Rudolph Stratz
Hexenkessel
Rudolph Stratz

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12

Nächtliche Geschäftigkeit, Geschacher, Geschwatze wirrte im neuen großen Berliner Ghetto der Grenadierstraße. Der Bürgersteig, der Fahrdamm, die Torwölbungen waren im Dunkel durch stehende Gruppen gesperrt. Händegefuchtel zeichnete sich schattenhaft ab, Kaftane, Schirmmützen. Es klang Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Russisch durcheinander. Wirrhaarige Weiber liefen. Haufen schwarzäugiger Kinder. Schokolade und Seife gab es auf dem Steinpflaster, Devisen in den Hosentaschen, künstliche Gebisse in den Fingern, Tuchreste und Lederabfälle in den Hausfluren. Die Türe neben dem Stapel alter Matratzen, Grammophone, Uniformen und Fahrräder, die ein rotbärtiger Handelsmann aus Przemysl feilhielt – diese Türe, mit der aufgenagelten Visitenkarte »Fritz Reuter, Handelsvertreter«, öffnete sich langsam und leise. Fritz Reuter spähte durch den Spalt. Er trug nicht mehr, wie morgens bei seinem Besuch in der Dachkammer des Studenten Vollbrecht, die Hornbrille, die abgewetzte Mappe, den gewendeten alten Militärmantel eines Stadtreisenden, sondern die letzte Londoner Herrenmode des ukrainischen Edelmanns Igor von Laskarew aus der Pension »Luna« am Yorkplatz.

Ein Lauschen. Ein Blinzeln aus dem schützenden Dunkel des Flurs hinaus auf das matt laternenhelle östliche Schattenspiel der Grenadierstraße. Serge Ssilin trat wieder in das kahle, dürftig möblierte Zimmer zu ebener Erde zurück. Er deutete mißgelaunt durch die Fächer der herabgelassenen Jalousie nach dem Gefeilsche draußen.

»Sieh dir diesen Vogel an, Uhkeneek, der sich da auf der anderen Straßenseite herumtreibt!« knurrte er. Der finstere Lette erhob sich schwerfällig aus seiner Ecke und beugte den grobknochigen flachsbärtigen Schädel gegen die Lichtritzen. Den Bürgersteig drüben entlang schlenderte ein schmalschulteriger, lang aufgeschossener, vornehmer, junger Herr. Der weite Ulster ließ noch den gertendünnen Rassenwuchs, der tief in die Stirne gedrückte Filzhut den aristokratischen Schnitt des mageren, länglichen Gesichts vom Petersburger oder Pariser Großfürstentyp erkennen. Der Fremde wandte scheinbar zerstreut den schmalen Kopf nach rechts und links und bummelte weiter.

»Er folgt meiner Spur!« sagte Serge Ssilin. »Er hat mich durch einen unglücklichen Zufall auf der Straße gesehen!«

»Wer ist es?« frug Jakob Uhkeneek dumpf.

»Ein Fürst Wolski. Er kam dieser Tage mit wichtigen Nachrichten aus Paris hierher zu den ›echten Russen‹. Ich traf ihn da, im Kreis der Zarentreuen, in dieser Kellerbude – der Zentrálnaja!«

»Also lernte er Sie als Baron Robbe kennen?«

»Ja. Und er ist nicht dumm – dieser Knjäs. Er schöpfte, wie mir scheint, vom ersten Augenblick ab Verdacht. Er hat einen fanatischen Blick – auch wenn er lächelt und über ein Nichts plaudert . . .«

»Nun – da biegt er drüben um die Ecke! Er hat Ihre Fährte verloren . . .«

»Diesmal! Aber man muß vor diesem Fürsten Wolski auf der Hut sein, Uhkeneek!«

»Sie sollten überhaupt umsichtiger sein als ein Wolf auf der Treibjagd!« sprach der Lette eintönig, mit seiner rauhen Stimme. »Jeden Tag wird Ihr Spiel gefährlicher!«

Serge Ssilins Blick stach seinem Helfershelfer durch Leib und Seele.

