Rudolph Stratz
Hexenkessel
Rudolph Stratz

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9

Es war fast eine Stunde Wegs von der Landwirtschaftlichen Hochschule oben im Norden Berlins bis zu dem Heldenviertel am Ende der Potsdamer Straße, wo, nahe dem Sportpalast, alle die nüchternen, sich schneidenden Häuserreihen nach alten preußischen Ruhmesnamen hießen. Der stud. agr. Vollbrecht schlenderte am nächsten Mittag, die dicke Kollegienmappe unter dem Arm, zu Fuß nach seiner Bude bei Mutter Peereboom, vier Treppen hoch unterm Dach. Er hatte nicht mehr Serge Ssilin im Kopf, sondern die Stickstoffbereicherung magerer Böden – nicht das russische Handelskontor, sondern die heilsame Wirkung der Düngesalze auf saure Wiesen. Höchstens flackerte noch einmal nachträglich der Koller auf. Das fehlte ihm gerade, sich von einem hergelaufenen Ausländer auf zehn Uhr vormittags irgendwohin kommandieren zu lassen! – Blödsinn! . . . Na . . . jetzt schlug die Glocke eins! Jetzt hatte der olle Schieber sich zu Gemüte geführt, daß man ihn einfach versetzt hatte! Vielleicht war es ihm eine Lehre! . . . Vielleicht merkte er: Es gab noch junge Kerle in Berlin, die nicht jedem russischen Raffke die Stiebel putzten . . .

Nanu . . .? Der blonde Jungmann blieb an der Ecke seiner Straße stehen. Sein frisches, bartloses Gesicht war betroffen. Da hielt doch, vor seinem Haus, eine klapperige, mit Gepäck beladene Bahnhofdroschke. Die Fahrgäste – ein Herr und zwei Damen – standen in Reisekleidern vor ihr auf dem Bürgersteig.

»Herrjesus . . . Papa . . .«

Ja: Das war der Gutsinspektor Martin Vollbrecht aus dem bisherigen Westpreußen – wettergebräunt – graubärtig – ein guter Fünfziger mit den jugendhellen, blauen Augen des Sohnes.

»Gestern von den Polen 'rausgeschmissen – wie wir gingen und standen!« sagte er. »Wir können froh sein, daß wir noch mit heiler Haut davonkamen. Ja. Nun kann man auf seine alten Tage sein Leben von vorn anfangen. Junge!«

»Um zehn Uhr kamen wir auf dem Bahnhof Friedrichstraße an!« ergänzte die Mutter.

Gerade die Stunde der Verabredung mit Serge Ssilin! Ein leiser Schrecken durchrieselte den Studenten Vollbrecht: Hast du nicht doch da den vorbeiflatternden russischen Glückszipfel verpaßt? Die Deinen haben kein Geld! Können auf die Dauer keins haben! Denn wieviel sie auch an deutschen Banknoten mit hohen Hausnummern mit sich schleppen – das Dreckzeug schmilzt ja an Wert, je mehr der Dollar klettert, wie Butter an der Sonne. Für einen langten die Einnahmen im »Kolokól«. Aber für vier . . .? . . . Unmöglich! Er frug:

»Warum habt ihr mich denn nicht auf den Bahnhof bestellt?«

»Es ging so schnell!« antwortete die Mutter. Und der Vater:

»Warum sollst du unnütz dein Kolleg schwänzen!«

»Du kannst doch nicht helfen!« sprach eine Mädchenstimme mutlos. Da stand sie – das Schwesterchen . . . Bernd gab ihr einen Schmatz. Nett . . . die Marjell, trotzdem sie jetzt miesepetrig aussah – nach der Nachtfahrt . . . aber in ihrer Art apart . . . Wer wollte, konnte einen venezianischen Goldton in dem rötlich schillernden Kraushaar entdecken. Jetzt, im März, bemerkte man auch die Sommersprossen auf den hübschen Zügen noch nicht. Und wenn auch – das junge Gesicht war völlig von dem Gegensatz zwischen den hellblonden Augen und dem rötlichen Lockengekringel darüber belebt. Das hatte einen nixenhaften Reiz. Die Vicke wußte es auch. Sie krebste sonst tüchtig damit. Aber jetzt war ihr alle Lebenslust vergangen.

