Heinrich Stilling
Buntes Allerlei
Heinrich Stilling

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Merci, Monsieur.

Es war an einem jener wundervollen Pariser Herbstabende, als ich gemächlich durch die Avenue de Paris schritt, um meinen nun schon lange gestorbenen Freund, Jean Morot, den Dichter, zu besuchen. Ich hatte am Morgen auf meinem Schreibtisch eine Karte gefunden, in der er mich in kurzen Worten bat, am Abend Gast in seinem kleinen Häuschen in Bougival zu sein.

»Zu einem frugalen Nachtessen«, schrieb er; aber unter der Unterschrift standen, rechts und links mit mächtigen Ausrufzeichen geziert, die Worte:

homard à l'américain.

Ja, Gegensätze; aber ich kannte meinen Freund Jean Morot. – 101

Vor mir auf dem Bürgersteig wanderte, noch geruhsamer als ich, eine massive Gestalt, deren Gang mir nicht unbekannt war. Als ich an ihre Seite trat, sagte ich unvermittelt: »Herr Griffon, sind Sie es oder Ihr beleibter Geist?«

»Junger Mann«, erwiderte er ohne aufzusehen, »sprechen Sie keinen Unsinn. Mein Geist ist natürlich auf der Redaktion des ›Minuit‹. Die Nachtausgabe von hunderttausend Exemplaren erscheint in acht Minuten. Mein beleibter Leib ist auf dem Wege zu Jean Morot; es gibt Hummer auf amerikanische Art, und in ganz Paris gibt es keinen besseren. Mein ›Minuit‹ muß heute seinen Weg allein in das Publikum machen.« Er seufzte tief.

»Es wird auch einmal ohne Sie gehen, Herr Griffon«, sagte ich tröstend.

»Junger Mann«, sprach er strafend und blieb stehen, »was Sie da seufzen hörten, war natürlich auch nicht mein Geist, sondern mein Körper. Er muß den Hummer mit Sarret teilen.«

»Um Gottes willen, Herr Griffon«, rief ich 102 erschrocken, »haben Sie die Absicht, den ganzen Hummer allein aufzuessen? Auch ich bin von Morot eingeladen.«

Der Chefredakteur des »Minuit« nahm mich unter den Arm und sagte: »Mein armer, junger ausländischer Freund, Sie scheinen nicht zu wissen, was ein Pariser Gourmand ist. Er ist mit einer Hummerschere zufrieden, wenn sie von der alten Köchin Morots zubereitet wird. Aber mir gegenüber, am Tische Morots, wird Sarret sitzen, und darüber seufze ich.«

»Wer ist Sarret?« frug ich ihn.

Er sah mich mitleidig an: »Sie werden ihn kennenlernen; er ist der größte Schwätzer, den Frankreich in zweitausend Jahren hervorgebracht hat. Wo in Paris über Literatur verhandelt wird, da ist Sarret dabei. Nein, darüber. Er spricht stundenlang, tagelang ohne Ermüdungserscheinungen. Den gerissensten Parlamentarier redet er in kurzer Zeit unter den Tisch. Ja, unter den Tisch«, und dabei seufzte er von neuem. 103

Auf einmal schien er einen Einfall zu haben: »Mein Freund«, sagte er, »Sie sind jung und ehrgeizig; ich öffne Ihnen morgen die Spalten meines Blattes, Sie sind dann ein gemachter Mann. Sie müssen mir aber einen Gefallen tun!«

»Aber sehr gern, Herr Griffon.«

»Lieber junger Freund, es ist sehr einfach, was ich von Ihnen fordere. Wenn Sie Sarret vorgestellt werden, wird er unweigerlich sagen: ›So mein Herr, Sie kommen aus Deutschland, dem Lande Goethes?‹«

»Nun, Herr Griffon, das kann sein, daß er das sagt; das mit Goethe ist so eine höfliche Redensart.«

»Bei Sarret nicht, lieber Freund, er wird von diesem Augenblick an ununterbrochen vier Stunden lang von Goethe sprechen.«

»Auch während des Nachtessens?« frug ich, auch nun meinerseits etwas beunruhigt.