»Ohne dich wäre es für mich zu gefährlich!« sagte er zwischen den Zähnen. »Mit dir nicht. Denn du deckst mir überall den Rücken! Auf dich kann ich mich verlassen! Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue. Ist der Knjäs draußen weg?«

»Nichts mehr von ihm zu sehen!«

»Nun – dann werde ich schnell . . .« Serge Ssilin nickte Uhkeneek zu und huschte an dem Trödellager im Flur vorbei – auf die Grenadierstraße – um die Ecke – hinüber in die Mulackstraße, wo Berlin am finstersten war. Durch das Dunkel des Scheunenviertels. In Laternenhelle und Menschengedränge der Rosenthaler Straße stieg er in ein Auto. »Nach dem Kurfürstendamm! Zum ›Kolokól‹!«

Dort scheuchte er den ihn unterwürfig umtanzenden Manager mit dem Monokel und den tiefdienernden dicken Alfons wie die Fliegen beiseite und pflanzte mit einem Armschwung seinen reservierten Sessel noch ein paar Schritte näher an das eben rastende Balalaika-Orchester, so daß er gerade vor Luja Büttner zu sitzen kam. Seine ungeschlachten Züge verklärten sich sonnig. Das weiße Wolfsgebiß lächelte. Die Kleine thronte vor ihm in dem feierlichen, steifen, bunten Putz eines russischen Bauernmädchens. Mit zahllosen, winzigen Perlen flimmerte die Brautkrone auf ihrem schwarzen Köpfchen. Ihr weiches, rundes Antlitz war freundlich-unbewegt, mit großen, starren, grünbraunen Augen wie das einer Wachsfigur. Die winzigen weißen Hände lagen im Schoß. Serge Ssilin überzeugte sich mit einem Blick: Diese dünnen zehn Fingerchen falteten sich nur über der Guitarre. Da war keine Waffe. Nicht einmal eine Tasche, um sie zu verbergen, in der großen gestickten Schürze, den farbigen Falten des Rocks. Er beugte sich stürmisch nieder, ergriff Lujas Rechte, küßte sie. Seine Stimme übertönte laut und rücksichtslos die schrille Versicherung einer überreifen Wiener Soubrette oben auf der Bühne, daß die Männer schlimm seien. Sein schnelles, hartes Kurisch-Deutsch war für die Russen umher in ihren roten Hemden, die Russinnen im roten Sarafan so gut wie Chinesisch.

»Wie furchtbar haben Sie sich in mir getäuscht – vor einigen Tagen!« sprach er aufgeregt in eindringlicher Wärme. »Nun – ich sehe mit Freuden: Sie haben inzwischen begriffen, daß Sie das Opfer einer Verwechselung wurden! Und ich beinahe mit! Welches Unglück hätte entstehen können, für nichts und wieder nichts! Böse Menschen haben sich einen schlechten Witz mit Ihnen erlaubt und mich bei Ihnen angeschwärzt, ohne sich die schrecklichen Folgen ihres Tuns bei einem leidenschaftlichen, unerfahrenen Kind wie Ihnen zu überlegen! Nun – Gott verhütete Unheil! Ich bin sein Knecht! Ich habe meinen Schuldigern zu vergeben! Ich bin Ihnen nicht mehr böse! . . . Wollen Sie mir nicht dafür danken . . .?«

»Gern!« sagte Luja Büttner schnell. Es klang willenlos und leer. Ein teilnehmendes Kopfschütteln drüben.

»Sie glauben mir immer noch nicht recht, Fräulein Büttner, daß ich mit diesem Mann, den Sie verfluchen – ich habe seinen Namen vergessen – so wenig gemein habe, wie mit der alten Eule, die da über uns auf der Bühne von der Männertreue krächzt! Belieben Sie: Erkundigen Sie sich: Ich bin ein schlichter Kaufmann. Ich betreibe mein Handelskontor in Berlin. Ich bin bei den örtlichen Behörden eingeschrieben. Meine Geschäftsfreunde kennen mich. Meine Landsleute. Mein Leben liegt offen da! Bitte – lieber Freund . . .« Er hielt den vorbeiflitzenden Kellner Fritze am Frackzipfel fest und schüttelte ihm vertraulich die Hand. »Champagner . . . für alle!«