»Am liebsten möchte ich mich auf das Pflaster hinsetzen und heulen!« sagte sie.

»Wir sind nämlich dämliche Provinzialen!« erklärte der energische alte Herr Vollbrecht. »Wir haben uns eingebildet, die Gasthäuser und Pensionen in Berlin seien zum Wohnen da! . . . Ja Kuchen! Seit drei Stunden kutschieren wir in der Stadt herum! Überall heißt es in den Hotels: Ausverkauft!«

»Und in den möblierten Zimmern die einzige Antwort: ›An deutsche Ehepaare wird nicht vermietet‹!«

»›Deutsche Familien nehmen wir grundsätzlich nicht auf!‹ haben sie eben noch in einer Pension gesagt!« rief Viktoria Vollbrecht, die Tochter.

». . . überhaupt höchst ungern Deutsche, wenn sie nicht mit ausländischem Geld zahlen!« versetzte Bernd. »Das hätte ich euch vorher sagen können . . .«

»Ja – wem gehört denn dann Berlin?«

»Vor allem den Japanern, Papa – dann den Amerikanern – den Engländern! Den Russen, falls sie gerade einen Familienschmuck gegen Valuta verkümmelt haben . . . Den Brasilianern. Den Portugiesen. Den Negern . . . Kurz allen unseren Feinden!«

»Schön!« sagte Vollbrecht, der ältere, ruhig. »Also – los – Kutscher! Wir sind bloß Deutsche. Schaffen Sie uns nach dem städtischen Nachtasyl!«

»Nicht nötig! Es ist ein Segen, daß ihr doch zuletzt bei mir vor Anker gegangen seid!« versetzte der Sohn. »Ich weiß das Zimmer eines schwarzen Gentleman, das durch einen glücklichen Zufall frei ist! Er hat einen Fußtritt vor den Bauch gekriegt und liegt im Spital. Das Zimmer ist in Charlottenkoje – es wohnen nämlich bald mehr Russen als Deutsche in Charlottenburg –, eine Werst vom Bahnhof Zoo – in einer Querstraße des Reppski-Prospekt – des Kurfürstendamms, meine ich –, wo der Berliner die Ausländer neppt! Entschuldigt einen Augenblick! Ich will nur eben meine zehnpfündige Mappe in meiner Bude oben verstauen!«

Er nahm mit jugendstrammen Lungen immer drei Stufen der steilen Treppe zum vierten Stock auf einmal. In der offenen Türe seiner Dachkammer stand die Quartiermutter Peereboom, schlampig, mit wuscheligem Graukopf, in ausgetretenen Babuschen und krächzte zu einem Besucher:

»Nu können Sie ihn selber jenießen! Da kommt er jerade!«

Der Herr hielt einen weißen Briefumschlag in der Hand. Er war klein und zierlich von Wuchs und peinlich sorgfältig gekleidet. Sein feines, rosig geädertes Gesicht mit dem weißen Spitzbart hatte etwas schwach Fremdartiges. Er drückte dem Studenten äußerst höflich die Hand.

»Mein Name ist Constant von Kabisch – früherer Kaiserlich russischer Kollegienrat –.« Da war wieder das russische Deutsch. Diesmal ein schmiegsames, weiches Petersburgisch. »Ich wohne in der Pension ›Alpenrose‹, zusammen mit Fräulein Büttner aus Sebastopol. Ich versprach ihr, aus Gefälligkeit, diesen Brief hier im Vorbeigehen abzugeben! . . . Bitte!«

Der stud. Vollbrecht war nicht vom Treppenstürmen atemlos, als er das Schreiben aufriß und überflog. Nervös gekritzelte, flüchtige Schriftzüge. Keine Anrede:

»Ich habe gestern abend Herrn Nabokow von unserer Balalaikatruppe gebeten, heute früh bei Ihnen anzufragen, wie es gestern mit S. S. geworden ist. Sie waren schon ins Kolleg, als er kam. Aber Ihr Freund, der starke Mann, der vor dem ›Kolokól‹ Wache steht, sagte ihm, Sie hätten ihm erzählt, S. S. habe Sie auf heute um zehn Uhr bestellt. Aber Sie würden nicht erst hingehen! . . . Lieber Freund . . . Das kann doch Ihr Ernst nicht gewesen sein! So verblendet können Sie doch nicht sein! Sie sind sicherlich dort gewesen! Ich bin so wahnsinnig gespannt, was Sie mit S. S. verabredet haben! Hier habe ich zwei Tugendwächter – meine Base und den heiligen Menno. Die erlauben nicht, daß Sie kommen. Also bin ich Punkt vier an der großen Kirche am Anfang vom Kurfürstendamm. Sie wissen schon. L. B.«

». . . Ich sehe Fräulein Büttner jetzt!« versetzte der alte Petersburger in seiner diskreten, verbindlich-verhaltenen Diplomatenart. »Soll ich ihr Antwort bestellen? Es wäre recht? Gut! Ja . . . und hm . . .« Er hüstelte. Seine trockene Sprechweise gewann einen lebhafteren Klang. »Da ich nun einmal das Vergnügen habe, Sie zu sehen . . . Es wäre da die Gelegenheit, eine Bagatelle zu erörtern . . . zwischen Ihnen und mir.« Er lächelte still verschlagen. »Offen gestanden: Deswegen erbot ich mich, den Postillon d'amour . . . hm . . . pardon . . . ich wollte sagen, den Postboten zu spielen! . . . Wie? Sie sind jetzt in äußerster Eile? . . . Belieben Sie: Nur fünf Minuten! Glauben Sie mir: die Affäre ist für Sie wichtiger als für mich . . .«

»Haben Sie die Karawane vor dem Haus gesehen, Herr von Kubisch?« frug der blonde Student, immer noch atemlos vor Glück über das Stelldichein und zugleich, gegenüber Luja, voll schlechten Gewissens. »Das ist meine Familie. Flüchtig aus dem Osten!«

– Flüchtig aus dem Osten . . . Das alte Wort, das Zehntausenden, Hunderttausenden von Heimatlosen in Berlin allen das gleiche bedeutete . . . Constant von Kabisch neigte teilnahmsvoll den kleinen, weißen Kopf.

»Ich begreife . . .«, murmelte er. »Auch ich verbrachte mein Leben drüben – im Hofstaat des hochseligen, ermordeten Großfürsten Wladimir Michailowitsch. Und nun . . . Nein: Sie würden jetzt auch nicht in der Stimmung für meine Eröffnungen sein . . .« Er stieg mit dem jungen Mann die Treppe hinab. »Ich werde gegen Abend wieder vorsprechen! . . . Eine kurze Unterhaltung – strengstens unter vier Augen . . . Nicht nach sieben Uhr, weil Sie dann zu tun haben? Gut!«

Er trennte sich vor dem Hause in altmodischer Courtoisie von dem jungen Landwirt. Der brachte die Seinen nach dem Charlottenburger Westen. Die klapperige Droschke glich einer rollenden, belagerten und gut verproviantierten Festung. Das Reisegepäck der Familie Vollbrecht enthielt hauptsächlich Lebensmittel aus Westpreußen: Vier große, in Leinwand genähte, geräucherte Schinken, Steinguttöpfe voll Butterschmalz, Beutel mit Backpflaumen, Hartwürste.

