Otto Stoessl
Menschendämmerung
Otto Stoessl

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V

Minna von Derschau verfiel nach diesem Besuche infolge der Erregung einem Nervenfieber, das sie für Wochen aufs Krankenlager warf. Die Gräfin von der Gröben und Ebel teilten sich in ihre Pflege und verbrachten Tage und Nächte bei der körperlich und seelisch ganz Erschütterten, die in ihren Phantasien von dem Zorn des Herrn sprach, der ihre Schuld erkannt, ihre Unreinheit verflucht habe. In lichten Augenblicken sah sie dankbar, mit einem Ausdrucke von himmlischer Güte und Liebe auf Ida, die sie durch freundliches Zureden, ja durch sanften Scherz von den üblen Vorstellungen und Selbstanklagen abzubringen suchte. Den meisten Einfluß auf die Kranke schien aber Ebel zu gewinnen, der sie zu beruhigen verstand, indem er ihrem ängstlich unsicheren Blicke unverwandt seinen zuversichtlichen entgegenhielt, oder mit seiner feinen schmalen, fast weiblichen weißen Hand über ihre Stirn strich. Wie er mit dem gescheitelten, schwarzen Haar, dem milden Ausdruck des sinnenden Gesichts, den nachdenklichen Worten, die er tröstend und zuversichtlich sagte, vor ihr erschien, trat wiederum die gewollte oder unabsichtliche Ähnlichkeit mit der Vorstellung jenes höheren Menschensohnes hervor, die das arme Mädchen hegte, und die Gräfin von der Gröben wunderte sich nicht weiter, daß Minna manchmal den Diakon in Anfällen eines ergreifend ausbrechenden Jubels als den Herrn selbst begrüßte, der ihr erschienen sei. Dabei beugte sie sich, ein rührendes Bild sanftester Leidenschaft und anmutigster Verirrung, über Ebels Hand, ja sie schlang einmal, indem sie sich aus dem Bette mit Anstrengung emporhob, ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn mit einer zugleich keuschen und selbstvergessenen Hingabe, die allen Tränen in die Augen trieb.

Ida von der Gröben errötete tief und sah den Diakon mit einem großen Blicke an, die Kranke mit einem wehmütigen, indem sie flüsterte: »Wie haben Sie das Kind dem Waldteufel anvertrauen mögen?«

Als der Zustand der Kranken sich verschlimmerte und ihre Kräfte unerklärlich, aber ständig verfielen, berief man auf Anraten von Freunden einen jungen Arzt, den Doktor Sachs, der sich in Königsberg wegen seiner anscheinend unfehlbaren Diagnosen und merkwürdig glücklichen Kuren eines gewissen Ansehens erfreute, obgleich er in eben den Kreisen, die ihn zu Rat zogen, nur mit Mißtrauen und schlecht verhehlter Geringschätzung behandelt wurde, weil er Jude war. Durch rasche Auffassung, eindringliches Studium und natürliche Begabung hatte er sich trotz der widrigen Verhältnisse, die ihn hinderten, an der Universität herangebildet. Bekannt war, daß er eine Lehrstelle an der Fakultät anstrebte, auf die er nach seinen Leistungen wohl, nach den Gepflogenheiten der Zeit aber keinen Anspruch erheben durfte.

Als er, Minnas Krankheit beobachtend, mit seinem eigentümlich ernsthaft lächelnden Gesichtsausdruck an dem Lager saß, fragte er Ebel und die Gräfin nach den Umständen des Anfalls und erfuhr so, was in der Stadt längst gerüchtweise verbreitet war: die Lehren Schönherrs, seine Versammlungen und den Auftritt, wie der Paraklet das junge Mädchen zu seiner Braut erklärt hatte.