»Sehr wohl!« Der blonde Student warf einen düsteren Blick heißer Eifersucht auf die beiden und lief nach hinten. Serge Ssilin fuhr fort:

»Mein Leben war nicht leicht. Ich hatte eine schwere Jugend – als der Sohn eines einfachen Arteltschiks – eines Genossenschaftsarbeiters in Astrachan! . . . Ich habe zusammen mit Baschkiren und Tataren die Getreidesäcke von den Schiffen getragen! Ich habe in den Naphthabecken von Zarizyn gearbeitet. Ich war Heizer auf einem Wolgadampfer. Ich bin ein Selfmademan! Daher die Rauheit meines Wesens! Legen Sie mir sie nicht zur Last! Ich meine es gut!«

Der Mann vom Königsplatz wandte sich zur Seite und trank chevaleresk der Balalaikakapelle zu. Der blonde Kellner, der eingeschenkt hatte, murmelte hastig, während er Luja die perlende Schale anbot:

»Was hat er denn mit dir, daß er fortwährend auf dich einschwatzt?«

»Nun – er erzählt sehr interessant – aus seinem Leben!« sagte die kleine Schönheit.

»Es fällt allgemein auf!«

»Kümmere dich um deine Pflicht! . . . Deine Eifersucht ist lächerlich! . . . Siehst du nicht: Man winkt dir dort! . . . Geh!«

Der Student trollte sich verbissen, die Serviette über den Arm, nach hinten, zu dem sich in Berlin austobenden kleinen belgischen Lebemann Jean Tavernier, einem der möblierten Ausländer der Geheimrätin Henke. Während er der angeheiterten, mit den Hüten im Genick sich rekelnden welschen jeunesse dorée das Gold des Rheingaus in die Römer goß, begann vorn an der Rampe Serge Ssilin lebhaft und heiter:

»Ihnen gefällt Ihr Bräutigam? Nun: mir auch! Ich liebe diese fixe, unverzagte, deutsche Jugend. Ich habe einen vortrefflichen Posten für den Jungen im Auge! Bewährt er sich – gut! Dann lassen wir in eurem großen Wassilj-Dom am Ende dieses Prospekts hier die Glocken läuten! Sie schreiten zum Altar – verführerischer noch unter dem Brautschleier – schöner noch als sonst, wenn das vor Gott möglich ist! Ich fische Sie, schwarze Prinzessin, und Ihren Blondkopf drüben aus diesem bäuerlichen Morast hier – diesem ›Kolokól‹ – heraus! Ich bin der heilige Sergej, der Wundertäter! – Hä – Hä! . . .« Der Inhaber des Handelskontors »Nowaja Rossija« verzog in rosiger Laune die faltenreichen, roh wie mit der Holzaxt gezimmerten Züge und herrschte brutal zu der dicken Wiener Weiblichkeit auf der Bühne über ihm empor, die sich immer noch nicht über den Wankelmut der Männer beruhigen konnte:

»Gackere nicht so laut, fette Henne! Man glaubt dir deine Erlebnisse! Du bist alt genug dazu!«

Die Soubrette sandte ihm einen schmachtenden Blick hinab. Sie hielt das dumpf gegrollte Russisch-Deutsch für eine Liebeserklärung. Sie wich, neckisch mit den umfangreichen Hüften wippend, einen Schritt zurück, damit der Kavalier unten sie nicht in seinem Liebeswahnsinn in die strammen Wadenpolster zwicken könne. Zugleich keuchte Bernd Vollbrecht hastig, Champagner eingießend, der kleinen Balalaikaspielerin ins Ohr:

»Also das verbitte ich mir, Luja! . . . Was machst du ihm denn für Augen . . .?«

»Still! Du störst hier!«

»Du hast es gar nicht nötig, so unheimlich zu kokettieren . . .«

»Nicht wahr – das ist unheimlich?«

»Der Kerl brennt ja so wie so schon lichterloh!«

»Pascholl!« versetzte die Kleine unwirsch und griff nach ihrem Instrument. Das Balalaika-Orchester setzte ein. In das Händegeklatsche am Schluß seines Kosakenliedes hinein sagte Serge Ssilin:

»Das Nähere, liebes Kind, erörtern wir morgen abend! Seien Sie bitte morgen mein Gast – Sie, Prinzessin – und der glückliche, künftige Prinzgemahl! Gegen Mitternacht, wenn es beliebt! Ich werde anordnen, daß man euch hier rechtzeitig wegläßt! Vorher ist dort nichts los! Ich schrieb Ihnen hier die Adresse auf ein Zettelchen: Büffet Monrepos – gleich hier in einer der Querstraßen! Es ist der einzige Ort in Berlin, wo ein Mensch mit Ansprüchen noch soupieren kann! Nun – ist es der kleinen Herrin recht?«

»Ich danke recht schön, Herr Ssilin!« Ein tiefer, ernsthafter Knicks im Sitzen. »Ich werde pünktlich da sein!«

»Ganz gewiß?«

»So wahr ich die Ehre habe, hier mit Ihnen zu sprechen!« sagte das zarte, buntgeputzte Bauernmädchen sanft und neigte wieder in einer russisch demütigen Bewegung das schwarze Köpfchen unter der Last des hohen, glitzernden Perlenschmucks. Aus der farbenfrohen Umrahmung der Volkstracht schaute das kleine, feine, weiße Antlitz weich und still auf den Mann aus dem Osten ihr gegenüber. Der erwiderte feurig den dunklen, langen Blick.

»Bestellen Sie bitte meine Einladung auch an unsern jungen Freund Fritze!« bat er, küßte Luja wieder, mit einem vorsichtigen Seitenblick, ob da keine Waffe verborgen sei, die Hand, erhob sich, ging plötzlich und unvermittelt, schritt hastig und lautlos auf seinen Gummischuhen nach dem Ausgang, klatschte im Vorraum ungeduldig in die Hände. Die Garderobefrauen flogen mit Mantel und Hut. Der Riese von Portier pfiff einem Auto. Ab.

»Nu können Sie sie ja wieder anhimmeln, Fritze!« sprach der dicke Alfons. Aber Luja Büttner wußte es den ganzen Rest des Abends einzurichten, daß sie ihrem Freund den Rücken wandte, wenn er sich irgendwie im Rund der Balalaikaspieler zu schaffen machte. Nur einmal, ganz am Ende, während er die leeren Gläser abräumte, konnte er ihr erbittert in die winzige, halb abgedrehte Ohrmuschel raunen:

»Ich erwarte dich nachher draußen!«

Auf dem windigen Kurfürstendamm stand Bernd Vollbrecht vor dem dunklen »Kolokól« neben seinem Freund Alfred, dem fliegenden Händler, und biß zornmütig in einen Wurstzipfel.

»Sie ist doch ein Kind,« sprach er leidenschaftlich im Kauen, ». . . in der Gestalt eines bildschönen Mädchens – ein harmloses, unschuldiges, vom Schicksal verfolgtes Kind!«

»Genau so ist auch deine Schwester Vicke . . .«

»Ach – laß doch setzt die Marjell! Von der reden wir später! Die Luja ist ein Stück von einem Engel, mein guter Wurstmaxe – und ich möchte niemandem raten, sie nicht dafür zu halten . . .«

»Mensch . . . du wackelst ja vor Verliebtheit mit den Ohren!«

». . . heute abend aber, Alfred – da kam bei der Luja, wie sie mit diesem russischen Raffke schön tat –, da kam bei diesem Kind vom Himmel etwas wie von einer Schlange heraus . . . Etwas Listiges! Lauerndes! . . . Direkt Gefährliches. Und das bei der Luja! . . . Sie ist doch ein Geschöpf wie ein Schwälbchen . . . sie ist doch so lieb und sanft . . . Sie kann doch niemandem ein Haar krümmen! . . . Ich bin wie vor den Kopf gehauen . . . Ich kann mir keinen Vers darauf machen . . .«

»Frag' sie doch selber! Da kommt sie!«

Luja Büttner trat in Mütze und Mäntelchen aus dem Kabarett. Sie wehrte schon von weitem Bernd Vollbrecht, der auf sie zustürzte, ungnädig mit der Hand.