»Ja, auch während des Nachtessens und erst recht während des Nachtessens«, sagte Griffon 104 und sah mich zum ersten Male voll an, »er besitzt die unglaubliche Kunst, unentwegt zu sprechen und dabei gleichzeitig zu essen. Ich aber werde keine Hummerschere herunterbringen. Wenn ich einen Teller Spinat esse, verlange ich von meiner Umgebung unbedingtes Stillschweigen, und wenn ich bei Morot Hummer auf amerikanische Art esse, so ist das eine sakrale Handlung, die ich mir von einem solchen . . .« Ich unterbrach ihn:

»Also, Herr Griffon, was wünschen Sie, daß ich tun soll?«

»Sie sollen«, sagte er, »Sarret während der Suppe ruhig über Goethe sprechen lassen; denn ich werde wahrscheinlich gar keine essen. Wenn aber der Hummer auf den Tisch kommt, dann versuchen Sie, Sarret zu überschreien.«

»Und was soll ich ihm sagen?«

»Sie werden ihm sagen, daß es Goethes Hausordnung vorschrieb, bei Tisch den Mund zu halten.«

»Und Sie glauben wirklich«, frug ich 105 zweifelnd, »daß diese Bemerkung nützen wird?«

»Sarret ist ein großer Verehrer Goethes; vielleicht geschieht ein Wunder.« Und Griffon seufzte noch einmal tief und herzzerbrechend.

Die Haustüre öffnete uns nicht die alte Köchin Morots, sondern er persönlich. Er drückte mir flüchtig die Hand, dann wandte er sich zu Griffon:

»Ich mußte ihn einladen«, sagte er, »Sarret hat einen reizenden Artikel über mich in der ›Revue Littéraire‹ geschrieben.«

»Das war absolut kein Grund«, rief Griffon, nicht eben leise, »ihm einen homard à l'américain zu offerieren. Ein Rindsbraten hätte die gleichen Dienste getan, und ich wäre ohne Gewissensbisse auf der Redaktion des ›Minuit‹ geblieben. Auch unser junger ausländischer Freund (dabei sah er mich traurig an) tut mir aufrichtig leid, ein Kunstwerk deiner herrlichen alten Marguerite unter dem Trommelfeuer . . .«

»Ich bitte dich, Griffon!« 106

»Unter dem Trommelfeuer dieses Literaturbanditen genießen zu müssen. Sage, Morot, könntest du ihn nicht unter irgendeinem Vorwand vor dem Nachtessen nach Hause schicken?«

»Um Gottes willen«, stöhnte Jean Morot, »sprich leiser, Sarret ist Professor an der Sorbonne, Mitglied der Akademie . . .«

»Und der größte Schwätzer, den Frankreich seit zweitausend Jahren hervorgebracht hat. Du treibst eine verdammt schlechte Propaganda, wenn du unseren jungen Freund hier . . .«

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe des Salons, und ein kleiner, schlanker Herr, mit einem Spitzbärtchen und dem Bande der Ehrenlegion im Knopfloch, trat heraus.

»Natürlich«, sagte er, »wer steht zwischen Tür und Angel und glaubt, ausgerechnet dort eine endlose Propagandarede für seinen ›Minuit‹ halten zu müssen? Unser köstlicher, dicker Griffon.« 107

»Ich bin dick«, erwiderte Griffon, »das gebe ich unumwunden zu, aber dafür auch 178 cm groß; das hebt meine Körperfülle fast wieder auf. Sie dagegen, Sarret, sind im besten Falle 1¼ m hoch und dünn wie ein verbrauchter Rohrstecken.

»A propos . . . Rohrstecken . . . halten Sie nicht heute abend eine Vorlesung für reifere junge Mädchen über Dumas in der Sorbonne ab? Es ist allerhöchste Zeit, daß Sie gehen!«

Damit nahm er von dem Garderobeständer mit einer Schnelligkeit, die ich dem dicken Manne gar nicht zugetraut hätte, Hut und Schirm des kleinen Gelehrten und hielt sie ihm hin. Dieser sah ihn entrüstet an:

»Das ist Unsinn, Griffon. Ich habe mich für den heutigen Abend vollständig frei gemacht. Woher wollen Sie wissen, daß ich heute einen Vortrag halte?«

»Aus dem ›Minuit‹ von gestern«, erwiderte Griffon und zog die zerknüllte Nummer seines Blattes aus der Tasche. »Hier steht es schwarz 108 auf weiß. In Ihrer Zerstreutheit haben Sie das vergessen. Es ist allerhöchste Zeit, daß Sie gehen!«

