Rudolph Stratz
Hexenkessel
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Sagen Sie 'mal im Vertrauen, Fräulein – Hand aufs Herz: Haben Sie in Rußland 'was ausgefressen?«

Der junge Mann mußte seine frische, gemütliche Stimme erheben, um den Straßenlärm Berlins zu übertönen, durch den sie dahinpilgerten. »Nein? Wirklich nicht? Na – ich frag' ja auch nur, weil . . . Fällt Ihnen nichts auf?«

»Nein!«

»Aber mir! Wir werden nämlich verfolgt! Wir marschieren doch nun 'ne gute Viertelstunde mang den Westen, und immer schleicht so ein junger, käsgelber Schlemihl hinter uns her – so von der Sorte – die kenn' ich aus Kurland und Polen . . . Bleiben Sie 'mal unauffällig vor dem Schaufenster da stehen! Gucken Sie in die Spiegelscheibe hinein! Da: Im selben Augenblick macht ein höchst konfiszierter Jüngling an der Straßenecke hinter uns halt! – ja – der da mit der mottenzerfressenen Lammfellmütze auf dem schwarzen Lockenhaar, – Sehen Sie ihn?«

»Ja . . .«

»Sie zucken dabei so zusammen . . . Haben Sie Feinde in Berlin?«

»Aber wie sollte ich?« Die kleine Büttner lächelte. Sie sah reizend aus, mit dem weichen, halbgeöffneten Mund und dem kindlichen Ausdruck ihres weißen Gesichtchens. »Eben kam ich an und ging direkt vom Bahnhof nach der Bank an dem Park, und da kamen Sie . . .«

Der junge Mann schritt mit ihr weiter und lachte.

»Um mich kümmert sich doch das gute Rußland nicht!« sagte er. »Dieser Lausejunge hinter uns gilt Ihnen . . . Ich muß Sie auf alle Fälle von dem Bengel loseisen! Kommen Sie! Ich kauf' mir in dem Eckladen da 'ne Zigarre!«

»Aber Sie haben ja gar kein Geld – sagten Sie!«

»Das stört große Geister nicht!« Der junge Mann trat ein und wandte sich lässig an den Verkäufer: ». . . 'ne bessere, echte Importe bitte . . . Kann dreist fünftausend Märker kosten! Geld spielt keine Rolle! Wie? Havannas kommen jetzt bei der Inflation nicht herein? Na – dann entschuldigen Sie man, daß ich geboren bin! Mahlzeit! . . . Hier – durch die andere Türe 'raus, Fräulein!« Und draußen, in der Nebenstraße: »Uff! . . . Das ist der Vorteil von zwei Ausgängen! Der Achtgroschenjunge kann drüben um die Ecke Wurzel schlagen! Der ist nach allen Regeln der Kunst versetzt! . . . Nu flugs in die nächste Querstraße! Gut! . . . Erledigt . . . Ist Ihnen nicht doch ein bißchen unheimlich zu Mut?«

»Wie das? . . . Ich erzählte Ihnen ja schon: Ich bin eine Waise. Ich floh aus Rußland wie hunderttausend andere! Ich suche in Berlin mein Brot. Ich kenne hier, außer meinen Verwandten, keine Menschenseele. Wer sollte also Böses gegen mich vorhaben?«

»Dabei zittern Sie aber am ganzen Leib! . . . Mein Gott . . . Unglückskind . . . Sie fürchten sich doch nicht etwa plötzlich aus heiler Haut auch noch vor mir? Warum äugen Sie mich denn auf einmal so mißtrauisch an?«

Das junge Mädchen war stehen geblieben. Dann trat sie drei Schritte zurück. Sie frug leise, zwischen den Zähnen:

»Wo führen Sie mich hin . . .?«

»Na – in die Arme der Ihrigen!« sagte der blonde junge Mann arglos und verwundert.

»Kommen Sie . . . etwa . . . vom Königsplatz?«

»Vom Königsplatz . . .?« wiederholte er verständnislos.