»Rede nicht! Du bist abgeschmackt!«

»Luja . . .«

»Ich will dich nicht hören! . . . Eifersucht! . . . Auf ein Tier aus dem russischen Wald! . . . Man könnte lachen . . .«

»Luja . . .« Der junge Mann schluckte vor Aufregung. Er faltete die Hände vor der Brust. Jetzt stand er wie ein Schulbub vor der kleinen Musikantin. ». . . Luja . . . Ich weiß ja, daß du es gut meinst! Du willst dein und mein Glück!«

Das zarte, dunkle Geschöpf vor ihm sah ihn fest und schweigend an. Er stammelte weiter:

»Deswegen läßt du bei dem Kerl alle Minen springen! Das verstehe ich ja. Aber es ist zu viel! Mehr, als jemand, der dich so lieb hat wie ich, verknusen kann! Das ist . . .«

»Das ist alles Torheit!« ergänzte die Kleine streng. »Lasse das jetzt! Ich will nicht mit einem Gymnasiasten reden, sondern mit einem reifen Menschen! Benimm dich so! Und höre . . .«

»Du sollst mich hören . . .«

»Still doch! Unterbrich mich nicht! Das ist unschicklich! . . . Sobald du mich siehst, sagst du, daß du mich liebst . . .!«

»Ich schrei' es mitten auf dem Potsdamer Platz aus! Ich trompete es von der Siegessäule . . .«

»Das hilft gar nichts! Wenn du mich liebst, mußt du es mir beweisen!«

»Sage mir wie . . .«

». . . indem du das tust, was ich morgen von dir verlangen werde!«

»Nenne es mir doch schon heute!«

»Es ist noch zu früh! . . . Willst du mir dein Wort darauf geben, daß du morgen meine Bitte erfüllst?«

»Welche Bitte?«

»Das hörst du morgen! . . . Antworte mir . . .«

»Ich weiß ja: Du wirst nichts Unrechtes von mir verlangen . . .«

»Vor Gott ist es kein Unrecht! Schwöre mir bei Gott!«

»Luja – warum so feierlich . . .?«

»Schwörst du mir . . .?«

»Was hast du für starre Augen! . . .«

»Schwörst du mir bei Gott über uns im Himmel?«

»Also denn . . . du machst ja mit mir, was du willst: Ja!«

»Nun weiß ich, daß du mich liebst!« Luja Büttner sagte es leise und innig. »Ich danke dir von Herzen, lieber Bernd! Nun höre:« Sie verfiel in den Ton eines alltäglichen Gesprächs. »Sei morgen um neun Uhr abends, vor der Vorstellung, da drüben in der Likördiele – in ›Onkel Toms Hütte‹, gegenüber dem ›Kolokól‹. Um die Zeit ist dort kaum ein Mensch. Da erzähle ich dir, was ich von dir möchte! Gute Nacht, Bernd!«

»Ich bring' dich nach Hause!«

»Ich bin schon da!« Lisa Altschüler, die bisher etwas abseits gewartet, trat heran: »Herr Gritsch hat mich geschickt!«

»Der Teufel soll ihn holen!« rief der Student erbittert.

»Den heiligen Mann? So viel Kurage hat der Teufel nicht!« Die kleine Büttner schob ihren Arm unter den der Base. »Morgen abend in der Diele, Bernd!«

Der Freund Alfred drüben verwahrte auf seinem Umhängekessel noch Bernds angebissenen Wurstzipfel – einen Wertgegenstand jetzt, in der Berliner Hungersnot. Der junge Landwirt futterte den Stummel stumm, in düsteren Gedanken.