Er verschrieb eine einfache, leichte Behandlung, niederschlagende Arzneien, kühle Bäder, Obst- und Milchnahrung und erzielte bald eine Besserung, die anhielt. Unterdessen ergab sich notwendig und natürlich ein näherer Umgang mit Ebel. Dieser fand sich durch den Verstandesmenschen, den scheinbar nüchternen Arzt, als durch sein urtümliches Widerspiel merkwürdig angezogen und zugleich abgestoßen. Aber diese heimliche Abneigung bekämpfte er, weil er gerade mit feindseligen Naturen sich zu messen angetrieben war und ihm in seiner priesterlichen Einbildung eben solche ganz zu bezwingen als seine höchste eigentliche Aufgabe galt. Desgleichen führte im jungen Arzte der Trieb, alles, auch das seiner Anlage Versagte, seinem Wissen anzueignen und seinem Wesen einzuverleiben, zu ähnlicher Wirkung, denn er mochte durchaus die Welt des Gefühls teilen, die ihm verschlossen war, und seine eingebildete Fähigkeit, alles Menschliche zu erfassen, gerade dort erproben, wo sein Verstand aufhörte und eben eine Empfindung allein gefordert war, die er zwar bei andern erkennen, aber nicht aus Eigenem erzeugen konnte.

Nebenbei unterlief freilich, etwa unbewußt, der leidenschaftliche Ehrgeiz des nach seiner Meinung zu Unrecht Niedergehaltenen, sich gerade in der Welt der Feinde, in der ungeistigen oder hochmütigen herrschenden Gesellschaft durchzusetzen und den Widerstand aller, der durch die Gewalt der Begabung nicht gebrochen werden konnte, durch die List und Gewandtheit einer scheinbaren Unterwerfung zu umgehen.

So wurden die äußerst gegensätzlichen Naturen miteinander verbunden: Sachs schloß sich in einer schier leidenschaftlichen, bei seinem sonst kühlen und skeptischen Wesen doppelt überraschenden Anhänglichkeit an Ebel an, er gab seine zernichtende Dialektik für die aufrichtige Bemühung daran, jene Gefühlswelt aufzunehmen, die ihm der willig Lehrende eröffnete, er zwang sich selbst oder schien vielmehr aus freien Stücken eine Leidenschaft des Glaubens anzuerkennen, zeigte eine Bereitschaft, Offenbarungen anstatt des Wissens hinzunehmen, als sei ihm hier zum ersten Male eine goldene freiere Welt höheren Lebens gewiesen. Seine Fragen wurden aus nachdenklich spöttischen und zweifelnden immer mehr innerlich angeregte. Was seinen Erfolg vermehren, seine ehrgeizigen Bestrebungen fördern konnte, schien auch seinem eigentlichen Drang zu entsprechen, seiner Seele Halt, Grenzen, Frieden zu verschaffen, Saiten seines Gemüts zu berühren, die er bisher nie vernommen hatte. Wer den in geistigen Naturen unheimlich glühenden Eifer, alles Menschliche zu umfassen, würdigt, wird den Seelenzustand dieses furchtbaren Schülers begreifen, der alles, aber auch alles Lebendige erleben wollte, und sich vermaß, es teilen, ja sich aneignen zu können.

So nahm er von Ebel die Taufe, auch seine Frau trat zum Protestantismus über und beide wurden Genossen des Kreises, der sich um den Diakon scharte.

Dessen enges Verhältnis zu einem an Verstand und Auffassung überlegenen, geschulten Geiste wie Sachs mußte die dumpfe Ergebenheit für Schönherr noch mehr auflockern. Darin waren die Gräfin von der Gröben und Doktor Sachs einig, wie sie ja in ihrer leidenschaftlichen Energie manches Verwandte hatten, Ebel ernst und wahrhaftig zu nehmen, den armen Schönherr aber als hohlen Lügner und Affen seines Glaubens auszuspotten und zu verachten. Beide wirkten auf Ebel ein, er möge sich von dem lächerlichen Meister lossagen.