»Gottlob, daß ihr 'was zu präpeln mitgebracht habt!« versetzte erleichtert an Ort und Stelle der stud. Vollbrecht. »Was die Wohnung betrifft . . . Erlaubt, daß ich euch meinen Freund Alfred Henke vorstelle! Das Raubtier kommt zum Glück immer nachmittags zur Fütterung nach Hause . . . Also höre, Alfred. Du mußt – schreibe es dir hinter die Löffel: Du mußt den Meinen vorläufig das leere Wigwam eures Niggers einräumen . . . für meine Mutter und meine Schwester hier. Letztere hört auf den Namen Vicke . . . Gib dem Alfred ein schönes Patschhändchen, Baby! . . . Sag': danke! . . . danke!«

»Deinen Herrn Vater quartiere ich in meine eigene Kamurke hinten ein!« Der Zahnbeflissene hielt die Hand des jungen Mädchens fest und schaute verträumt auf den hübschen, blauäugigen Rotkopf, dessen reisebleiche Wangen sich sanft und freundlich rosig erwärmten. »Ich lege mir für die Nacht 'ne Matratze in den Korridor . . .«

»Nun frag' nur deine verehrte Frau Mama, ob sie einverstanden ist. Wie? Sie liegt vor Überanstrengung krank im Bett? Kein Mädchen? . . . Du das Mädchen für alles? . . . An Gott und der Welt verzagend? Ja – da schickt der liebe Gott ja die Vicke wie gerufen . . .! Sie schaut aus wie 'ne Zimperliese, ist es aber gar nicht! . . . Sie hat schon in der Wasserpolackei eigenhändig an einem Tag zweiunddreißig Liter Milch aus der Renommierkuh herausgemolken! Hinter den Eiern war sie her wie der Teufel hinter der armen Seele . . .«

Vicke Vollbrecht war jetzt, seitdem sie den Freund ihres Bruders kennengelernt hatte, viel munterer. Sie lächelte. Mit einem raschen, glänzenden Augenaufschlag. Jetzt kam das Nixenhafte bei ihr erst so recht heraus. Sie frug geschäftig:

»Haben Sie 'ne alte Küchenschürze für mich bei der Hand, Herr Henke? . . . Dann fangen wir gleich an!«

Die beiden liefen einträchtig nach hinten. Bernd Vollbrecht schleppte den Kriegsschatz, die Räucherschinken und Zubehör, hinauf und half die nächsten Stunden beim Einzug. Als er Vater und Mutter soweit besorgt und aufgehoben hatte, hörte er aus Samuel Congos Vorderzimmer die teilnahmsvolle Stimme seiner dort aufräumenden Schwester:

»Sie fassen alle die Sachen so graziös an, Herr Henke! Sind Sie Künstler?«

»Zahnkünstler, gnädiges Fräulein . . .«

». . . und nächtlicher Wurstfritze, Vicke!« ergänzte vom Flur der gefühllose Bruder. »Übrigens fall' nicht vom Stengel, Mama: Ich bin jetzt im Nebenberuf Nachtkellner.«

»Das ist sehr vernünftig von dir!« sagte der alte Herr Vollbrecht.

». . . und nun verzeiht . . .« Sein Sohn sah aufgeregt auf die Uhr. »Ich muß nämlich jetzt ins Kolleg!«

»Warte – ich komme mit!«

»Wohin denn, Papa?«

»Arbeit suchen! Auf der Stelle!« versetzte der Vater Vollbrecht. »Glaubst du, ich lasse mich mit fünfundfünfzig von euch jungem Volk beschämen? Nee – mein Sohn: Jetzt werden die Hemdsärmel aufgekrempelt und los! . . . Ich hab' noch gute Freunde in Berlin . . . Es wird sich schon irgendwo in Deutschland eine Brotstelle für mich finden!«

Vater und Sohn wandelten die breite Prunkstraße des Westens hinab. Nach den ersten hundert Schritten begann Bernd in seiner Ungeduld fast zu traben.

»Papa – du gehst so furchtbar langsam.«

»Hab' du mal erst meine Jahre auf dem Buckel!«

»Aber ich komm' zu spät in die Universität!« rief der junge Mann verzweifelt.

