Rudolph Stratz
Hexenkessel
Rudolph Stratz

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19

Der Student Vollbrecht war die Treppe von der Pension »Alpenrose« hinabgestürmt. Das Haustor fiel hinter ihm ins Schloß. Er gab einem riesenhaften Menschen, der mit dem breiten Rücken gegen ihn außen auf den Aufgangsstufen stand, einen freundschaftlichen Rippenstoß.

»Platz, Kleiner – Platz! . . . Tu' dich nicht hier als Verkehrshindernis auf!« Er lüftete hastig den Hut. »Oh – Verzeihung, Fräulein Altschüler! . . . Der Ribbentropp ist so weitläufig gebaut! Ich sah gar nicht, daß hinter ihm noch jemand war!«

»Weswegen glaubst du denn sonst, daß ich hier die Tölzer Straße ziere?« Der Riese drehte dem Freund über die Schulter hin das gutmütige Gesicht mit dem kleinen Schnurrbärtchen zu. Das rote Dreieck des Granatsplitters auf seiner rechten Backe schaukelte sich in einem bedeutungsvollen Schmunzeln.

»Na – du feixt ja wie ein Schneekönig, Kerlchen!« sagte Bernd, und der andere nickte.

»Wenn der Mensch mal an 'nem Tag mit dem richtigen Bein aufgestanden ist . . . Erzähl' es ihm, Lisinka!«

»Also: Ich habe vom nächsten Ersten ab eine patente Stellung!« berichtete die große, stramme Lisa Altschüler mit ihrer tiefen und starken Stimme. »Als Aufsichtsdame. Ein Posten, wo 'n tüchtiger Kerl . . .«

». . . wie du . . .«, ergänzte der Bräutigam.

». . . auch wirklich vorwärtskommen kann und sich einen Wirkungskreis schaffen! Na – ich spuck' in die Hände! Ich schufte für drei!«

»Jetzt schau' nur zu, Paule, daß du inzwischen nicht auch im ›Kolokól‹ die Türe von außen besiehst, wie ich!«

»Nee! Ich bin da der Hausknecht aus Nubierland! Ich bin der starke Mann!« sagte der Hüne gemütlich. »Und ich hab' so gesprächsweise verlauten lassen: Ich bin auch der wilde Mann – wenn man mich reizt –, noch von 'ner Schußverletzung im Krieg her! In dem Zustand – hab' ich vertraulich angedeutet – nehm' ich den Baron an den Beinen und prügel' mit ihm seine eigenen Gäste durch! Seitdem hat der Knabe mit dem Monokel mächtig Manschetten vor mir!«

»Na – denn ernähre dich da weiter redlich – solang noch das Lämpchen im ›Kolokól‹ glüht! Kinder – ewig kann doch diese Zucht in Berlin – daß das Geld nischt wert ist und mit all den bummelnden Ausländern und den Lotterlokalen die ganze Straße lang, und daß ein anständiger Deutscher 'nen Dreck was für seine ehrliche Arbeit kriegt – ewig kann das doch nicht dauern! Das ist ja wie auf dem Blocksberg! Da muß doch mal der Hahn krähen, und es wird Tag!«

»Bei mir schon diesen Herbst!« sprach Paul Ribbentropp. »Da hab' ich mein letztes Semester auf dem Polytechnikum hinter mir und steige ins Examen. Und sobald ich da die Professoren durch meine Kenntnisse beschämt habe – dann – das ist das zweite günstige Ergebnis des heutigen Tages – eröffnet sich mir schon jetzt die Aussicht auf eine probeweise Tätigkeit – hier in Berlin. Und wenn sich das macht, und ich fass' da festen Fuß . . .«

»Na – wo du hintrittst . . .«

». . . dann . . . so allmählich . . . so peu à peu wie's Donnerwetter . . . was, Lisinka?«

»Also schon jetzt meinen herzlichen Glückwunsch zur künftigen Frau Tiefbau-Ingenieur oder Frau Professor, gnädiges Fräulein!« sagte Bernd Vollbrecht zu der Apothekerstochter aus Cherson. »Aber nun bitte ich Sie inständig um einen großen Dienst! Sie wissen nicht, was für ein gutes Werk Sie damit tun: Ich komme eben von Ihrer Kusine Luja oben . . .«

». . . verwünscht schwer zu erraten . . .«, murmelte der Riese.