Ebels Eitelkeit nahm diese Ratschläge gierig auf, seine innere Abhängigkeit von Schönherr und eine gewisse Rücksicht ließen ihn freilich verhehlen, wie sehr er ihnen bereits geneigt war. Unterdessen bewirkte die innerlich schon vollzogene Entfremdung bei den Versammlungen, wo der in ärmlichen Umständen verharrende, dürftige und derbe Schönherr mit seinem zu Ansehen und Geltung in der Welt gelangten Jünger häufig aneinandergeriet, ohne äußeren Anstoß wachsende Mißhelligkeit.

Der Paraklet lebte in all den Wochen der Krankheit des Fräuleins von Derschau in einer ständigen, ihm selbst unerklärlichen Aufregung, er vermißte sie und wagte doch nicht, sich dies einzugestehen oder gar andere nach ihr zu fragen, nur schien eine ungeheuere Anspannung seines Willens sie zu rufen.

An ihrer Statt traten an einem Sonnabend Ebel und Sachs bei ihm ein. Sie fanden ihn nachdenklich und allein auf seinem Bette sitzen. Anders als er sonst Gäste behandelte, nahm Schönherr den Doktor Sachs auf, mit unverhohlenem Mißtrauen, mit einer höflichen Kälte, die an dem sonst herzlichen Menschen doppelt abschreckend wirkte und eine Verachtung verriet, der er anderen gegenüber nicht fähig war.

Ebel, der in gewohnter Höflichkeit zu vermitteln strebte, sah sich, was noch nie geschehen war, mit Spott zurückgewiesen. –

»Ich kenne dich gar nicht, Schönherr, sonst bist du gütig und duldsam nach dem Bilde unseres Herrn und heute so stachelig.«

»Wer nicht für uns ist, der ist wider uns, und den muß man hassen. Was soll eine Liebe, die uns verdirbt und alles Feindselige annimmt?«

Sachs warf ein: »Mir scheint, Sie tun unrecht, von Haß und Liebe zu sprechen, sowie davon, daß für Ihr Verhalten zu den Menschen entscheiden müsse, ob einer für oder wider Sie sei.«

Schönherr lächelte: »Ich wüßte nicht, wie ich auf der Welt einen andern Maßstab fände, als mein Gefühl für die, die meinen Willen teilen oder ihm entgegenwirken.«

Darauf antwortete Sachs: »Eine tiefe Bestimmung zur Vollkommenheit, zur göttlichen Einheit mit der Welt und dem Schöpfer, die das einzelne Geschöpf in der Gnade aufgehen und selbst zu Gott werden läßt, ist jedem Menschen eingeboren. Also stellt keiner Dunkel oder Licht an sich vor, wie es ja auch im Bereich der Farben nicht Helligkeit und Nacht, nicht schlechthin weiß und schwarz gibt, sondern nur mannigfache Abschattungen des Lichtes, also des Göttlichen selbst. In jedem Menschen ist, mehr oder minder wahrnehmbar und hoffnungsvoll, das Göttliche, das Licht, die Erkenntnis und Vollkommenheit, also die Seligkeit durchaus als sein eigentliches Wesenhaftes enthalten, aber, ich gebe es zu, mannigfach verwirrt, getrübt, verdunkelt. Nicht Böse und Gute wären also zu scheiden, Schafe und Böcke, sondern Gute und minder Gute, und der Sinn jedes Lebens, die Aufgabe jedes Menschen bliebe sein eigentliches Selbst das Göttliche, das Gute, das Wahre, sein Licht und Urprinzip aus sich herauszuarbeiten. Dies scheint mir das erhabenste Geheimnis der christlichen Lehre, und was sie von allen früheren Erkenntnissen um eine Welt, wahrlich um die ganze Welt scheidet, daß sie Gott in jedem Menschen annimmt und anerkennt, nicht im Bevorzugten, daß sie vielmehr allen das gleiche innewohnende Heil zuspricht, wofern sie es zu verdienen wissen. Aber freilich darauf kommt alles an, daß jeder den Gott aus sich herausarbeite, und es kann nur den Unterschied zwischen bewußten hellen Menschen und unbewußten dunklen und in ihrem Trüben Verharrenden geben.«