»Bist du wirklich so fleißig?«

»Wie 'ne Biene . . .«

»Lasse dir doch Zeit, armer Kerl . . .«

»Nein, Papa! Das Kolleg fängt Punkt vier Uhr an!«

»Über was liest sie denn?«

Der Alte frug es ganz gemütlich. Er fuhr fort, da der Sohn mit offenem Mund schwieg:

»Also natürlich ein Rendez-vous!«

»Ja – was dachtest du denn sonst?« rief der Student erbittert.

»Verplempere dich nur nicht . . .«

»Das sagt ihr alten Semester immer, Papa! . . . Aber ihr wart auch 'mal jung!«

»Na eben! Also laufe doch schon! . . . Sonst läßt du sie wirklich noch warten!«

Jawohl: Luja Büttner stand schon harrend auf der Insel, auf der sich, autoumbrandet, inmitten des großen Straßensterns, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche türmt. Bernd erkannte von weitem die zierliche Gestalt in dem dürftigen, windzerzausten Mäntelchen – das kleine, süße, weiße Gesicht unter dem zerdrückten, russischen Reisemützchen. Es war noch keine Möglichkeit gewesen, sie einigermaßen nett einzukleiden. Reue erfaßte den jungen Mann, während er sich ihr näherte. Ein Gang heute Vormittag zu Serge Ssilin, und er hätte ihr vielleicht jetzt schon, statt der dünnen Fähnchen, die sie in der Märzkühle auf dem Leib trug, eine Auswahlsendung aus der Leipziger Straße ins Haus schicken können! Man vermochte sich gar nicht vorzustellen, wie entzückend sie dann erst wirken würde, wo sie jetzt schon wie ein geheimnisvolles Kleinod da im Alltag des Berliner Westens leuchtete – wo selbst des Abends die grelle, plumpe Verkleidung eines russischen Bauernmädchens ihr nicht den zarten Schmelz von den Schmetterlingsflügeln streifen konnte. Es war so unrecht, so bitter unrecht, dies Märchengeschöpf als Aschenputtel zwischen all' den aufgedonnerten, nichtssagenden Modepuppen des goldenen Westens herumlaufen zu lassen. Dem stud. Vollbrecht wurde das hämmernde Herz schwer. Er schluckte vor Schuldbewußtsein, als er die leuchtenden, großen Augen in dem feinen Gesichtchen erwartungsvoll auf sich gerichtet sah. Die kleine, brünette Deutsch-Russin kam ihm rasch und fröhlich entgegen. Ihr Wesen schien feierlich erregt. Das war ein ganz anders fester Händedruck der zarten Finger als bisher . . .

»Was bin ich gespannt . . .«, sagte sie neugierig-glücklich wie ein Kind vor Weihnachten. »Was werden Sie mir zu erzählen haben! Aber nicht hier – in dem Lärm –, wo einem der Stadtsoldat winkt und man bei jedem Schritt beinahe überfahren wird!«

»Wohin wollen wir gehen, Luja . . .?«

»Wo's lustig ist . . .« Die Kleine lachte. Er kannte sie von dieser Seite noch gar nicht. Sie war verführerisch, in ihrem Sonnenschein. Eine reizende, mutwillige, dunkle Eva. »Ihr Berliner seid doch so fidel! Ihr tanzt doch schon am hellen Nachmittag. Dort drüben ist solch ein Palast! . . . Man kann sich da hinsetzen und zuschauen, und Sie berichten mir, Bernd . . .«

»Die beiden, die da schautanzen, kenne ich . . .«, sagte der Student, als sie innen an einem der vielen kleinen Tische der Tanzdiele Platz genommen hatten. »Die wohnen Tür an Tür mit mir bei der Mutter Peereboom. Sie nennen sich Marmoll und Macca. Aber eigentlich ist es ein abgebauter böhmischer Graf mit seiner Frau . . .«

