herbsttag. Leichte weißliche Morgennebel dehnen sich in Streifen über den Äckern und Feldern, die sich rechts und links endlos ausbreiten. Hinter ihnen liegt, eintönig summend und brausend, das Häusermeer der Weltstadt. Eine rauchige Nachtwolke hängt noch da und dort über der steinernen Wüste, in langen schrägen Strahlen flimmert die Sonne dazwischen durch und läßt die Kuppeln und Türme des zoologischen Gartens hell aufleuchten. Abgerissen dringt aus ihm, im Winde verweht, das heisere Brüllen der Raubtiere, das stoßweise Bellen der Robben herüber.

Dann reitet ein Leutnant vorbei, den Burschen auf dem Chargenpferd hinter sich, und erregt bei den kleinen Fabrikmädchen Sensation. Ein Hase springt auf und flüchtet unter dem Jubel der Gesellschaft, mit den Hinterläufen schlenkernd, querfeldein.

Die Dampfbahn saust heran. Das Pferd eines entgegenkommenden Generals macht einen mächtigen Sprung zur Seite, ohne daß sich das strenge Gesicht des weißhaarigen Militärs irgendwie verändert. Den Kremserinsassen imponiert das ungemein, wenn auch viele der jungen Männer höhnisch über die teilnahmsvolle Ehrfurcht lächeln, mit der die Frauen dem davongaloppierenden Würdenträger nachstarren.

Endlich taucht ein dunkler Streifen am Horizont auf und rückt näher und näher. Das ist der Grunewald. An der Villenkolonie vorbei geht die Fahrt. Noch liegen alle die barocken Gebäude, die bizarren Landhäuser und Restaurants in tiefer Ruhe, kleine Wellen ziehen plätschernd über die Oberfläche der künstlichen Seeen. Dann kommt der richtige Föhrenforst, hagerer Stämme, die dürren Wurzeln von weißem Sandgeriesel umgeben, hie und da etwas Graswuchs, ein graugrüner Moosteppich und überall verstreut auf dem sanft gewellten Boden die schmierigen Stullenpapiere, die Eierschalen und Glasscherben.

Eben hält die Wagenreihe vor dem Wildgatter, das sich quer über die Straße zieht und die Insassen schauen bereits neugierig nach Hirschen und Rehen aus, da fliegt von hinten ein elegantes Fuhrwerk auf federnden Rädern an ihnen vorbei und durch das eben geöffnete Gatter auf der Straße weiter. Ein dunkler, schnurrbärtiger Herr sitzt darin, so weit man es erkennen kann, und ein Husarenleutnant. Aber schon ist der Wagen hinter einer Senkung der Allee verschwunden.

»Du ... det war was Feines!« flüstert eine blasse Blondine zu ihrer Nachbarin. Die nickt andächtig und ein finsterer Bursche gegenüber setzt hinzu: »Ja ... solchen Briedern jehts jut auf der Welt ... die haben die janze Woche blauen Montag und wissen nischt von Sorgen und Verdruß ...«


Durchdringend schallt aus dem nahegelegenen Saupark das Grunzen und Quieken des Schwarzwildes über die kleine Waldblöße hin. Sonst ist es still. Nur oben in irgend einem Wipfel hämmert eintönig ein unsichtbarer Specht und die Fichtenstämme knarren in dem Morgenwind, der um sie streichend den Tau von dem hohen zitternden Herbstgras streift.

Aus der Ferne äugt ein Rudel Damwild unschlüssig auf die Gruppe dunkler Männer-Gestalten, die gähnend inmitten der Lichtung steht. Flüchtig äsend ziehen die schlanken Geschöpfe hin und her, bis plötzlich ein Schaufler den Kopf in den Nacken wirft und mit elastischen Sprüngen zwischen den Stämmen davonfegt. Die andern folgen seinem Beispiel, erschreckt durch das Aufleuchten der roten Attila in der schmalen Schneise, die zu der Blöße führt.

