Heinrich Stilling
Buntes Allerlei
Heinrich Stilling

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Der General, der Moskito und die Nummer 317.

Als die Gondel an der Freitreppe anlegte, stand auf der untersten Stufe der Concierge des Hotels in devoter Haltung. Auf der zweituntersten Stufe verbeugte sich der Direktor, und oben vor dem weitgeöffneten Portal sah man die etwas dickliche Gestalt des Hotelbesitzers. Erst vor einer halben Stunde hatte ihm der Schneider den neuen schwarzen Rock gebracht, der eigens zu diesem historischen Augenblick angefertigt worden war.

Die Hotelfenster waren garniert mit den Gästen des Hotels, die eifrig an Ferngläsern drehten, hier knipsten und dort kurbelten, dabei aber im großen und ganzen den feierlichen Moment verpaßten. 71

Als der General mit ausgestreckten Händen auf den Hotelbesitzer zuschritt, ertönte aus der Höhe eine schrille Frauenstimme: »Good gracious«, und ein ziemlich breiter Gegenstand schlug dicht neben dem General auf die Steintreppe nieder. Der General zuckte mit keiner Wimper und hob eigenhändig den schwarzen, beschädigten Gegenstand auf.

»Amerikanisches Marinefernglas«, sagte er, »Modell 1917, veraltet und unhandlich im Gebrauche, aber keineswegs schlecht.«

Der Hotelbesitzer war bleich und stumm, der Hoteldirektor rot, jedoch konnte er reden.

»Exzellenz, entschuldigen Sie tausendmal«, rief er, »das ist die Nummer 317, die Witwe von dem amerikanischen Admiral Boother, die vorgestern den jungen italienischen Boxer geheiratet hat. Die ist jetzt wahrscheinlich etwas nervös und hat das Fernglas fallen lassen. Es ist unglaublich . . .«

»Hat nichts geschadet, hat nichts geschadet«, beruhigte ihn der General. »So, die Witwe des 72

Admirals Boother, unseres tapferen Verbündeten? Sagen Sie ihr, bester Direktor, sie solle sich das kleine Mißgeschick nicht zu Herzen nehmen. Es ist eine Bagatelle.« Und dabei legte er das schwere Glas in die zitternden Hände des Hotelbesitzers. Alsdann schritt der General elastisch zum Lift.

Unweit vom Lift standen der Küchenchef und der Oberkellner. Der war bleich wie sein Patron; aber er konnte reden wie der Hoteldirektor:

»Haben Sie gesehen, wie das Glas auf dem Kopfe des Generals aufschlug, abprallte und auf den Fußboden sprang? Wenn die verrückte Nummer 317 den General getötet hätte, ich wäre sofort hinaufgesprungen und hätte das alte Weib umgebracht!«

»In Gegenwart des Boxers?« frug zweifelnd der Küchenchef.

»Wenn schon«, erwiderte der Oberkellner, »der Boxer hat sich übrigens seit der Trauung nicht mehr sehen lassen.« 73

Der Hotelbesitzer hatte den General in ein riesiges Gemach geführt, in dessen Mitte, unter einem fürstlichen Baldachin, auf Löwenklauen, ein imposantes, zweischläfriges Bett stand. Die ehemals dunkelblaue Seidendecke auf dem Bette spielte heute etwas ins Gräuliche, und der Hotelbesitzer fing einen musternden Blick des Generals auf. Da fühlte er, daß der Moment gekommen war, um in das Historische abzugleiten, und so sagte er denn feierlich:

»Exzellenz, ich und mein Haus, wir fühlen auf das tiefste die Ehre, die Sie uns durch Ihren Besuch angetan haben. Und besonders dieses Bett, Exzellenz, wird diese Ehre zu würdigen wissen. Vor 145 Jahren hat Napoleon der Große zwei Nächte in diesem Bette verbracht, ehe er den denkwürdigen Frieden von Campo Formio abschloß. Kein Bett in der Welt . . .«

Der General unterbrach den Redefluß: »Um Gottes willen, seit 145 Jahren hat niemand mehr in diesem Bette geschlafen?«

Diese prosaische Frage verschlug dem 74 Hotelbesitzer die Rede; jedoch der Hoteldirektor mischte sich eifrig ein:

»Aber nein, Exzellenz, erst vorgestern ist es von der Nummer 317 verlassen worden. Denn, wo sie jetzt mit dem italienischen Boxer verheiratet ist, will sie in keinem französischen Bett mehr schlafen; sie zieht jetzt ein Einerzimmer im sechsten Stock vor.«

