Otto Stoessl
Menschendämmerung
Otto Stoessl

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Geli Tassai

Bruchstück aus einem Alltagsleben

»Romantik der Banalität« –

»Das ist mein Unglück, daß ich von Wien nicht fortkann, sonst hätte ich es gut in der Welt draußen,« sagte die junge Näherin, indem sie mit ihren langen, schmalen, braunen, gepflegten Fingern ein Stück Stoff unter die Maschine schob. Dann entzündete sie eine Zigarette, im Rauchen begann sie zu treten, und unter dem gleichmäßigen Surren der Räder, zwischen einem Zug und Dampf und dem nächsten, oder beim Abhaspeln oder Einfädeln, oder beim Einklappen des Füßchens erzählte sie weiter, ohne dabei die Arbeit zu lassen. Wenn sie aufblickte und einen voll ansah, erkannte man, wie hübsch sie eigentlich war. Sie hatte den schweren Augenaufschlag der Langbewimperten mit einem gutmütig heiteren, gelassenen dunkeln Blick. Ihr bleiches, bräunliches, wohlgebildetes, ein wenig gepudertes Gesicht, ein richtiges Stadtgesicht, schien mehr zu wissen, als sie selbst wußte mit ihren drei- oder vierundzwanzig Jahren. War sie über ihre Näherei gebückt, so nahm man von ihrem Kopfe nichts als einen zusammengehaltenen schwarzen Haarknoten wahr, der unter einem Sammetbande an die Schläfen je eine glatte schmale Welle hinabließ, hinter der das flüchtige Profil, die ein kleines bißchen eingesattelte, vorne zu breit ausladende Nase und die stets zu einem Lächeln entschlossenen vollen Lippen mit ihren gekräuselten Winkeln wie aus einem Versteck hervorlugten. Beim Lachen zeigte sie die unregelmäßigen, früh angegriffenen Zähne mit den prahlerischen Goldplomben, zeigte aber auch eine unverkümmerte frische Jugend, die bei den Arbeitsgeschöpfen immer wieder überrascht. Übrigens war sie hochgewachsen, schlank, eine schöne Figur und beweglich und gelenkig.

»Vor dem Krieg bin ich viel herumgekommen, wohin ich wollte, und wo ich etwas verdienen konnte, denn arbeiten hab' ich immer müssen, als Kind den ganzen Tag lernen und dazwischen der Mutter helfen in der Küche, beim Geschirrwaschen, Wege machen, einkaufen, besorgen und später erst recht nichts als arbeiten. Und der Mutter muß ich auch jetzt helfen. Bevor ich nähen gehe, hab' ich schon zwei Stunden in der Früh mit ihr beim Zahnarzt aufgeräumt, den sie bedient, Zimmer gebürstet, Teppich geklopft, Staub abgewischt, und wenn ich abends nach Hause komme, muß ich meine zwei Hunde, zwei echte schottische Schäferhunde, spazieren führen, beim Nachtmahl helfen, meine eigenen Sachen flicken und putzen. Es wird immer zwölf, eins, bis ich ins Bett komme. Die Hunde schlafen längst oder sind wieder wach und raufen schon. Um meine Papiere hat sich vor dem Krieg kein Mensch gekümmert. Geht's denn jemand an, gibt mir doch keiner was! Jetzt nimmt einem aber noch jeder was! Das ist das Wahre! Im vorigen Herbst hätte ich einen schönen Vertrag gehabt für die Schweiz als Tänzerin. Tanzen ist feiner als Maschinnähen. Ich habe einen Tanz mit einer Kollegin einstudiert gehabt: sie als Pierrette, ich als Pierrot. Für die männlichen Rollen braucht man große Personen wie mich. Man geht zu einem Tanzprofessor, der erfindet einem schon immer etwas Passendes und Neues, und die Bewegungen studiert man dann zur Musik. Ich tanze sehr gern, aber nicht so besessen wie meine Freundin. Sie ist eigentlich Sprachlehrerin und gar nicht besonders hübsch, aber eine wunderbare Figur und herrliche Beine hat sie. Sie kennt keine andere Freude als Tanzen. Dabei ist sie eine kalte Person und will von den Männern nichts wissen. Das schadet aber einer Tänzerin in den Kaffeehäusern oder Bars. Ich bitte Sie, in den Pausen schicken einem die Leute doch Karten oder winken einen an den Tisch. Da muß man hingehen, nicht wahr? Sich ein bißchen zu ihnen setzen, ein Glas Wein trinken, eine Zigarette rauchen, plaudern oder so. Was weiß ich! Das gehört sich, man braucht sich darum mit den Männern nicht viel abzugeben, aber man darf sie auch nicht vor den Kopf stoßen. Ich bin mit den Gästen immer recht gut ausgekommen. Nach einer Weile steht man auf und empfiehlt sich. Aber meine Kollegin will von der Gesellschaft gar nichts hören, sie will bloß tanzen. Sie kümmert sich auch nicht weiter um ihr Äußeres, was sie trägt, ist ihr gleich, sie hat kein Geld, sich schöne Kleider anzuschaffen, solange sie von ihren Sprachstunden leben muß. Der Bar-Wirt wollte sie überhaupt nicht aufnehmen, weil sie so schäbig war. Er sieht doch die Tänzerinnen vor allem auf ihr Gesicht an, natürlich auch auf ihr Auftreten. Sie aber geht erst auf, wenn sie tanzt; in ihrem Kostüm erst geht sie auf. Dann brennt sie ordentlich! »Lassen Sie sie doch, wenn sie nicht will! Lassen Sie sie nach dem Tanz weg, ich bleibe dafür länger und unterhalte mich mit den Leuten,« hab' ich ihm angetragen. Er hat's aber nicht erlaubt, daß sie nach ihrem Tanz verschwindet, und ich habe ihr in Gottes Namen eine Toilette nähen geholfen. Was soll man tun? Sie haßt die Männer und reizt sie doch irgendwie – mein Gott, dazu ist ja der Tanz – und wenn einer unter dem Tisch ihr Bein berührt, ist sie imstande und gibt ihm eine Ohrfeige. Welcher Wirt duldet solche Auftritte in einem ordentlichen Lokal! Aus ist's mit dem Engagement und sie kann wieder ihre Lektionen suchen. Sie hält's aber ohne Tanzen nicht lang aus, sie versucht's von neuem, sie wird in dem Punkt freilich nie gescheiter und darum wird sie auch nie beim Tanzen bleiben können, trotzdem sie eine wirkliche, richtige Fußspitzentänzerin ist, technisch vollkommen ausgebildet, fast schon von Natur und dann mit aller Übung. Ich kann lange nicht so viel, woher denn auch! Der Fußspitzentanz ist grausam. Man bekommt vorn in den Schuh ein Stück Gips, damit das Gewicht den Zehenstand stützt. Das tut anfangs bei jeder Bewegung furchtbar weh – können Sie sich denken – bis sich die Zehen endlich verhärten. Man gewöhnt es schwer, aber dann sieht es aus, als wenn man fliegen möchte.