Sarret las die Notiz und sah Griffon wütend an: »Das ist ja unerhört«, rief er, »ich habe extra gestern den Zeitungen mitgeteilt, daß ich wegen eines wichtigen Familienanlasses meine Vorlesung heute nicht abhalten könne, und hier in Ihrem saubern Blatt wird eine glatte Fälschung meiner Einsendung vorgenommen. – Warum? – Wozu? Reden Sie, Griffon!«

Aber Griffon redete nicht, zuckte mit den Achseln und hing mit einem Seufzer die Garderobestücke Sarrets wieder auf.

Inzwischen stellte mich Morot dem berühmten Literarhistoriker vor.

»So«, sagte er, »Sie kommen aus Deutschland, dem Lande Goethes und der unbestechlichen Zeitungen. Hier bei uns sind unter zehn Zeitungsredakteuren neun Halunken, und der zehnte denkt darüber nach, wie er es auf dem leichtesten Wege werden kann. Aber das bleibt 109 unter uns, meine Herren! . . . Goethe war ein eifriger Zeitungsschreiber, unsere Großen aber auch. Alexander Dumas . . .«

Griffon vom »Minuit« war vor uns in das Speisezimmer gegangen und direkt an den Schiebeladen, der die Küche mit dem Eßzimmer verband. Er streckte den Kopf in die Küche hinein: »Grüß Gott, Marguerite, meine alte Freundin, da sind wir wieder einmal. Wie geht's, wie steht's? Hoffentlich keine Languste, sondern gewöhnlicher Hummer, aber mit großen Scheren? Bravo, Marguerite! Sie und der ›Minuit‹, sonst gibt's nichts mehr auf der Welt. Hat es auch eine Suppe, Marguerite? Tomatensuppe? Wundervoll, aber nichts für mich. Professor Sarret nimmt gleich zwei Teller. Nicht wahr, Sarret, gleich zwei Teller Tomatensuppe für Sie? Hummer auf amerikanische Art ist Gift für Sie, viel zu scharf.«

Wir saßen nun zu Tisch und achteten nicht auf Griffon, der plötzlich verschwunden war. Wir löffelten unsere Tomatensuppe und 110 lauschten Sarret. Sarret sprach nicht von Goethe, sondern über den älteren Dumas. Und wie sprach er! Es sind viele Jahre seit diesem denkwürdigen Abend bei Jean Morot vergangen; aber nie mehr habe ich so einen hinreißenden Sprecher gehört, wie es Sarret gewesen ist. Dieser kleine, unscheinbare Mann besaß eine erstaunliche Fülle von Kenntnissen, und er breitete sie mühelos vor uns aus, in jener seltsam leichten Weise, wie sie für manchen der großen französischen Gelehrten typisch ist. Aus tausend kleinen Einzelzügen gewann die Gestalt des Dichters farbiges Leben, und manchmal glaubte ich auf dem leeren Stuhle Griffons ihn selber, Alexander Dumas, sitzen zu sehen: »Bravo, bravo, Sarret, das bin ich gewesen.«

Marguerite hatte vor einiger Zeit mit einem etwas verlegenen Lächeln eine große, zugedeckte Schüssel auf den Tisch gestellt.

»Der Hummer wird inzwischen kalt geworden sein«, sagte Morot während einer Pause und deckte die Schüssel auf. 111

Wir starrten erschreckt hinein. Eine schöne rote Sauce leuchtete uns entgegen; aber von festeren Bestandteilen war kaum eine Spur zu bemerken. Morot schöpfte sich etwas auf den Teller: »Selbst die Sauce hat dieser Satan noch verwässern lassen«, stöhnte er, »was sind das für ungezogene Witze. Marguerite . . .!«

Marguerite kam herein und trug auf dem Servierbrett drei sauber zubereitete Schnitzel.