Schönherr warf den Kopf zurück: »Ja, das paßte euch Gleichmachern und anmaßenden Weltknechten freilich, daß jeder die Gnade wie den Feldherrnstab im Tornister trüge. Nein, es gibt Gutes von Anbeginn und Gute, aber auch Sünde und Sünder, Erlösung für die einen, Verdammung für die anderen, und diese Welt reicht nicht aus, den Unterschied auszugleichen, der Seelen von Ungeheuern trennt.«

Leise sprach Ebel: »Wie willst du aber, Schönherr, den Guten und Bösen unterscheiden und erkennen, da die Sinne Irrtum und lichtstumpf sind?« Schönherr lächelte erst, fuhr aber ernster fort: »Es gibt Prüfungen und strenge Proben, denen müßt ihr euch unterwerfen. Ich erkenne die Begnadeten und die Verworfenen kraft meines inneren Wissens, also, daß ich die Zeichen auf jeder Stirne sehe, wohin einer gehört, und ich habe die Böcke von den Schafen geschieden.«

»Wer soll's Ihnen glauben, wessen maßen Sie sich an?« unterbrach ihn Sachs ungeduldig.

»Wer mir folgt, der glaubt mir, dem brauche ich nichts weiter zu beweisen. Es gibt keine Hilfe als den Glauben und keinen Beweis als die Gewißheit; wer aber fragt, der zweifelt und ist verworfen von Anbeginn. Und wenn in der Offenbarung gesagt ist: ›und mitten unter den sieben Leuchtern einer, der war eines Menschen Sohn gleich‹, oder ›ich bin der Erste und der Letzte‹, wenn und so wahr dies alles gesagt ist, so kommt ein neuer Menschensohn zur Welt und schafft, was ihm verheißen und auferlegt ist. Und das will ich tun.«

Sachs ging, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, auf und nieder, ohne ein Wort mehr zu sagen, Ebel aber wurde heftig: »Das ist gegen die Schrift. Jesus soll wiederkommen, aber kein anderer ist gemeint, am wenigsten du, was fällt dir bei!«

Schönherr darauf: »Wenn Jesus gemeint wäre, so hätte ihn die Schrift ausdrücklich genannt. Sie weissagt einen andern.«

Ebel: »Dann können wir miteinander nichts mehr zu schaffen haben. Gut, kommt's auf Glauben oder Verwerfen an, so sage ich hier und dazu: nein und bleibe dabei. Es ist mein Wille nach Gottseligkeit und Vollkommenheit, aber nach keinem, der sie sich allein anmaßt und verwaltet.«

Da ging in Schönherr eine Veränderung vor, die sich in seiner Betroffenheit und bekümmertem Ausdruck seines Gesichts zeigte, denn er liebte Ebel und wollte ihn nicht lassen. So lenkte er ein und schwächte seine Behauptungen ab, nicht auf die Person des Mittlers und wie man diese Wiederkunft deute, komme es an, sondern auf den Sinn der Worte und darauf, daß man die Zeit gegeben wisse, wo die Sicheln zu schneiden, die Hippen zu schlagen hätten und daß der Überwuchs des Übeln zerstört werden müsse, und hierin wollten sie einen Pakt schließen.

Kalt fragte Ebel, was er darunter verstehe. Geheimnisvoll und mit einem Ausdruck verschmitzter Freude, der dem Arzte wahnsinnig erschien, begann Schönherr zu erklären, was seine Absicht sei.

In den »Ebräern« heiße es: »Denn ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden über dem Kämpfen wider die Sünde. Und habt bereits vergessen des Trostes, der zu euch redet als zu den Kindern: mein Sohn, achte nicht gering die Züchtigung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er, und er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt.« So wollten sie paarweis, je ein Mann und ein Weib, unbekleidet bis aufs Hemde, ihren Leib an den Hüften mit Ruten streichen bis zum brennenden Schmerze und zum Blutvergießen, als ein Opfer, das da lebendig und heilig sei und ein wahrer Dienst Gottes. Daran sollten sich diejenigen erkennen, die zueinander gehörten und der Erlösung wert seien. Und damit würden sie sich versöhnen.