Richtig, unser Tanz: Der Pierrot wirbt um die Pierrette. Sie will erst gar nichts von ihm wissen, sie schwebt allein, er im Kreis um sie herum, er bittet, er schmeichelt, das muß man alles richtig ausdrücken, und sie wird allmählich geneigt. Sie tanzen zusammen, endlich hebt er sie hoch auf und wirbelt mit ihr davon. Das macht sich sehr schön. Diese Szene und noch einige andere hätten wir in der Schweiz aufführen sollen, meine Freundin auch noch Solotänze. Aber was nützt das alles: ich habe keinen Paß bekommen. Ich bin nämlich nach Jugoslawien zuständig, das heißt nach Ungarn, oder eigentlich jetzt nach Kroatien, nach dem abgetretenen Gebiet, nach Agram, aber in Wirklichkeit gehöre ich seit dem Krieg nirgends hin. Ich bin nämlich ein uneheliches Kind. Mein Vater war aus Agram und auch meine Mutter kommt von dorther. Ich habe mich beworben, daß sie mich in Agram einschreiben. Sie finden aber nichts in den Matrikeln, haben sie geantwortet. Heute ist meine Mutter nach ihrem Manne zuständig, den sie nach dem Tod meines Vaters geheiratet hat, na, sie lebt halt mit ihm, aber das hilft mir gar nichts, denn ich gehöre ja meinem Vater zu. Eine schöne Wirtschaft, muß man sagen! Überhaupt mein Vater! Hat sich gut aufgeführt! Wie er siebzehn war, ist er mit meiner Mutter zusammengezogen und außer mir sind noch zwei Kinder gekommen, aber Gott sei Dank ist keins am Leben geblieben. Er war lungenkrank und dabei ein Mordslump. Mit meiner Mutter war er jede Weile verzankt wegen seiner Untreue. Bei der Versöhnung, zweimal, hat er ihr wieder ein Kind angehängt. Aber zum Schluß hat er sich weder versöhnt, noch überhaupt um uns gekümmert. Er hat damals eine neue Geliebte gehabt, und wie er im Spital gelegen ist, hat mich meine Mutter hingebracht, damit er mich doch sehen soll, und auch die andere war dort. Er hat uns, aber auch die andere verleugnet. Es war ihm wohl vor den Spitalschwestern nicht angenehm. Er kennt uns gar nicht. Meine Mutter ist nicht seine Frau, sagt er. Er dreht sich zur Wand um. Aber meine Mama läßt sich nichts gefallen. Oho! schupft sie den Kopf und hält mich in meinen Deckerl in die Höh': »Ich bin nicht die richtige Frau? Möglich! Aber das ist schon das richtige Kind!« Beim Leichenbegängnis hat sich seine Mutter, auch so eine Wilde, vor Verzweiflung nicht halten können. Sie reißt mich meiner Mama weg und hebt mich – in Windeln und Steckpolster – hinauf, als möchte sie mich ihm gleich in die Erde nachwerfen: »Die da soll auch nicht leben.« Meine Mama hat mich ihr weggerissen, können Sie sich denken, und so haben sie fast gerauft und dann geweint, wie es halt so gekommen ist, was weiß ich! Also, kurz und gut, ich habe keine Papiere, und ohne Urkunde nehmen sie mich nirgends auf. Auch hier in Wien nicht, wo wir schon zwanzig Jahre leben. Meine Mutter hat jetzt einen Eisendreher, der hat sie schon geliebt, bevor sie meinen Vater hatte, und nachher hat er sie in Gottes Namen mitsamt dem Kind genommen. Er ist auch sehr gut zu mir, überhaupt ist er ein anständiger Mensch, nur ein bisserl wunderlich, er will bloß Ruhe haben, niemand darf zu ihm sprechen, meine Mutter darf ihn nicht berühren, nicht einmal zufällig, er lebt mit uns, aber ganz allein. Weiß ich, warum er eigentlich mit der Mama lebt? Es gibt solche Männer. Meine Mutter ist mit mir viel strenger als er. Oft muß er mich vor ihr schützen. Sie ist sehr jähzornig, ein Wort bringt sie oft in Wut. Sie kann sich nicht daran gewöhnen, daß ich doch schon erwachsen bin, und wenn sie über irgend etwas böse wird, schlägt sie mich, wie man ein kleines Kind wichst. Noch heute setzt's Ohrfeigen genug! Sie meint's nicht so arg, aber sie sagt immer: man muß streng sein, sonst arten die Kinder aus, und meinem Verehrer sagt sie vor mir, ich bitte Sie – er soll mich nur schlagen, wenn ich ihm nicht folge. Das könnte mir noch gerade fehlen. Da schlage schon eher ich! Aber sie ist doch eine gute Person und hat mich sehr lieb. Sie hat viele Opfer für mich gebracht und mich immer ordentlich erhalten und erzogen. In Wien verlangt man für die Zuständigkeit diese elenden Papiere, so wird's ewig nichts