»Entschuldigen Sie, Herr Jean«, sagte sie schon an der Türe, »der Herr Chefredakteur ist selbst nachher noch in ein Restaurant gegangen und hat die Schnitzel geholt, nachdem er sah, was er angerichtet hat.«

»Was hat er angerichtet?«

»Der Herr Chefredakteur kam in die Küche, um zu versuchen, ob der Hummer geraten sei, und dabei hat er gesagt, der Herr Professor und der junge Herr Ausländer verständen doch nichts von einem Hummer à 1'américain, und der Herr Jean könnte ihn jeden Tag haben, wenn er ihn haben wolle. Und dabei hat der 112 Herr Chefredakteur versucht, bis nichts mehr da war.«

»Es war aber auch zu wenig für vier Personen«, tönte hinter ihr die Stimme Griffons, »diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen, liebe Marguerite; aber ausgezeichnet war er, das muß Ihnen der blinde Neid lassen.«

Morot war so empört, daß er kein Wort sagen konnte. Auch ich war wütend, und wenn mich Griffon in diesem Augenblick auf den Knien um einen Artikel für seinen »Minuit« gebeten hätte, er hätte ihn, weiß Gott, nicht bekommen. Nur dem Professor Sarret schien die Angelegenheit vollkommen gleichgültig zu sein. Er lächelte etwas verächtlich und nahm sich als erster ein Schnitzel aus der Schüssel.

»Aber Kinder«, sagte Griffon, »aber jetzt seid doch nicht so verärgert; ich bin doch noch persönlich in ein Wirtshaus gegangen und habe euch diese prächtigen Schnitzel geholt. Selbst auf die Gefahr hin, daß morgen im ›Dixheures‹ 113 steht: ›Minuit vor dem Bankrott. Griffon kauft selbst ein‹.«

Der Witz zog nicht. Um meiner Empörung Ausdruck zu verleihen, wandte ich mich förmlich an Sarret und sagte:

»Herr Professor, ich könnte Ihnen stundenlang, ja tagelang zuhören, ohne den geringsten Appetit zu verspüren. Wie lange sagten Sie, daß Dumas brauchte, um seine ›drei Musketiere‹ zu schreiben?«

Meine Worte machten auf Griffon aber auch nicht den geringsten Eindruck.

»Ich gehe jetzt in das Rauchzimmer«, meinte er, »und hoffe, dort ein paar anständige Schnäpse und eine rauchbare Zigarre vorzufinden. Wenn ihr eure Schnitzel gegessen habt, werdet ihr vermutlich nachkommen?«

Damit ging er, und man hörte noch, wie er im Nebenzimmer in einen Ledersessel plumpste.

Es herrschte einen Augenblick Stille. Wir sahen uns gegenseitig an. Dann aber sprach Sarret weiter, und er sprach sehr geistreich 114 über Alexander Dumas, die drei Musketiere und schließlich über das Klopffechtertum in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Paris.

Er war mit diesem Thema noch nicht zu Ende, als wir in das Rauchzimmer gingen. Dort lag Griffon schlafend in seinem Ledersessel. Seine linke Hand hing über die Lehne; sie hielt eine brennende Zigarre, deren Asche schon auf dem Boden lag. Sarret blieb vor ihm stehen.

»Armer Morot«, sagte er zu unserem Gastgeber, »dieser Mensch wird Ihnen den Smyrnateppich verbrennen, das Haus anstecken und Ihnen schließlich mit einer der von ihm geleerten Kognakflaschen den Schädel einschlagen. Und dann wird er Ihnen morgen abend im ›Minuit‹ einen gefühlvollen Nachruf schreiben, wenn ihm die Polizei dazu Zeit läßt.«

Er setzte sich in den Sessel, der gegenüber dem des Chefredakteurs stand, und starrte Griffon mit deutlichem Abscheu an. 115

Dann erzählte er weiter:

»In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es nicht nur drei Musketiere oder Klopffechter in Paris, sondern dreitausend. Darunter waren mindestens zweitausendneunhundert Journalisten oder Zeitungsredakteure. In diesem Beruf traf sich damals der ganze Abschaum Frankreichs. Schreiben konnten die wenigsten, aber dafür vorzüglich stechen. Da war irgendein Mensch, der aus der Masse hervorragte. Flugs wurde er von dem Redakteur eines düsteren Blättchens, das vielleicht eine Auflage von fünfhundert Exemplaren hatte – nicht von hunderttausend, wie heute – angerempelt und eine Flut von scheußlichen Lügen über ihn ausgegossen, in einer abscheulichen Sprache. Das vernünftigste war, wenn der Mann hinging und einige Tausendfrancsbillette auf die Redaktion brachte. Dann hatte er wenigstens eine Zeitlang Ruhe. Tat er es nicht, wehrte er sich, dann war es um ihn geschehen. Eines Tages wurde er von dem Redakteur des 116 Blättchens angerempelt, und am nächsten Morgen fand ein Duell statt. Der Mann wurde abgestochen, und schon am gleichen Abend war seine Witwe das Opfer eines neuen Erpressungsversuches . . .«