Ebel schwieg, Sachs fragte höhnisch: »Wen wollen Sie zur Genossin?« Schönherr errötete, sagte aber sogleich aufrichtig und ernst: »Die Braut des Lammes«. – »Das wußt' ich,« erwiderte Sachs, »wir sehen jetzt wohl deutlich genug, wie lächerlich und töricht das alles ist und wie sinnlos.« Ebel senkte stumm den Kopf. Schönherr schwieg. Da Marianne Schmeil mit Altrogge und andern eintrat, wurde die peinliche Verlegenheit unterbrochen, Ebel nahm kurzen Abschied, Sachs empfahl sich mit einem hämischen, aber verbindlich vorgebrachten Scherz und bot Schönherr die Hand, was dieser aber nicht zu bemerken schien, sondern durch den Arzt gleichsam hindurch, auf die entgegengesetzte Seite der Mauer sah, während er zu Ebel halb traurig, halb verächtlich flüsterte: »Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist, ach daß du kalt oder warm wärest.«

Ebel schüttelte den Kopf, ohne zu erwidern, da setzte Schönherr mit ausbrechendem Zorn und lauter Stimme fort: »Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.«

Gleichwohl zögerte Ebel, sich von Schönherr endgültig loszusagen, noch einmal, ohne Sachs, versuchte er, sich mit ihm zu einigen. Schönherr war gereizter als je, er nannte Ebel einen Lügner und lachte darüber, daß er sich erkühne, im Geiste stehen zu wollen, er schrie ihn an und machte ihn wie einen Schüler herunter, er klagte ihn an, seine ihm von Gott bestimmte Braut gefangen zu halten und ihm entfremdet zu haben, er forderte sie von ihm, er bestand auf der Geißelung schon um der Buße willen, die Ebels Verirrungen notwendig gemacht hätten. Dieser konnte gegen den Heftigen nichts ausrichten und verließ ihn abermals ohne Erklärung. Endlich schrieb er ihm: sollte ihr beiderseitiges Verhältnis fortbestehen, so müßte Schönherr gewisse unerläßliche Bedingungen erfüllen, denen auch er, Ebel, seinerseits sich unterwerfe, als: keiner dürfe den andern überschreien, Lügner schelten, Zurechtweisungen ablehnen, Unrecht leugnen. Und wenn einer behaupte, im richtigen Geiste zu stehen, so müsse man ihm das gelten lassen. Schönherr antwortete versöhnlich, er war sogar bereit, die Geißelung aufzugeben, da er sie nicht als das einzige Zeugnis der Aufnahme ins Reich Gottes betrachten wolle, sie sollten die Streitpunkte auf sich beruhen lassen und sich bei dem vereinigen, was ihnen längst gemein sei.

Da wurde aber Ebel wiederum bestimmt, auf eine endgültige Lösung zu dringen, er widerlegte die Forderung der gemeinsamen Buße als sinnlos, zumal Schönherr immer nur alle anderen, niemals sich selbst für besserungsbedürftig halte. Der Brief schloß so: »Es sind diese Worte, das wisse jedermann, Gottes Worte an unseren Freund Schönherr, der hat sie durchzudenken und zu beherzigen, und solange er sie nicht versteht und freundlich aufnimmt und in seinen Segen verwandelt, ist er noch ferne vom Reich Gottes.«

Als Schönherr diesen Brief und besonders die letzten Zeilen las, lachte er grimmig auf: »Das sind Gottes Worte an mich, nicht übel, was mir recht ist, muß auch dir billig sein. Du missest wahrlich die Spannung der Himmel und der Erden.« Er verwahrte den Brief sorgfältig, zeigte ihn aber niemand, sprach hinfort nie mehr von seinem einstigen Schüler und Liebling und duldete auch nicht, daß jemand dessen Namen in seiner Gegenwart nannte.

