Otto Stoessl
Menschendämmerung
Otto Stoessl

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IV

Unter den näheren Bekannten der Auerswaldschen Familie nahm eine junge Waise den ersten Platz ein, ein Fräulein Minna von Derschau, Tochter eines in den Befreiungskriegen gefallenen Majors, die schon darum, aber auch wegen der alten Freundschaft der Häuser als Schützling des Landhofmeisters besonders behütet wurde. Ähnlich wie bei der nunmehr dem Leben wiedergewonnenen, entlastet, ja vergleichsweise heiter und gefaßt zurückgekehrten Gräfin von der Gröben hatte ihre Anlage selbst und das traurige Schicksal, den geliebtesten Vater so jäh und früh verlieren zu müssen, den Sinn des Mädchens verdüstert, ihr Dasein reuig gemacht, als wäre es an sich eine Schuld. Alles was jungen Geschöpfen in ihrem Alter zur harmlosen Freude gereicht: das Bewußtsein der eigenen Schönheit, unverfänglicher Schmuck, Geselligkeit, Vergnügen an Tanz, Spielen, Theater, Musik, an Gesang und Verkehr schien ihr ein Abscheu. Eine rührende duldsame Liebenswürdigkeit ebenso wie eine noble Zurückhaltung des Benehmens hielt sie davon ab, dieses ihr klösterliches Gefühl, das sie gegen die sinnlose Existenz ihrer Altersgenossinnen einnahm, zu zeigen, gar davon zu sprechen, bloß die ständige Schwermut, der sie sich ergab, verriet es und erschwerte jeden Versuch, sie aus ihrer Einsamkeit – sie hauste mit einer alten treuen Magd in einer kleinen, mit Erinnerungen an die Eltern eng ausgefüllten Wohnung – auch nur zu begrenzter Geselligkeit zu nötigen.

Auerswald, der Ebel für die Rettung seiner Lieblingstochter nicht genug danken konnte, hielt es für seine Pflicht, auch diesem umdüsterten Schützling seines Hauses die Möglichkeit einer zugleich gottwohlgefälligen und leiblich heilsamen Erlösung zum Leben zu verschaffen. Er legte ihm Minna von Derschaus Rettung nahe. Ebel, der in Schönherr nach wie vor seinen Meister erblickte und die Beziehungen zu ihm trotz manchen aufgetauchten Gegensätzen unverbrüchlich hielt, hatte dem Kreise des Paraklet auch den Grafen Kanitz zugeführt und einen Amtsbruder, Heinrich Diestel, die beide dort hoch aufgenommen und mit halb ernst, halb gleichnishaft gemeintem Rang geschmückt worden waren, als Engel aus der Apokalypse. Kanitz, der ehemalige Krieger, konnte gar wohl als Schwertträger gelten und Diestel, ein grober polternder, einfältiger Mensch, der geistig beschränkt, aber dabei pfiffig und schlau, ja spitzfindig, zum Gehorsam gegen höhere Naturen geboren, außerhalb dieser geduckten Unterordnung wieder einen Feldwebelübermut gegen die ihm Preisgegebenen ausarten ließ, wurde durch Schönherr zum Engel erhoben, der nach der Offenbarung das Siegel brechen durfte, also Heinrich Siegelbrecher genannt. In dem gemischten Kreise des Paraklet, den hauptsächlich Arme, Schiffer, Fuhrleute, Kleinkaufmänner, Lackierer, Schuster und deren Frauen bildeten, konnte Diestel seinem Hange zu ausfahrenden Reden, anzüglichen Schmähungen aller Andersdenkenden, ausfälligem Schimpf gegen Mächtige, die ihm zuwider waren, ohne Einschränkung nachgeben; daß er bei Meinungsverschiedenheiten nicht durch tiefere Gründe Widerlegungen finden, sondern nur eben zanken konnte, fiel hier, wo jeder sprechen durfte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, nicht weiter auf. Solche untergeordnete Art eines unterrichteten und geistlich beamteten Mannes trug sogar dazu bei, das Ansehen und die Überlegenheit des Meisters zu erhöhen, dessen Urwüchsigkeit, ja gewollte Nichtbeachtung der feineren Formen immer etwas rührend Schlichtes, Herzenseinfältiges und darum Liebenswertes behielt und ihn ohne sein Zutun über die anderen stellte.