In diesem Augenblicke öffnete Griffon seine Augen und richtete sich ein wenig in seinem Sessel auf. Er sah mich an:

»Mein lieber junger ausländischer Freund«, sagte er, »ich habe diesen Herrn, der nun schon seit Stunden und Stunden ununterbrochen spricht, zwar für einen trockenen und einseitigen Literaturgelehrten gehalten, aber nicht für die Großausgabe eines Tartarin. Zweitausendneunhundert Journalisten in Paris in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts! Ich bin aufgewacht, um Sie zu warnen, junger Freund! Jetzt schlafe ich weiter.«

Und bald darauf verkündeten Schnarchtöne, daß Griffon anscheinend richtig eingeschlafen war. Sarret hatte bei den Worten des 117 Chefredakteurs wiederum verächtlich gelächelt, fuhr aber dann fort:

»Aber mitten in diesem Klopffechtertum blühte die blaue Blume der Romantik. Morot, haben Sie schon einmal etwas von einem Herrn de Balas gehört?«

Morot verneinte.

»Das ist nicht verwunderlich. Es gibt über diesen Herrn de Balas keine Literatur, nur eine Reihe von Notizen in Zeitungen und Memoirenbüchern und schließlich eine Todesanzeige, und zwar das alles in einem Zeitraume von ungefähr 1½ Jahren. Ich stieß zuerst auf ihn in den Erinnerungen des Herrn Vaurras, eines der berüchtigsten Raufbolde jener Zeit. Der schrieb unter dem 20. Juli 1836: Heute abend von einem Milchgesicht angerempelt worden, heißt de Balas. Und unter dem 22. Juli stehen die Worte: Milchgesicht nach Belieben im ersten Gange erledigt. Kurze Zeit später fand ich in einer Zeitung die Notiz, daß im Bois de Boulogne ein Säbelduell des 118 Rossignal, des Redakteurs der ›l'Attaque‹, eines der widerlichsten Schmähblättchen jener Epoche, stattgefunden habe. Der Kontrahent Rossignals, ein gewisser Herr de Balas, sei nicht unerheblich verletzt worden.«

»Dann ist es doch leicht möglich, in der ›Attaque‹ Material über den Herrn de Balas zu finden«, sagte Morot.

»Ich habe sämtliche Nummern der ›l'Attaque‹, die übrigens nur zwei Jahre existierte, durchgesehen; ich habe kein Sterbenswörtchen über de Balas gefunden.«

Es herrschte einen Augenblick Schweigen, dann fuhr Sarret fort:

»Ich will Sie nicht ermüden, meine Herren, und will Ihnen nur kurz erzählen, daß ich im Laufe der Zeit sieben oder acht solcher Notizen fand, die immer den gleichen Vorgang schilderten: der gewisse Herr de Balas schlägt sich mit einem der berüchtigsten Raufbolde seiner Zeit und wird abgestochen. Ich glaube, so lautet der fachmännische Ausdruck dafür.« 119

Jean Morot hatte aufmerksam zugehört: »Eine Tragödie in einer Nußschale erzählen Sie da, Sarret. Ich möchte wissen, welche Motive . . .«

»Verschiedene«, rief ich vorlaut, »ich würde eine Novelle daraus machen, mit dem Titel: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . .«

Morot sah mich an, und Sarret lächelte spöttisch:

»Wirklich?« sagte er, »das ist ein etwas sehr kitschiger Titel! Hören Sie mir noch einige Augenblicke zu.