». . . haben Sie acht auf die Luja, Fräulein Altschüler! Gehen Sie ihr nicht von der Seite.«

»Wie soll ich denn das? Das Baby ist ja bei mir ausgewandert! Sie wohnt jetzt am Ende vom Gang – bei dem neuen Springfloh da – der Gräfin . . .«

»Verhindern Sie Luja, heute abend das Haus zu verlassen . . .«

»Die Borissowski – die amüsiert das ja, wenn das Kind bei Nacht und Nebel nach Berlin hinausläuft und morgens von der Polizei auf dem Schub heimgeschickt wird. ›Serr gutt!‹ sagt sie . . . ›Kinstlerin muß sich auslebben!‹ Wie soll ich denn da bei der Luja die Gouvernante spielen . . .?«

»Sie müssen . . . nur heute abend . . . diesen einzigen Abend . . .«

»Die Luja ist ja wie ein aus dem Kasten entwischter kleiner Affe! Ich bin dem Fräulein viel zu philiströs! Ich kann sie nicht hinter Schloß und Riegel halten . . .«

»Versuchen Sie es durch Bitten . . . durch Zureden. Es steht so viel auf dem Spiel! – Tun Sie Ihr Bestes . . . Mein Gott, ich stehe da und schwatze . . . Und die Zeit drängt . . . Auf Wiedersehen!«

Der Nachtportier und die Galoschenverkäuferin blickten verdutzt dem bisherigen Weinkellner nach, der die Tölzer Straße hinablief. Es war an deren Ecke keine Haltestelle der Elektrischen. Aber Bernd Vollbrecht hatte jetzt schon von den Russen in Berlin gelernt. Er stellte sich einfach an den Schienenstrang, schwenkte, als ein Wagen nahte, vielsagend ein paar Tausendmarkscheine in der erhobenen Hand, stieg vorn neben den verständnisvoll stoppenden Fahrer, gab ihm sein Trinkgeld, sprang drunten im neuen Westen wieder ab, eilte die hundert Schritte bis zum Yorkplatz.

Es war inzwischen volle Nacht geworden. Die Fläche lag öde und dunkel. Der Märzwind schüttelte die verschwommenen Schattenrisse winterkahler Bäume. In den spärlichen Lichtkreisen einzelner Laternen gingen wenige Menschen ihres Weges – kamen aus der Finsternis –, verschwanden in ihr. Der Fürst Wolski war nicht unter ihnen. Auch sonst konnten nirgends auf dem Platz – hinter keinem Baumstamm – hinter keinem der paar haltenden Autos – in keinem Hauswinkel – auf keiner Bank Bernds Augen die lange, schmächtige, elegante Petersburger Gestalt entdecken. Er wiederholte, zwei-, dreimal seinen Rundgang. Er blieb stehen und schaute zu der Pension »Luna« hinauf. Ein Teil der Fenster im dritten Stockwerk war hell. Auch das fünfte von der Ecke – der Student zählte es ab –, an dem er vor zwei Stunden Serge Ssilin gesehen hatte. Der Edelmann von Laskarew war also zu Hause. Er saß dort oben. Und unten der Fürst fehlte . . .

Noch einmal umschritt der Studiosus Vollbrecht den Platz. Er spähte in alle Seitenstraßen. Umsonst. Der Knjäs hatte seinen Beobachtungsposten aufgegeben. Wie ihn finden? Bernd Vollbrecht stand – überlegte: Wenn der Petersburger große Herr aus irgendwelcher Laune hier plötzlich auf der Hinterhand kehrtgemacht hat, dann konnte er mir nicht auf der Bank da oder auf dem Boden Botschaft hinterlassen, was nun weiter geschehen soll! Es gibt nur einen einzigen Ort in Berlin, wo ich Nachricht von ihm kriegen kann, das ist sein Hotel! Er hat sich wahrscheinlich gedacht, daß ich von selbst so gescheit sein werde, ihn dort aufzusuchen . . .

Aber auf das Klopfen an die Zimmertür in dem luxuriösen Ritz-Hotel antwortete von innen eine Frauenstimme: »Errein!« Anna Borissowski, die Tänzerin, saß da mit gekreuzten Beinen wie eine Odaliske auf dem Diwan, eingehüllt in blaue Nebel von Zigarettenrauch, mit dem sie das Gemach vollpaffte. Sie hob den aschblonden, schicksalserfahrenen, nicht mehr jungen Kopf mit den klugen Augen und blähte lebhaft die Nasenflügel, aus denen eine neue Papyrossenwolke quoll.

»Weiß ich denn, wo Cousin meiniges ist?« sagte sie und hielt dabei dem jungen Mann die Hand zum Kuß entgegen. »Ich weiß nicht! Sitze hier! Warte! Zeit verrinnt!«

»Aber wo kann Ihr Vetter denn nur sein, Gräfin?«

»Vielleicht schon tott!« Die Russin zuckte fatalistisch die Achseln und blies kunstgeübt einen Ringel.

