Rudolph Stratz
Hexenkessel
Rudolph Stratz

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14

Ein langer, dunkler Blick durch den menschenheißen, lichtflimmernden Saal des »Kolokól«. Und wieder, nach einiger Zeit, ein forschender Augenstrahl des buntgeputzten, zart-brünetten Bauernmädchens im Balalaika-Orchester hinüber zu dem blonden, jungen Kellner, der eben einem, seine Handvoll Dollars in Deutschland verjuxenden Straßenbahnführer aus New York eine Prärie-Auster servierte. Ein entschlossenes Kopfschütteln des Jungmanns als Antwort. Er wandte sich ab.

Und abermals die Frage aus den großen Augen in dem weißen Gesichtchen, durch Rauchgespinst, über Glatzen und Topfhüte, Champagnerhälse und Cobbler-Strohhalme hinweg, zu dem Kellner Fritze. Der entkorkte gerade einen Boxbeutel für einen näselnden Bankstift und seine männererfahrene, heftigblonde Begleiterin, die zur Not seine Mutter sein konnte. Und wieder bewegte Bernd Vollbrecht hart verneinend den Kopf, und die Kleine drüben lächelte verächtlich. Niemand achtete darauf. Alle Augen und alle Operngucker glotzten auf die Bühne. Dort schauerten – ein lebendes Bild von klassischer Schönheit – Adam und Eva in paradiesischer Blöße, von mildem, bläulichem Licht verklärt, unter dem Baum der Erkenntnis. Langsam, lockend hob sich Evas weißer Arm mit dem Apfel. Bernd Vollbrecht hörte vor sich, im Publikum, ein leises Kichern. Das galt nicht dem ersten Menschenpaar jenseits der Rampe, sondern einem Herrn, der mitten im Parkett an einem der Tischchen saß und sich, um sich gegen den Anblick des Sündenfalls zu schützen, mit aufgestemmten Ellbogen die flachen Hände vor Stirne und Augen hielt, so daß man nur sein schwärzliches, struppiges Haupthaar sah. Er mußte den einen Arm sinken lassen, um dem sich vorbeidrückenden blonden Fritze Platz zu machen. Der blickte auf ihn nieder. Blieb stehen. Sagte nichts. Er war hier Kellner. Er durfte keinen zahlenden Besucher kennen. Aber der Gast nickte ihm düster zu. Der andere sah ihm ungläubig in das finstere, energische, sonnengebräunte Gesicht mit dem dunklen Schnurrbart und der hochgewölbten Stirne.

»Sie hier, Herr Gritsch?«

»Ich mußte«, sagte der Mennonit, die Augen mit der einen Hohlhand gegen die Bühne schützend. »Um Lujas willen! . . . Sie muß ja zugrunde gehen – hier – an diesem Ort des Grauens . . . Ich hatte es mir furchtbar gedacht. Aber das übersteigt alles, was ich befürchtete . . .«

Adam oben auf der Bühne nahm den Apfel. Der langhaarigen Eva ewiges Lächeln . . . Bernd Vollbrecht sagte:

»Da die Polizei bei der Nummer weiter keine Schwierigkeiten gemacht hat, Herr Gritsch . . .«

»Wir sind uns nicht freundlich gesinnt, Herr Vollbrecht! Und doch muß ich Sie um etwas bitten . . .« Der Schafzüchter aus der Nogaischen Steppe verschränkte wieder die Finger wie ein Schutzdach vor den tiefliegenden Augen. »Gehen Sie zu Luja hinüber! Sagen Sie ihr, daß hier ihr Freund sitzt, der für ihre unsterbliche Seele bangt – und für ihre Seele betet . . .«

»Aus dem Weg da – der Kellner«, rief es. »Mensch! Sie sind doch nicht von Glas!«

Bernd machte, daß er in den Seitengang kam. Er schritt ihn hinab bis zum Orchester. Lujas Platz war leer. Die blasse, blonde Winogradowa flüsterte ihm auf russisch zu:

»Luja hat von dem Baron Urlaub erhalten! Sie zieht sich eben um!«

Schuldbewußt aneinandergeduckt, unter dem Fluch der Schlange, schlichen Adam und Eva aus dem pappenen Paradies in die erste Kulisse rechts. Der Vorhang schloß sich. Es war eine Pause. Die kleine Treppe von der Bühnentüre kam Luja Büttner herab. Sie war zum Ausgehen fertig. Sie sagte leise und leidenschaftlich:

»Bernd! Du bist schon im Frack! Du kannst gleich mit!«

»Ach – ich! Um das Unheil mit dir handelt es sich!« sprach der junge Kellner zwischen den Zähnen. »Denn jetzt fange ich wirklich an, zu glauben, daß du im Ernst so 'was Irrsinniges vorhast!«

»Bernd . . . lieber Bernd . . . Wir dürfen Ssilin nicht warten lassen . . .«

»Luja . . . Ich bring' dich nach Hause . . .«

»Sonst geht er am Ende weg und alles ist umsonst . . .«

»So lasse ihn doch laufen! Das wäre ja ein Segen!«

»Bernd – lieber Bernd . . .« Das kleine, schwarze Wunder vor ihm schlug die Augen zu ihm auf. »Guter Bernd . . . bitte . . . bitte . . . hilf mir . . .«

»Nein!«

»Du hast mich doch so herzlich lieb! Ich bin doch deine kleine Luja . . .«

»Wenn ich nur wüßte, was man tun könnte . . .«

»Sieh 'mal, Berndchen . . . Ich muß es doch tun . . . Ich werde den Richtern begreiflich machen, warum! Die Deutschen sind gerecht! Auf lange Zeit wird man mich nicht einsperren!«

»Luja . . . Das ist ja alles . . . Zum Verrücktwerden ist es!«

»Vielleicht spricht man mich überhaupt frei! Und wenn ich frei bin . . . Bernd . . . Ich will ja auch deine liebe kleine Frau werden . . .«

Der Student wendete sich verzweifelt ab. Neben ihm bettelte es zärtlich durch den Operettenmarsch am Klavier:

»Ich will dir auch alles an den Augen absehen! Ich will dich auf den Händen tragen! Du sollst es so gut bei mir haben, Bernd – lieber Bernd. – Nur hilf mir jetzt und komme mit mir!«

»Nein!«

»Dann geh' mit Gott!« sagte die Kleine matt. Ihr Gesicht war starr. Plötzlich belebte es sich. Sie hatte mitten im Saal Paul Gritsch erkannt, der jetzt, nach der Vertreibung aus dem Paradies, frei umherblickte.