Ich erzählte Ihnen, daß ich mich viel mit dem Verfasser der ›drei Musketiere‹ beschäftigt habe. Vor einigen Jahren hörte ich nun, daß ein ehemaliger, uralter Diener Alexander Dumas gestorben sei und daß sich in seinem Nachlaß eine Unmenge Manuskripte und Briefschaften seines früheren Brotgebers befänden. Sie können sich vorstellen, daß es mich reizte, sie auf ihren literarischen Wert hin zu untersuchen. Tatsächlich bekam ich eine Kiste, bis 120 zum Rande mit Schriftstücken gefüllt, zugeschickt. Es war eine grenzenlose Enttäuschung. Der Inhalt bestand aus Visitenkarten, Menüs, zahlreichen Menüs, Einladungskarten und schließlich aus Todesanzeigen. Eine dieser Todesanzeigen, auf feinstem Papier, anscheinend aus reichem Hause kommend, lautete ungefähr so: Madame Marie d'Ammon teilt in tiefem Schmerze mit, daß ihr geliebter Stiefsohn Henri de Balas, 21 Jahre alt, gestern infolge einer schweren Verwundung, wohlversehen mit den heiligen Sterbesakramenten, verschieden ist. Paris, den vierten Januar 1837.«

»Adresse?« frug Morot.

»Es war keine angegeben«, erwiderte Sarret und fuhr dann fort: »ich wollte die Karte schon zur Seite legen, als mir in der rechten Ecke eine dünne Bleistiftnotiz auffiel. Sie trug unstreitig die Schriftzüge Alexander Dumas' und bestand aus zwei Worten in Anführungszeichen: ›Merci, Monsieur‹.«

Sarret schwieg einen Augenblick, dann sagte 121 er: »Geben Sie mir eine Erklärung dafür!« »Nun, die Erklärung, die Sie sich selber gegeben haben, lieber Professor«, meinte Morot, »der siebente oder achte Klopffechter hat gut getroffen, so gut, wie es Henri de Balas gewünscht hat.«

»Balas«, warf ich ein und fühlte mich dabei ungemein wichtig, »war nämlich in seine Stiefmutter verliebt, die sicher jung und hübsch war, und der arme Teufel hat keinen anderen Ausweg mehr gewußt. Selbstmord verschmähte er. Er wollte möglichst unbemerkt um die Ecke gehen.«

»Bravo«, sagte Sarret, und seine Augen funkelten vor Vergnügen, »möglichst unbemerkt um die Ecke gehen. Ausgezeichnet ausgedrückt.«

Morot kam mir zu Hilfe.

»Er hat sich nicht richtig ausgedrückt, aber zweifellos das Richtige gemeint«, sagte er begütigend; »Dumas hat den dramatischen Stoff dieser Geschichte erkannt, ihn verwertet und 122 wo, wenn ich Sie fragen darf, lieber Sarret?«

»Er hat ihn nicht verwertet; ich glaube, er hat sich nicht stark genug dafür gefühlt.«

»Nicht stark genug gefühlt?« rief ich in jugendlicher Empörung, »geben Sie mir das Material, und ich will Ihnen in achtundvierzig Stunden eine Novelle schreiben, die sich sehen lassen kann.«

»Nein, und wenn Sie der junge Goethe wären, nein; der alte Goethe bekäme es, vielleicht, unter Umständen.«

In diesem Augenblick ließ sich die Stimme des Chefredakteurs des »Minuit« vernehmen, der aufgewacht war:

»Schämen Sie sich, Sarret«, sagte er, »mein junger ausländischer Freund bittet Sie in der höflichsten Form um den Stoff für eine Novelle, und Sie lehnen diese Bitte in dieser ziemlich unanständigen Art ab. Wenn Sie noch selber Dichter wären, dann könnte ich das unter gewissen Umständen verstehen, aber so!« 123

Er war aufgestanden und an meinen Sessel getreten: »Ich bin furchtbar beschäftigt; aber weiß Gott, ich werde mir morgen den ganzen Vormittag Zeit nehmen, um Ihnen das verweigerte Material herauszuklauben. Und Sie können versichert sein, wenn Griffon sucht, dann findet er.«

Sarret lächelte malitiös: »Griffon sucht und findet nichts.«

»Wieso, Sie . . .«

»Die Namen, die ich gab, waren von mir erfundene Pseudonyme, und es war auch nicht Alexander Dumas, bei dem ich jene Todesanzeige fand; es war ein Schriftsteller, auf dessen Namen Sie niemals kommen werden.«

Griffon wurde blaurot im Gesicht, er schnaubte heftig; ich fürchtete, er bekäme einen Schlaganfall. Mit schweren Schritten trat er an den Sessel Sarrets.