Wendlau sieht ihnen einen Augenblick zerstreut nach. Dann wendet er sich mit schwankender Stimme zu den neben ihm schreitenden Parsenow.

»Die andern warten schon!«

»Na ... dann kann die Sache ja losgehen,« erwidert der Graf, kaltblütig auf die Uhr schauend.


Ganz klar ist es dem Prinzen Stayningen nicht, was sich in den nächsten Minuten ereignet! Er sieht nur allerhand Herren um sich, er hört einen gedämpften Stimmwechsel, er schüttelt mechanisch das Haupt bei dem, hauptsächlich zur Deckung der Sekundanten vorgeschriebenen Versöhnungsversuch. Dann hört er ein kurzes, wiederholtes Stampfen, das Laden der Pistolen, und sieht sich plötzlich allein in der Mitte der Lichtung, die Waffe in der Hand, einige Schritte vor ihm zwei Paar zitternde, in den Boden gesteckte Stäbchen, hinter ihnen immer noch in unheimlich naher Entfernung, des Grafen dräuende Gestalt. Unwillkürlich schaut er hülfesuchend um sich und sieht die anderen Herren in langer Reihe am Waldrand stehen, ihm zunächst den kleinen Husaren, der ihn mit zu Boden gesenkter Pistole grimmig mustert. Etwas vor ihnen der Unparteiische, ein stattlicher Herr mit ergrauten Favoris, der aufmerksam auf eine goldene Uhr blickt.

Tiefe Stille. Nur der Specht hämmert irgendwo unverdrossen über ihren Häuptern.

»Sind die Herren bereit?« klingt von irgendwoher, wie aus einem Nebelland eine ganz fremde, merkwürdige Stimme« ... dann, bitte ... los! ...«

In diesem kritischen Augenblick empfindet der Prinz nur einen einzigen verzweifelten Gedanken. »Ach ... wenn ich doch am Leben bliebe ...!« Das ist die Vorstellung, die ihn mit zwingender Gewalt beherrscht, während er langsam einen Fuß vor den anderen setzend, mechanisch vorschreitet.

Er denkt nicht daran, zu schießen. Er ist vollkommen abhängig von dem, was sein Gegner thut.

Er sieht Parsenow auf sich zugehen, sieht wie die langen, nassen Grashalme sich unter seinem ruhigen Schritt neigen. Es kommt ihm vor, als ob ein teuflisches Lächeln um den Mund des Grafen spiele, als ob er wie ein Gespenst immer höher und höher emporwachse und ihn mit funkelndem Blick durchbohre.

Jetzt sind sie dicht an der Barriere. Wie hypnotisiert starrt der Prinz auf seinen Feind.

Plötzlich ein helles Aufzucken, ein klingendes Pfeifen an seinen, Ohr, fast gleichzeitig ein kurzer Knall, und gleich darauf weiter hinten ein trockenes Knacken in einem Fichtenstamme. Ein paar weiße Späne und Borkenstücke kreisen da zu Boden, erschrocken stellt der Specht sein Hämmern ein.

Durch den Pulverdampf, der ihm entgegenweht feuert Stayningen fast unwillkürlich gleichfalls die Pistole los. Seine Augenlider krampfen sich in der Aufregung zusammen ...

Er öffnet sie gewaltsam und starrt verdutzt vor sich hin. Er hatte den Eindruck, als habe Parsenow in dem Augenblick, da der Prinz auf ihn schoß, ihm eine rasche spöttische Verbeugung gemacht.

Und nun ist er gar nicht mehr da ... aber doch ... da liegt er ja, quer über den niedergebrochenen Stäbchen, das Gesicht nach unten.

