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Flamminio Veraldo verläßt Ostia, um sich auf die Suche nach dem Tode zu machen. Er findet ihn nicht und begegnet schließlich dem Leben, das ihn die Angst kennen lehrt und den Tod kosten läßt.

Ostia ist eine alte unweit von Rom gelegene Stadt. Dort lebte einst, wie das Volk sich erzählt, ein Jüngling namens Flamminio Veraldo, den man eher einfältig und unstät, als seßhaft und bedachtsam nennen konnte. Dieser hatte oftmals sagen hören, daß es in der Welt nichts Schrecklicheres und Grauenhafteres gebe als den finstern unvermeidlichen Tod, weil er auf niemand, sei er nun reich oder arm, Rücksicht nimmt und keinen schont. Dies erfüllte ihn mit großer Verwunderung, und er beschloß, alles daranzusetzen, um zu ergründen und zu sehen, was das eigentlich sei, was von den Sterblichen Tod genannt wird. Er zog sich ein grobes Gewand an, nahm einen starken, wohl mit Eisen beschlagenen Stock aus Kornelkirschenhölz zur Hand und verließ Ostia. Als Flamminio bereits viele Meilen gewandert war, erreichte er eine Straße, in deren Mitte er einen Schuhmacher in seiner Werkstatt sah, der Stiefel und Gamaschen anfertigte und wiewohl er schon eine Menge davon gemacht hatte, sich dennoch abmühte, immer neue herzustellen. Flamminio näherte sich ihm und sagte: »Grüß Gott, Meister!« »Seid willkommen, lieber Sohn!« antwortete der Schuster. »Was macht Ihr da?« fragte ihn der Jüngling. »Ich arbeite und plage mich, um nicht darben zu müssen«, erwiderte der Meister, »und zwar mühe ich mich ab, Stiefel anzufertigen.« »Warum denn aber«, fragte Flamminio, »Ihr habt doch schon so viele, wozu wollt Ihr denn noch mehr?« »Um sie zu tragen, um sie zu meinem und meiner Familie Unterhalt zu verkaufen und um von dem erlösten Gelde zu leben, wenn ich alt bin«, antwortete der Schuster. »Ja und dann? Was wird dann sein?« fragte Flamminio. »Dann heißt's sterben«, entgegnete der Schuster. »Sterben?« wiederholte Flamminio. »Jawohl«, bestätigte der Schuhmacher. »O lieber Meister!« rief da der Jüngling, »könntet Ihr mir wohl sagen, was es mit dem Tode auf sich hat?« »Nein, wahrhaftig nicht!« lautete die Antwort. »Habt Ihr ihn je gesehen?« »Weder habe ich ihn gesehen, noch möchte ich ihn je an mir erleben; denn es ist nur eine Stimme, daß er eine unheimliche, schreckliche Bestie ist.« »Könntet Ihr mir dann wenigstens zeigen oder sagen, wo ich ihn finden kann?« fragte Flamminio, »denn ich streife Tag und Nacht durch Gebirg und Tal und über Gewässer, um ihn zu suchen und vermag keine Nachricht über ihn zu erhalten.« Da antwortete der Schuster: »Ich weiß nicht, wo er haust, noch wo man ihn finden kann, noch wie er aussieht, aber geht nur fürbaß, vielleicht findet Ihr ihn.« So sagte denn Flamminio dem Schuster Lebewohl, setzte seinen Weg fort und kam zu einem dichten schattigen Wald. Diesen betrat er und fand einen Bauern, der eine Menge Brennholz geschlagen hatte und unermüdlich weiter schlug. Sie grüßten einander und Flamminio fragte: »Was willst du mit dem vielen Holz?« »Ich richte es zu, um diesen Winter, wenn es schneit, friert und der böse Nebel kommt, Feuer zu machen, damit ich und meine Kinder uns daran wärmen können, und den Überschuß verkaufe ich, um Brot, Wein, Kleider und andere für das tägliche Leben notwendige Dinge zu kaufen und so das Leben hinzubringen bis zum Tode«, antwortete der Bauer. »O bitt schön«, rief da Flamminio, »könntest du mir nicht sagen, wo ich diesen Tod finden kann?« »Nein, ganz gewiß nicht«, erwiderte der Bauer, »denn ich habe ihn nie gesehen, noch weiß ich, wo er sich aufhält. Ich verbringe den ganzen Tag in diesem Walde und gehe meiner Arbeit nach, und sehr wenig Leute kommen hier vorbei und die wenigsten davon kenne ich.