»Benötigt man dich überhaupt?« begann sie schnell und feindselig. »Im Gegenteil! Du würdest mich vielleicht noch verraten! Die Polizei rufen und mich in Schutzhaft nehmen lassen, um mir einen rechten Bärendienst zu erweisen! Ähnlich sähe es dir, du Klosterschüler! Diese Gefahr ist bei dir groß. Daran denke ich unvorsichtiges Geschöpf erst jetzt! Also lasse nur! Ich habe treuere Freunde!«

Sie schaute wieder zu dem Taufgesinnten hinüber. Sie gab ihm einen lächelnden Wink mit den Augen nach der Türe. Er begriff. Er stand auf, zahlte, traf sie im Vorraum.

»Luja . . .« versetzte er atemlos. »Es steht in der Offenbarung: ›Babel ist eine Behausung der Teufel geworden‹ . . .«

»Still doch!«

». . . Davon habe ich mich jetzt überzeugt: ›Ein Behältnis aller unreinen Geister‹ – steht geschrieben – ›und ein Behältnis aller unreinen und feindseligen Vögel!‹ – und Sie, Luja, mitten darunter! . . . Mir blutet das Herz! Sie müssen heraus aus diesem Scheuel und Greuel!«

»Ich gehe ja schon!« Luja Büttner trat auf den Kurfürstendamm . . . »Vorwärts, Gritsch! Wir wollen zu Abend essen!«

»Wir beide?«

»Nun ja doch! Dieser Bernd – dieser kleine Deutsche ist ja langweilig! Ich habe ihn stehenlassen! Wie – oder ist es Ihnen nicht recht, daß ich Ihnen einmal erlaube, mich auszuführen?«

»Ich danke ja meinem Gott, Luja! Ich fasse es als ein Zeichen, daß . . . Wollen wir etwa hier . . .?«

»In eine Bierstube? O pfui! Nein! Ich werde Sie führen! Vertrauen Sie sich mir an! Ich weiß einen geschmackvolleren Aufenthaltsort hier in der Nähe!«

»Wo ich mit Ihnen zusammensein darf, Luja, da bin ich so glücklich wie nirgends sonst!« sagte der Mennonit einfach und voll tiefen Ernstes. In seiner Stimme lag mehr als in seinen Worten. Die Kleine im Mäntelchen hielt sich sofort im Gehen etwas seitwärts, so daß ein freier Raum zwischen ihr und ihm entstand.

»Lassen Sie das, Gritsch!« befahl sie bestimmt.

»Luja . . . Seien Sie nicht so hart . . .«

»Machen Sie sich keine Hoffnung für die Zukunft, Gritsch, weil Sie jetzt, heute abend, hier ausnahmsweise mit mir gehen dürfen! Das hat seinen bestimmten Grund!«

»Ich bete seit Jahren für Sie, Luja! Es ist, seit wir uns in Berlin wiedergefunden haben, mein tägliches Gebet, daß Sie endlich Ihren wahren Freund erkennen!«

»Beichten Sie das Gott! Er ist geduldig! Aber schweigen Sie mir davon!«

»Luja: Wes das Herz voll ist . . .«

»Ich habe Ihnen schon oft verboten, mir von Liebe zu reden! Wenn Sie es doch tun, dürfen Sie nicht mit mir dahin, wohin ich gehe!«

»Es ist doch keine Sünde, Luja . . .«

»Mir von Liebe? . . . Es ist ja so traurig. So lächerlich . . . Ach . . . Aber belästigen Sie mich nicht mit Werbungen, Gritsch! Ich mag das Gegirre nicht. Es langweilt!«

»Luja . . . Spielen Sie denn mit mir?«

»Nein. Wirklich nicht, Gritsch! Das wäre grausam! Sie sind gut. Ich hab' Sie gern! Den kleinen Bernd auch! Nur quälen müßt ihr mich nicht!«

»Ihr Bestes will ich.«

»Ihr seid so seltsam, ihr Männer!« Das junge Mädchen blickte nach dem hellen Zifferblatt einer Normaluhr hinüber und beschleunigte ihren Gang. »Manches will durchaus nicht in eure harten Köpfe . . .«

». . . weil es nicht in den Kopf gehört, Luja, sondern aus dem Herzen kommt!«

»Da haben wir es schon wieder!« Luja Büttner schritt schnell geradeaus, den starren Blick unverwandt vor sich hinaus in die Nacht. »Ewig reden Sie von Liebe! Ebenso der Bernd! Begreift ihr denn nicht, daß ich Mischa liebe?«

»Er ist tot!«

»Soll man die Toten nicht lieben?« Ein verklärtes Lächeln überlief, im Schein der Laterne, an der sie vorbeikamen, das zarte, weiche Antlitz. »Gerade die Toten! Denn dadurch, daß wir sie lieben, leben sie! In uns! Mein Mischa ist nicht gestorben! Er lebt, solange ich lebe . . .«

»Ich weiß: Sie haben ihn sehr geliebt!«

»Geliebt? . . . Was ist das für ein armes Wort! Man kann es deutsch sagen oder russisch sagen, wie man will – es klingt abgegriffen wie ein Kopekenstück. Der Dwornik da und das Küchenmädchen, die in dem dunklen Haustor da stehen und flüstern – die lieben sich auch! Alle Welt liebt sich! Was ist das gegen mich und Mischa?«

»Manchmal glaube ich, er ist neben mir!« begann die Kleine plötzlich leise und geheimnisvoll. »So – wie Sie jetzt da gehen! Und ich höre wieder seine warme Stimme. Ich sehe sein freundliches Lächeln. Er war ja so gut. So unendlich gut! Hat es denn je einen Menschen von solcher Vollkommenheit gegeben? Sie haben ihn ja noch gekannt, Gritsch . . .«

»Ganz flüchtig . . .«

»Ach – das genügt! Wer ihn einmal im Leben traf, der vergaß ihn nicht wieder . . .! Sagen Sie selbst: War er nicht schön? Ging nicht etwas von ihm aus, daß man Gottes Macht und Liebe über sich empfand?«

»Ich beneide ihn noch im Jenseits, Luja – um das, was er Ihnen war . . .«

»Sie kennen die Orte, Gritsch, wo er gegangen ist. Sie kennen das Meer von Sebastopol, auf dem er gefahren ist! Sie kennen die Menschen, mit denen er verkehrt hat! Lieber Gritsch: Durch Mischa sind auch Sie mir nahe. So wie Mischas Freund! Hier um mich ist ja die Fremde.«

»Aber Sie haben gerade in der Fremde auch Pflichten gegen sich selbst, Luja!«

Das junge Mädchen hörte gar nicht. Ein leises, verzücktes Lächeln spielte auf ihren feinen Zügen.