»Was hat er nur so mit den Händen in das Gras zu greifen?« ist der erste Gedanke, der dem Prinzen durch den Kopf geht »... und wie seltsam er mit dem linken Bein in der Luft zuckt ...«

Aber schon springen die Sekundanten dazwischen. Der Prinz sieht nichts mehr: nur allmählich steigt in seinem verstörten Hirn die Ueberzeugung empor, daß Parsenow getroffen ... daß das Duell zu Ende sei ... und daß er lebe ... unversehrt lebe. Er hat die Empfindung, als löse sich langsam ein schweres Gewicht von seiner Brust und gleite zu Boden. Er atmet tief auf und fährt sich über die Stirne, auf der jetzt erst die kalten Schweißperlen hervorzutreten beginnen.

»Gefährlich?« fragt inzwischen tonlos der am Boden knieende Wendlau den Arzt. Der antwortet nicht gleich. Mit einem vielsagenden Blick deutet er auf das ringsum sprossende Riedgras. Breiartige weiße Flocken kleben daran.

»Eine Gehirnverletzung ist fast ausnahmslos tödlich, Herr Leutnant!« sagt er und kniet ebenfalls nieder, um den Gefallenen zu untersuchen. Man hört ein kurzes, schweres Röcheln, das zuckende Aufschlagen eines Stiefelabsatzes.

»Er lebt doch noch ...« Wendlaus Stimme klingt heiser.

»Das kann noch zehn Minuten so gehen ...« Der Arzt beugt sich noch einmal über den Grafen ... »vielleicht auch eine Viertelstunde. Das Bewußtsein ist weg ... kommt auch nicht wieder ...«

Dann wird alles still. Prinz Stayningen sieht stumpf vor sich hin, sein Gesicht ist noch immer aschgrau, seine Glieder zittern.

»Herrgott ...« sagt er schließlich ... »ich hatte wahrhaftig nicht die Absicht, Wendlau ... wahrhaftig nicht ...«

Aber der kleine Husar fühlt sich jetzt nicht als Freund, nur als Sekundanten. »Pardon, Durchlaucht,« erwidert er und sucht seiner hellen Stimme einen möglichst schneidenden Klang zu geben, »niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich glaube,« ... er sieht umher, »die Herren sind alle einig, daß bei Vollziehung des Zweikampfes die Standessitte gewahrt wurde ...«

»Ach was, Standessitte...« murmelt Stayningen fast kläglich ... »aber wenn einem die Kugel am Ohr vorbeigeht ...«

»... und ein Schütze wie Parsenow fehlt,« sagt ernst ein dunkelbärtiger Herr, der bis dahin geschwiegen ...

»... ich kanns nicht glauben ...« Der Husar sieht verstört auf den Sterbenden ... »er traf ein Kartenblatt auf zwanzig Schritt und jetzt ...«

»Verzeihung, Herr Leutnant,« unterbricht ihn mit kalter Höflichkeit einer der Gegensekundanten ... »die Andeutung, als ob der Herr Graf sich freiwillig der Kugel unseres Mandanten preisgegeben habe ...«

Aber der Unparteiische schneidet ihm das Wort ab: »Genug, meine Herren ... Diese Erörterung ist, wie mir scheint, überflüssig. Halten wir uns an die Thatsachen. Graf Parsenow ist tot. Was er vorher dachte und wollte, geht uns nichts mehr an!«

Die Anwesenden verstummen. Allmählich dämmert ihnen allen die schweigende Erkenntnis auf, daß Graf Parsenow es vorgezogen hat, sein Schicksal zu corrigieren!

Und wieder wird es ganz still. Oben in der Fichte, über der die kleinen Lämmerwölkchen an dem blaßblauen Herbsthimmel dahinziehen, hämmert und klopft der unverzagte Specht und in weiter Ferne, wo die Ausflügler in ihren Kremsern über die Chaussee rollen, tönt kaum hörbar ein Gesang.

»Im Grunewald ist Holzauktion« ... klingt es herüber, dann wieder das Rauschen des Morgenwindes im Stangenholz und in ihm, halbverweht und kaum vernehmbar »... ist Holzauktion ... ist Holzauktion...«


Von den Döbeln, die spät in der Nacht noch aus Potsdam zurückgekommen, saß nur der Major im Frühstückssaal des Hotels. Hilda wollte noch bis zum Nachmittag bei ihrer Freundin in Potsdam bleiben. Kurt war zum Dienste.