« »Aber wie könnte ich's denn anstellen, ihn zu finden?« fragte Flamminio. »Das könnte ich Euch nicht sagen und noch weniger zeigen, aber wandert nur weiter, – vielleicht stoßt Ihr auf ihn.« Und so verabschiedete sich der Jüngling und ging weiter und wanderte so lange, bis er an einen Ort kam, wo er einen Schneider fand, der viele Gewänder auf den Ständern und ein Gewölbe voll mannigfacher und sehr schöner Kleider hatte. »Gott erhalte Euch, lieber Meister!« begrüßte er ihn. »Euch gleichfalls!« antwortete der Schneider. »Was macht Ihr denn mit diesen schönen und reichen Kleidern und diesen Prunkgewändern, gehören die alle Euch?« fragte ihn Flamminio. »Einige davon sind mein, andere gehören Kaufleuten, wieder andere Herren und einige andern Leuten«, antwortete der Schneider. »Und was machen sie mit so vielen?« fragte der Jüngling. »Sie tragen sie in den verschiedenen Jahreszeiten«, erwiderte der Schneider und er zeigte ihm einige und sagte: »Diese ziehen sie im Sommer, diese im Winter und jene in den Übergangszeiten an und manchmal tragen sie dieses und manchmal das.« »Und dann, was machen sie dann?« fragte Flamminio. »So geht's dann immer weiter bis zum Tode«, erwiderte der Schneider. Als Flamminio den Tod nennen hörte, rief er: »O, mein lieber Meister, könnt Ihr mir wohl sagen, wo dieser Tod zu finden ist?« Da antwortete der Schneider ganz verblüfft und zornig: »Ihr fragt aber seltsame Dinge, lieber Sohn, ich kann Euch weder sagen noch zeigen, wo er zu finden ist, ich denke sogar nie an ihn, und wer mir von ihm spricht, kränkt mich schwer; sprechen wir daher von was anderem oder geht Eurer Wege; denn ich bin ein Feind von derlei Gesprächen.« Und so sagte ihm der Jüngling Lebewohl und ging. Flamminio hatte bereits viele Gegenden durchwandert, als er an einen verlassenen öden Ort kam und dort einen Eremiten mit weißem Bart fand, der infolge der Jahre des Fastens ganz hinfällig und dessen Sinn nur auf fromme Betrachtung gerichtet war. Da dachte er, das sei sicherlich der Tod und sprach zu ihm: »Seid gegrüßt, heiliger Vater!« »Willkommen, lieber Sohn!« erwiderte der Eremit. »O lieber Vater«, fragte darauf Flamminio, »was macht Ihr an diesem gebirgigen und unbewohnbaren Orte, in dieser freudlosen Menschenöde?« »Ich gebe mich«, antwortete der Eremit, »Gebeten, Fastenübungen und frommen Betrachtungen hin.« »Und warum?« fragte Flamminio. »Warum? fragst du, lieber Sohn, – um Gott zu dienen und dieses elende Fleisch zu kasteien und um die vielen Beleidigungen zu büßen, die ich dem ewigen und unsterblichen Gotte und dem wahren Sohne der Maria zugefügt und endlich, um diese sündige Seele zu retten, damit ich sie ihm, wenn die Stunde meines Todes kommt, makellos zurückgeben kann und am furchtbaren Tag des Gerichtes durch die Gnade meines Erlösers, nicht durch meine Verdienste, würdig erkannt werde des seligen hochherrlichen Vaterlandes und dort die Güter des ewigen Lebens genieße, dessen Gott uns alle teilhaftig werden lassen möge!« Da bat Flamminio: »O mein lieber Vater, erklärt mir doch ein wenig, wenn es Euch nicht lästig ist: was hat es eigentlich mit diesem Tod für eine Bewandtnis und wie sieht er aus?