damit. Heiraten geht eher, darum will ich, daß mich mein Verehrer heiratet, der ist ein Wiener, dann bin ich frei, bin nach Wien zuständig, kann jederzeit einen Paß bekommen und fort, wohin ich will. Aber dem paßt's wieder ganz gut, daß ich hier eingesperrt bin, denn er möchte lieber so mit mir leben. Das ist einfacher, bequemer, natürlich! bevor man sich bindet, muß man eine Frau erst kennen lernen, sagt er, und das kann man nur, wenn man mit ihr lebt. Ausprobieren wie ein Kleid! Und dazu ist er noch so eifersüchtig, als wenn er mich gekauft hätte. Kommt er mir auf was, sagt er, so schüttet er mich mit Vitriol an, daß mir der Spaß vergeht. Untreue! Untreue! Ich gebe nichts auf die Männer, aber zwingen laß ich mich schon gar nicht. Er soll mich erst ordentlich halten wie eine Frau! Aber er zieht die Sache herum, bis mir einmal die Geduld ausgeht, oder bis ich was Besseres finde. Ich steh' nicht auf ihn an. Er eifert mir zu viel. Warum auch gerade er? Den Sommer probier' ich's noch mit ihm. Er ist Photograph. Kein gelernter, wissen Sie! Er hat reiche Eltern gehabt, die haben ihn verwöhnt. So hat er nichts Ordentliches gelernt, der Strick, aber solange die Eltern gelebt haben, immer gut gegessen und getrunken und alles gekauft und getrieben, was ihm Spaß macht. Nun, da war er auch Amateur. Im Krieg hat er sich damit gut durchgeschwindelt. Alle Offiziere hat er aufgenommen und ihre Weiber und hat sich wirklich, wie man sagt, bei allen ein »Bildel« eingelegt. Er hat sich ganz durch den Krieg durchgeschwindelt. Und jetzt nützt ihm der Apparat. Er braucht nichts anderes. Er stellt sich auf, wo viele Leute hinkommen oder vorübergehen, zum Beispiel im Prater vor dem dritten Caféhaus, oder in der Freudenau vor dem Rennen oder in Maria Taferl vor der Wallfahrtskirche oder so, und er schickt auch ein paar Agenten herum, mit denen er sich teilt. Die sprechen die Leute an. Kommt ein Automobil, so kann man die Herrschaften aufnehmen. Oder einen eleganten Hund, den man hineinsetzt. Das gibt ein sehr spaßiges Bild. Oder eine Hochzeitsgesellschaft oder einen Heurigentisch, was es halt für Gelegenheiten gibt. Er verlangt eine Angabe und dann macht er das Bild. Er ist sehr anständig. Nur wenn die Aufnahme gefällt, verlangt er den ganzen Rest, sonst behält er nur die Angabe. Wenn die Leute ordentlich verdienen und Geld haben, geht das Geschäft recht gut. Er selber muß freilich auch aufhauen und bei den Wirten Zechen machen, damit sie ihm helfen. Darum trinkt er überhaupt so viel. Was weiß ich. Im Sommer grast er einen Kurort ab oder mehrere. Ich werde ihm beim Entwickeln helfen. Ist er dann nett mit mir, na, meinetwegen, in Gottes Namen, aber wenn nicht, dann viel lieber nicht. Er ist der letzte, auf den ich fliege, trotzdem er nicht übel aussieht: groß, weiße Haut, gutmütig, solange es nach seinem Sinn geht. Überhaupt die Männer, sie können mir gestohlen werden, man findet immer wieder einen, das wäre das wenigste! Ich möchte tanzen! Mit dem Maniküren und Violinunterrichten geht es ja nicht auf die Dauer. Das Nähen ist auch nicht das Schönste. So gebückt dasitzen den ganzen Tag! Ich habe genug gelernt und angefangen. Immer war die Mama dahinter. Schon als Kind habe ich mich plagen müssen, jeden Tag mit etwas anderem. Einmal hat sie in der Operette einen Chor gehört, der ihr gefallen hat. Gleich hat sie mich in eine Chorschule gesteckt, damit ich singen lerne. Nach der Volksschule habe ich geigen angefangen, leider nicht fertig, es war doch zu teuer, aber bis zur fünften Lage bin ich gekommen und jetzt gebe ich Stunden. Ich habe auch meinen Stiefvater soweit unterrichtet. Wenn er einmal ohne Arbeit ist, trete ich ihm meine Lektionen ab. Er ist sehr musikalisch und hat überhaupt sehr geschickte Finger. Aber jetzt sind die Zeiten zu schlecht, nur für das Flicken und aus alten Sachen neue machen, haben die Leute Geld – so muß ich in den Häusern arbeiten. Vielleicht, wenn ich als Näherin einen regelmäßigen Erwerb nachweisen kann, macht mich die Gemeinde doch zuständig, und dann plagt er mich weniger mit seiner Eifersucht. Als wenn das Hausnähen ein Hindernis wäre!