»Sarret, seit dreißig Jahren kenne ich Sie, und seit dreißig Jahren frage ich mich, wie in einem so kleinen Körper wie dem Ihren eine 124 solche Masse von Bosheit vorhanden sein kann.«

Sarret wollte etwas antworten, doch Griffon ließ ihn nicht zu Wort kommen:

»Seit dreißig Jahren, Sarret, haben Sie ununterbrochen gesprochen, und es ist Ihnen geglückt, die besten Köpfe von Paris, ja von ganz Frankreich duselig zu machen, so daß wir heute keine Schriftsteller und Dichter mehr besitzen, sondern papageienhafte Literaturschwätzer, die zu einer persönlichen Leistung nicht fähig sind. Das ist Ihr Lebenswerk, Herr Sarret.«

Morot war aufgesprungen: »Ich verbitte mir, daß Herr Sarret in meinem Hause von dir beleidigt wird.«

»Sarret beleidigen? Ich denke nicht daran! Seit Jahrzehnten warte ich darauf, Ihnen, Sarret, einmal die Wahrheit sagen zu können, und heute soll mich niemand verhindern, Ihnen die Wahrheit zu sagen . . .«

»Lassen Sie ihn ruhig seine Wahrheiten 125 sagen, Morot«, rief Sarret und kauerte sich tief in seinen Sessel, »Sie sind alkoholisch beschwingt, reden Sie frisch von der Leber herunter.«

»Sarret, ich will Ihnen sagen, aus was Ihr Lebenswerk besteht: Sie schrieben 100 Vorreden oder Nachreden zu 100 belanglosen Büchern, über weiß Gott welche Dichter. Sie klaubten dazu aus allen Bibliotheken und Archiven Europas 10 000 Zettel zusammen und konstruierten dann daraus 50 eigene Bücher, in denen kein einziges Wort Ihr geistiges Eigentum war. Ihr einziges Aktivum, Sarret, ist eine ölige Priesterstimme, die den Mädchen gefällt, und ein paar hundert Phrasen, die Sie zum Liebling des weibischen Paris gemacht haben.«

Sarret lächelte.

»Sie haben«, fuhr Griffon fort, und seine Stimme überschlug sich, »den Beruf eines Literarhistorikers erwählt, weil er Ihnen, der nicht imstande war, eine eigene positive 126 Leistung hervorzubringen, die Gelegenheit gab, ein parteiisches Richteramt über Könner auszuüben. Und je mehr einer konnte, desto sicherer war er, von Ihnen verdammt zu werden. Eine ganze Generation von Dichtern haben Sie rachsüchtig zugrunde gerichtet, weil Sie schon in Ihrer Jugend einsahen, daß Ihnen selbst niemals ein anständiger Vers gelingen würde.«

Sarret flötete aus seinem Sessel: »Ich habe niemals das Bedürfnis gehabt, einen Vers zu schreiben, Griffon!«

»Doch, Sarret«, und nun sprach Griffon so langsam, als ob er mit jedem Wort einen Degenstoß gegen Sarret führte, »doch, Sarret! Sie haben einmal ein Gedicht geschrieben, mit dem Titel: ›Dir, Valéry!‹ Haben Sie vielleicht das Gedicht vergessen?«

Sarret bäumte sich auf, als ob er tatsächlich Degenstöße empfangen hätte:

»Sie kennen das Gedicht?«

»Ich nicht allein, Saussure kannte es, 127 Bridoux, Malery und hundert andere. Bridoux sagte, es sei das albernste Liebesgedicht, das je in französischer Sprache geschrieben wurde, und Collet trug die Abschrift ein ganzes Jahr mit sich umher, um es jedermann vorzulesen. Und wie drollig konnte Collet vorlesen. Auf der Redaktionsstube der ›Neuen Literatur‹ hängt übrigens ein Exemplar unter Glas. Sie sollten es sich einmal ansehen, Sarret.«

Nachdem er dies gesagt hatte, ging Griffon, es dünkte mich, mit den Gebärden eines Henkerknechtes an das Fenster, öffnete es und sah auf die Straße hinaus; eine kalte Nachtluft strömte in das Zimmer.