»Sie kennen doch auch in der Krim den hohen Berg, den Tschatyr Dagh!« sagte sie. »Da stiegen wir, zu Anfang des Kriegs, von Aluschta hinauf. Marineoffiziere waren dabei. Unter ihnen Mischa. Da sah ich ihn zum erstenmal. Ich war noch so jung . . .«

»Kaum siebzehn, Luja . . .«

»Bei der Höhle der tausend Köpfe lief ein Wildbach über den Weg. Die Herren trugen die Mädchen hinüber. Er mich. Ich lachte, wie er mich in seinen Armen hielt, und schaute zu ihm auf und er zu mir herab. Da lachte ich nicht mehr. Da schloß ich die Augen und hörte nur das Wasser brausen! Ach – war das schön . . .«

Der Taufgesinnte seufzte schwer und schwieg. Um die beiden wirrte und glänzte lärmend der menschenvolle, mitternächtige Kurfürstendamm. Luja Büttner begann wieder selbstvergessen, mit einem glückseligen Spiel der Erinnerung um die weichen Lippen:

»Dann, am Festtag Nikolaus des Wundertäters, vormittags – alle Glocken läuteten gerade von der Wladimir-Kathedrale – da kam er auf Besuch in unser Haus zu meinen Eltern. Er gefiel ihnen. Wie sollte er nicht? Jedem gefiel er. Jeder war von seinem Umgang ergriffen. Und dann, Gritsch,« Luja flüsterte vertrauensvoll und faßte ihren Begleiter am Ärmel, ». . . dann ist er oft zu uns gekommen, und eines Tages hat mir das Herz stillgestanden, und ich hab' begriffen, warum er kam . . .«

»Und im nächsten Frühjahr, Gritsch, da promenierten wir alle des Abends auf dem Seeboulevard vor Kists Hotel und schauten hinaus auf das Meer. Und Mischa und ich gingen in die Stadt hinein, und auf dem Midshipman-Boulevard war es schon dunkel. Da, unter dem Denkmal Kasarskijs, haben wir uns den ersten Kuß gegeben und uns verlobt! . . . oh – welch ein Glück! . . . Heute habe ich solch einen Abend der Erinnerung, Gritsch! Alles steht vor mir! Es ist ein großer Abend – anders als andere! . . .«

»Und doch, Luja, würde der Heimgegangene aus dem Jenseits Ihnen zurufen: Bleibe nicht einsam im Leben – mit deiner Liebe zu mir!«

»Jeder, der ihn kannte,« sagte Luja Büttner, ohne zuzuhören, im schnellen Gehen, »jeder hat ihn geliebt. Mischa hatte nur Freunde unter den Kameraden – mit Ausnahme eines einzigen Judas, der ihn aus seiner Niedrigkeit und Verworfenheit heraus haßte – der Elende hieß Ssawa Kol – der verworfenste Mensch, der je lebte! Mischas Eltern – Sie wissen, die mit der Schaumweinfabrik in Nowo-Tscherkassk – wie haben sie ihn vergöttert! Die Vorgesetzten achteten und ehrten ihn vor allen anderen Leitnants und Gardemarins in Sebastopol. Selbst die Matrosen auf den Kronsschiffen – diese Gottlosen – schon lange vor dem Krieg ohne Ehrfurcht vor dem Zaren und seinen Dienern – dem Mischa gehorchten sie getreu wie die Hofhunde! Den Mischa ließen sie unversehrt von Bord, als sie die rote Fahne hißten und er furchtlos dastand und seinem Eid an den Selbstherrscher treu blieb!«

Luja Büttner machte an einer Straßenecke halt. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie preßte leidenschaftlich die geballten kleinen Fäuste an die Brust.

»War es nicht seine heilige Pflicht, seinen Fahneneid zu halten? Mußte er nicht, auch nachher zu Lande, unerschrocken sich einsetzen für Gott und Krone und Kirche? Trotzdem haben ihn die Unmenschen ermordet. Und die Welt geht weiter, als sei nichts geschehen! Und Gott hat es gelitten! Wozu ist denn Gott da?«

»Lästern Sie nicht, Luja!«

»Nein! Es sei mir fern! Aber das kann Gottes Wille nicht sein, daß diese Ungeheuer frei unter seiner Sonne umhergehen – so wie Ssawa Kol – und sich ihres Lebens freuen – und Mischa ist tot! Nein – hier will Gott Gerechtigkeit! Hier will er Strafe . . .«

Luja Büttner schaute, plötzlich ruhig werdend, zu dem Straßennamen an der Hausecke empor.

»Hier sind wir recht!« sagte sie. »Kommen Sie nur in den Prospekt hier hinein! An seinem Ende muß das Lokal sich befinden! Es ist unter den Bäumen dunkel. Aber ich weiß die Hausnummer! Ich habe sie hier aufgeschrieben!«

Unter einer der spärlichen Laternen blieb sie in der Seitenstraße noch einmal stehen. Sie hatte ein Medaillon herausgezogen und geöffnet, das sie an einer Haarschnur wie ein Heiligenbild auf der bloßen Brust trug. Sie zeigte es dem Mennoniten. Es war das auf Porzellan gemalte Brustbild eines jungen russischen Seeoffiziers mit einem kurzen, nach Art des letzten Zaren geschnittenen Vollbart um das freundliche, männlich-offene Gesicht. Luja gönnte dem Schafzüchter eine gute Weile der schweigenden Besichtigung. Dann preßte sie einen langen, leidenschaftlichen Kuß auf das Miniaturbild und barg es wieder an ihrem Herzen.