»Um Gottes willen . . .«

»Warum nicht tott!? Ssilin sieht ihn von Fenster. Telephoniert! Schickt ihm Menschen von hinten – in Dunkelheit – leerer Platz . . . Schlagg in Genick – Kanal nahe – odder Gebüsch . . . Fort . . .«

»Und das sagen Sie so pomadig?«

»Was ist Tott – was ist Lebben?« Ein neues Streichholz flatterte drüben an der flüchtig gedrehten Papyros. »Wie viel Menschen sind tott! Wie wenig Menschen lebben! Tott ist natürlicher als Lebben. Ich komme aus Rußland . . .«

»Das wäre ja aber schrecklich . . .«

»Lebben ist schrecklich! Kann sich auch sein, daß Cousin Pawel lebbt!«

»Na hoffentlich doch! Das wäre ja noch schöner!« Der Student schritt verwirrt auf dem Teppich hin und her. »Aber was soll jetzt geschehen?«

»Haben Sie Cousin meiniges nicht versprochen, Yorkplatz zu sein?«

»Ja!«

»Und sind hier? . . . Wie denn? . . . Verläßt Soldat Posten? Sie müssen Yorkplatz . . .«

»Ja. Ich mache, daß ich wieder hinkomme!«

». . . und Yorkplatz warten! . . . Warte ich hier! . . . Wenn Pawel noch lebbt – kommt er so – oder kommt er so – er findet mich – oder findet Sie! . . .«

Der Student Vollbrecht näherte sich wieder dem Yorkplatz. Seine Blicke flogen, den menschenleeren Bürgersteig hinab, seinen Schritten voraus über das große, dunkle, stumme Stück Schatten zwischen den hellen Fensterreihen der hochherrschaftlichen Mietskasernen im Viereck ringsum. Es hatte sich da nichts geändert. Immer noch zischelte der Wind in den kahl gespreizten, schwärzlichen Baumkronen, glommen einige gelbliche Glühwürmchen von Laternen in der Nacht, glotzten unter ihnen die weißen Augenpaare eines halben Dutzends schläfrig harrender Autos. Die ganze Breite des Platzes trennte sie von der Pension »Luna« auf der gegenüberliegenden Seite. Dort, im dritten Stockwerk, war das fünfte Fenster von rechts noch immer matt erhellt . . . Ssilin daheim . . .

Und Wolski? Nein – Bernd schaute rechts und schaute links – von dem Fürsten keine Spur . . . Überhaupt kaum ein Mensch in Sicht. Da und dort einmal ein huschendes Geschäftsfräulein – ein dicker Herr – ein paar Buben. Sie liefen um die Straßenecke. Nun war niemand mehr auf dem Platz als die Chauffeure, die als unförmige Klumpen von dicken Mänteln und hohen Stiefeln neben ihren Wagen standen und schwatzten.

Und dann da ein junges Mädchen . . . klein und zierlich . . . in flatterndem Mäntelchen . . . eine Mütze auf dem Kopf . . . Sie war aus einer Seitenstraße drüben aufgetaucht – flink und gelenkig – fast im Trab – sie flatterte, das Köpfchen gesenkt, schattenhaft flüchtig wie eine Fledermaus in der Nacht – quer über den Platz – schräg auf die Pension »Luna« zu . . .

Luja . . . ? . . . Warum sollte das gerade Luja sein? Es gab viele Tausende solcher leichtfüßigen jungen Dinger in Berlin . . . Man konnte ja das Gesicht noch gar nicht sehen . . . Der Student redete sich das ein und lief doch, was er konnte, so daß seine Wegrichtung die des fremden Fräuleins kreuzen mußte. Jetzt schlüpfte sie gerade durch den Rundschein einer Laterne. Er war schon ziemlich nahe. Er kannte dies feine, kindliche Profil einer griechischen Gemme, das sich ein paar Augenblicke, wie mit der Schere geschnitten, in dem gelblichen Oberlicht der Laterne von dem schwarzen Hintergrund der Nacht abzeichnete . . .

Er wagte nicht zu rufen, um nicht unnötig Aufsehen zu erregen. Die Chauffeure drüben lugten ohnedies schon neugierig nach dem wie ein verfolgter Ladendieb über den Yorkplatz rennenden jungen Mann. Er maß, im Laufschritt durch das Dunkel, die Entfernung, die ihn von Luja trennte. Er konnte ihr nicht mehr den Weg abschneiden. Sie überquerte schon, vor ihm, den Fahrdamm vor der Pension »Luna«. Aber noch war nichts verloren! Er sagte es sich keuchend: Bis Luja drüben am Eingang für Herrschaften auf den Knopf drückte – bis man ihr aufmachte, stand er schon neben ihr . . .