»Wissen Sie nicht, was ich meine?«

»Nee!« sagte er ehrlich . . . »Ich merke nur: dies Rußland hier in Berlin scheint ein gehöriger Hexenkessel . . . Da braut ihr offenbar nette Sachen gegeneinander! . . . Na, – ich bin 'n guter Deutscher! Ich hab' nichts damit zu tun!«

»Herrjeses aber . . .« Er schüttelte, während sie – scheu und unschlüssig – bei seinem Nähertreten zurückwich, halb lachend, halb ungeduldig den hübschen Jungmannskopf. »Ich beiße Sie doch nicht, Fräulein! . . . Aber damit Sie sehen, daß ich nichts Böses gegen Sie im Schilde führe – da ist meine studentische Legitimationskarte! Da können Sie lesen: stud. agr. . . . Bernd Vollbrecht, Sohn des Gutsinspektors Martin Vollbrecht, im bisherigen Westpreußen . . . Nun sitzen da die Polacken . . . Also . . . Hat nun die arme Seele Ruh'? . . .« Er nickte seiner Schutzbefohlenen freundlich zu und steckte seine Karte ein . . . »Na schön! . . . Los!«

»Verzeihen Sie nur . . .«, sagte Luja Büttner im Weiterschreiten halblaut und hob bang die schwarzen, dichten Wimpern zu ihm empor. »Mein Kopf ist so verwirrt . . . Nun sind Sie mir gewiß böse?«

»Nee . . . wahrhaftig nicht . . .« Er guckte fidel aus seinen warmen, blauen Augen auf sie hinab. »Wissen Sie . . . Ihnen böse zu sein – das wäre überhaupt ein höllisches Stück Arbeit! Also ich brächt' es bestimmt nicht fertig!«

»Ich hab' es nicht so gemeint! . . . Ich hab' so Schweres durchgemacht . . .«

»Man sieht es Ihnen an . . .«, sagte Bernd Vollbrecht ernst und mitleidig. Es war ein herzlicher Klang in seiner Stimme. »Na – nur Kopf hoch! Es wird schon werden – mit Ihnen . . . hier in unserm guten, ollen Berlin.«

»Ja.« Das junge Mädchen wiederholte es geistesabwesend – in ihre Gedanken versunken. Dann kam sie zu sich. Sie frug:

»Was heißt denn das stud. agr. auf Ihrer Karte?«

». . . daß jemand Landwirt werden möchte . . .«, sagte Bernd Vollbrecht, »vorausgesetzt, daß ihm nicht plötzlich 'mal vorher die Puste ausgeht!«

»Lernt man denn bei euch die Landwirtschaft in der Stadt?«

»Das Theoretische! Vorher war ich schon, wie ich glücklich 1919 aus dem Krieg zurückkam – ich war nämlich zu guter Letzt noch in russischer Gefangenschaft im Ural –, also da war ich ein paar Jahre praktisch unter meinem Vater als Scholar drüben in der Wasserpolackei tätig . . .«

»Dürfen denn da jetzt noch Deutsche sein?«

»Das ist ja eben die Schweinerei!« rief der junge Mann zornmütig. Jäh lohte bei ihm der Hitzkopf unter dem Blondhaar auf. »Polnischer Staatsbürger wird Papa nicht ums Totschlagen! Wer das glaubt, der kennt meinen alten Herrn flach! Wir sind deutsch bis auf die Knochen! . . . Nun ist's nur noch 'ne Frage von Wochen, wann er ausgewiesen wird . . . samt Muttern . . . 'ne Schwester von mir ist auch noch da . . . Was dann werden soll – mit den Eltern und der Marjell – das weiß der liebe Gott . . .«

»Und unterdessen hungern Sie hier auch schon?« sagte die dunkle, kleine Deutsch-Russin an seiner Seite.

»Ja. Papa kann mir schon seit dem Anfang vom Jahr nichts mehr schicken!« Der stud. Vollbrecht schlenderte, seitdem die Rede auf ihn gekommen, ziemlich sorglos dahin. »Hätte ja auch gar keinen Zweck! Bis das Geld da ist – ist es ja doch schon wieder 'n Dreck wert, und es kosten alle Dinge das Zehnfache! . . . Man muß eben jeden Tag schauen, wie man sie mit Anstand weiterbringt!«