Unter höhnischem Brummen und halbersticktem Wutgelächter studierte der alte Herr eben einen gegen die Agrarier gerichteten Leitartikel der »Freisinnigen Zeitung«, die ihm durch irgend ein Unglück in die Hände gefallen war, als der Leutnant von Wendlau sporenklirrend eintrat und sich ihm vorstellte.

Die beiden Herren gingen in Döbelns Zimmer. Als sie nach einiger Zeit wieder herunterkamen, schien das Gesicht des Majors um Jahre gealtert. Er ging langsam, er sprach leise und begnügte sich zum staunenden Entsetzen der herumstehenden Piccolos, die sein Temperament wohl kannten, mit einem milden Verweis, als ein ungeschickter Hausknecht ihm einen Koffer an das Schienbein schleuderte.

Dann fuhren die beiden davon, in den Grunewald.

Auf dem schmalen Kiefernpfad unweit der Saubucht, in dessen Sand die Räder knirschend einsanken, kam ihnen ein offenes Gefährt entgegen.

Prinz Stayningen saß darin. Er hatte seine gewöhnliche Gesichtsfarbe wiedergewonnen; es schimmerte feucht in seinen kleinen Augen.

»Vor einer Viertelstunde war es erst zu Ende,« sagte er leise und beklommen zu Wendlau, der an seinen Wagen getreten war ... »ich habe die ganze Zeit gewartet, um für den Fall, daß er noch zur Besinnung käme ... Sie begreifen ... ich hätte ihm gern noch einmal die Hand hingehalten ...«

Der Leutnant schweigt.

»Setzen Sie sich nur in meine Lage,« fährt der Prinz fort. Ein paar dicke Thränen rollen über sein rotes, gutmütiges Gesicht. »Er hat mich doch schließlich mit dem Handschuh geschlagen. Was war da zu machen? ... ich geb's ja gerne zu ... er war ein brillanter Kerl ... der Parsenow ... Gott hab' ihn selig ...«

»Und was thun Sie jetzt, Durchlaucht?«

»Ich fahre erst auf die Bank ... nämlich wegen der Caution ... und dann zum Staatsanwalt ...«

»Nun, dann viel Glück!«

Vorsichtig gleiten die beiden Wagen an einander vorbei.

Mit einem scheuen Blicke sieht Stayningen dem grimmigen alten Herrn nach, der neben Wendlau sitzt. Dann wendet er sich zum Kutscher: »Nu man dally ... ich habe Eile ...«

Und je mehr der rasch dahinrollende Wagen sich Berlin nähert, desto zufriedener wird des Prinzen Stimmung.

Eigentlich hat er sich doch brillant aus der Affaire gezogen. Er ist am Leben geblieben, auf der Festung einer baldigen Begnadigung sicher, und wie anders steht er jetzt da als noch gestern um diese Zeit!

Da hielt man ihn noch für ein harmloses, gutmütiges Gigerl: jetzt hat er gezeigt, daß er Haare auf den Zähnen hat, indem er den gefürchteten Parsenow im ritterlichen Zweikampf erlegte. Staunend werden jetzt die Männer, mit angstvoller Bewunderung die Frauen auf ihn sehen, und er selbst fühlt sich heute zum ersten Mal in seinem siebenunddreißigjährigen nutzlosen Dasein nicht unwert des alten Heldengeschlechts, von dem er stammt, jener grimmigen Kämpen, deren Bilder den Ahnensaal seines Vaterschlosses fern am rebengrünen Neckarstrand zieren ...