»Ich bin auch wie so'n Hottehüh, Alfred!« sprach er endlich. »Ich bin auch im Wurschtkessel! Nach allen Regeln der Kunst lasse ich mich von Rußland hackepetern! Jetzt fange ich schon an, nachts auf dem Kurfürstendamm Eide abzulegen! Der Betrieb wird immer toller! . . . Du . . . Ich fürchte . . . Es ist etwas mit der Luja . . . Mir ist so unheimlich zu Mut . . .«

Alfred Henke schickte sich eben an, einen Herrn zu bedienen, der vor seinem Wurstkessel stehen geblieben war. Der Herr trug, nach russischer Art, einen verschnürten Mantel mit Persianerbesatz und eine schwarze, hohe Lammfellmütze. Eine goldene Brille verglaste die klugen, schwarzen Augen. Ein schwarzer Rundbart umkrauste das bleiche, fleischige Gesicht . . . Der Fremde sah zu dem blonden Studenten hinüber und sagte langsam, in gutem Deutsch, mit einem stillen Lächeln:

»Mein Physiognomiegedächtnis trügt mich nicht! Wir begegneten uns im Krieg! Waren Sie nicht im Osten?«

»Ja . . .«

»Verwundet?«

»Verwundet und gefangen!«

»Nun also! Wo?«

»Hinter Smorgon!«

»Es stimmt alles! . . . Welches war doch Ihre Blessur?«

»Brustschuß!«

»Richtig! Ich war damals Neuling an der Front. – An der russischen, natürlich! Junger Arzt – eben erst einberufen! Sie waren eines der ersten Opfer des Kriegs, das mir unter die Hände geriet . . . Deswegen haben Sie sich mir unauslöschlich eingeprägt!« Eine ausgestreckte Hand: »Dr. Wassilij Islawin ist mein Name. Mein Gott ja . . . Ich erinnere mich so genau, wie ich Ihnen den Verband anlegte . . .«

»Ich kann mich leider gar nicht besinnen . . .«

»Sehr begreiflich! In der Verfassung, in der Sie sich befanden . . . bewußtlos . . . blutbedeckt . . . Aber ich bin Mensch . . . Immer wieder war bei mir der Gedanke: Wieder einer Mutter Sohn . . .«

». . . Aber daß Sie mich jetzt, nach Jahren, hier in der Dunkelheit gleich erkannten . . .«

»Das wäre unmöglich!« bestätigte Dr. Islamin lächelnd . . . »Nein: Ich beobachtete Sie seit Stunden, und langsam kam mir die Erinnerung. Ich saß den ganzen Abend im ›Kolokól‹! Sie servierten auch mir meinen Tee . . . Kommen Sie! Haben Sie den gleichen Weg? Wir gehen eine Ecke zusammen . . .«

Der Russe grüßte höflich, mit zwei Fingern an der Pelzmütze, zu dem fliegenden Wursthändler hinüber, der soeben einen Herrschaftschauffeur versorgte, und schritt neben Bernd Vollbrecht den Kurfürstendamm entlang. Der junge Mann blieb stehen:

»Gestatten Sie, daß ich mich verabschiede!« sagte er.

»Warum? Wollen Sie nichts mit Russen zu tun haben?«

»Nun – ich bin eben Deutscher . . .«

»Das ist doch kein Grund, uns zu hassen!«

»Das liegt mir fern! Sagen wir also: Ich bin, wie Sie wissen, Kellner! Sie Arzt! Ich bin kein Verkehr für Sie!«

»Oh – Sie wollen mich beleidigen!« Wassilij Islamin schüttelte das fremdartige, schwarzbärtige Haupt. »Sind wir nicht alle gleich? Was waren da für verächtliche Menschen, die Sie bedienen mußten! Ein ehrenhafter Arbeiter wie Sie steht hoch über solchen Schiebern – wie etwa diesem Burschen, der da ganz vorn saß und meinen Landsleuten Champagner schenkte, statt mit dem Geld die Hungernden zu speisen! Nun – man weiß schon von Rußland her genug von diesem Herrn . . .«

»Sie kennen ihn?«

»Ging er nicht schnell weg, wie er mich unverhofft sah?« frug der Arzt Islawin, immer mit dem sonderbar milden und verhaltenen Lächeln.