»Haben Sie denn keine Freunde?«

»Na – 'ne schwere Menge! . . . Das heißt: Wirkliche Freunde hauptsächlich nur zwei: Ein Polytechniker und ein angehender Zahnbrecher! Wir waren jahrelang Kriegskameraden draußen und halten jetzt noch zusammen wie die Kletten. Wenn der eine kein Geld hat, hat der andere meistens auch nischt, und der dritte 'ne Kleinigkeit weniger – na – und so helfen wir uns gegenseitig durch . . . So . . . da ist die Tölzer Straße . . . Wollen 'mal sehn, ob da hinter uns 'was kraucht? Nee – den Schlemihl sind Sie los. Wer kann den bloß auf Sie losgelassen haben . . .?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung!«

»Sie sagten doch 'was vom Königsplatz?«

»Ach – das war so ein Gerede . . .«

»Woher kennen Sie denn aber den Königsplatz – wo Sie doch ganz fremd in Berlin sind?«

». . . weil ich vorhin da vorbeigekommen bin . . .«

»Ach so . . .«

Beide schauten unwillkürlich nach der Richtung, wo fern am Königsplatz sich das altersgraue Palais Nr. 40 in entschwundener Pracht erhob. In seinem zweiten Stockwerk, im Privatkontor der »Nowaja Rossija«, klatschten Hiebe und gellte Wehgeschrei. Serge Ssilin jagte blindwütig seinen Sendboten, den jungen Schmelke Machalles, mit einer Hundepeitsche vor sich her durchs Zimmer. Sein knotiges, in klotzigen Ecken und Kanten flüchtig von der Natur zurechtgezimmertes Antlitz brannte rot vor Zorn. Es hatte jetzt etwas Wölfisches in dem wilden Blecken der weißen Zähne. Ein Waldmensch tobte da, in der Kleidung eines Mitteleuropäers.

Klatsch! »Du besoffenes Schwein!« Klatsch! »Du räudiger Hund . . .«

»Jach bin kein Hünd!« heulte Schmelke Machalles.

»Hab' ich dir nicht befohlen, du stinkender Teufel, du sollst sie nicht aus den Augen lassen. Solch ein Mädchen gibt es doch nicht wieder . . .,« Serge Ssilin wandte sich außer Atem an Jakob Uhkeneek, der völlig teilnahmslos an der Türe stand . . ., »ein Kleinod . . . eine Perle . . .«

»Es ist eine wie die andere!« sprach der Lette mürrisch. Sein Herr scheuchte wieder, mit pfeifender Knute, den bleichsüchtigen Schlemihl die Wände lang.

»Wo hast du ihre Fährte verloren? . . .« Klatsch! »Gestehe . . . du schwarze Laus . . .«

»E bresele langsam!« stöhnte Schmelke. »Nah' am Wittenbergplatz!«

»Und in welcher Richtung ging sie da mit dem jungen Kerl neben ihr?«

»Eu weh! Nach dem Bayerischen Viertel!«

»Pascholl! . . . Ins Bayerische Viertel!« Serge Ssilin warf Schmelke Machalles die Peitsche an den Krauskopf und kreuzte, plötzlich unheimlich ruhig, die Arme über der Brust. »Du kommst mir nicht wieder vors Gesicht, ehe du sie gefunden hast! Ihr kennt mich!« . . . . .


Dort, in der Tölzer Straße, machte der blonde stud. agr. Vollbrecht halt.

»So! Da sind wir! Hausnummer zehn. Wie kriegen Sie denn nun Ihr Gepäck?«

»Gepäck?« Die kleine, brünette Deutsch-Russin sah erstaunt aus ihren tiefen, schönen Augen zu ihm auf. »Ich habe keins!«

»Nichts?«

»Wie sollte ich – als Flüchtling? Nur, was ich auf dem Leib trage! Und Seife und Zahnbürste und etwas Wäsche hier im Handtäschchen!«

»Ja – aber so können Sie doch nicht herumlaufen!«

Luja Büttner schwieg, mit dem Fatalismus des Ostens.

»Sie müssen sich doch ein bißchen ausstatten! In dem Fähnchen können Sie sich ja nirgends vorstellen!«

Das junge Mädchen hob nur die Schultern und ließ sie, mit einer schicksalsergebenen Bewegung, wieder sinken.