Schweigend tritt inzwischen der Major und sein Begleiter in das kleine Zimmer des Grunewald-Restaurants, in dem man einstweilen den Grafen gebettet. Vor dem Fenster schwanken rötliche Buchenzweige, weiterhin schweift das Auge ungehindert über blaue Seeen und bläulichen Forst. Im Hofe unten heulen und janken ein Paar Teckel, Truthahngekoller mischt sich mit dem Gackern der Hühner.

Lange betrachtet der alte Döbeln die reglos ausgestreckte ritterliche Gestalt. Man hat Parsenow ein Tuch um den Kopf gelegt, das die Wunde verbirgt. Ein herber Ernst ruht auf seinen scharfgeschnittenen Zügen, aus denen der dunkle Schnurrbart sich jetzt noch grimmig emporsträubt. Sein gesunder, bräunlicher Hautton hat einen gelblichen Schimmer angenommen. Und dumpf starrt der graue Biedermann vor sich hin. »Wie wird Hilda diesen Schlag ertragen?« geht es eintönig durch sein armes Hirn ... »wie soll er sie darauf vorbereiten ... wie ihn ihr mitteilen ...«

»Ich denke ... wir warten die Dämmerung ab,« sagt endlich der Husar neben ihm ... »bis wir ihn hereinfahren. Dann sieht es niemand und die Sache spricht sich nicht so herum. Ich habe Parsenows Diener schon herausbestellt. Er kann dann auf dem Bock des Coupés sitzen. Wir beide fahren langsam mit unserer Droschke voraus ...«

Der Major nickt schwermütig mit dem Kopf. Gut, daß der Diener da ist!

Und wirklich sitzt unten in der Wirtsstube der perfekte valet de chambre und unterhält sich bei einem Glase Grog herablassend mit dem Kellner. Der Tod des Grafen geht ihm äußerlich wenigstens nicht allzu nahe. Ein Kammerdiener der jeunesse dorée muß darauf gefaßt sein, jeden Augenblick seinen Herrn durch Duell, Selbstmord, Heirat oder sonst einen Unglücksfall zu verlieren.


Schon steht die rotglühende Sonnenscheibe tief im Westen, ein feiner weißer Rauch entsteigt dem reglosen Gewässer der Havelseeen und die würzig kalte Nachtluft verdrängt die matte Wärme des Herbsttages, da rumpeln die beiden Wagen im Schritt über den weichen, mit gelbem Kies bestreuten Waldweg und dann im kurzen Trab auf der Chaussee des Kurfürstendammes weiter.

Ringsum die märkische Ebene. Schlaftrunken drehen da und dort noch auf kleinen Sandhügeln die Windmühlen ihre Flügel, aus der Ferne ragen, von einem schwärzlichen Häusergewirr umgeben, die dünnen Zacken der Kirchtürme in die stille Luft. Ab und zu das Türmchen eines Herrensitzes, ganz hinten links, sich scharf von dem klaren Horizont abhebend, die Kuppel des Charlottenburger Königsschlosses. Und dazwischen überall die endlosen Flächen von Äckern und Wiesen, von Bauplätzen und Gemüsebeeten, die zum großen Teile schon verwahrlost daliegen, als warteten sie nur darauf, von der unablässig vorrückenden Weltstadt verschlungen zu werden.

Und wie weit hat der Zug nach Westen seine Vorposten schon hinaus in das Gelände getrieben! Hier zu zweien und dreien, dort noch vereinzelt ragen wie Castelle die Mietskasernen aus dem sonst noch öden Lande. Zerfallene Bauzäune umgeben die Nachbargrundstücke, Schutt- und Steinhaufen liegen auf dem niedergetrampelten Gras, die umgehackten und in Haufen geschichteten Obstbäume strecken ihr kahles Ästegewirr gen Himmel.

Daneben eine Ruine, ein zur Hälfte schon abgetragenes, wurmstichiges Bauernhaus. Was soll die Scharteke hier auf diesem Grund und Boden, wo jede Quadratrute kostbar ist! Ein großes Zinshaus wird auf ihm erstehen. Es wird sich mit keifenden Parteien und lärmenden Mägden füllen, Schwärme von verkümmerten Kindern werden in dem dunkeln, brunnenschachtartigen Hof spielen und in der Destille an der Ecke ein heiseres Klavier am Abend die Maurergesellen der Umgegend zum Biere locken.