Durch das große, leere Viereck in der Mitte des Saales schritt das Berufstänzerpaar im Takt des Tango. Bog sich. Wand sich. Wechselte die Füße. Andächtige Blicke der Ausländer verfolgten von den Tischen die Zeremonie. Dazwischen gab es auch deutsche junge Männer, jetzt am Nachmittag, wo die wohlfeile Kaffeestunde den Weinzwang des Abends ersetzte. Junge, deutsche Mädchen mit englischer Tischzeit, Schlag vier Uhr aus den Kontoren und Büros losgelassen. Sie saßen bei den Japanern und bei den Yankees, bei den Polen und den Balkaniten. Sie knabberten Teegebäck, sie rauchten Zigaretten und wippten tanzlüstern mit den Lackschuhspitzen. Der Steptänzer Marmoll überklapperte jetzt eben das Gequäke der Jazzbande mit dem Wirbelwind seiner Stiefelabsätze. Der ganze, hagere, glatzköpfige Roué schien nur noch aus blitzschnell rasselnden Knochen zu bestehen. Bernd Vollbrecht fuhr fort:

»Dabei geht's dem Grafen und der Gräfin ganz lausig! Sie haben kein Geld! Sie zanken sich oft von zwei Uhr nachts bis morgens. Er flucht und sie heult . . .«

Er fing einen grünlich zornfunkelnden Seitenblick seiner Nachbarin auf. Ihr Gesichtchen war bleich und böse. Ein gereiztes Blinzeln wie bei einer kleinen Fauchkatze.

»Was sind das für dumme Reden . . .« Ihre Stimme bebte leise und drohend. »Ich sitze hier wie auf Kohlen, und Sie schwatzen mir von diesem Hampelmann . . . Erzählen Sie – wie war es bei Ssilin? . . . Nun steckt er sich wieder eine Zigarre an! . . . Es ist entsetzlich mit Ihrer Pomadigkeit . . .! Heraus doch mit der Sprache!«

»Also, Luja . . . Ich habe mir die Geschichte überlegt!« begann der junge Mann mit künstlicher Ruhe nach den ersten Zügen. »Wir müssen vernünftig darüber reden! Sehen Sie 'mal . . .« Er blies eine Rauchwolke von sich. »Ich bilde mir nicht ein, ein großer Geist zu sein. Aber so dumm bin ich doch nicht, um nicht zu begreifen, daß ich – ein guter deutscher Vetter vom Lande – bei diesem, mit allen Hunden gehetzten Valuta-Aujust, diesem Herrn Ssilin, nur das fünfte Rad am Wagen sein würde! Die Brüder könnten mich in ihrem Betrieb höchstens zum Markenlecken verwenden! Weiß der olle Knabe auch ganz genau! Und wissen Sie, warum er mir trotzdem um den Bart geht, den ich nicht habe? . . . Um durch mich in Ihre Nähe zu kommen . . .«

»Na natürlich . . .« Die kleine Büttner schlürfte ihre Schokolade.

»Er ist in Sie bis über die Ohren verschossen!«

»Hoffentlich . . .«

»Nu hört aber doch die Gemütlichkeit auf!« Das frische Antlitz des Jungmanns rötete sich unter dem blonden Haar. »Luja . . . Antworten Sie mir gefälligst nicht so frivol!«

»Frivol?« frug die Kleine unschuldig und vorwurfsvoll. »Aber Bernd . . .«

»Na ja . . . Wenn man Sie so hört . . . Schönheit drückt doch den Millionenonkel wahrhaftig nicht! Aus welchem Zuchthaus er ausgekniffen ist, weiß ich nicht! Er hat bloß Moneten – die allerdings, scheint es, nicht zu knapp! . . . Aber so sind Sie doch wahrhaftig nicht, Luja . . . Das macht doch auf Sie keinen Eindruck . . .«

»Aber sehr . . .« Die feinen Nasenflügel der kleinen Deutsch-Russin bebten. Er sah, daß sie mit aller Kraft sich beherrschte, um es nicht durch einen Zornausbruch mit ihm zu verschütten. Er begriff: Sie machte sich schon selber klar, daß er gar nicht bei Ssilin gewesen war . . .