»Mein Gott . . . Können Sie mir etwas von ihm erzählen?« Der Student atmete schwer. »Sie täten mir einen Riesengefallen.«

»Gern werde ich! . . . Aber nicht hier auf der Straße! Dort drüben ist ein Lokal . . . Ich war da schon öfters! Kennen Sie das ›Mirabell‹? Nein? Es wird einen jungen Mann wie Sie interessieren! Bitte – hier!«

Die Eingangsräume des »Mirabell« leuchteten in Purpur und Gold, glattrasierte alte Diener mit Allongeperücken und in Kniehosen nahmen die Garderobe in Empfang. Im Tanzsaal überflutete elektrische Sonnenhelle das spiegelnde Parkett, die weißgoldenen Wände, die weißgedeckten Tischchen, die weißen Hemdeinsätze, die bloßen, weißen Schultern, die sich in den Verschlingungen des Tanzes rückwärts bogen. Valutastarke Fremde aus ganz Europa tummelten sich da im Takt. Auch manche deutsche Inflationsgents, in blasierter Bartlosigkeit, das Einglas glitzernd im Antlitz. Berliner Weiblichkeit. Ausländerinnen. Eine hübsche junge Russin mit schwermütigen Augen schlenderte, die Papyros schief zwischen den üppig geschürzten Lippen, auf Bernd zu und schlug ihm lachend auf die Schulter und sagte:

»Nun – ohne Luja?«

»Was wissen Sie denn davon?« frug der junge Deutsche verdutzt.

»Grüßen Sie das Fräulein aus Sebastopol von mir! Von der Filmstatistin Nadeschda Soldaténkowa! Mir verdankt sie ihr Glück. Ich brachte sie draußen im Glashaus mit meiner Freundin, der Winogradowa, zusammen. Durch sie kam Ihre Luja in das Balalaika-Orchester! Tatjana Winogradowa zeigte mir Sie im ›Kolokól‹ und erzählt mir täglich von eurer Liebe! Werden Sie nur hier Ihrer Luja nicht untreu! . . . Ich passe auf!«

Die Soldaténkowa drohte, verständnisinnig blinzelnd, mit der Hand. Ein Chinese in schwarzem Londoner Klubdreß legte die gelben Finger unter ihren ausgiebigen Rückenausschnitt und hoppelte hölzern mit ihr im Foxtrott davon. Dr. Wassilij Islamin hatte inzwischen eines der Tischchen gewählt, die die Tanzfläche im Rund einrahmten. Er hatte Wein bestellt und auch gleich bezahlt. Während er eingoß, sagte er zu dem jungen Mann:

»Darf ich Sie fragen: Was interessiert Sie an einem gleichgültigen Ausländer wie diesem Menschen im ›Kolokól‹!«

»Er bietet mir, in seinen Unternehmungen, eine Lebensstellung an, auf die hin ich heiraten kann! Ich weiß nichts von ihm! Ich höre so Seltsames! Ich will andernteils mein Glück natürlich auch nicht verscherzen . . .«

»Und unter welchen Umständen leben Sie hier in Berlin? Welches ist Ihr Lebensgang? Welchen Rang bekleidet Ihr Vater? Was haben Sie hier für Freunde? Klären Sie mich doch auf! Um so leichter kann ich Ihnen dann wegen dieses Mannes raten . . .«

»Nun – das ist schnell erzählt!« Der blonde Jungmann berichtete. In seinen blauen Augen lag Vertrauen. Der Russe hörte aufmerksam zu. Als der andere geendet, sagte er:

»Nun bin ich im Bilde und werde Sie über Herrn Ssilin informieren! . . . Bitte, keinen Dank, mein Herr!« Er wurde etwas förmlicher. »Ich lebe hier in Deutschland. Ich genieße deutsche Gastfreundschaft. Ich revanchiere mich gern gegenüber einem Deutschen . . . Viel weiß ich ja allerdings von meinem Landsmann nicht . . .«

»Ich dachte, Sie sagten vorhin . . .«

»Vielleicht verwechsle ich ihn auch mit einem andern . . . ich habe manchmal fast den Verdacht . . .«

»Aber . . .«

»Nun – ich werde schon sehen, was sich da, nach so manchem Jahr, noch sagen läßt! Es geht einem so vieles durch den Kopf! Verzeihen Sie einen Augenblick. Ich ließ mein Zigarettenetui im Pelz stecken! Gleich bin ich wieder da!«

Dr. Wassilij Islawin ging hinaus. Der blonde Student blieb sitzen. Vor ihm wirrte der Tanz. Es war heiß. Nervenpeitschend quäkte der Rhythmus des Jazz und verstummte jäh.