Ebel lud nun auch Fräulein von Derschau zum Besuche eines der von Schönherr veranstalteten geistlichen Abende ein, und sie glaubte dem Diakon diese Bitte nicht abschlagen zu dürfen, dessen Beredsamkeit und Güte sie als ständige Hörerin seiner Predigten gern vertraute, wenn sie gleich noch nicht gewöhnt war, ihre geistliche Stimmung mit anderen zu teilen, geschweige zu erörtern.

So trat eines Abends, als Schönherr an seinem erhöhten Platze vor den Anhängern kniend ein gewaltiges Gebet und Bekenntnis sprach, dem Diestel mit schwitzender Begeisterung, Marianne Schmeil mit fiebernden, unverwandten Blicken, die Übrigen teils versunken und in Träumen, teils erregt, teils mehr oder minder gleichgültig, weil längst an solche Ereignisse gewöhnt, zuhörten, vom Grafen Kanitz geführt, eine schwarzverhüllte, hohe Gestalt in den übervollen Raum, dessen Luft, von Dunst verdorben, drückend lag. Frauen reichten ihren Säuglingen die Brust; da viele Handarbeiter und kleine Leute nach Feierabend kamen, war es selbstverständlich, daß sie hier mit der ganzen Familie ihr Abendbrot verzehren durften.

Die Angekommene ging auf den Zehenspitzen, um nicht zu stören, und geschickt im Gedränge ausweichend in die entfernteste Zimmerecke, lehnte sich dort an die Wand und betrachtete den betenden Meister, der von diesem Besuche nicht unterrichtet worden war, weil sich das Fräulein plötzlich und ohne Ebel zu verständigen, aufgemacht hatte. Schönherr sah unwillkürlich auf die Eintretende und folgte während des Gebetes ihrem Weg mit seinen Blicken, ebenso wandte sich Marianne Schmeil zurück und schaute auf Minna, die von der dunstigen Hitze bedrückt, das Spitzentuch abnahm. Oder sie ließ es vielmehr mit einer fast unwillkürlichen Bewegung auf die Schultern herabsinken und entblößte so ein durchscheinend blasses und wieder an den Wangen rosiges, schmales, dunkelblauäugiges Gesicht, von einem schweren, aschblonden Haarkranz umgeben, dessen Last den Kopf leicht niederbeugte. Vor der dunklen Hülle erglänzte die marmorne Farbe der Haut wie das Licht selbst. Welcher Ausdruck von Angst, Trauer, Ergebung, die nichts mehr erwartete, lag auf diesen Zügen!

Schönherr rief mit einer Stimme, die übermächtig erdröhnte: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Türe auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.«

Der gewaltige Ausdruck dieser Worte, deren Verheißung zugleich die Bitte eines tief einsamen verlassenen Gemütes enthielt, denn jede Rede der Schrift, die von einem Lebenden übernommen wird, geht in dessen eigenstes Dasein ein und sagt außer ihrem Sinn seine besondere Not aus, die Erscheinung des alternden durch-und-durchgewühlten, suchenden und gerade in seiner Gewißheit doppelt ratlosen, weltfremden, selbstgerechten und selbsterschütterten Mannes traf das Herz des jungen Mädchens gleich einer Offenbarung, ebenso wie ihre aus dem Dunkel leuchtende Erscheinung ihn.

Minna von Derschau empfand vor Schönherr in diesem ersten Augenblick ein Gefühl wie vor dem Höchsten des Lebens und dem Vater der Ewigkeit selbst, einen kindlichen Gehorsam, der nichts verweigern konnte, und der Paraklet wiederum liebte das Mädchen, aber er bekannte sich dieses Erdengefühl nicht ein, sondern deutete es als überirdische Erfüllung, die ihm vergönnt worden. Nichts Reineres und nichts Fragwürdigeres zugleich ließ sich ersinnen, als diese Begegnung einer jungen Dame des Adels und der ersten Gesellschaft Königsbergs mit einem alternden Schwärmer von niederer Herkunft, derben Sitten, dunkeln Lehren. Ein einziger Augenblick hatte sie verbunden und eine Zugehörigkeit begründet, die, einmal erschlossen, jedem Mann und jedem Weibe, welchen Alters oder Standes immer, alle Geheimnisse der Sinne, alle Not der Kreatur und alle Höhe der Himmel wie das bittere Salz göttlicher Tränen einflößt, die von den Wimpern des Ewigen stammen.