»Werden Ihre Verwandten oben Ihnen helfen?«

»Lisa Altschüler und ihre Eltern? Mehr wie das Leben besitzen sie gewiß nicht!«

»Ja – was macht man denn da?«

»Gott weiß es!«

»Und das sagen Sie so pomadig?« rief der junge Mann heißblütig. »Da muß aber etwas geschehen! Berlin ist kein Spaß! Man muß Ihnen auf die Beine helfen! Na . . .« Er legte ihr plötzlich strahlend und zuversichtlich die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie mich nur machen! . . . Verlassen Sie sich 'mal ruhig auf mich! Warum stimmt Sie denn das heiter?«

Die kleine Deutsch-Russin mußte zum erstenmal lachen. Ihr weißes, zartes Kindergesicht verklärte sich in dem Anflug von Sonnenschein lebenswarm zu einer verführerischen Evaschönheit.

»Sie haben doch auch kein Geld!« sagte sie und wurde plötzlich wieder scheu und ernst.

»Macht nichts!« Der Student vor ihr verlor sich andächtig in das dunkle Märchen aus der Fremde. »Ich schaff' es schon . . . wenn es für Sie ist . . . Wie? Nein . . . Hinaufbegleiten muß ich Sie noch . . . Am Ende wohnen Ihre Verwandten gar nicht mehr da oben – und dann stehn Sie da . . .«

Aber auf der Schwelle der Türe, auf der »Pension Alpenrose, für In- und Ausländer« stand, schob eine große, stramme Weiblichkeit zu Mitte der Zwanzig rasch und resolut das öffnende Mädchen beiseite. Sie trug dicke, kastanienbraune Zöpfe verschlungen über dem vollen, runden, regelmäßigen, von Jugend blühenden Gesicht. Sie rief mit einem starken, tiefen Alt:

»Luja . . . Das ist doch deine Stimme . . .«

»Lisa . . .« Die beiden Basen küßten sich. »Gottlob . . . Du bist in Berlin . . .«

»Luja . . . Du lebst noch . . . Wo kommst du her! Ich danke Ihnen von Herzenl«

Die derbe, gesunde Lisa Altschüler blickte mit phlegmatischem Wohlgefallen auf den blonden, frischen deutschen Jungmann. Der schüttelte herzhaft die magere kleine Hand seiner Schutzbefohlenen und zeigte lachend die weißen Zähne.

»Also . . . ich lasse noch von mir hören . . . In den nächsten Tagen! . . . Nein . . . nein . . . Sie brauchen einen Freund! . . . Auf Wiedersehen!«

Er stieg die Treppe hinab. Er vernahm durch die offen gebliebene Tür aus dem Flur oben Lisa Altschülers starke Stimme:

»Du mußt aber mit mir zusammen in einem Bett schlafen! . . . Wie . . .? Ja – ich bin hier Verkäuferin in einem Warenhaus . . . in der Abteilung Galoschen . . . weil ich Russisch kann . . . Die vielen Russen in Berlin kaufen doch alle Galoschen . . .«

Und schon ganz aus der Ferne:

»Ja – damit ernähr' ich die Eltern: . . . Papa? . . . Mein Gott . . . Papa sitzt eben so da! Mama auch! Was sollen sie machen?«

Der Student der Landwirtschaft Vollbrecht trat auf die Straße hinaus und frug sich, wo eigentlich das Geld auf dieser Welt hingeraten war? Niemand hatte mehr welches – außer den massenhaften Ausländern: Es wimmelten so viel Japaner und Russen längs der Häuser dahin, als sei ein neuer Krieg in der Mandschurei in Sicht. Der junge Mann ließ das Fremdenviertel hinter sich. Er wandte sich dem dahinter liegenden grünen Alltag der Gassenzüge nahe der Potsdamer Straße zu. Er durchschritt einen düsteren Hof und stieg vier Treppen im Quergebäude empor. Oben, am Geländer, lehnte eine fassungslos auseinandergequollene, schlampige Alte.

»Können Sie mir 'was pumpen, Mutter Peereboom?« rief er vergnügt schon von unten.

»Nee – so wat!« Die Zimmervermieterin stemmte fast sprachlos die Hände in die Hüften. »Wo Sie seit vierzehn Tagen nischt zahlen und nischt tun!«

»Na – ich bin doch Student!« Bernd Vollbrecht klopfte der Quartiermutter beschwichtigend auf den feisten, runden Rücken.