»Vorwärts, Gritsch!« sprach sie hart. Nach wenigen Häusern hemmte sie den Schritt. Der Mennonit schüttelte den Kopf.

»Aber das ist ja eine einzelstehende Villa mit einem Vorgarten! Die Fenster alle stockdunkel! Das ist ein Irrtum . . .«

»Sie kennen Berlin nicht, wie ich es in diesen paar Tagen kennengelernt habe! Hier ist alles möglich!« sagte Luja Büttner. »Auf einem Zettelchen steht, man soll viermal auf den Klingelknopf drücken . . . Wir wollen sehen . . .«

Leise öffnete sich, nicht das Haustor, sondern ein Pförtnerfensterchen daneben. Eine Männerstimme aus dem Dunkel frug:

»Sie wünschen?«

»Herr Ssilin erwartet mich . . .«

»Augenblick . . .«

»Wer ist denn Herr Ssilin?« frug mißtrauisch draußen in der Nacht der Mennonit.

»Mein Gott: Ein Bekannter von mir! Auch ein geflüchteter Russe! Oder Halblette – wie Sie wollen! Sprechen Sie nur recht freimütig mit ihm, Gritsch! Unterhalten Sie sich mit ihm fleißig! Kümmern Sie sich nicht um mich, wenn ich still dabeisitze! Ich bin ein wenig müde – ein wenig abgespannt.«

Ein Spalt der Türe ließ die beiden ein und schloß sich wieder. Sie standen geblendet von der Lichterhelle. Alle Räume der Villa waren voll von Menschen. Es gab keine Wohnzimmer. Unten bildete jedes Gemach ein Sonderkabinett, mit einem reich gedeckten Tisch und einer Gesellschaft von Herren im Frack und tiefausgeschnittenen Damen. Über die Treppe zum ersten Stock ging es ununterbrochen auf und ab. Oben herrschte die feierliche Stille der Spielbank. Ganz leise – der Polizei wegen – schmelzend, träumerisch, fiedelten im Erdgeschoß ein paar Zigeunergeigen.

»Hier wollen Sie doch nicht bleiben, Luja?«

»Warum denn nicht?«

»Dies Lokal – so wenig ich von derlei verstehe – aber es weht einen an wie Sünde! . . . Da sehen Sie: Da steht eine Dame mit einem Monokel im Auge! Und dort – dort raucht eine andere Dame eine große, dicke Zigarre!«

»Ja – ich kann sie ihr nicht aus dem Mund schlagen, Gritsch! Nur Mut!«

Der Taufgesinnte tat ein paar Schritte bis zu der Schwelle des Salons, wo die Söhne der Pußta spielten, drehte sich auf dem Absatz herum, riß Luja mit sich zurück.

»Fort von hier!« keuchte er. »Haben Sie es gesehen? Hoffentlich haben Sie es nicht gesehen . . . Diesen Flortanz . . . Man kann kaum mehr von Flor sprechen – bei dieser Tänzerin! . . . Fort! . . . Fort! . . .«

»Wir brauchen uns das ja nicht anzuschauen, Gritsch! Es gibt ja Nebenzimmer genug!«

»Kommen Sie . . .«

»Ich bleibe . . .«

»Sie dürfen nicht . . .«

»Pst . . . bitte leiser, mein Herr!« Ein junger Mann vom Äußeren eines Botschafts-Attachés trat diskret heran. »Bedenken Sie doch . . . die Polizei . . .«

»Ich will auf der Stelle dieses Haus verlassen!«

»Ja – wer hat denn den Herrn überhaupt hereingelassen? . . . Wenn Sie gehen wollen – bitte – öffnen Sie dem Herrn die Türe! Entschuldigen Sie, wenn ein Mißverständnis vorlag! Aber nicht wahr – Sie machen uns keine Ungelegenheiten draußen? . . . keinen Klimbim mit der Polizei? . . . Wäre ja schade! . . . Die Dame bleibt?«

»Luja! Kommen Sie!«

»Herr Ssilin erwartet die Dame im Erkerzimmer!« meldete geschäftig ein herbeieilender Kellner.

»Luja . . .«

Aber das Tor schloß sich schon leise und schonend hinter dem Mennoniten und sperrte ihn aus. Innen wendete sich Luja Büttner zu dem Kellner und sagte:

»Bitte, führen Sie mich zu Herrn Ssilin!«

»Herr Ssilin kommt Ihnen eben schon selbst entgegen, gnädige Frau!«

Die hagere, knochige Erscheinung des Inhabers der »Rowaja Rossija« wirkte jetzt, in dem schwarzen Abendanzug, mit der grauen Perle in der weißen Hemdbrust, vornehmer als bei Tag. Er glich, wie er schnell und elastisch das Parkett überquerte, in der natürlichen Leichtigkeit seiner Bewegungen einem weltstädtischen Klubmann, trotz des klobigen Gesichts mit der kolbigen Nase und dem brutal aufgeworfenen Mund. Dies Gesicht war bis zu den breit abstehenden Ohren hin stark gerötet. In den sonst gläsernen Augen loderte es schwül und unruhig. Er beugte sich hastig über Lujas Rechte. Sie spürte, daß seine Hand heiß und feucht war wie die eines auf das höchste erregten Menschen. Auch seine Stimme flackerte, unstet zwischen halben Sätzen stockend und außer Atem . . .

»Endlich . . . kommen Sie, kleine Herrin!« sagte er mühsam, und ein mildes Leuchten überzuckte dabei seine Züge. Es war wie ein Triumph. Ein Unterton – ein Mißton von verhaltenem Mißtrauen dabei . . . »In welche Verfassung brachten Sie mich durch das Warten . . .«

. . . . Verliebt . . . bis über die Ohren . . . Luja lächelte vor sich hin und gab der Garderobefrau ihren Mantel.