»Ich habe nichts!« sagte sie sanft in ihrem harten Deutsch-Russisch. »Sie haben nichts. Er aber hat. Er will uns geben! . . . Er wird uns geben! . . . Er wird unser Wohltäter sein . . .«

»Um welchen Preis?« knirschte der Student hitzköpfig.

». . . daß wir ihn auslachen! Wir führen ihn wie einen Bären im Kreis herum!« Die kleine, brünette Schönheit lächelte spitzbübisch, setzte die rechte Kinderhand an das Näschen und machte schnell eine lange Nase in der Richtung nach dem fernen Königsplatz. Ein schlitzäugiger Japaner in der Nachbarschaft feixte verzückt, an der Seite einer baumlangen Berliner Blondine.

»Luja . . . Wer so schön ist wie Sie, darf damit nicht Ulk treiben! Das tut mir direkt weh!«

»Mein Gott – ist dieses Kind beschränkt!« Luja Büttner legte mütterlich kopfschüttelnd ihrem Freund die Rechte auf das Knie. In ihren schönen Augen von unbestimmtem Grünbraun dämmerte eine sonderbar wissende Unschuld. »Ich weiß, daß ich hübsch bin. Und wenn ich es nicht wüßte, würde ich es jeden Tag von euch Männern von neuem erfahren! Nun also! . . . Gott gab mir diese Larve, damit ich mich ihrer mit Anstand und Ehrbarkeit im Kampf des Lebens bediene! Ich habe doch sonst keine Waffe! Diese aber ist gefährlich . . .« Sie lachte plötzlich hell auf und federte mit einem Ruck vom Stuhl empor. »Kommen Sie . . . wenn wir schon hier sind – wir wollen 'mal tanzen . . .«

Er tat ihr den Willen. Jetzt war der Raum in der Mitte ein einziger, taktmäßig wogender Menschenknäuel. Europa hatte sich im Shimmy geeinigt. Die Neue Welt. Der ferne Osten. Die beiden waren eingepreßt zwischen Sakkos, Capes, Persianermänteln. Denn die Damen tanzten trotz der Hitze in ihren Pelzen, damit sie ihnen nicht inzwischen vom Platz weggestohlen würden. Man wurde geschubst und gestoßen . . . Luja Büttner kümmerte sich nicht darum – sie gab sich sanft dem Arm des Freundes hin – ihm so nahe wie noch nie. Sie ließ sich weich, mit halb geschlossenen Lidern, von ihm führen. Die weißen Zähnchen aber blitzten, wie bei einem kleinen Raubtier, in ihrem vollen Kindermund. Ihr heißer Atem wehte wild zu ihm auf.

»Hören Sie, Bernd . . .«

»Ich kann jetzt nicht reden, Luja! . . . Ich muß zählen . . .«

»Sie sollen hören . . .«

»Ich komme aus dem Takt . . .«

»So treten Sie mir in Gottesnamen auf die Füße! Wer sieht es – in diesem Jahrmarkt hier? Bernd: Sie waren nicht bei Ssilin?«

»Nein . . .«

Eine Sekunde fühlte er ein erbittertes Krallen ihrer mageren, an seiner Schulter ruhenden Fingerchen. Aber die großen, jetzt ganz offenen dunklen Frauenaugen in dem weißen Gesichtchen behielten gewaltsam ihre Ruhe.