Zufällig hat mich gestern wieder einer angesprochen, wie ich auf die Tramway gewartet hab', ihm hat's zu lang gedauert, er winkt ein Auto und ladet mich ein und bringt mich hierher. Am Abend erwartet mich mein Verehrer mit Vorwürfen, er schläft die Nächte nicht mehr vor Aufregung, bei Tag kann er nicht mehr arbeiten, weil ich so bin. Ich bin gar nicht – das heißt er: so sein. Jeder will mich abhalten, mich mit Gewalt beschützen, lauter Vorsichten und Ängste! Was hilft's, wenn ein Mädel doch Geld verdienen muß! Arme Leute dürfen sich vor nichts grausen. Der Bauer muß auch den Mist anrühren. Meine Mutter wird das nie einsehen und glaubt, sie kann mich noch heute behüten und erziehen. Was ich alles erfahren muß, das ist ihr einerlei. Da macht sie die Augen zu und glaubt, es ist nicht auf der Welt. Aber was sie sich unnütz einbildet, das wirft sie mir in den Weg. Sie tut mit mir wie mit einer Prinzessin. Aber die Prinzessin darf Schweine hüten. Komisch sind die Menschen, was? Wie ich dreizehn alt war, hat ihre Angst angefangen. Mit keinem Manne gehn! Keine Berührung dulden! Nicht einmal reden! Um Gottes willen! Nur keinen Kuß! Das ist das Ärgste. Davon bekommt man ein Kind. Der Bauch wird einem aufgeschnitten, fürchterliche Schmerzen muß man ausstehen und so weiter. Ich Afferl hab ihr natürlich alles aufs Wort geglaubt mit meinen dreizehn Jahren und hab mich in acht genommen wie vor dem Teufel. Nett war ich immer angezogen, hübsch für mein Alter, auch ganz gut gebaut, fast schon so groß wie heute. Nachmittags, im Frühjahr, bin ich spazieren gegangen, mit Freundinnen, aber auch allein, selbstverständlich, die Mama hat mich nicht von ihrer Arbeit weg begleiten und ausführen können. Man muß doch ins Freie kommen. So hat sie mich mächtig gewarnt und angepredigt und dann hab' ich in Gottes Namen gehen dürfen. Am liebsten in den Stadtpark wegen der vielen schönen Toiletten. Dabei unterhält man sich und lernt auch selber was. Einmal hab' ich mich auf einer Bank beim »Donauweibchen« ausgeruht. Neben mir sitzt ein Offizier ganz prächtig, macht mir freundliche Augen. Ich schaue zurück und lach'. Was ist dabei? Nun, es ergibt sich ein Gespräch. Man muß doch antworten. Ich bin ohnehin bald aufgestanden. Er fragt, ob er mich begleiten darf. Er geht mit mir. Davon bekommt man gewiß noch kein Kind. So viel hab' ich schon verstanden. An einem anderen Abend sitzen wir wieder auf der Bank. Er rückt ein bißchen näher zu mir, ich weiche aus bis an die Seitenlehne. Wie ich nicht mehr weiterrücken kann, umarmt er mich auf einmal und will mich küssen. Da hat er schon eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Er weiß nicht, was er sagen soll. Er zieht sich zurück. Er lacht, als ob es nur ein Witz gewesen wäre, zuerst bittersüß, dann immer süßer, er war nicht einmal bös'. Er hat mich später noch manchesmal gesehen und immer freundlich gegrüßt und angelacht, aber gesprochen haben wir nicht mehr miteinander. Ich habe mich damals sehr geschämt, und er hat vielleicht Respekt vor mir gehabt, wenn er mich auch gewiß eine dumme Gans geheißen hat. Um diese Zeit habe ich meinem Onkel in seinem Friseurgeschäft geholfen. Er hat es ohne Gehilfen versorgt, und weil ihm die Arbeit doch zu viel war, hat er mich zum Einseifen angelernt. Dafür hat er mir auch das Frisieren und Maniküren beigebracht. Meine weichen Patscherln haben sich die Herren ganz gern auf den Wangen gefallen gelassen. Ich habe gute Trinkgelder bekommen. Da war immer auch ein junger Bursch unter den Stammkunden, der mir schon längst nachgestiegen war und liebe Augen gemacht hat, der ist jeden Tag zum Rasieren erschienen. Er hat's wirklich noch nicht gebraucht mit seinem Milchgesicht. Aber ich hab' den eingeseift wie jeden andern. Abends wenn wir geschlossen hatten, war er auch pünktlich da, hat mich an der Ecke erwartet und wir sind miteinander spazieren gegangen. Er war Lehrling bei einem Feinmechaniker und hatte sogar schon einen ganz hübschen Verdienst. Er war lieb zu mir. So zärtlich hat er mich angeschaut! Ich habe mich gern mit ihm unterhalten, man hat bei ihm gar nichts Schlechtes denken können, er war unschuldig wie ich, vielleicht, o ja, noch unschuldiger. Aber um so erfahrener hat er sich aufgespielt. Er hat mir viel gute Lehren gegeben. Ich soll nur ja mit niemand in ein fremdes Haus gehen, auch nicht mit Damen, die mich freundlich einladen. Ich soll mich auf keine Bekanntschaften einlassen – die seinige natürlich ausgenommen – alle Gefahren hat er mir beschrieben, von denen er gewußt hat, und vielleicht habe ich schon mehr davon gewußt als er. Zu Hause soll ich ja nichts naschen und den Eltern kein Geld aus der Lade stehlen, damit ich nicht in die Besserungsanstalt komme. Daran hätte ich wieder nicht gedacht. So haben wir uns recht gut vertragen. Einmal in einer dunkeln, stillen Gasse bittet er mich recht innig und anständig um einen Kuß. »Nein, lieber Fritz, nur das nicht! Was nützt es! Wenn ich mich von Ihnen küssen lasse, so merkt's doch die Mama gleich zu Haus, und ich habe den ärgsten Verdruß, weil ich ihr was verheimlichen will. Spazierengehen, meinetwegen, das sieht sie mir nicht an. Aber nur keine Heimlichkeiten.