Sarret lag einen Augenblick wie vernichtet in seinem Sessel; sein Gesicht zuckte in unaussprechlicher Qual. Dann stand er mühselig auf und bewegte sich mit ganz kleinen Schritten auf das Fenster zu. Kurz vor Griffon, der auf die Straße starrte, blieb er stehen und sagte mit einer Stimme, deren Ton mir noch heute in den Ohren klingt, diese Worte: 128

»Merci, Monsieur!«

Dann kehrte er plötzlich um und tastete sich wie ein Schwerkranker zur Türe hinaus. Wir hörten ihn noch einige Augenblicke auf dem Flur rumoren, dann wurde die Haustüre leise von außen geschlossen.

Noch saßen Morot und ich wie erstarrt, als sich Griffon umdrehte, an den Rauchtisch ging und sagte:

»Abgestochen, richtig abgestochen und nun noch einen Schnaps.«

Morot stand auf und nahm ihm, ohne ein Wort zu sagen, die Kognakflasche aus der Hand und stellte sie nieder. Er ging an die Türe und öffnete sie. Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel und sah vor sich hin.

»Morot, alter Freund«, rief Griffon, »was soll das bedeuten? Mache eine Novelle daraus, aber keine Tragödie, das ist der Schuft doch nicht wert . . ., dreißig Jahre habe ich es mit mir umhergetragen . . .«

Aber Morot gab keine Antwort. 129

»Nun gut, Morot, ich gehe, aber –« und er machte mit der Hand eine hilflose, kindliche Bewegung, die mich fast rührte, – »wenn ich nun einmal gehe, dann komme ich doch nie wieder.«

Morot schwieg.

Griffon ging hinaus. Draußen hörte man ihn laut nach der alten Marguerite rufen.

»Was ist, Herr Chefredakteur?«

»Hier ist etwas für Sie, Marguerite!«

»Aber Herr Chefredakteur!«

Nun sagte er mit einer Stimme voller Verzweiflung:

»Nie mehr Hummer à l'américain, nie mehr Marguerite . . .«

Fünf Minuten später ging auch ich. Draußen vor der Haustüre, in dem Lichtkegel einer Laterne, stand Griffon.

»Lieber junger ausländischer Freund«, sagte er, »ich habe auf Sie gewartet, ich wollte Ihnen verschiedenes erklären. Sarret, dieser Pedant und Schönschwätzer hat sie zu Tode gequält . . . 130 sie hat ihn genommen und nicht mich . . . gewiß . . . es war die einzigste Frau . . .«

Ich war jung – und zornig auf ihn:

»Herr Griffon, bleiben Sie mir endlich mit ›Ihrem jungen ausländischen Freund‹ vom Halse. Ich bin Ihr Freund nicht, nachdem Sie sich so schlimm im Hause Morot aufgeführt haben. Der arme Morot, er kann nun wochenlang nicht schlafen.«

»Ich habe jahrelang nicht geschlafen«, sagte Griffon.

»Das verstehe ich«, erwiderte ich, und ich war der Grausamkeit meiner Worte wohl bewußt; »wenn man Redakteur eines Nachtblattes ist, das ›Minuit‹ heißt, ist das selbstverständlich.«

Griffon schüttelte den Kopf.

»Kommen Sie mit mir auf den ›Minuit‹«, bat er, »ich will mich rechtfertigen. Ich erzähle Ihnen die Geschichte von mir und Valéry Duvernois, die Sarrets Frau wurde.«

Da zwang mich eine unheimliche Kraft, ihm 131 zu antworten: »Was soll ich auf der Redaktion des ›Minuit‹? Ich kalkuliere, das ist eine Stube, auf der hundert belanglose Bücher umherliegen und zehntausend Zettel, in denen kein einziges Wort Ihr geistiges Eigentum ist, nicht wahr, Herr Chefredakteur?«

Griffon schlug langsam seinen Rockkragen in die Höhe und trat aus dem Lichtkegel der Laterne in die Dunkelheit. Ich lauschte seinen sich entfernenden Schritten in der Haltung eines siegreichen Duellanten.

Dann aber überfiel mich plötzlich und überwältigend eine Traurigkeit, die mich seitdem – manchmal nahe, oftmals sehr fern – beharrlich durch das Leben begleitet.

 

Ende.

 


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