Aber da . . . die Kleine hatte gar nicht erst geläutet . . . sie hatte sich in ihrer Ungeduld aufs Geratewohl mit ihrem geschmeidigen Figürchen gegen das Haustor gestemmt – sie hatte Glück: Ihr Vorgänger – wahrscheinlich irgendein nonchalanter Ausländer aus der Pension oben – hatte das Tor nicht ganz ins Schloß fallen lassen. Es war nur angelehnt. Es gab nach. Der dunkle Mädchenschatten im Mützchen und Mäntelchen huschte hastig aus der Nacht draußen durch den Spalt ins Haus. Eine Hand klinkte von innen mit einem nervösen Ruck zu. Nun war der Eingang wirklich gesperrt, und der Student Vollbrecht stand noch, außer Atem von dem Dauerlauf, drüben auf der anderen Seite der Straße.

Er setzte den Fuß auf ihren Asphalt. Das unwirsche Blöken einer Hupe warnte ihn. Ein Auto rollte heran. Hielt vor dem Haus. Ein Herr stieg langsam aus dem Innern, stand vor dem Wagen, reichte dem Chauffeur ohne hinzusehen, in Gedanken verloren, eine Handvoll Papiergeld, ging langsam, schwerfällig, geistesabwesend auf das Tor zu. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche. Er wohnte da. Bernd Vollbrecht folgte ihm bis an den Eingang. Jetzt kam er, hinter diesem Unbekannten her, ohne Zeitverlust in das Haus! Er hielt sich nur einen Schritt von ihm entfernt. Plötzlich wendete der Fremde, während er den Drücker in das Schloß schob, mißtrauisch spähend das bleiche Antlitz über die Schulter rückwärts: die lange, kolbige Nase – den breiten, wulstigen Mund – die wimperlosen Augen . . . Der Student erkannte Serge Ssilin . . .

Und der hätte auch ihn bemerken müssen, so rasch der andere auch in den Schatten der Rückwand des Autos zurücksprang, dessen Chauffeur noch umständlich vorn auf dem Bock sein Fahrgeld verstaute. Aber der Mann aus dem Osten schien zu zerstreut. Sein Blick nach hinten war offenbar nur eine mechanische Gewohnheit gewesen. Er öffnete seufzend das Tor. Trat ein. Es fiel zu. Das Auto ratterte und surrte davon. Dann war alles still und leer, und Bernd Vollbrecht fröstelte immer noch draußen unter dem dunklen Nachthimmel im Märzwind, der kalt um die Ecke pfiff.

Ein Gedanke nur in ihm: Luja ist drinnen in dem Haus! Der Kerl geht in den Tod, ohne es zu ahnen – in den Tod durch ihre Hand . . . Luja gerät ins Unglück – kommt vor Gericht – als Mörderin – ist mir für immer verloren . . . Luja . . . Luja . . . Der Student sprang gegen das Tor . . . Er trommelte in seinem Entsetzen mit den Fäusten wider das Holz . . . Er drückte aus Leibeskräften auf den Klingelknopf – er keuchte fiebernd: »Luja! . . . Luja! . . .« durch die geschlossene Türwand . . . »Luja! . . .«

Er verstummte. Er horchte. Kein Laut. Nun, jäh – er fuhr zurück – von innen ein leiser Schreckensschrei . . . nicht Ssilins rauhe Reibeisenstimme . . . Der Aufschrei einer Frauenkehle . . . Nur ein einziger, kurzer Ton . . . Dann wurde alles still.

»Luja . . . Luja . . . hörst du mich nicht?«

Keine Antwort.

»Luja . . . Ich bin es . . . Bernd . . .«

Nichts regte sich.

»Luja . . . um Gottes willen . . . mach' auf!«

Leise lüftete sich das Tor. Aber nicht von einem Handgriff an der Klinke innen, sondern von dem kurzen Ruck des Klingelzugs, mit dem der Pförtner, von der Werkstatt im Hof aus, über seine Schuhflickerei gebückt, die Haustüre bediente, ohne sich viel um die Ein- und Ausgehenden zu kümmern. Bernd Vollbrecht preßte sich ungestüm durch die schwere Pforte. Er stand im Flur. Vor ihm stieg steil, mattbeleuchtet, die teppichbelegte Treppe des Herrschaftshauses empor. In der Mitte ihrer Stufen kauerte auf dem Läufer eine Mädchengestalt in braunem, dürftigem Mäntelchen, wie ohnmächtig in sich zusammengesunken, das schwarze Köpfchen mit der herabgerutschten Mütze gegen die Wand gelehnt.