Mit dem Ausscheiden Ebels, dem auch Diestel und Graf Kanitz folgten, waren aus dem Kreise Schönherrs alle die Teilhaber aus einer höheren Schichte der Gesellschaft verschwunden und die Konventikel nur mehr auf die bescheidenen Gespräche und den treuen Gehorsam unbedingter, aber armseliger Anhänger beschränkt.

Bevor wir der ausgreifenden Bewegung folgen, die um Ebel den bedeutenden Ring durch Weltstellung und Bildung ansehnlicher Mitglieder zusehends erweiterte, und bevor wir zeigen, wie auch dieser Ring seinem notwendigen Verhängnis entgegentrieb, mag noch in Kürze der Ausgang Schönherrs berichtet werden, der, seit dem Zwist eigentlich kaltgestellt, bloß ein unseliges, wenn auch der eigenen Verarmung kaum bewußtes Scheinleben in Unruhe und leidenschaftlichem Bedürfnis nach neuem Aufschwunge hinschleppte.

Seine Getreuen hingen ihm nach wie vor bedingungslos und gläubig an, denn er war ihnen der einzige höhere Geist, dem sie begegnet, der einzige, der eine schönere Welt verheißen und damit auch gewähren konnte, und mit dem gemeinsamen Urgrund der Sehnsucht so tief verwachsen, daß sie außer ihm, der davon bezeugte, nichts kannten, und daß nur er Verwirklichung schien und bieten konnte. Ihm folgten sie denn, hingen an seiner Gebärde, an jedem seiner Worte; sie versuchten zu enträtseln, was er verschwieg, zu teilen, was ihn bewegte, aber er war seit dem Bruche mit Ebel recht schweigsam geworden und machte es ihnen schwer.

Stundenlang wanderte er, jede Begleitung zurückweisend, allein durch die Straßen. Er hoffte Minna wiederzusehen, sie ansprechen, fragen zu können. Er strich in der Gegend ihres Hauses umher und spähte nach ihrem Fenster. Er forschte ihre Wege aus, und es gelang ihm wohl etliche Male, ihr gegenüberzutreten, aber sie war niemals allein, tief verschleiert eilte sie an ihm vorbei und war entschwunden, ehe er sie anreden konnte. Eine gewisse Angst und Reue hielten sie davon ab, noch einmal ein Wort an ihn zu richten oder eines von ihm anzuhören, hinwiederum war er zu scheu und ungeschickt, sie anzuhalten. Sie mußte, so glaubte er, aus freien Stücken ihn noch einmal aufsuchen und von neuem den goldenen Faden anknüpfen, der sie beide mit Gott verband.

Fragte ihn Altrogge teilnehmend, Marianne Schmeil ängstlich um die Ursache seines Kummers und was ihn den Freunden entfremde, so lächelte der nunmehr zum Greise gealterte Mann auf furchtbar schmerzliche Weise mit einem Zuge verachtender Verzweiflung auf den Lippen. Ein einziges Mal sagte er, mehr zu sich selbst, als zu den in ihn Dringenden: »Ich wäre doch auch gern einmal selbst von Herzen froh und nicht ganz allein gewesen und hätte mein armes Haus gern geschmückt und also im Schein des Glückes gesehen.«

Als Marianne darauf, seinen Ärmel schüchtern anfassend und zu ihm aufblickend sagte: »Du hast ja uns,« da erwiderte er nichts, wandte sich ab und ging schneller, so daß es ihnen schwer war, ihm zu folgen.

Während derart seine täglichen Wege in dunkleren, mühseligeren Zuständen ermatteten, schien sich sein Sinn neuen Aufregungen und Aufschwüngen zu eröffnen, als wolle er mit Gewalt ein Unerreichbares bezwingen. So verkündete er eines Tages einen Plan, den er, wie es schien, lang ausgedacht hatte, denn wenn er allein war, saß er vor großen Zeichenblättern mit Stiften, Linealen, Zirkeln und fertigte bedeutende Entwürfe an, die er vor den Besuchern geheimnisvoll, aber mit einem verheißenden Lächeln zurückschob, bis er so weit war, ihnen das Ganze zu verraten.