». . . Ich war in Verzweiflung . . . Ich haderte mit Gott – in der Angst, Sie würden Ihr Wort nicht halten!«

Verliebt . . . Blind verliebt . . . Die gewohnte Vorsicht vergessend . . . Die kleine Lautenschlägerin fuhr sich vor dem Spiegel mit der Hand über den schwarzen Madonnenscheitel und sagte leichthin:

»Ich mußte erst einen Landsmann suchen und ihn bitten, mich hier bis vor das Haus zu bringen, Herr Ssilin!«

»Ja – wie denn? . . . Und unser junger Freund?«

»Der kleine Deutsche? Sie sehen sich vergebens nach ihm um!« Das junge Mädchen strich sich die Rockfalten glatt. Behutsam. Ihre Fingerspitzen stießen dabei auf einen verborgenen harten Gegenstand. Der Dolch stak ohne Scheide in der eingenähten Tasche. »Herr Vollbrecht bittet, sein Ausbleiben zu entschuldigen! Er fürchtete zu stören!«

». . . und spielt lieber den Kellner im ›Kolokól‹, als den Kavalier im ›Monrepos‹!« Serge Ssilin zeigte breitlachend und angenehm überrascht das weiße Gebiß. »Es ist fast zuviel Feingefühl! Nun – meines erhöhten Interesses ist er sicher!«

Der junge Mann, der seine Braut dem künftigen Brotherrn schickte und selber verständnisvoll wegblieb! . . . Die kleine Deutsch-Russin merkte: Jetzt glühte in Serge Ssilin die Hoffnung auf . . . Jetzt sah er sich schon nahe am Ziel! Er griff sich unwillkürlich mit den plumpen Fingern in den Hemdkragen, wie um sich Luft zu machen. Sein Blick war trunken. Es fieberte ein Zittern durch den ganzen Menschen, von den rötlichen, kurzen Haarstoppeln bis zu den ausgeschnittenen Lackschuhen.

»Kommen Sie, kleine Herrin!« murmelte er ergriffen. »Kommen Sie . . .«

Er ging links neben ihr – ehrerbietig – mit fast unterwürfig gesenktem Nacken. Und doch war es, als führte ein Pascha eine neue Odaliske in seinen Harem. Er hielt sich dabei merklich unsicher auf den Beinen. Er geleitete seinen Gast an dem üppigen kalten Riesenbüffet im ehemaligen Eßzimmer der Villa vorbei, wo rote Hummerpyramiden die eingeschlagenen Schaufenster der Bäckerläden draußen in Berlin vergessen ließen und, statt der Polonaise vor den Kartoffelkellern, die Kellner sich im Gänsemarsch vor Salzschüsseln voll grüngefleckter Kiebitzeier stauten. Alle Sprachen Europas, mit Ausnahme der deutschen, erfüllten den Raum und verhallten hinter Ssilin und Luja in dem kleinen, anstoßenden Erkerzimmer. In dessen Glasvorbau schimmerte ein einzelner Tisch in Damast, Silber und Kristall. Blutrote Rosen überdufteten ihn und lagen in Büscheln vor dem mittleren Sessel. Ihr Purpur war sorgsam auf Luja Büttner tiefschwarzes Haar abgestimmt. Der Gastgeber war ein Weltmann . . . Auf seinen Wink ließen flinke Hände geräuschlos das dritte Gedeck und den dritten Stuhl verschwinden. Ein Kellner nahm diskret eine Likörflasche vom Tisch und stellte sie seitwärts zwischen die Portierenfalten auf den Teppich. Sie war halbleer. Ssilin hatte sich mit ihr die Ungeduld des Wartens vertrieben. Jetzt erst merkte Luja Büttner, daß er schon ziemlich angetrunken war. Es wunderte sie nicht. Sie kam aus Rußland. Sie atmete tief: um so besser . . . Schläfere du nur selbst deine Wachsamkeit ein . . .

»Belieben Sie, Barinja! Setzen sie sich!« bat Ssilin mit vor Leidenschaft heiserer Stimme. Er verschlang die kleine, schwarze Schönheit mit glühenden Augen. Luja nahm Platz – vorsichtig dabei den kurzen Rock mit der Rechten raffend, um sich nicht durch eine falsche Bewegung selbst mit der Spitze des bloßen Dolches in der Tasche zu verletzen. Der Kellner hatte nun, wo sie zu zweit waren, die Stühle so gerückt, daß sie und ihr Gastgeber sich gegenübersaßen. Die ganze Tischbreite trennte sie. Ssilin war für Luja unerreichbar. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Ihr Herz stand still . . .

Und seltsam – in den ungeschlachten, wimperlosen Zügen drüben las sie plötzlich eine Wiederkehr des alten Argwohns. Ein verkniffenes Blinzeln wie das eines Fuchses. Man konnte es nur ahnen. Denn Serge Ssilin lächelte zugleich. Er beugte sich – immer instinktiv dabei auf der Hut – über den Tisch vor und füllte eigenhändig die Schalen mit dem schneeigen Gischt eines rosenfarbenen Champagners. Seine knotige, gepflegte Hand zitterte heftig. In seiner rauhen Kehle kämpfte Inbrunst mit Besorgnis . . .

»Vor allem, kleine Herrin, lassen Sie uns endgültig das Mißverständnis klären,« begann er mit schwankender Stimme, »jenes fatale Mißverständnis, das Sie neulich am Königsplatz zu einem Schritt verleitete – nun – reden wir nicht mehr davon! Ich sagte ja bereits: Feinde Gottes haben sich da mit Ihnen einen ruchlosen Scherz erlaubt . . . Sie müssen das einsehen – Luja . . .«

»Wäre ich sonst hier . . .?«

»Luja . . . darf ich Sie so nennen? . . . Unzählige Menschen leben, durch Asien und Europa, in unserm Rußland. Es ist ein Unglück, daß ich, nach der Laune der Natur, einem unter diesen vielen Millionen äußerlich ähnele! Und doch ist es auch wieder ein Glück! Denn ohne diesen Irrtum hätten Sie ja nie meinen Weg gekreuzt! Und diese Begegnung . . .« Er schluckte heftig. Er sammelte Luft . . . »warf mich zu Ihren Füßen nieder, Luja . . . machte mich zu Ihrem Freund und Sklaven . . .«

Luja Büttner öffnete das Täschchen auf ihrem Schoß und ließ es, während sie ihr Tuch herausnahm und sich ein Stäubchen vom Auge tupfte, aufgeklappt liegen, so daß der drüben das bißchen Inhalt – ein paar Zehntausendmarkscheine, einen Hausschlüssel, ein angebissenes Täfelchen Schokolade – mit einem raschen, lauernden Seitenblick übersehen konnte. Ein zweiter Blick des Gastgebers glitt ebenso hastig und scheinbar unabsichtlich, während er sich mit der Hand über die Stirne strich, zwischen den Fingern hindurch an ihrem einfachen, von Flecken gereinigten und aufgebügelten, tabakgelben Kleidchen hernieder – entdeckte keinen Schlitz einer Rocktasche . . . kein Versteck einer Waffe. Die Spannung löste sich auf Serge Ssilins erhitzten, vom Inhalt der halbleeren Allaschflasche am Boden geröteten Zügen. Er reckte sich beruhigt und siegesgewiß in den Schultern. Er lehnte sich plötzlich vertraulich über den Tisch. Sein alkoholheißer Atem wehte hinüber. Er faltete, mit aufgestützten Ellbogen, die ungeschlachten, sorgfältig wie bei einem Spieler gepflegten Hände. Er schaute über sie hinweg, dem jungen Mädchen verzehrend in das Antlitz.