»Luja . . .« Der Student sprang drei Stufen auf einmal hinauf. Er faßte die kleine Büttner an den eiskalten Händen. Er lupfte sie in die Höhe. Sie ließ sich willenlos von ihm auf die Füße stellen. Er sah: sie war ganz bei sich. Aber das feine, weiße Gesicht schien von einer starren, ungläubigen Verzweiflung versteinert . . .

»Luja . . . Was ist geschehen . . .? . . .«

»Ich weiß es nicht . . .«, sprach die Kleine mit leeren Augen.

»Aber du mußt mir doch sagen können – was . . .«

»Nichts . . . Es ging so plötzlich . . . Ich begreife es nicht . . .«

»Luja . . . sieh mir ins Auge . . . gestehe es mir . . . hast du dich an Ssilin vergriffen?«

Luja Büttner schaute den Studenten an und schwieg.

»Hast du ihm hier aufgelauert . . .? ihn unversehens angefallen? . . . Ich hab' doch deinen Schrei gehört . . . Luja . . . sprich . . .«

»Es ist alles aus . . .«

»Hast du Ssilin getötet . . .?«

»Es ist alles . . . alles aus . . .«

». . . oder was ist hier passiert? Wo ist Ssilin?«

»Die Treppe hinauf . . .«

»Verwundet . . .?«

»Ach nein! . . . Nun ist's zu Ende . . .«

»Du hast ihn nicht getroffen?«

»Dies war die letzte Gelegenheit . . . Sie ist vorbei . . .«

»Hast du nicht deinen Dolch bei dir?«

»Ja.«

»Hast du nicht damit nach Ssilin gestochen?«

»Nein!«

»Wolltest du ihn nicht angreifen?«

»Doch!«

»Warum tatest du es nicht?«

»Es . . . Es . . .« Luja Büttner schaute wie eine Nachtwandlerin um sich. »Mein Kopf ist verwirrt . . . Bernd . . . Habe ich das geträumt?«

»Was denn? . . . Luja! Rede zusammenhängend! Du tratst in das Haus! Gleich hinter dir Ssilin! . . . Du mußt noch hier im Flur gewesen sein, als er kam . . .«

»Da, wo ich jetzt bin . . . auf der Treppe . . .«

»Und er?«

»Er ist langsam heraufgestiegen! Ich hab' dagestanden! Ich hab' ihn erwartet! Ich hab' gelächelt! Ich habe gedacht, er wird außer sich sein vor Freude, wenn er mich sieht! Er hat mich doch beschworen, ihm ein Stelldichein zu geben! Er hat mir geschrieben, er sei mein Sklave! Er hat mir den Himmel auf Erden versprochen!«

»Weiter! Weiter!«

»Er sieht mich! Ich trete auf ihn zu und strecke ihm die Hand entgegen . . .«

». . . mit dem Dolch . . .?«

»Da war doch kein Dolch – hier – im Hausflur, wo jeden Augenblick jemand kommen konnte . . . Der Portier in der Nähe . . .«

»Wirklich kein Dolch . . .?«

»Hier noch nicht. Ich hatte doch noch Zeit . . . Stunden . . . Ich wollte die beste Gelegenheit abwarten – oben – wenn er sich über seinen Koffer bückte – mir den Rücken drehte. – Ich wollte ihn vorher ganz sicher machen . . . Darum habe ich gelacht, wie er auf mich zukommt! Er aber . . .«

»Er . . .?«

»Sein Gesicht ist bleich vor Zorn . . . unheimlich verzerrt . . . Er zeigt mir die Zähne.«

»Er hat geahnt, was du vorhattest . . .«

»Er sagt zwischen den Zähnen zu mir: ›Pascholl, du schwarze Hexe!‹ und packt mich an den Schultern und schleudert mich gegen die Wand, mit dem Kopf an die Mauer! Ich bin hingefallen! Er hat mich liegenlassen und ist die Treppe hinaufgestiegen. Ich war betäubt. Ich hab' mich allmählich aufgerichtet . . . Da bist du gekommen . . .«

»Luja . . . komm – ich werde dich die Treppe hinunterführen . . . ich halte dich . . . Luja: Ist das wirklich wahr, was du da erzählst . . .?«

»Ach – wäre es doch nicht wahr! . . . Alles ist verloren . . .«

»Luja . . . wenn es wahr ist, dann danke deinem Herrgott, daß er dich gerettet hat – durch den plötzlichen, unbegreiflichen Koller dieses rohen Patrons!« Bernd Vollbrecht geleitete das junge Mädchen durch das Tor. Die kalte Abendluft schlug ihnen entgegen. »Mir fällt ein Stein vom Herzen! Mir ist es noch wie ein Wunder!«

Luja Büttner erwiderte nichts. Sie ließ sich wie ein kleines Kind von ihm über den Fahrdamm führen. Er sprach ihr tröstend zu.