Zu der Stunde, da er es tat, kam er ihnen größer vor als sonst, leiblich über sein Maß gewachsen, das Haupt hoch erhoben, der Blick frei und kühn, wie seit langem nicht, Zuversichtlich, ja freudig.

Diese höchste mitteilbare und sich mitteilende Erhebung, die nun anhielt und keine Abschwächung erlitt, solange das wunderliche Werk betrieben wurde, zwang auch alle seine Anhänger bedingungslos zu einem Gehorsam, der nachmals doppelt rätselhaft erscheint, weil er gegen alle Vernunft und gewöhnliche Einsicht geleistet wurde.

Wem es aber gelungen ist, Seelen von Menschen zu bewegen, aus ihren strengen selbstischen Verbindungen loszumachen, so daß sie völlig neu gerichtet, Irdisches und Vernunftgründe für nichts, Geistiges und einen höheren Sinn ihrer selbst, der ganzen Welt für wirklich und alles halten, der wird sie, wie einst Machthaber Sklaven zum Bau der Pyramiden, auch zu einem Werke willig finden, das keinen andern Gedanken hat, als dieses Streben aller nach dem Überfliegen ihrer gemeinen Schranken zu vollstrecken. Nicht die Möglichkeit und Faßbarkeit, sondern die erhabene Unsinnigkeit selbst wird ein begreiflicher Inhalt unbegreiflichen Tuns. Ist derart ein völlig Vernunftwidriges begonnen worden, so mag man billig nicht über das Tun staunen, sondern nur über die rätselhafte Kraft eines Einzelnen, sich und seiner Stimme überhaupt Menschen zu unterwerfen. Was er befiehlt, ist dann schier gleich, und selbstverständlich, daß sie gehorchen.

Schönherr wollte auf dem Pregel ein Schiff bauen, nach Anweisungen, die er im Traume erhalten hatte. Es sollte der »Schwan« heißen, und er sah ein zugleich schlankes und kühnes Fahrzeug, das auf dem Wasser wie ein Vogel, schneller als alle Segelschiffe, ohne Ruder, ohne Dampf, bloß durch einen Mechanismus, den er ausgesonnen hatte, sich bewegen und gleichsam dem Himmel, der Ewigkeit zuschweben sollte. Man mag sich gerne denken, daß ihm das Bild einsam, edel und sicher auf dem Wasser ruhender, den hohen Hals emporbiegender weißer Schwäne oft genug als das erhabenste Gleichnis seiner eigenen Weltfahrt erschienen war, das er nun körperhaft zu erfüllen wünschte.

Bujack riet ihm, doch vor dem Bau wenigstens Modelle des Mechanismus, des Schiffsrumpfes, der einzelnen Bestandteile des Fahrzeuges anzufertigen und Proben ihrer Leistung anzustellen. Schönherr aber wurde über solche kleingläubige Vorsichten ärgerlich und verwarf sie mit Hohn: »Nimm dir Winterkleider mit, damit du in der Ewigkeit nicht erfrierst.«

Sein »Schwan« sollte sie ins Weite tragen. Ohne sich darüber auszusprechen, aber auch ohne gefragt zu werden, ob dieses Fahrzeug als Erfindung der ganzen Menschheit zugedacht sei, oder bloß ihm und den Seinen dienen sollte, ordnete er das Werk an, begannen es alle.

Und Schönherr fällte zwei hohe Ulmen, die vor seinem Hause standen, um das erste Bauholz zu gewinnen, Zimmerleute unter seinen Anhängern lieferten anderes, hämmerten und schafften auf einer kleinen eigenen Reede, Bretter wurden gesägt und aneinander gefügt, alles in den freien Stunden der armen Leute. Kinder spielten selig unter den Spänen und Abfällen, Mütter saßen auf den Stapeln, säugten ihre Kinder, lächelten feierlich, wie über ein heiliges Wesen, das geboren werden sollte. Er leitete und befehligte alles, erneute Heiterkeit und Gewißheit leuchteten aus ihm, feuerten seine Helfer an, daß jeder Axtschlag wie ein Freudenruf tönte, und das Tun, nicht erst das Ende, bereits ein volles Glück herbeigeführt zu haben schien.