« »O mein lieber Sohn«, erwiderte da der fromme Vater, »trachte nicht danach, es zu erfahren; denn er ist etwas Schreckliches und Furchterweckendes und wird daher von den Weisen das Ende der Schmerzen, die Verzweiflung der Glücklichen, die Sehnsucht der Unglücklichen und das gänzliche Aufhören der Dinge dieser Welt genannt. Er scheidet den Freund vom Freunde, den Vater vom Sohn und den Sohn vom Vater, trennt die Mutter von der Tochter und die Tochter von der Mutter, löst das Band der Ehe und scheidet endlich die Seele vom Körper und der von der Seele getrennte Leib vermag sich nicht mehr zu rühren, sondern wird so faul und stinkend, daß alle ihn verlassen und wie etwas Abscheuliches fliehen.« »Habt Ihr ihn je gesehen, Vater?« fragte Flamminio. »O nein!« erwiderte der Eremit. »Aber wie könnte ich es anstellen, um ihn zu schauen?« fragte der Jüngling. »Wenn Ihr ihn zu finden wünscht, mein Sohn«, entgegnete der Alte, »so wandert weiter, dann werdet Ihr auf ihn stoßen; denn je weiter der Mensch auf dieser Welt wandert, desto mehr nähert er sich ihm.« Der Jüngling dankte dem frommen Vater, empfing seinen Segen und setzte seinen Weg fort. Auf seiner Wanderung passierte er viele tiefe Täler, felsige Gebirge und ungastliche Wälder und sah mannigfache und furchterweckende Tiere, die er alle fragte, ob sie der Tod seien. Aber alle antworteten ihm mit nein. Nachdem er nun viele Gegenden durchzogen und viele seltsame Dinge gesehen hatte, gelangte er schließlich zu einem Berge von nicht geringer Höhe, und als er diesen überschritten, stieg er in ein dunkles, sehr tiefes, von hohen Felswänden eingeschlossenes Tal hinunter und sah dort ein unheimliches, ungestaltetes, wildes Tier, das durch sein Gebrüll das ganze Tal widerhallen machte. »Wer bist du? Holla, bist du vielleicht der Tod?« fragte es Flamminio. »Nein, das bin ich nicht«, antwortete das Ungeheuer, »aber wandere weiter, dann wirst du ihn bald finden.« Als Flamminio die ersehnte Antwort vernahm, empfand er lebhafte Freude. Der Arme war infolge der langen Mühsal und der harten Pein, die er erduldet, schon müde und halbtot, als er fast verzweifelnd an eine weite bebaute Ebene kam. Er bestieg einen freundlichen, blumenreichen Hügel von geringer Höhe und als er nach allen Seiten Umschau hielt, erblickte er die gewaltigen Mauern einer wunderschönen Stadt, die nicht weit entfernt lag. Da beschleunigte er seinen Schritt und gelangte in der Abenddämmerung an eines ihrer Tore, das mit feinstem, weißem Marmor geziert war. Mit Erlaubnis des Torwarts betrat er die Stadt, und das erste Wesen, auf das er stieß, war ein uraltes, bleiches Weiblein, das so mager und abgezehrt war, daß man alle Knochen an ihrem Leibe hätte zählen können. Ihre Stirn war runzlig, ihre Augen schielend, tränend und gerötet, daß sie der Farbe des Purpurs ähnelten, ihre Lippen schlaff und hängend, ihre Hände rauh und schwielig, der Kopf wackelnd und die ganze Gestalt zittrig und der Gang schwankend. Dazu hatte sie ein grobes dunkles Gewand an, trug an der linken Seite ein scharfes Schwert und in der rechten Hand einen dicken Stock mit einer eisernen nach Art eines Dreizacks gebildeten Spitze, auf den sie sich manchmal stützte. Auf dem Rücken trug sie einen Riesensack, indem sie Fläschchen, Töpfchen und Apothekerbüchsen voll verschiedener Flüssigkeiten, Salben und Pflaster für alle möglichen Fälle hatte. Kaum hatte Flamminio diese zahnlose, häßliche Alte erblickt, da dachte er, es sei dies der gesuchte Tod und so trat er an sie heran und sprach: »Gott erhalte Euch, liebe Mutter!« »Auch dich behüte und erhalte Gott, mein Sohn«, antwortete ihm die Alte mit heiserer Stimme. »Solltet Ihr vielleicht der Tod sein, liebe Mutter?« fragte Flamminio. »Nein«, erwiderte die Alte, »ich bin vielmehr das Leben, und wisse, daß ich hier in diesem Sack auf meinem Rücken einige Elixiere und Salben habe, mit denen ich auch die größten Wunden, die ein Mensch an sich haben kann, liebreich heile und schließe und die größten Schmerzen, an denen er leiden mag, in ganz kurzer Zeit beseitige.