»Später . . . Wenn du ruhiger geworden bist, Luja – dann wirst du selber einsehen, wie gut das Schicksal es mit dir gemeint hat . . . Luja! . . . Was hast du auf einmal?«

»Lasse mich! Lasse mich!«

»Was willst du denn?«

»Fort! . . . Fort!«

»Wohin?«

»Ins Wasser . . . Drüben ist der Kanal . . .«

»Warum denn ins Wasser?«

»Alles ist hin! Mein Leben ist zu Ende! Nie wird Mischa gerächt.«

»Luja . . .« Der Student rang atemlos mit dem jungen Mädchen. »Wo nimmst du denn auf einmal diese Kräfte her?«

». . . weil ich verzweifelt bin! Dies war die letzte Hoffnung! Es kommt keine mehr . . . Laß mich ins Wasser!«

»Luja . . . Die Leute laufen ja zusammen!«

»Er reist ja fort!« Luja Büttner schrie es wild auf, sich gegen die stärkeren Arme des jungen Mannes wehrend. »Er reist heute noch . . . in ein paar Stunden ins Ausland . . . Ich finde ihn nicht wieder – in Europa, mit seinen unzähligen Namen und Gestalten . . . Jetzt war die große Stunde da – ich hatte ihn vor mir – zum Greifen vor mir – da wirft er mich zu Boden und geht fort . . . Ich will auch fort . . . Ins Wasser . . .«

»Luja . . .«

»Was geht es dich an, wohin ich gehe . . .?«

»Wat ist denn mit dem Mächen los?« Ein Haufen Gaffer stand rund herum. Ein Chauffeur erklärte heiser:

»Die hat's mit die Nerven! Die kam aus dem Haus da 'raus!«

»Mit dem jungen Mann?«

»In dem Haus ist irgendwas passiert . . .«

»Da machen sie ja ein Fenster auf – im dritten Stock . . .«

»Da noch eins . . .«

»Sie stecken die Köppe 'raus! Sie rufen was!«

»Polizei!« kreischte oben aus dem hellen Viereck eine schrille weibliche Stimme.

»Mord . . .« dröhnte es aus dem Fenster daneben. Es war der Baß eines Mannes. »Schnell 'nen Doktor!«

»Mord?« frugen unten wirre Stimmen, als hallte ein dutzendfaches Echo von den Hauswänden wider.

»Es ist ein Russe bei uns ermordet! . . . Polizei . . . Er liegt in den letzten Zügen . . .«

»Mord . . . Mord . . . Sie haben eenen umjebracht!« schrie es. Überall in den Häusern klirrten Fenster auf. Beugten sich die Oberkörper von Menschen in die freie Luft hinaus. Die Tore öffneten sich. Männer mit bloßen Köpfen traten neugierig auf den Bürgersteig – glückselig entsetzte Hausgehilfinnen in weißen Schürzen – aufgeregte Frauen aus dem Volk, Umschlagtücher auf den Schultern. Herren und Damen standen auf den Balkons und schauten voll Interesse hinüber. Über den dunklen Yorkplatz hin, aus den auf ihn mündenden Straßen, klapperte das hundertfache Trappen hastender Menschenschatten. All dies Leben in der Nacht lief atemlos auf die Pension »Luna« zu. Vor dem Haus staute sich, in abgerissenen Rufen, ein reißend wachsender Menschenschwall. Von oben, aus einem hellen Fenster, zeterte durchdringend eine hysterische ältliche Frauenstimme:

»Polizei! . . . Polizei . . . Sonst kommt uns der Mörder aus! . . . Wir haben ihn hier oben eingesperrt . . .«

»Haste jehört – Mutter: Der Kunde sitzt schon! . . . Kiek' 'mal, Fritze . . . Na – dem sollen sie man die Rübe abhacken! . . . Wat denn? Wat denn? Du denkst woll, weil det 'n Ausländer is! 'n Russe ist auch 'n Mensch . . . Aber det war der olle Fassadenkletterer . . . der von neulich . . . Nee – det is Politik . . . det machen so die Russen – unter sich . . .«

In dem Durcheinander des Volksmundes faßte der Student stürmisch aufatmend Lujas beide Hände. Seine blauen Augen leuchteten.