Und andere werden folgen, überall da, wo jetzt noch der Herbstwind frei über die Stoppeln pfeift und die Hasen durch die zitternden Weißdornhecken huschen, Straße wird sich an Straße reihen, die Pferdebahn klingeln, die Wagen rasseln und die Menschen dahinströmen, immer weiter und weiter gen Westen.

Schon jetzt ziehen sich überall die projektierten Straßen durch das Gelände. Ausgefahrene Ackerwege mit wassergefüllten Rinnen, von knarrenden Lastfuhrwerken belebt. Zusammengebrochene Zäune folgen ihrem Lauf, halbfertige Häuser stehen daneben zwischen halbniedergerissenen, dann wieder endlose, kot- und geröllbedeckte Bauplätze, Steinhaufen, Baumstrünke, Schmutzlachen ... eine wüste, zerstörte Welt, in der mit Sonnenuntergang jedes menschliche Leben erlischt.

Es ist, als sei da ein Feind verheerend über die Fluren gezogen, und als der alte Major auf die dunkelnden Häusermassen der Weltstadt vor sich blickt, der sie entgegenfahren, da glaubt er diesen Feind zu erkennen. Wie ein Raubtier, das immer weiter im Umkreise gefräßig alles verschlingt, kommt ihm das große glänzende Berlin vor, wie ein seelenloses Ungeheuer, in dem alle Eigenart und Feinheit des Lebens, alle Frische der Empfindung und Vornehmheit des Denkens untergeht in dem wiehernden Gebrüll der Volks-Versammlung, dem roh donnernden Schritt der Arbeiterbataillone.

Und noch ein anderes, mächtigeres wirkt da mit! Der Major wendet sich um zu dem Wagen, der Parsenows Leiche hinter ihm her führt. Der Abendhimmel des Westens glüht im Feuerschein. Da und dort schleudern flimmernd und blitzend einige Glasscheiben die Strahlen zurück, die in langen rötlichen Linien durch das Laub des Tiergartens brechen und ihre zitternden Schatten über seine Seespiegel werfen.

Und ferne über dem bunten Blättergewoge taucht jetzt, da sie am Schlosse Bellevue vorbeifahren, ein glühender Körper auf. Das ist die Viktoriasäule, die im Abendrot glänzt. Man sieht nichts mehr von den plumpen Formen der Figur, nichts mehr von dem Sockel, nur eine Masse von glitzerndem, funkelndem Gold schwebt dort oben hoch in der Luft und zu ihm tönt aus dem dämmernden Treiben unten vieltausendstimmig das Hasten und Jagen, das Kämpfen und Sehnen der Weltstadt empor.

Das Gold ... ja ... das ist es, das ist der eigentliche Herr über alles, was hier lebt und streitet! Der Major schließt finster die Augen. Ihm ekelt vor Berlin.

Da tönt Musik und Gesang neben ihm. Eine Kremserreihe mit buntfarbig leuchtenden Laternen rollt langsam vorbei. Es ist das Fabrik-Personal, das von seinem Festtag zurückkehrt. Eine gehobene Stimmung herrscht in den vollgepfropften Wagen. Manche der Männer sind etwas angetrunken, die Mädchen hochrot erhitzt, aber die Fröhlichkeit ist allgemein. Im vordersten Gefährt erklingt die Drehorgel und ein kräftiger Chor folgt der einfältig-wehmütigen Melodie.

»O lieb', so lang du lieben kannst
Am märk'schen Sand und See ...«

und zitternd sich in die Höhe schwingend, fallen die dünnen, klagenden Mädchenstimmen ein:

»O lieb', so lang du lieben kannst
Am grünen Strand der Spree! ...«


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