« Da sagte Flamminio: »O meine liebe Mutter, könntet Ihr mir dann zeigen, wo er sich befindet?« »Wer bist du eigentlich, der du mich so dringend fragst?« forschte die Alte. »Ich bin ein junger Mann«, antwortete Flamminio, »der schon viele Tage, Monate und Jahre auf der Suche nach dem Tode ist und nirgends jemand finden konnte, der ihm Aufschluß darüber hätte geben können. Wenn Ihr daher der Tod seid, so sagt es mir, bitte; denn ich sehne mich außerordentlich danach, ihn zu sehen und seine Macht zu erproben, um zu erfahren, ob er wirklich so häßlich und furchtbar ist, wie jedermann behauptet.« Als die Alte die törichte Rede des Jünglings hörte, sagte sie zu ihm: »Wenn es dir recht ist, mein Sohn, werde ich dir zeigen, wie häßlich, und dich erfahren lassen, wie schrecklich er ist.« »O liebe Mutter«, rief da Flamminio, »haltet mich nicht länger hin und laßt ihn mich endlich sehen!« Um ihm den Willen zu tun, ließ die Alte ihn sich nackt ausziehen. Während der Jüngling sich entkleidete, stellte sie einige ihrer für verschiedene Krankheiten geeigneten Pflaster zusammen und als sie das alles vorbereitet hatte, sagte sie zu ihm: »Bück' dich nieder, mein Sohn!« Und er gehorchte und bückte sich. »Beuge den Kopf und schließe die Augen!« befahl die Alte, und er tat also. Kaum hatte sie ausgeredet, da nahm sie das Schwert, das sie an der Seite trug und schlug ihm mit einem Streich den Kopf ab. Dann ergriff sie blitzschnell das Haupt, pflanzte es wieder auf den Rumpf, verklebte die Schnittstelle mit den Pflastern, die sie zurechtgelegt hatte und machte ihn spielend wieder heil und gesund. Aber ich weiß nicht, wie es kam, ob infolge der Hast der Ärztin im Wiederaufsetzen, oder weil List dabei im Spiele war: der Hinterkopf schaute jetzt nach vorn. Als daher Flamminio seine Schulterblätter und Lenden und die dicken nach auswärts gewölbten Hinterbacken sah, die er bisher noch nie erblickt hatte, befiel ihn ein solches Zittern und ein solches Entsetzen, daß er nicht wußte, wohin sich bergen und mit schmerzerfüllter bebender Stimme zu der Alten sagte: »O weh, liebe Mutter! bringt mich wieder in meinen früheren Zustand! Dreht mir den Kopf um Gottes willen wieder um; denn noch nie sah ich etwas Häßlicheres und Schrecklicheres als dies. O, befreit mich aus diesem Unglück, in das ich mich verstrickt sehe, ich flehe Euch an! Zögert nicht länger, liebe, süße Mutter, leiht mir Beistand, ist es doch für Euch ein leichtes!« Die schlaue Alte schwieg und tat fortwährend, als bemerke sie den begangenen Irrtum nicht und ließ ihn jammernd in seinem eigenen Fette schmoren. Endlich, nachdem sie ihn zwei Stunden lang in diesem Zustand gelassen hatte, wollte sie ihn wieder in seinen früheren zurückversetzen. Sie ließ ihn sich abermals bücken, ergriff das haarscharfe Schwert und schlug ihm den Kopf ab, den sie darauf ergriff, richtig auf den Rumpf setzte, mit ihren Pflastern verklebte und so den Jüngling wieder in seine vorige Gestalt zurückkehren ließ. Als Flamminio sah, daß er sein früheres Aussehen wiedergewonnen hatte, zog er seine Kleider wieder an. Nachdem er nun die Furcht kennengelernt und an sich erfahren hatte, wie häßlich und schrecklich der Tod sei, nahm er Abschied von der Alten, kehrte auf dem kürzesten und schnellsten Wege, den er wußte, nach Ostia zurück und suchte fernerhin das Leben und floh den Tod, und richtete sein Sinnen und Trachten auf Besseres, als er bis dahin getan.


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