»Luja . . . von da oben brüllen sie, sie hätten den Mörder . . .«

». . . sie hätten den Mörder . . .« Luja Büttner wiederholte es, so, als redete sie unverständliche Worte nach – in einer fremden Sprache . . .

»Luja . . . Wenn die Geschichte also da oben passiert ist, ach – ich bin ja so glückselig . . .«

»Ssilin stirbt . . .« Luja Büttner sprach es wie im Traum vor sich hin. Ihre Augen begannen irr zu leuchten. Ihr kleines, weißes Gesicht zuckte.

»Wenn sie oben den Täter haben – dann warst du hier unten es nicht! . . . Ich habe es dir bisher nicht geglaubt . . . Verzeih' . . . Kein Wort hab' ich dir geglaubt von der Räubergeschichte, daß dich Ssilin da drinnen an die Wand geschmissen hat! Aber nun . . . Nun warst du es wirklich nicht . . . Gott im Himmel sei Dank . . . Sag' mir noch einmal, daß du es nicht warst . . .«

»Wenn Wünsche töten können . . . oder Gedanken töten können . . . Dann bin ich's gewesen . . .!« sagte Luja Büttner geistesabwesend, als spräche aus ihr ein fremder Mensch. »So aber war ich es nicht! . . . Ein anderer war das Werkzeug für das, was ich gewollt hab' . . . Ein anderer . . . dort oben . . . Ich kenne ihn nicht . . .«

»Ich kann mir jetzt lebhaft vorstellen, wer dir da zu deinem Glück zuvorgekommen ist . . .« Der Student spähte zu den hellen, dicht von rufenden und winkenden Menschen gefüllten Fenstern der Pension hinauf. »Was verkünden sie da oben?«

»Der Russe ist tot!« schrie es aus dem dritten Stockwerk. »Wo steckt denn die Polizei? Wozu zahlt man denn die Steuern?« Und unten ein wirres Halloh: »Da kommt endlich 'n Jrüner! . . . Dalli – Herr Wachtmeister! . . . Da oben ist 'n Mörder! . . . Der möcht' Sie mal 'n Moment sprechen! Uff . . . nu turnt die Obrigkeit die Treppe 'rauf . . . Nu kommt die Jeschichte ins Lot!«

Unten, am Hauseingang, bildeten der alte Portier in grüner Schusterschürze, seine handfeste Ehehälfte, ein paar erwachsene Töchter ein Bollwerk gegen die hinter dem Schutzmann nachdrängende Menge. Bernd Vollbrecht rief Luja zu: »Warte hier auf mich!« Er quetschte sich an die Pförtnerfamilie heran, er sprudelte ihr mit nervösem, slawischem Händegefuchtel einen Schwall unverständlicher russischer Worte ins Gesicht und deutete in die Höhe. Sie hielten ihn für einen der Ausländer, der oben in dem Fremdenheim wohnte. Sie ließen ihn durch. Er stürmte die Treppe hinauf in die Pension »Luna«. Die Flurtüre stand offen. Die Diele war voll von herumstehenden Engländern, Amerikanern, Japanern, Spaniern. Sie tauschten in einem Sprachgewirr von Babel ihre Meinungen aus. Viele konnten überhaupt kaum ein Wort Deutsch. Keiner wußte recht, was geschehen war. Dienstmädchen rannten wie die gescheuchten Hühner hin und her. Die graugelöckelte, in schwarze Seide gekleidete Pensionsmutter, die wie eine alte Oberhofmeisterin aussah, saß verstört und kurzatmig, ein mit Kölnischwasser getränktes Tuch an der Nase, als Hüterin vor der offenen Doppeltür eines Salons. Gepackte Koffer standen drinnen auf der Parkettfläche. Neben dem Schreibtisch bauschte sich am Boden ein hastig hingebreitetes, stark gebrauchtes Tischtuch in Falten über den Umrissen einer stillen, regungslos darunter ausgestreckten Gestalt. Am Fenster stand, an die Brüstung gelehnt, die Hände halb in den Taschen, nachlässig ein Bein über das andere geschlagen, ein langer, schmächtig-eleganter Herr mit slawisch-schwermütigem Gesicht und seltsam starren Augen.