»Mein armes, teures Fräulein aus Sebastopol!« begann er inbrünstig und gedämpft. »Darf ich Ihnen eine Frage vorlegen . . .? Doch vorher . . . Nehmen Sie von diesem Jungwild . . . Diese Bekassinen sind genießbar . . .«

Er bot ihr eigenhändig, über den breiten Tisch hin, die Platte. Luja bediente sich . . . Und dachte dabei verzweifelt, die Augen über der Schüssel: Du sitzest zu weit . . . Wie komme ich in deine Nähe? . . . Unauffällig in deine Nähe? . . .

»Eine Frage . . . gnädiges Täubchen: Sie hielten mich für einen Menschen . . . einen Menschen da unten am Schwarzen Meer . . .«

»Für Ssama Kol!« sagte die kleine Büttner ruhig. Sie blickte den andern offen an. Nichts regte sich auf ihrem zarten Gesicht.

»Ssawa Kol . . . richtig . . .« Serge Ssilin drüben nickte. »Das war der Name, den Sie jüngst nannten! Werden Sie mir glauben, daß ich nicht mehr darauf kam, wie ich auch mein Gehirn zermarterte? Ssawa Kol! . . . Mit diesem Namen straft Gottes Wille mich armen Sünder in Ihren Augen! Gestehen Sie: Haben Sie diesen Ssawa Kol je mit eigenen Augen gesehen?«

»Oft. In Sebastopol.«

»Aus nächster Nähe?«

»Nur aus der Entfernung! Er war ja Mischas einziger Feind auf dem ›Joann Slatoust‹!«

»So haben Sie ihn auch einmal gesprochen?«

»Eben deswegen nicht!«

»Wie also, süße, kleine Närrin, kamen Sie dazu, auf Grund einer zufälligen, flüchtigen Ähnlichkeit, sich einzubilden, ich hier in Berlin sei dieser Ssawa Kol!«

»Man sagte es mir in Rußland!«

»Oh – man sagt viel! Man lügt – in dieser furchtbaren Zeit! Man verbreitet leichtfertig Tatarennachrichten. Fälscht böswillig die Tatsachen! Mag sein, daß Ihre Gewährsleute sogar in gutem Glauben handelten, weil sie sich von der unglückseligen Gleichmäßigkeit meiner Erscheinung mit diesem unbekannten Doppelgänger täuschen ließen! Nun – so hören Sie«, Serge Ssilin streckte den dicken, siegelringgeschmückten Zeigefinger der halb erhobenen Rechten zum Himmel und sprach feierlich und halblaut: »Hören Sie meinen Schwur vor Gott und allen Heiligen der wahren Kirche: Nie war ich in Sebastopol! Nie auf einem Kronsschiff! Nie zur See! Nie hat mein Fuß Ihre Heimat, die Krim, betreten! Nie habe ich bisher etwas von Ssawa Kol gesehen, gehört oder gewußt! . . . Genügt Ihnen dieser Eid? Er muß Sie beruhigen, Luja!«

»Ich bereue ja gewiß, Herr Ssilin, daß ich ohne weiteres alles glaubte, was man mir in Rußland sagte! Aber erwägen Sie: Ich war eine Waise. Ich stand ganz allein . . .«

»Oh – ich begreife! . . . In Ihrem Kummer um den Verstorbenen verloren Sie den Kopf. Ließen sich zu einem Plan der Verzweiflung hinreißen . . .«

»Glauben Sie mir . . .«, Luja blickte nach dem Rolladen neben ihrer Stuhllehne, der die hohe Fensterscheibe des Erkers gegen die kalte Nachtluft verwahrte, und zog leise fröstelnd die schmalen Schultern hoch. »Glauben Sie mir, Herr Ssilin: Ich war ja eigentlich gar nicht so felsenfest überzeugt, auf der rechten Spur zu sein! Denn wo hatte ich Beweise? Nein: Ich wollte nur den Versuch machen, Sie zu überführen! Ich wollte Ihnen einfach auf den Kopf zusagen, daß Sie Ssawa Kol seien, und bildete mir ein, wenn Sie es wirklich wären, würden Sie es durch Ihre Antworten zugeben und sich verraten! Mehr beabsichtigte ich wirklich nicht!«

Serge Ssilin hatte hastig ein paar Schalen des rosenfarbenen Champagners leergeschlürft. Er langte nach der Allaschflasche am Boden, schüttete sich einen tüchtigen Schuß in ein leeres Kelchglas und stürzte das Feuerwasser hinunter – so, als wollte er immer wieder eine geheime Angst übertäuben, die in seinem leichtumnebelten Gehirn aufstieg . . .

»He – und der Revolver, den du bei dir hattest, kleine Lügnerin?« frug er rauh.

»Habe ich ihn in die Hand genommen?« Luja schlug unschuldig die Augen auf. »Ich suchte nach meinem Tuch, weil mir die Tränen kamen. Sie, Ssilin, haben eigenmächtig den Revolver aus meiner Tasche herausgerissen! Gewiß hatte ich ihn bei mir! Schon in Sebastopol. In Petersburg. Ich bitte Sie: Ein junges Mädchen, das allein vom Schwarzen Meer bis nach Berlin reist – heutzutage – in diesen zügellosen Zeiten . . .«

»Um sich an mir zu vergreifen, taten Sie diese weite Fahrt . . .« Serge Ssilin weinte beinahe. Der Alkohol schwamm in seinen graublauen Augen. Aber zwischendurch zuckte wieder aus den verglasten Pupillen ein Stich des Mißtrauens.