»Hätten Sie 'was gelernt!« keifte Mutter Peereboom. »Dann brauchten Sie jetzt nicht zu studieren!«

»Ich hab' Soldat gelernt! Ich hab' Berlin drei Jahre lang gegen die Kosaken geschützt!«

»Ach wat! Wenn die ollen Russen ooch gekommen wären – mir hätten sie nischt jetan!«

»Das glaub' ich auch!« sprach der junge Mann aus voller Überzeugung und öffnete eines der vielen, nebeneinander liegenden Zimmer, die Mutter Peereboom auf Tage, Wochen und Monate vermietete. An der Tür außen haftete neben seiner eigenen Visitenkarte eine zweite, mit dem Aufdruck: »Paul Ribbentropp, cand. ing.« Innen stand, unter der schrägen, niederen Decke der Dachstube, in einem Waschbottich ein nackter Zyklop. Er kehrte dem Eintretenden den gemaltigen, weißschimmernden Rücken zu und schüttete sich, trotz der Märzkühle in der kahlen Kammer, das kalte Berliner Leitungswasser stromweise aus einem Kübel über die Schultern. Er schnaufte dabei vor Behagen. Seine mächtigen Oberarme rundeten eisenhart ihren Bizeps. Überall sprangen ihm wie dem farnesischen Herkules ganze Muskelbündel an Stellen, wo kein gewöhnlicher Mensch solche besaß, aus dem Leib – zwischen den Schulterblättern – auf den Rippen – im Nacken.

»Lass' jetzt das Geplantschte!« rief Bernd Vollbrecht stürmisch. »Es ist da ein Mädchen . . .«

»Wo?« frug Paul Ribbentropp und warf sich schleunigst ein durchlöchertes, altes Bettlaken über den Riesenkörper.

»Na – mitgebracht hab' ich sie natürlich nicht! Es ist eine geflüchtete kleine Deutsch-Russin! . . . Also süß! Man muß ihr helfen! . . . Entwickele dich jetzt aus deinem Naturzustand zum Menschen, Paule . . .«

»Trag du 'mal den Tag über im Speicher an der Spree Lastsäcke!« sagte der Riese. »Da ist der feinste Hund am Abend dreckig!«

Auf dem wackeligen Tischchen am Fenster standen eine Kaffeemühle und ein Spiritusmaschinchen neben aufgeschlagenen Büchern mit planimetrischen Tafeln.

Der junge Vollbrecht schüttelte den Kopf.

»Tagsüber bist du im Hafenspeicher der starke Mann, und nachts kochst du dir den viersträhnigen schwarzen Kaffee, um beim Büffeln wach zu bleiben! Auf die Dauer hält sogar ein Bär wie du das mit den Nerven nicht aus!«

»Mir wär's auch lieber, ich hätte nachts eine Brotstelle,« der Kandidat Ribbentropp fuhr in Hemd und Hosen, »und könnte bei Tag in die Vorlesungen im Polytechnikum gehn! Aber da müßt' ich mich schon als Fassadenkletterer auftun! . . . In der Branche allein ist noch Nachfrage nach strebsamen, jungen Leuten!«

»Also hör' mal – hast du Geld?«

Paul Ribbentropp drehte sich langsam um. Statt eines grimmen Boxerschädels, wie ihn seine Hünengestalt erwarten ließ, zeigte er ein unendlich gutmütiges, behäbiges Gesicht mit aufgedrehtem, winzigem, blondem Schnurrbärtchen. Er sah den Freund forschend an und umspannte schweigend mit seiner Mammut-Tatze dessen Handgelenk.

»Pulsschlag normal . . .«, sagte er dann. »Bezecht ist der Kerl auch nicht! . . . Also wie kommst du denn auf solche Halluzinationen, bei mir Geld zu vermuten?«

»Das Mädchen läuft 'rum wie 'ne Motte!« rief der stud. Vollbrecht aufgeregt. Er hielt inne, in der Sorge, daß man rechts und links nebenan durch die dünnen Türen etwas hören könnte. Aber die beiden Kellnerinnen, die auf der einen Seite wohnten, saßen jetzt schon, vor dem Antritt des Dienstes, unten beim Friseur, und Marmoll und Macca, das Berufstänzer-Ehepaar, zeigten bereits, beim Vieruhr-Tanztee in einer Diele des Kurfürstendamms, die letzten amerikanischen Beinverrenkungen nach dem neuesten Niggertakt. Bernd Vollbrecht fuhr hitzig fort: »Also kurz und gut: das Mädchen muß neu eingepellt werden – von anständigen Menschen! . . . Denk' nur: die Versuchungen in Berlin! . . . Sie ist ja so wunderhübsch!«

»Das süße Mädel hat dir gerad' noch gefehlt . . .« Paul Ribbentropp knotete vor dem fliegenblinden Spiegelchen die altpreußisch-schwarzweiße Binde.