»Ich gebe zu, daß der Schein gegen mich spricht!« sagte er zu dem Schutzmann vor ihm, in reinem und fließendem Deutsch, dessen Klangfarbe allein den Russen verriet. »Trotzdem trifft mich keine Schuld! Deswegen blieb ich ruhig in diesem Zimmer, um mich nicht durch einen Fluchtversuch verdächtig zu machen. Die jungen englischen Gentlemen dort im Flur hätten nicht nötig gehabt, die Türe bis zu Ihrer Ankunft zu bewachen.«

»Warum betraten Sie das Zimmer?«

»Mein Gott – weil ich mit seinem Bewohner dringend eine Unterredung wünschte!« Fürst Wolski zuckte gleichgültig die Achseln. Er erkannte unter den draußen auf dem Korridor Stehenden den Studenten Vollbrecht und winkte ihm unmerklich mit den Augen zu. »Ich wußte, daß der Herr, der hier am Boden liegt, mir freiwillig diese Unterredung nicht gewähren würde. Ich wartete daher vor dem Hause, auf dem Platz draußen. Ich wollte ihn da abfangen, wenn er quer über den Platz ging, um nach seiner Gewohnheit eines der drüben haltenden Autos zu nehmen! Aber dieser Fuchs war schlau. Er lauerte innen, hinter dem Haustor, bis ein leerer Wagen vorbeikam. Öffnete, winkte zu halten, sprang hinein, fuhr mir vor der Nase davon. Nun beschloß ich, ihn oben in seinem Zimmer zu erwarten!«

»Ja . . . und da klingelte er denn – schon vor ein paar Stunden!« mischte sich die erschöpfte Pensionsinhaberin mit leidender Stimme ein. »Und wollte Herrn von Laskarew sprechen. Er sei ein Freund von ihm – ein Fürst . . . irgendein Fürst – ich weiß nicht mehr, was für ein Fürst . . . russische Fürsten sind ja jetzt billig wie die Rüben auf dem Markt . . .«

»Hier meine Ausweise, Herr Wachtmeister, daß ich ein Wolski bin! In Rußland weiß man, was das heißt . . .«

». . . ich sagte, der Herr von Laskarew reiste ab und käme jedenfalls vorher noch wieder, um seine Koffer zu holen!« fuhr matt die alte Dame in schwarzer Seide fort. »Der Herr hier wollte in dem Salon des Herrn von Laskarew warten. Gut – ich schöpfte keinen Argwohn. Es geht bei mir mit den Ausländern zu wie im Taubenschlag. Ich kann ihnen nicht ansehen, wer sie sind. Ich kann nicht an drei Orten zugleich sein. Ich war nicht auf dem Flur, als Herr von Laskarew heimkam. Ich konnte ihm nicht melden, daß drinnen in seinem Zimmer jemand sitze. Er tritt ahnungslos ein. Gleich darauf hören wir ein paar heftige Worte auf russisch. Es kracht ein Schuß . . .«

». . . aus dem Revolver, der da auf dem Teppich liegt?« forschte der Polizist.

». . . und der nicht mir gehört!« ergänzte der Fürst gelassen. »Herr von Laskarew kam taumelnd, halb bewußtlos, herein. Ich dachte, er sei betrunken. Ich trat rasch hinter einer Portiere hervor ihm entgegen. Ich sagte: ›Geben Sie mir meine Briefe zurück, die Sie als Schuft und Verräter besitzen!‹ Als Antwort holte er lallend einen Revolver heraus, drückte ziellos ab. Ich entriß ihm die Waffe. Mit Leichtigkeit. Es war kaum ein Ringen. Er fiel aus meinen Armen wie ein Sack zu Boden. Fing an zu röcheln. Verdrehte die Augen. Starb – ohne Bewußtsein – nach fünf Minuten – jetzt eben . . .«

»Woran?«

»An einer Wunde, die er mitgebracht hat – und offenbar ganz kurz vorher empfangen . . .«

»Von wem?«

»Wie soll ich das wissen? Nun begriff ich, daß er sich, schon fast ohnmächtig, in das Zimmer geschleppt hat.«

»Und Sie erwarten, daß man Ihnen das glauben soll?«

»Ich kann nicht mehr sagen!«

»Da kommt der Polizeileutnant!«

Der Reviervorsteher, ein paar Schutzleute hinterher, bahnten sich eine Gasse durch das Ausland im Flur. Der Student Vollbrecht wurde zur Seite gedrängt. Er hörte nur von innen eine starke und laute, an den Fürsten Wolski gewandte Stimme:

»Man hat Sie hier auf frischer Tat ergriffen! Sie sind verhaftet!«

 


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