»Bernd . . . Warum wollen wir uns diesen alten Esel nicht zunutze machen? . . . Er soll nur meine Bekanntschaft machen, Bernd – durch Sie! . . . Ich werde ihn noch verliebter in mich machen, als er schon ist . . .«

»Aber Luja . . .«

»Er wird, in seiner Narrheit, tun, was ich will! Ich werde von ihm verlangen, daß er seine Liebe praktisch beweist und für uns sorgt! . . . Wir werden nicht mehr Kellner und Musikantin sein! Er wird uns in den Sattel helfen. Dann reiten wir ihm davon!«

»Man soll nicht mit dem Feuer spielen, Luja . . .«

»Ich habe genug Feuer in Rußland gesehen! . . . Und Blut!« Der Atem der Kleinen flog. »Bernd: Es ist die erste und die letzte große Chance unseres armseligen Daseins . . .«

»Trotzdem . . .«

»Bernd . . . Ich bitte dich . . .«

Es lähmte ihm beim Tanz vor freudigem Schrecken fast die Beine. Sein Herz stand still. Da nannte sie ihn »du« . . .

»Bernd . . . wenn du mich lieb hast . . .«

Er schloß die Lider vor Glück. Ihm schwindelte.

»Lieber Bernd – dann bringe mich mit Serge Ssilin zusammen . . .«

Lieber Bernd . . . Er hätte weinen mögen vor Wonne. Er konnte nicht antworten. Die Musik verstummte jäh. Herren und Damen liefen auseinander.

Der Student ging mit Luja zu ihrem Tischchen zurück. Sie setzte sich. Sie goß sich den Rest ihrer Schokolade ein. Sie begann plötzlich gereizt und spöttisch, die Tasse absetzend:

»Welch ein Rabensohn! Das bist du auch noch zum Überfluß! – Ja . . . schaue mich nur so treuherzig an . . . Daß du mich in diesem Nachtasyl, diesem ›Kolokól‹, verkommen läßt, bis ich doch einmal in der Not nicht mehr aus und ein weiß und sich der Böse meiner Seele bemächtigt und ich auf schlechte Wege gerate . . .«

»Luja . . . sei still . . .«

». . . daß du es mir grausam verwehrst –,« Sie lachte nervös auf ». . . ein bißchen mit diesem Ssilin zu spielen, wie das Kätzchen mit der Maus . . . und uns eine Zukunft zu gewinnen – für mich und für dich, Bernd – nun wohl: Ich bin jung! Ich muß mir selber helfen! . . . Geh nur! . . . Geh . . .«

»Luja . . . Ich weiß ja gar nicht mehr . . .«

»Aber da sind deine Eltern! . . . Alt . . . Vertrieben . . . Emigranten . . . Herr von Kabisch sah sie heute vor deinem Haus . . . Wirf nur Vater und Mutter aufs Pflaster – lasse sie verhungern . . . du trefflicher Sohn! Wo ein einziger Besuch von dir bei Herrn Ssilin uns alle retten könnte . . .«

»Luja . . . du machst mich ja verrückt!«

». . . und deine Schwester? . . . Der alte Kabisch sagt, sie ist eine rothaarige Schöne! Er versteht etwas davon. Wirst du es vor Gott verantworten, wenn sie in Berlin zu Schaden kommt, weil du nicht für sie sorgst . . .?«

Im Tanzraum hüpften jetzt ein Dutzend barbeiniger, halbwüchsiger Tänzerinnen in wehenden Hemdchen Hand in Hand einen Genienreigen. Der Student stand auf. Die kleine Büttner mit ihm. Sie flüsterte:

»Ich rede nicht mehr von mir! Das ist jetzt zwischen uns gewesen! . . . Alles vorbei! . . . Ich weiß jetzt, daß du mich nicht liebst! . . . Also . . . leb' wohl . . . Mehr wie ›Guten Abend!‹ und ›Gute Nacht!‹ brauchen wir uns ja im ›Kolokól‹ künftig nicht mehr zu sagen! Ich wenigstens gewiß nicht!«

»Luja . . . Ich habe glücklich den Verstand verloren! Ich bin jetzt soweit . . .«

»Willst du mir dein Wort geben, daß du mich, sobald du nur irgend kannst, mit Serge Ssilin zusammenführst? Womöglich heute noch . . . Spätestens morgen . . .?«

»Mein Ehrenwort, Luja . . . Ja!«

 


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