»Mein Gott doch – nein!« Die kleine Musikantin rückte ihren Stuhl, so weit sie konnte, von dem kalten Fenster fort. Sie wendete dabei einen Augenblick ihr Antlitz von dem Mann drüben ab. In dieser Sekunde waren ihre Züge starr. Ein kalter, schonungsloser Hohn darauf: Du bildest dir wirklich ein, daß ich dich nicht für Ssawa Kol halte? Ich – die ich dich von Sebastopol her in jedem Zug deines Wesens wiedererkenne – ich, die die sonnenklarsten, unwiderleglichsten Beweise schwarz auf weiß besitze, daß du Mischa getötet hast – ich – die so sicher, wie sie an Gott glaubt, weiß: Du bist Ssawa Kol! . . .

Luja Büttner saß jetzt Ssilin etwas näher. Sie schaute ihn ruhig an. Er frug lauernd:

»Weswegen sonst, >wenn nicht wegen mir, kamen Sie nach Deutschland?«

». . . weil hier, als Flüchtlinge, die einzigen Verwandten leben, die ich auf der Welt noch besitze – Meine Kusine Lisa Altschüler aus Cherson mit ihren Eltern! Ich lebe mit ihnen in der Pension. Ich teile mit Lisinka ein Zimmer! Der kleine Bernd kann es Ihnen bezeugen!«

»Nun – ich weiß es ja selbst!« sagte der Mann aus dem Osten, plötzlich ganz beruhigt. »Ich werde Ihnen morgen auch Ihren Revolver wiedergeben! Dies alles ist ja nicht der Rede wert! Trinke, kleine Kirchenheilige! Stoße mit mir an! Denke, ich sei dein Vater!«

»Unser Wohltäter sind Sie!« Die schönen Mädchenaugen spielten in verräterischem Glanz über den Kristallrand hinüber, an dem die roten Lippen nippten. Serge Ssilins Atem keuchte hörbar. Seine Augen glühten wie die eines wilden Waldtieres. Er glich einem lohenden Stück Natur. Einem Waldbrand, irgendwo in der Wildnis. Er zerquetschte eine Brotscheibe zwischen den Fingern, um Fassung zu bewahren. Er zeigte lächelnd sein weißes Gebiß und frug heiser:

»Warum schauern Sie so zusammen? Fürchten Sie sich vor mir?«

»Vor Ihnen! Wie sollte ich!« sagte Luja Büttner sanft. »Ach nein! Es zieht nur hier am Fenster so furchtbar! Warten Sie! Ich will mich lieber ein bißchen näher zu Ihnen setzen!«

Sie rückte rasch mit ihrem Stuhl um die Tischecke herum, so daß sie dicht neben Ssilin landete. Rechts von ihm. Er sah sie verklärt an. Sie erwiderte es mit einem weichen Blick.

»Luja . . . Ich bin kein schlechter Mensch . . .« Er schluckte. »Auch ich habe ein Herz . . . ein Herz . . .«

»Sie beweisen es ja, Ssilin! Sie sind gut zu mir und meinem Bräutigam . . .«

»Grüßen Sie den Kleinen von mir!« Serge Ssilin sprach es gerührt. »Er ist ein fixer Junge! Man muß ihm helfen! Ich werde es! Ihretwegen!«

»Immer werde ich Ihnen dankbar sein . . . Wahrhaft dankbar! . . . Meine Hand darauf!«

Luja Büttner reichte Serge Ssilin ihre Linke, die ihm zunächst war. Er stöhnte verzückt auf. Er senkte den borstigen Rotschädel und beugte sich mit halbgeschlossenen Augen über ihre dünnen, weißen Finger und bedeckte jeden einzelnen, jedes Knöchelglied mit inbrünstigen Küssen. Luja ließ es geschehen, sie saß scheinbar ganz still. Behutsam tastete drüben die kleine, rechte Hand nach dem Dolch. Faßte ihn am Griff . . . lockerte ihn in der Tasche . . . hielt inne . . . Was war das? Es wurde mit einem Schlag völlig dunkel. Sie hörte aus der plötzlichen Nacht Ssilins veränderte, vor Schrecken beinahe kreischende Stimme.

»Luja . . . Was soll das heißen? . . . Was wollen Sie von mir? . . . Warum drehen Sie das Licht aus?«

»Ich doch nicht!« Luja hielt den Dolch in der Tasche mit der Hand umspannt. »Es ist ja überall im Hause stockfinster . . .«

Ein Nervenzittern in ihr: Jetzt . . . unter dem Schutz der Dunkelheit . . . gleichviel, woher die kommt . . . jetzt . . . Wer jetzt gut treffen würde – Ssilin muß doch ganz nahe sein – ganz dicht bei mir . . . Aber da klang seine erstickte Stimme aus ein paar Schritten Entfernung barsch und bittend zugleich:

»Bleiben Sie sitzen, Luja! Rühren Sie sich nicht, bis Licht kommt!«

Ssilin war, von jäher Angst gepackt, in die Ecke des Erkers zurückgesprungen. Er merkte es daran, daß er die Allaschflasche zwischen den Portierenfalten umwarf. Er hielt in der Finsternis instinktiv den Stuhl, auf dem er gesessen, zum Schutz gegen Luja vor sich. Er hörte, wie sie, ihn suchend, im Zimmer herumtappte, am Tisch entlang sich stützend. Er vernahm ihre halblaute Frage:

»Wo sind Sie denn, Ssilin?«

Er antwortete nicht. Er wußte nicht mehr, wo Luja war. Denn nach der ersten Stille der Überraschung wirrte jetzt ein jähes Geschwirr von Männerflüchen und Frauenschreien durch die kellerschwarzen Räume. Rufe aus dem ersten Stockwerk. Ein Dröhnen, als würde das Haustor gewaltsam gesprengt. Das Toben eines Mannes, der offenbar der Geschäftsführer war.

»Das verdanken wir dem Kerl, der vorhin gleich wieder an die frische Luft wollte! . . . Der mit dem miserabel angezogenen Mädchen kam . . .«

»Der war von der Polizei!« hallte das verstörte Echo der Kellner.