« »Gut, wenn Sie mir keinen Kuß geben dürfen, Fräulein Geli, so müssen wir was anderes unternehmen.« Ich habe nicht verstanden, was er damit meint, er ist mit mir nach Hause gegangen, hat sich nicht abhalten lassen, ich habe gezittert und geweint, ihn hat das gar nicht gerührt, er hat mich nur stolz angelacht. Er tritt mit mir ein. Die Mama schaut ihn groß an, er macht ein Buckerl, er bittet um die Hand des Fräulein Tochter. Wir sollen uns mit Erlaubnis verloben. Jetzt stellen Sie sich meine Mama vor. Sie kommt in die größte Wut, ganz rot im Gesicht: sie dankt für die Ehre. Was fällt ihm denn ein? Ob er sie verhöhnen will, ob er sich einen Spaß mit uns erlaubt? Was er sich von mir denkt? Der arme Fritz ist leichenblaß. Solche Kinder wollen Mann und Frau spielen! Die Geli mit fünfzehn und der Herr mit den ernsten Absichten mit sechzehn Jahren? Was sollte daraus werden! Verloben? Sonst hat er keine Schmerzen? Er möchte nur brav weiterlernen und ordentlich arbeiten, empfehle mich sehr, habe die Ehre! Damit steht sie auf und winkt ihm einen Abschied. Dem armen Teufel hat es die Rede verschlagen, er bringt kein Wort mehr heraus, langsam geht er rückwärts und schaut mich dabei an, bis er zur Tür draußen ist. Ich habe wohl auch ein dummes Gesicht gemacht, und dann hat sie gegen mich losgelegt. So schaut meine Erziehung und mein Gehorsam aus! Auf solche Dinge hätte ich meine Gedanken, statt auf meine Arbeit! Noch einmal sollte sie so was hören! Dabei macht sie eine Bewegung, so von rechts nach links, mit ihrer rechten Hand. Nicht einmal zu weinen hab' ich mich getraut, solange sie im Zimmer war. Eine Woche hat sie mich nicht angeschaut, kein Wort zu mir geredet. Am ganzen Leib hab' ich gezittert, wenn sie so stumm umeinandergegangen ist. Zum Friseur hab' ich natürlich nicht mehr dürfen. Den Fritz hab' ich dann auch nur mehr sehr selten gesehen, bloß ganz von weitem und dann hab' ich mich kaum hinzuschauen getraut. Wie der Krieg ausgebrochen ist, hat er einrücken müssen. Das hat er mich noch wissen lassen. Damit war die Geschichte zu Ende, ohne Abschied, ohne alles.

Daß es aber mit der Liebe und mit den Männern anders aussieht, und daß man sich schon darum kümmern muß als junges Mädel, das hab' ich schließlich ohne meine Mama selbst gelernt. Man interessiert sich immerhin dafür. Den Fritz aber hab' ich gestern wiedergesehen. Denken Sie sich. Nichts ist ihm im Krieg geschehen. Groß und stark ist er geworden. Ich war mit meinem Verehrer im Gasthaus Nachtmahl essen. Mein Herr Fritz sitzt uns gegenüber mit einem Frauenzimmer. Nun, sie war nichts Besonderes, aber er sieht sehr erwachsen und männlich aus, elegant. Schöne Goldzähne hat er, englischen Schnurrbart, er hat mich immerfort fixiert, ich hab' ihm gut gefallen, vielleicht ebenso gut wie damals. Aber er erkennt mich nicht.

Bald nach dieser Geschichte habe ich wieder einen Erwerb gesucht. Ich habe mit einer Freundin den »Kleinen Anzeiger« in der Zeitung studiert. Da war eine Annonce: Kopfmodell gesucht. Das hat mich interessiert. Die Freundin war bucklig. Sie hat zwar ein ganz hübsches Gesichterl gehabt, aber daß sie als Modell nicht zu brauchen war, konnte ich mir gleich denken. Aber es war ganz gut, daß sie mich hinbegleitet, damit ich nicht allein zu dem Maler ins Atelier muß. Meine Mama war auch einverstanden; ein Kopfmodell, das geht schon! Geld haben wir auch gebraucht. Also muß man nehmen, was es gerade gibt. Wir zwei kommen hin. Es war in einer großen Villa in Grinzing: schöne Teppiche, Waffen, Bilder. Eine ältere Dame mit grauen Haaren empfängt uns und schaut uns an und ist freundlich mit uns. Dann führt sie uns in das Atelier. Der Maler ist auch schon ein älterer Mann, sein Schnurrbart war schwarz gefärbt. Er schickt meine Freundin höflich fort, aber mich kann er brauchen. Ich bin dann jeden Tag hingegangen, er hat mich gut bezahlt und anständig behandelt. Er hat kein unrechtes Wort zu mir gesagt und auch die Frau war lieb zu mir. Nur hat die Geschichte wieder nicht lange gedauert. Eines Tages sagt er, er will ans Meer, nach Dalmatien reisen, jedenfalls nach dem Süden und möchte mich mitnehmen. Es sollte mir an nichts fehlen. Er und