Gleich darauf stand die hübsche Nadeschda Soldaténkowa vor Bernds Tischchen. Sie war außer Atem. Das konnte nicht von dem modernen Tanz kommen. Das war die Empörung, die auf ihrem leichtsinnigen, jetzt plötzlich leidenschaftlich ernsten Gesicht loderte.

»Hätte ich das gewußt . . .,« stieß sie hervor, »daß Sie einer von jenen sind . . .«

»Von wem denn?«

». . . Von unsern Todfeinden, die uns alles genommen haben . . . Wie ich da stehe, tauge ich nicht mehr viel – das weiß ich! Aber ich war einmal die ehrbare Frau eines Isprawnik im Twerschen Gouvernement! Jene haben meinen Mann umgebracht und mich hier ins Ausland und ins Elend gejagt . . .«

»Ja – aber wer nur?«

»Mein Gott: Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie da gesessen haben?«

»Mit einem russischen Arzt . . . Wassilij Islawin . . .«

»Ja – so nennt er sich. Er ist auch Arzt! Aber in Wirklichkeit ist es Dr. Iwan Taufwasser – der Vertrauensmann des Kreml – der Bolschewist! . . .«

Der stud. Vollbrecht war aufgesprungen.

»Aber das ahnte ich doch nicht!« sagte er erschrocken. Die hübsche, blasse Russin zuckte mitleidig und mit leisem Wohlgefallen an dem blonden, deutschen Jungmann die Schultern.

»Ja. So sehen Sie auch aus!« sprach sie. »Ihnen glaubt man die Unschuld! Sie steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben! Was wollte er denn von Ihnen?«

»Er ließ sich von mir über mich und meine Lebensverhältnisse erzählen! Dann ging er, sich Zigaretten holen! Ich weiß nicht, wo er bleibt . . .«

»Der Herr hier am Tisch?« Der Kellner hatte die letzten Worte gehört. »Der hat schon vor einiger Zeit das Haus verlassen!«

»Ja – was bedeutet denn das?« Der junge Bernd griff sich an den Kopf.

»Sehr einfach, mein schöner Herr!« Die Soldaténkowa zündete sich eine Papyros an. »Er hat Sie ausgehorcht!«

»Ja aber warum?«

»Offenbar, weil Sie mit einem Menschen – oder mehreren Menschen – in Verbindung stehen, die Herrn Iwan Taufwasser und seinen Leuten verdächtig sind und von ihnen heimlich beobachtet werden! War nicht irgendein Russe in letzter Zeit bei Ihnen oder Sie bei ihm oder sonstwie mit ihm zusammen?«

Und es zuckte durch den Kopf des stud. agr. Vollbrecht. Gestern früh hat mich Serge Ssilin auf meiner Bude aufgesucht! Zwei Tage vorher saß er mit mir abends unter allen Ausländern im »Slaviansky Basar«. Er drückte mir vorhin wieder im »Kolokól« vor allen Gästen die Hand . . .

»Was Sie da sagen – das könnte sein . . .«, sprach er zu der hübschen Nadeschda. Die blies ihm spöttisch den Zigarettenrauch ins Gesicht.

»Nun – und da wollten die Moskauer wissen, was für ein Kind Gottes Sie eigentlich sind . . . Begreifen Sie nun: Man hat Sie ins Verhör genommen, und Sie haben ehrlich geantwortet! Sie waren dumm!«

»Das bin ich immer . . .«, sagte der Student.

»Aber hören Sie meine Warnung!« Jetzt waren die lebenslustigen Züge Nadeschda Soldaténkowas aufrichtig besorgt: »Lassen Sie sich lieber nicht mit dieser roten Welt da drüben ein . . . nicht im Guten und nicht im Bösen . . .«

»Ich will ja gar nicht! . . . Ich bin ein ehrlicher Deutscher!«

». . . da ist Gefahr . . .« Die Soldaténkowa legte ihre Hand auf die Schulter eines Mexikaners und tanzte davon.

 


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