Als das Fahrzeug so weit gediehen war, daß Schönherr allein, ohne seine Anhänger, die erste Probe machen konnte, erwies es sich natürlich, ins Wasser geschoben, als unfähig zu jeder Bewegung. Bujack versuchte noch einmal zu einer Prüfung im Kleinen am Modell und zu Änderungen des Planes zu raten, aber Schönherr tobte wie ein Rasender gegen ihn und jagte ihn davon, da sein Unglaube am Mißlingen schuld sei.

Unvollendet ließ man den »Schwan« am Ufer verlassen und gestrandet liegen und verfallen, die Anhänger sprachen nicht mehr davon, aber sie mieden Schönherr fortan scheu und ernüchtert, der bald auf wenige Getreue beschränkt war. Mit diesem Werke war auch er verfallen und gescheitert. Er verstummte seither, oder er redete wirr, zu Predigten und Lehren war er nicht mehr zu bewegen, das weiße Haar hing zausig um sein ganz durchfurchtes und vergrämtes Gesicht, der Bart wehte mißfarben und ungepflegt im Winde, er wanderte weit umher, kehrte wie einst als Fremdling, aber nur mit Angst oder Mitleid als Narr angesehen, in Hütten und Dörfern ein und schlief auf der Streu. Er brauchte nicht Not zu leiden, weil ihm seine einstigen Freunde genug zur Unterstützung zukommen ließen, insbesondere sandte ihm Ebel heimlich und unter fremdem Namen jeden Monat einen hinreichenden Betrag, aber er teilte das Geld gleich an Arme aus und schweifte in Sturm und Unwetter, oder saß allein in der Sonne, den Kopf niedergebeugt. Nur gelegentlich duldete er Begleitung oder Pflege der armen Marianne Schmeil, die ihm unverbrüchlich anhing. Sie war es auch, die ihn suchte und auffand, als er, von einer tödlichen Erkältung betroffen, zu Juditten, unweit von Königsberg, in einem Pfarrhause untergebracht, auf einem reinlichen Bette, in einem weißen, sonnigen Zimmer fiebernd lag.

»Er stirbt uns,« hatte sie entsetzt gerufen, als sie eintrat und den Abgezehrten erblickte, der mit eingefallenen glühenden Wangen, spitzer Nase und geschlossenen Augen zu schlummern schien.

Sie setzte sich zu ihm ans Bett: »Sterben?« flüsterte er und legte lächelnd und mühsam seine Hand auf ihre Schulter. »Die wiedergeboren worden sind, können nicht sterben. Ich war schon tot, aber jetzt lebe ich ewig.«

Da sie ihn pflegte, dankte ihr ein liebreicher Ausdruck, wie sie ihn vordem nur selten von ihm gekannt hatte, für jede Handreichung, und in allem Schmerz fand sie sich beseligt wie noch nie. Als sie ihn so zu erleichtern suchte, schüttelte er einmal schwermütig den Kopf und bedeutete ihr, die Bibel aufzuschlagen. Er ließ sie die Worte des Predigers vorlesen: »Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre, da du wirst sagen, sie gefallen mir nicht. Ehe denn die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen. Zur Zeit, wenn die Hüter im Hause zittern und sich krümmen die Starken, und müßig stehen die Müller, weil ihrer so wenig worden ist, und finster werden, die durch die Fenster sehen, und die Türen an der Gasse geschlossen, daß die Stimme der Mühle leise wird und man erwachet, wenn der Vogel singet und gedämpft sind alle Töchter des Gesanges. Wenn man sich auch vor Höhen fürchtet und sich scheuet auf dem Wege; wenn der Mandelbaum blühet und die Heuschrecke beladen wird, und alle Lust vergehet.«

In der Morgendämmerung, bei den ersten Hahnenschreien und als die Hunde anschlugen, verschied er im Schlafe.


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