»Ich hab' ihr versprochen, sie zu bemuttern!« Der junge Landwirt ballte heißblütig die Fäuste. Es flackerte in seinen blanken, blauen Augen. »Denk' dir nur die arme Kleine – ohne einen Groschen – ohne 'was anderes als wie sie da geht und steht – mitten in diesem Berlin von heutzutage! . . . Das gibt ja ein Unglück! . . . Es muß Geld bei! . . . Steh nicht so stumpfsinnig da! . . . Komm mit zu Alfred . . .«

»Der reißt ja jetzt noch Zähne!«

»Darf er noch gar nicht! Lernt ja erst bei dem Techniker! Um fünf wird dort die Schreckenskammer geschlossen!«

Immer mehr russische Laute auf den Straßen, je mehr sich die beiden jungen Leute dem Kurfürstendamm näherten. Lammfellmützen. Fremdartige Gesichter. Russische Zeitungen in den Auslagen der Straßenhändler. Russische Buchläden mit unverständlichen Aufschriften. Das Sausen der Autos mit Japanern, Tschechoslowaken, Dänen, Yankees. Ein vornehmer, alter Herr in abgeschabter Kleidung flüsterte an der Ecke einer Querstraße leise, ohne – der Polizei-Augen wegen – den abgetragenen Hut abzunehmen:

»Ich hungere . . .«

»Ja – wir leider Gottes auch . . .«, sagte der Riese mitleidig und bog mit seinem Gefährten in die Seitenstraße ein. Ein Haufen Männer und Frauen stand da vor einem geschlossenen Brotladen. Der Tschako eines Sipomanns ragte vom Treppenabsatz über die Köpfe.

»Drüben in Moabit gibt's schon Klamauk!« klagte eine Stimme. »Drei Läden haben sie schon gestürmt . . .«

»Jotte nee . . . seit gestern det Brot wieder um vierhundert Mark teurer . . .«

Nicht weit davon stiegen die beiden Studenten in einem Miethaus von der jetzt verblichenen Talmi-Eleganz des neuen Berliner Westens zur Vorderwohnung im zweiten Stock empor. Eine weißhaarige, würdig aussehende alte Dame öffnete erschöpft auf ihr Klingeln. Sie hielt einen riesigen, plattfüßig breiten Lackschuh und ein Ölläppchen in der Linken.

»Guten Abend, Frau Geheimrat! Ist Alfred da?«

»Er holt eben Preßkohlen aus dem Keller!« sagte die verwitwete Geheime Regierungsrätin atemlos. In einem Türspalt leuchtete ein weißes Gebiß in einem pechschwarzen Antlitz:

»Madam – pumps – please . . .«

»Ich habe eben die Schuhe geputzt, Mr. Congo!« Die Geheimrätin reichte diensteifrig dem Gentleman Samuel Congo aus Haiti die beiden schwarzen, flachen Flundern und seufzte bang. »Nun geht er wieder schwiemeln! Jede Nacht! Wenn er nur übermorgen noch Geld hat . . . für die Miete . . . Alfred . . . Monsieur Tavernier wartet schon auf die Briketts . . .«

Alfred Henke, der angehende Zahntechniker, trug einen Zwicker vor dem feinen, weichen, intelligenten Gesicht. Er war zart und schmächtig gebaut. Es kostete ihn Mühe, den Kübel mit Kohlen in das Zimmer des Belgiers zu schleppen, aus dem das Gequietsche von Weiberstimmen schrillte.

»Er hat wieder Damenbesuch!« meldete er zurückkehrend seiner Mutter und drückte den Freunden die Hand. »Sie trinken französischen Sekt.«

Aus den Zimmern am Ende des Flurs quäkte Kindergeschrei durch ein heiseres Grammophon. Ein untersetzter, mahagonibrauner Herr mit rabenschwarzem Knebelbart winkte südlich-leidenschaftlich die Geheimrätin heran.