seine Frau werden mich wie ihre Tochter behandeln, aber er braucht mich als Aktmodell. Ich wäre gern mitgegangen. Ich hätte mich nicht gefürchtet. Ich hätte ein Stück Welt gesehen, ich wäre gut verpflegt und aufgehoben gewesen, bezahlt auch noch, es waren anständige Leute, nichts wäre mir geschehen und vielleicht wollten sie dem Krieg aus dem Wege gehen, denn sie waren gewiß sehr reich. Aber das hat meine Mama nicht mehr erlaubt. Aktmodell! Ich bitte Sie! Als ob er mir hätte etwas wegschauen können! So bin ich eben leider noch in Wien geblieben. Da ist es nun von Tag zu Tag schlechter gegangen. Das können Sie sich denken. Nichts als Hunger. Kein Geld! Keine Arbeit, keine Verwandten oder Bekannten, die uns hätten helfen können. Alle haben selbst gehungert. Endlich kommt meine Mama auf die Idee, ich soll in die Heimat, nach Agram, fahren. Dort lebt noch die Großmutter, die Mutter meines Vaters, bei der könnte ich gewiß wohnen, in Ungarn gibt's Lebensmittel genug, dort braucht niemand zu hungern, und wo es Brot gibt, da gibt's auch Arbeit. So bin ich gleich hingefahren. Meine Großmutter hat mich richtig aufgenommen. Erst hab' ich im Theaterchor gesungen, dann war ich Näherin in Häusern, zusammen mit einer Kusine, die auch bei der Großmutter gewohnt hat. Eine Vermittlerin hat uns Arbeit verschafft. Einmal gibt sie uns eine Adresse in eine Villa, eine Stunde weit weg von der Stadt. Dort sollen Ballkleider und ganze Ausstattungen für Damen gemacht werden. Arbeit für ein paar Wochen, Kost und Quartier und recht anständigen Lohn. Wir haben uns also auf den Weg gemacht. Eine sichere Arbeit für lange Zeit war damals schon eine recht gute Sache. Da wir die Gegend nicht kannten, mußten wir uns oft nach dem Wege erkundigen. Ein Herr, an den wir uns wandten, fragte erstaunt: Was haben die Damen denn dort zu tun? Wir sollen dort arbeiten. Er zuckt die Achseln und beschreibt uns den Weg. Endlich kommen wir in eine ganz einsame Gegend: Felder, kleines Gehölz, an der staubigen Landstraße nur mehr einzelne Häuser. Eine Herrschaftsvilla mitten in einem großen Garten. Ein Portier läßt uns ein. Im Garten ging es recht munter zu. Auf einer Bank sitzt eine Dame in einem ganz leichten roten Gewand, wie ein Hemd, und kämmt ungeniert ihr schönes, langes, blondes Haar und lacht uns dabei an. Andere Damen sind paarweis untergefaßt gegangen mit Lachen und Singen. Vom Fenster haben welche heruntergeschaut und gewunken und denen im Garten unten zugerufen, andere haben sich vor dem Spiegel geschminkt und das Haar gebrannt und gewickelt und die alten Papilloten hinuntergeworfen. Im Haus ist uns gleich die Dame entgegengekommen und hat uns begrüßt. Aus den Türen – im Vorzimmer waren lauter Türen – gucken zerzauste Köpfe, lachen, tuscheln, fragen, die Dame schreit sie auf ungarisch an, da schlagen die Türen zu. Krach! Uns führt man in ein lichtes geräumiges Arbeitszimmer, gibt uns schöne Stoffe, zwei vorzügliche Nähmaschinen stehen da. Kleider für viele Personen in allen Größen waren zu machen. Dann sind die Damen zum Probieren gekommen, und es hat sich herausgestellt, was für ein Haus es war. Es ist in seiner Art dort ganz ordentlich und anständig hergegangen. Uns hat niemand belästigt. Die Mädchen haben sich über uns gefreut, daß endlich jemand Unbekannter, Neuer da war, mit dem man sprechen konnte. Sie haben uns allerhand erzählt. Manche waren lustig, manche waren traurig, manchen war alles eins. Sie haben zum Verdienen schauen müssen und von ihrem Geld dem Hausherrn für Kost und Wohnung, für Kleider, Wäsche und Bedienung recht viel abliefern. Das übrige hat ihnen gehört, und jede hätte sich schon was ersparen und eines Tages weggehen können, wenn es ihr gar nicht mehr gepaßt hätte. Keine war gefangen, keine ist gezwungen hingekommen, im Gegenteil, man hat sie hingebracht oder sie haben sich angeboten und sind nur nach einer Prüfung aufgenommen worden. Auch zum Trinken hat man sie nicht gezwungen, sie mußten bloß am Abend, bei Nacht im Salon sein, mit den Gästen plaudern, tanzen. Viele haben dort auch ihre Liebhaber empfangen. Den Hausherrn habe ich oft mit einer zanken hören, daß sie zu wenig verdient. Welche werden immer von demselben Herrn besucht und manche heiratet ihn, wenn er sie lange und gut genug kennt. Eine war recht traurig, eine junge Adlige aus einer sehr bekannten Familie. Der Verführer, ein Offizier, hatte sie selbst hier untergebracht. Sie hat mir alles erzählt. Ich habe sie gefragt, warum sie nicht von hier fortgeht. Sie antwortet: gelernt hat sie nichts, womit soll sie sich ihr Brot verdienen, harte Arbeit kann sie nicht leisten, wenn sie geht, bleibt ihr auch wo anders nichts anderes übrig.