». . . und das Mädchen eine Vigilantin!«

»Nun haben wir die Jrünen uff'm Hals!« Handlaternen tauchten vom Eingang her auf. Tschakos bewegten sich in ihrem Schein. Schnurrbärtige Köpfe. Die Lichter glitten rasch, in der Hand ihrer Träger, die Treppe hinauf, zu den Spielsälen. Denen galt vor allem der Besuch der Obrigkeit. Hysterisches Gequietsche aus Weiberkehlen schrillte im ersten Stockwerk. Neue Laternen, neues Knopfgeglitzer auf Sipomänteln. Jetzt im Saal zu ebener Erde. Die erbitterten, schneidenden Kehltöne des entrüsteten Hausvaters. »Ich weiß nischt von Nackttänzerinnen! Das ist hier 'n Familienlokal! Da gibt's keine solchen Zicken! Suchen Sie doch jefälligst selber!« Und ein gelassener Baß der Behörde dagegen: »Nur immer mit die Sachte! Werden sich schon irgendwo verkrümelt haben – die Weibchen!«

»C'est par ici!« keuchte es durch den dunklen Erker. Ein paar ortskundige Ausländer tasteten sich herein, an der Wand entlang, rissen den nächsten Rolladen in die Höhe. Stießen das Fenster auf. Kalte Dämmerung wehte von außen. Die Schattenrisse der beiden Fremden beugten sich spähend nach dem Hof hinaus: mille tonnerres! . . . Auch hier die Posten der Polizei! Aber da . . . zum Glück . . . da klettert aus dem ersten Stockwerk ein Spieler, der offenbar allen Grund hat, den Gerichten aus dem Weg zu gehen – da klettert er gewandt wie ein Kater die Dachröhre herab. Alle die Grünen springen hin, um ihn zu fassen . . . Diesen Augenblick nehmen die zwei Welschen am ebenerdigen Erkerfenster zum Durchbruch wahr. Ein Hinabgleiten in den Hof. Serge Ssilin hinterdrein. Ihm war so wenig an einer polizeilichen Festnahme gelegen wie seinen beiden Wegmachern. Er lief hinter ihnen her, kroch wie sie über eine Mauer, rannte durch einen Garten, überstieg ein eisernes Gitter, stand in einer verschlafenen, dunklen, kleinen Villenstraße. Ging sie behutsam, in bloßem Kopf und weißleuchtender Hemdbrust, hinab. An der Ecke schimmerten die Laternen eines still dastehenden Autos. Er näherte sich vorsichtig. Er nickte. Er hatte Glück: Das war sein eigener Wagen, den er dort hatte warten lassen.

Er war jetzt, in der kalten Nachtluft, wieder fast völlig nüchtern. Er nahm dem Chauffeur, indem er ihm ein paar richtige Dollarscheine in die Hand drückte, die Mütze vom Kopf und stülpte sie sich in die Stirn. Er hängte sich dessen langen Mantel über. »Ich schau' nur eben 'mal um die Ecke, alter Freund!« sagte er und bummelte unauffällig wie ein Taxameterführer auf dem nächtigen Heimweg von der Garage eine Straße weiter der ganz nahen Villa »Monrepos« zu. Vor der ratterten im Laternenschein ein paar offene Lastautos. Die Gäste des Nachtlokals wurden stehend darauf verstaut, um nach dem Polizeipräsidium gefahren zu werden. Blasierte Herren in Melonen und Frackmänteln drängten sich da, erbitterte Damen in kostbarem Pelzwerk, muffige Kellner in Filzhüten und alten Überziehern, frostklappernde Tänzerinnen in flüchtig übergeworfenen Hüllen.

Halb hinter einem Baum vor lugte Serge Ssilin nach dem vordersten Polizeiwagen. Plötzlich sah er da oben, im gleitenden Lichtschein einer Laterne, Luja. Die Kleine lehnte ganz gleichmütig zwischen den andern, die Hände in den Taschen des Mäntelchens, die verdrückte Reisemütze auf dem dunklen Köpfchen. Sie schaute so gelassen vor sich hin, als ginge sie das alles gar nichts an. Er hatte Angst, sie könnte ihn bemerken . . . Er zog sich geräuschlos wieder die Straße hinab zurück.

Hinter ihm klangen, wie er da als Chauffeur schlenderte, gleichmäßige Schritte. Er hatte das Gefühl: du wirst verfolgt! Er wagte nicht, den Kopf zu wenden, um nicht aufzufallen. Die leise hallenden Tritte blieben immer in der gleichen Entfernung hinter ihm. Er bog um die Ecke. Gab dem dort harrenden Autoführer Mütze und Mantel zurück. Wollte einsteigen. Blieb unruhig stehen. Die Schritte waren nicht mehr zu hören. Aber es war auch niemand hinter ihm um das Haus herum zum Vorschein gekommen. Er wollte, in seiner nachzitternden Nervenerregung, sich vergewissern, wo der verfluchte Kerl hinter ihm geblieben war. Der Alkohol rumorte ihm im Gehirn. Serge Ssilin trat barhaupt, in Smoking und Lackschuhen, um die Ecke. Machte eine lächelnde Verbeugung. Der gleich jenseits des Hausvorsprungs stehende schmalschulterig-aristokratische junge Herr tat es auch und frug höflich in gutem Petersburger Deutsch:

»Sie hier, Baron Robbe?«

»Und Sie, Fürst Wolski . . .«

»Sie entsinnen sich meiner? Wir trafen uns dieser Tage in dem Frühstückskeller ›Zentrálnaja‹ unter den echt russischen Leuten!«

»Gewiß doch! Sie kamen gerade aus Paris. Und was führt Sie hier einsam durch die Nacht, Erlaucht?«

»Mein Gott: Die Sorge um Rußland . . . die Nerven . . . ich kann nicht schlafen . . . Doch was ist das mit Ihnen, Baron? . . . Auf offener Straße ohne Hut – ohne Mantel? . . . Sie werden sich erkälten . . .«

»Ein kleiner Zwischenfall . . . Die Stadtsoldaten störten einen Spielzirkel . . . Hier mein Auto . . . Darf ich Euer Erlaucht einladen?«

»Sehr gütig! . . . Doch ich liebe die frische Luft! Gute Nacht, Baron Robbe!«

»Gute Nacht, Fürst!«

 


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