Solcher schier unheimliche Zwang, der das junge Mädchen sich dem alternden Manne zuneigen und ihn wieder, der wahren Art dieses Gefühles unbewußt, seine Leidenschaft willentlich umdeuten, die schöne lichte Gestalt als seine eigenste Offenbarung betrachten ließ, als hätte er wie Gott selbst sich dieses Wunder zum Trost und zur Erhöhung erschaffen, machte das Paar innerhalb der Gemeinschaft für eine nur zu kurze Weile gleichsam in einen Abgrund der Gefühle versinken, den keines ermaß.

Schönherr, der nach rascher Beendigung seines Gebetes zu ihr trat, flüsterte ihr zu, sie sei die Braut des Lammes, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgefahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und während sie, tief erglühend, von der Umgebung benommen, nicht wußte, wie sie diese Worte verstehen sollte, unfähig, solchem glühenden und weltfremden Anhauch auszubeugen und ihn nach der Sitte der Gesellschaft sei es zu belächeln oder unbeachtet zu lassen, aber wiederum auch nicht wagte, anzunehmen, was diese ehrwürdige und gewaltige Gestalt ihr mit einer ergreifenden Demut antrug, während beide also miteinander einen Augenblick lang gleichsam ringend verwuchsen, wie die Sonne mit der Wolke, zupfte Marianne Schmeil, tränenüberströmt, Schönherr von hinten am Ärmel seines Mantels und flüsterte: »Ich bin die Braut.«

Der wandte sich mit jäher Bewegung um, sah das armselige Geschöpf und hinter ihm den jungen Altrogge, der ihn vorwurfsvoll anschaute, lächelte mit einer wilden ausbrechenden Leidenschaft, die allen fürchterlicher schien, als wenn er gelacht oder das Zornigste gesagt hätte. Da brach im gleichen Augenblick Minna von Derschau zusammen und, in die Knie stürzend, stammelte sie: »Ich bin ja nicht rein.«

In Aufregung taumelten alle Anwesenden durcheinander, bemühten sich um die Ohnmächtige, fragten, schwatzten, gaben Ratschläge, während Schönherr Minnas Haupt mit beiden Händen sanft an seine Knie hielt. Die Leute hatten sich mit eigenen Kümmernissen beschäftigt, und, an manche Erregungen des Bekennens gewöhnt, das Paar vorher kaum beachtet, jetzt wußten sie darum nicht, was geschehen war, kannten die vornehme Dame auch gar nicht, und redeten allerhand, wie sie über solche Fremde aus der besseren Gesellschaft eben zu denken pflegten, bis Altrogge die irrselig um sich blickende Marianne Schmeil mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer führte, Diestel als Ordnungsmann sich in seinem Elemente fand, alle übrigen grob belfernd hinauszutreiben, und nur mehr Graf Kanitz zurückblieb, der die endlich Erwachende besorgt aber ruhig ansprach.

Minna sah sich zu Schönherrs Füßen, sie blickte erstaunt, wie aus einem Traume um sich, schien den Raum und was ihr hier begegnet, nicht mehr zu erkennen, dem Paraklet, der sie mit tiefem Schmerz und völlig unsicher anschaute, lächelte sie unsäglich wehmütig, gleichsam aus einer weitesten Ferne zu.

Und wiederum mit den Blicken ineinander verwachsen, neigte sich der Wille des armen Mädchens dem des armen Mannes. Er beugte sich über ihre Stirne und berührte sie mit einem Kusse, den sie noch auf den Knieen hinnahm.

Dann richtete sie sich rasch auf. Graf Kanitz bot ihr den Arm, hoch und schlank stand sie da, lächelte und ging.

Der Prophet suchte noch einmal ihren Blick, aber sie sah nicht mehr nach ihm zurück. –


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