Wir haben in Wien eine Bekannte, schon vierzig Jahre alt, noch heute eine schöne Person, die ist als ganz junges Mädchen aus Passion in ein solches Haus gegangen, wegen der Männer. Von dort hat sie einer weggeheiratet. Sie hat's aber weiter getrieben. Er hat sich müssen von ihr scheiden lassen. Ein zweiter heiratet sie, der selbst ein solches Haus führt. Sie hätte sollen als anständige Frau das Geschäft beaufsichtigen. Statt dessen hat sie es ärger getrieben, als ihre Mädel. Eines Tages aber war es aus. »Nie mehr,« sagt sie, geht davon, kommt nach Wien – sie war in Ungarn zu Hause gewesen – sie macht einen Gemüsestand auf und will von keinem Mann mehr etwas wissen. Lieber einen Strick um den Hals. »Nur keine Männer, Gela,« sagt sie mir immer. – Vier Jahre war ich in Agram, bis zu Ende des Krieges. Ich habe bei meiner Großmutter gewohnt. Die war ein merkwürdiger Teufel. Sie hat mich gern gehabt und bewundert. Bei Nacht hat sie mir im Schlaf die Haare aufgelöst und ausgebreitet und Blumen dareingesteckt. Dabei war sie aber streng und oft wild mit mir, und wie ich von der Näherei in dem gewissen Hause zurückgekommen bin, hat sie mich eine dumme Gans geheißen, weil ich nicht dort geblieben und selbst zu diesem Geschäft gegangen bin. Ich hätte das beste Leben gehabt, viel Geld, keine Sorgen, Verwöhnung und so weiter. Sie war wohl sehr arm und deshalb mag ihr dieser Erwerb ohne Plage schon recht gut vorgekommen sein. Auch eine Kusine hat noch bei uns in dem Zimmer gewohnt mit ihrem kleinen Kind. Ihr Mann war im Feld, dann gefangen, sie wußte nicht, ob er noch lebte, und mußte sich und den Wurm erhalten. Solange der Krieg dauerte, haben wir uns durchgefrettet, damals ist noch die Großmutter gestorben und beim Umsturz waren wir zwei Frauen allein ohne Arbeit, ohne Geld. Was sollten wir jetzt anfangen? Ich hörte, daß Leute mit Schmuggeln Geld verdienen. Es sollte nicht gar zu schwer sein. Die Grenzen waren noch nicht sicher, jedenfalls – hieß es – nicht vollständig bewacht, man konnte schon durchkommen, wenn man nicht zu unvorsichtig war. In Ungarn sollte es nahe der Grenze zu mäßigen Preisen Leinwand geben, die in Kroatien sehr gebraucht und gut bezahlt wurde. Wir kaufen also drüben mit unserm letzten Geld ein Stück gute Hauswebe, wir teilen sie. Jede wickelt sich zwanzig Meter um den Leib, sehr eng unter dem Rock, damit man nichts bemerkt. Mager waren wir ohnehin. Es hat wie ein Panzer oder wie ein Mieder gedrückt. In der kleinen Stadt, wo wir die Leinwand loswerden wollten, sind wir schön angekommen. Alle Juden waren schon damit versehen. Leinen? fragen sie, wozu Leinen? Saccharin hätten sie brauchen können. Kann man mit Leinen den Kaffee zuckern? Verzweifelt schleppen wir uns herum. Wir haben nur noch Geld für diesen einen Tag. Meine Kusine trägt noch das Kind und wenn es trinken will, hat sie die größte Not, sich aufzuwickeln. Endlich hat uns ein Jud', der uns schon am Vormittag abgewiesen, aber auf die Leinwand spekuliert hat, am Abend um Gottes willen weniger dafür gegeben, als sie uns gekostet hat, und wir durften noch froh sein, daß wir sie überhaupt angebracht hatten. Fahrgeld, Übernachten, Essen abgerechnet, sind wir zum Schluß mit einem Viertel des Geldes nach Agram zurückgekommen, das wir vorher gehabt hatten. Feines Geschäft! Damals war ich mit Paul verlobt, das war noch mein Glück, sonst wäre ich verhungert oder zugrunde gegangen, er hat uns gern geliehen, so konnten wir etwas Neues suchen. Der Paul war ein hübscher Mann, jung, Bezirkskommissär oder so etwas bei der politischen Behörde, schlank, elegant, gut angezogen, aus einer angesehenen Familie. Er hatte mich kennen gelernt, er liebte mich leidenschaftlich, er könnte ohne mich nicht leben, sagte er. Er war eifersüchtig auf mich, er zitterte, jemand könnte mich ihm wegnehmen, dabei hat er nichts von mir gehabt, als höchstens ein paar Küsse und auch die nur nach einem verzweifelten Bitten und Neinsagen. Ich hab' mich gewehrt wie gegen das Messer. Vielleicht, weil ich ihn auch gern gehabt habe, weil ich wollte, daß er etwas von mir hält, weil ich so ganz allein dort war, weil ich mich an meine Mama erinnert habe oder bloß aus Dummheit, Gott, was weiß ich. Gerade, weil er mir gepaßt hätte. Also er hat mir Geld gegeben, ich habe es zwar nicht annehmen wollen, aber die Not war groß, meine Kusine hatte das Kind, wir wollten doch leben und hofften, wieder zu verdienen. Mit diesem Geld wollten wir bosnischen Tabak schmuggeln. Dafür haben wir uns eigene Hosen genäht, zwei übereinander. Dazwischen würde man die schmalen Schachteln einlassen. Natürlich mußte man so erst gehen lernen, sonst merkt man das Gewicht gerade bei den Knien. Der Schmuggel ist auch nicht besser geraten, als der mit der Leinwand. Die Zigaretten hat man nicht gemerkt, aber wegen einer Quarantäne mußten wir für ärztliche Untersuchung und Grenzaufenthalt allen Nutzen hergeben, den wir vom Verkauf der Ware erwarteten. Alles haben wir versucht. So habe ich mich in Agram durchgeschlagen, verlobt wie ein Fräulein, aber hundsmiserabel mit Arbeiten, Arbeitsuchen, mit Angst um den Verdienst und ewigen Schwierigkeiten. Tausend Verlegenheiten hab ich ja dem Paul verheimlicht, oder ihm einen blauen Dunst vorgelogen, damit er mich nicht verachtet, denn Armut ist eine Schande, man kann sagen, was man will.