»Das ist unsere neueste Akquisition . . . Señhor Affonso dos Santos mit Familie aus Brasilien . . .«, sagte der Sohn des Hauses. »Was gestikuliert er da? . . . Ach so . . . das versprochene Kanape, das noch nebenan bei dem Siamesen steht . . . Der ist nicht daheim . . . Helft mal!« und, während sie das Möbelstück hinübertrugen: »Mama schafft's nicht mehr! Ein Mädchen können wir uns nicht halten! Ich muß von jetzt ab durchaus abends 'was verdienen – als Zigarettenfritze oder so . . . Wenn ich nur 'nen roten Heller Betriebskapital hätte . . .«

»Und ich wollt' dich eben anborgen!«

»Bernd ist nämlich lititi geworden!« erläuterte Ribbentropp, während sie in das Zimmer des Siamesen zurückkehrten und die Polster und Decken des Kanapes holten. »Er hat die fixe Idee, ein kleines Mädchen auszustaffieren . . .«

»Ein Engel!« schrie Bernd Vollbrecht. »Also denkt euch einen tiefschwarzen Engel . . .«

»Du – sieh 'mal . . . was ist denn dort auf dem Yorkplatz los?« Der Riese wandte sich, nach einem Blick durch das Fenster des Siamesen, jäh zu dem kurzsichtigen Zahnpraktiker. »Da gibt's ja 'was zu verdienen!«

». . . mit Augen . . . von einer Schönheit . . .«, fuhr der Dritte begeistert fort . . . »Halt . . . Wohin rennst du?«

Paul Ribbentropp war schon aus der Türe. Die Treppe hinab. Im Laufschritt über die Straße. Die beiden andern hinterher. Vor der hoch-vornehmen Ausländerpension »Luna« am Yorkplatz hielt ein Gepäckauto. Oben auf seinem Gitterdeck lag ein ungeheurer Transatlantikkoffer mit dem aufgepinselten Namen: MacTilloch. Sein Besitzer, ein langer, dürrer Angelsachse, stand auf dem Bürgersteig. Daneben der Portier. Dessen Frau. Ein paar Hausmädchen. Der Chauffeur. Ratloses Schweigen.

»Det Stück Handgepäck . . . det tragen drei Jebrieder aus dem Zirkus nich!« sprach der Hausbesorger heiser. Und dann verblüfft: »Nu fällt Ostern und Fingsten uff eenen Tach! Mutter – nu kiek' man bloß!«

Paul Ribbentropp hatte sich von seinen beiden auf das Verdeck geenterten Freunden den Mammutkoffer auf die Schultern wuchten lassen. Er stieg mit ihm, während die zwei andern mit dem Rest des Gepäcks folgten, langsam und bedächtig bis zum dritten Stock, setzte ihn dröhnend nieder und bedeutete dem Yankee mit aufgehobenem Zeigefinger: »Ein Dollar! – Halt – nein: Ein Dollar für jeden!« – und als Mr. MacTilloch zögerte: »Gut! Tragen wir das Dings wieder 'runter!«

»Oh – I see – stop – please!« Der Amerikaner winkte dem Riesen halt, der schon wieder gemütlich mit dem buntbeklebten Ungetüm auf dem Rücken die ersten Stufen abwärts stieg, und drückte ihm noch zwei kleine grüne Scheine in die Hand. Unten vor dem Hause gab Paul Ribbentropp jedem der zögernden Freunde einen.

»Nehmt!« dräute er. »Oder es bleibt von euch nur ein häßlicher, nasser Fleck am Boden übrig!«

»Nun stürze ich mich in meinen nächtlichen Erwerb!« sprach der zarte Zahnbeflissene entschlossen. Bernd Vollbrecht rechnete:

»Kinder . . . Für 'nen Dollar kann sie sich doch schließlich allerhand kaufen!«

»Er ist rein verrückt mit dem Mädel!« brummte Ribbentropp zu Henke. Und der stud. agr. Vollbrecht lächelte nur sonnig und verzückt vor sich hin:

»Ach – ihr kennt sie eben nicht!«

 


 << zurück weiter >>