Eines Tages klopft es an meiner Tür. Wer tritt ein? Meine Mama. Vier Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Sie hat's ohne mich nicht mehr aushalten können. Wir haben uns umarmt und geweint, eine Stunde lang. Sie wäre schon längst gekommen, wenn sie Geld aufgebracht hätte. Seit Monaten hatte sie keine Nachricht von mir. Alle Briefe sind verloren gegangen. Sie dachte daran, ob man mich nicht per Schub nach Wien zurückbringen lassen könnte, zuständig war ich ja nicht in Agram, minderjährig auch noch. Wenn mich die Mutter verlangte, konnte man mich vielleicht hier ausweisen. Die Wiener Polizei gab die Auskunft, man könnte mich schon von Agram verlangen, aber dann käme ich von einer Schubstation zur andern und müßte immer solange warten, bis wieder genug Material für die Weiterbeförderung beisammen ist. Dieses Warten im Arrest müßte aber bezahlt werden, von den Flöhen und Läusen gar nicht zu reden. Das kam wiederum meiner Mutter zu hoch und sie hat darauf verzichtet. In der letzten Zeit, als die Briefe ausblieben, wurde es ihr ganz unheimlich um mich, überall Soldaten, Umsturz überall, Schießerei, Grenzstreitigkeiten, Durcheinander. Nicht einmal, ob ich noch am Leben war, hat sie gewußt. Endlich wollte sie mich selbst suchen. Sie sehnte sich nach mir. Monatelang hatte sie bei Nacht nicht mehr geschlafen aus Angst um mich. Was konnte mir alles passiert sein! Sie hatte eine Photographie im Kabinettformat von mir, wie ich vor vier Jahren ausgesehen hatte, eben erwachsen. Die ließ sie vergrößern und hing sie in einem schönen Rahmen über ihrem Bett auf, genau gegenüber dem Spiegel an der andern Wand. So konnte sie mich bei Tag entweder im Bilde oder im Spiegel sehen, wo immer sie im Zimmer war. Und bei Nacht machte sie Licht, so oft sie erwachte, und suchte mich über ihrem Bett oder drüben im Spiegel. Jetzt war sie endlich glücklich bei mir. Arm wie ich, hatte sie ihre Wirtschaft, ihren Erwerb, den Mann, das Haus verlassen müssen, um herzukommen. Lange hatte sie aufs Reisegeld gespart, auch mit dem Paß lauter Scherereien, bis alles so weit beisammen war. Der Paß lautete nur auf wenige Tage. Jetzt wollte sie mich abholen und gleich mitnehmen. Sie konnte doch ohne mich nicht länger leben. In Wien würde alles gleich besser gehen, wir würden beide verdienen. Es gab immer etwas, dort waren wir doch zu Hause. Ich müßte mit ihr zurück und gleich, denn zum Bleiben und Warten reiche der Paß und das Geld nicht. Wenn Sie meine Mama sehen möchten, würden Sie nicht glauben, daß sie eine Arbeiterfrau ist, eine Bedienerin oder Wäscherin. Sie sieht gut aus, wie meine ältere Schwester, keiner möchte sie für meine Mutter halten. Sie hat auch schöne Kleider, Ringe, Uhr und Kette, so kam sie daher wie eine Dame. Und dann drückt sie sich auch gut aus, ganz nach der Schrift. Sie schimpft mich immer aus, daß ich so nachlässig rede. Sie spricht genau wie ein Buch. In ihrem Koffer hatte sie mir allerhand mitgebracht, was mir hier vielleicht fehlte. Es war schon gut, sie wieder zu haben: das Weinen, das Lachen, das Erzählen, das Fragen, das Antworten! Ja, aber fortgehen von hier! Ich war verlegen. Ich wollte anfangs nicht mit der Sprache heraus. Aber wenn meine Mama fragt, kann ich ihr nichts verbergen, sie sieht es mir am Gesicht an. Also kommt gleich die Geschichte mit dem Paul heraus. Ich bin verlobt. Die Mama macht große Augen. Ich kann mir denken, was sie sich denkt. Nichts ist geschehen! Nichts! Nun, sie kann es meinem Gesicht glauben, also gibt's ja weiter keine Schwierigkeiten. Nach Wien mit uns! Aber was wird der Paul sagen? Ich traue mich gar nicht vorzubringen, daß ich ihn gern habe, in dem Augenblick war er mir ja auch wirklich weniger wichtig. Sie hatte mehr ausgestanden um mich. Zu ihr habe ich ja immer gehört, ich kann das nicht so sagen, aber mit der Mutter hängt man zusammen. Was weiß ich! An den Paul habe ich nur wegen der Auseinandersetzungen gedacht. Und vor denen habe ich mich gefürchtet. Heute kommt's mir selber merkwürdig vor, denn er war so lieb zu mir, so anständig, viel besser als ich, nie werde ich so sein, daß mich einer noch so gern haben kann, wie er damals. Gerade, weil wir nichts miteinander hatten. Aber die Mutter hat nur mich, sie kann für mich zugrunde gehen, verkommen, sie spart und hungert und bettelt und reist zu mir und ist schlau und eifersüchtig um mich. Ist das besser oder mehr, oder weniger, als wenn ein Mann ein Mädel haben will? Ist es nur anders? Aber mir kommt es irgendwie anständiger vor, irgendwie ist es doch das Höhere. Wegen einer Mutter kann man fromm sein, wegen eines Geliebten nur vielleicht schlecht. Was weiß ich! Nun, sie wollte selbst mit Paul reden.


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