»Nun gut«, sagte der General und betrachtete noch einmal mißtrauisch die blaßblaue Seidendecke, »aber sagen Sie, Herr Direktor, wo ist das Moskitonetz, haben Sie keine Moskitos hier?«

Der Direktor schlug eine breite Lache an: »Moskitos, Exzellenz, ausgeschlossen. Moskitos gibt es hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr, dank unserer tätigen Stadtverwaltung und ihrer Petroleumspritze. Moskitonetze hat es aber auch gar nicht gegeben, die so groß sind, um das Bett Napoleons einzuhüllen, nein, leider hat unsere Industrie so große bis heute noch nicht anfertigen können. Aber wie 75 gesagt, Exzellenz . . .« Und damit beurlaubten sich unter vielen Bücklingen Direktor und Besitzer.

Der General war allein, zündete sich eine Zigarette an und machte einen Abendspaziergang um das Bett Napoleons herum. Als er die Zigarette geraucht hatte, entkleidete er sich und legte sich hinein, nicht ohne ein gewisses Gefühl der Ehrfurcht und der Vorsicht.

In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er befand sich in einer wildfremden Großstadt und besah sich das Schaufenster einer Spielwarenhandlung. Seine Aufmerksamkeit wurde angezogen von einem entzückenden Kinder-Aeroplan, dessen vollendete Ausführung und Buntfarbigkeit ihm unübertrefflich erschien.

»Das wäre ein passendes Geschenk für meinen Enkel«, dachte der General und wollte schon in das Geschäft eintreten, als sich das Flugzeug plötzlich bewegte und ein surrendes Geräusch von sich gab. Dabei wuchs es sehr 76 ansehnlich an Größe. »Der Mechanismus hat sich gelöst«, dachte der General, »es wird doch um Gottes willen nicht durch das Ladenfenster fliegen und mir direkt an den Kopf ?« Er versuchte eiligst zurückzutreten; aber seine Beine waren wie festgewachsen. Das Summen wurde stärker, das Flugzeug immer größer, und schließlich durchbrach es tatsächlich die Scheibe. Nun war es dem General plötzlich möglich, in die Knie zu gehen, nicht ohne Scham vor den Passanten, die nichtsahnend an ihm vorbeieilten. Seine Hände hatte er instinktiv zur Abwehr dem hervorbrechenden Flugzeug entgegengestreckt, und zu seiner Genugtuung bemerkte er, daß nur seine linke Hand leicht von dem linken Flügel des Flugzeuges gestreift wurde.

»Gott sei Dank«, dachte der General, und in diesem Augenblicke wachte er auf. Er tastete mit der rechten Hand die linke Hand ab, hörte ein sich entfernendes Summen, zündete das Licht an und sprang mit einem Satz aus dem 77 Bett. »Tod und Teufel«, rief er, »das war ein Moskito.«

Unter dem Bett holte er einen Pantoffel hervor und umschlich das Bett Napoleons. Aber von dem Moskito, der ihn in die linke Hand gestochen hatte, fand er keine Spur. »Tod und Teufel«, wiederholte er dann noch einmal, »wie soll ich das verfluchte Biest finden, wenn dieses napoleonische Bett zehn Quadratmeter breit ist?«

Er schleuderte also den Pantoffel wieder unter das Bett, kroch hinein und löschte das Licht. Der General hatte seine erste Schlacht verloren.

Der General horchte in die Finsternis, und sein angeborener Optimismus gewann die Oberhand:

»Das Biest«, dachte er, »ist zum offenen Fenster hinaus, Gott sei Dank!«

Schon machte er sich zum Einschlafen bereit, als sich ein leiser, klingender, singender Ton seinem Bette näherte: 78

»Verflucht, das Biest kommt wieder. Na, warte nur, ein alter General weiß, wie er dich zu empfangen hat!« Das Singen kam näher und näher und schwieg plötzlich still. Auf des Generals Stirne schwieg es still.

»Jetzt!« dachte der General und schlug sich mit großer Schnelligkeit und äußerster Kraft auf den Kopf.

Ein sich rasch entfernendes Singen verkündete, daß der General seine zweite Schlacht verloren hatte.

Aber der General gab den Kampf nicht auf, nein, der Sieger von Portenuzzo und Camborini war zäh wie Leder. Sein Optimismus war verschwunden; er bereitete sich auf den Stellungskrieg vor. Er fabrizierte sich einen Unterstand aus dem Leinentuch, zog die blaßblaue Seidendecke, die er vor kurzem noch mit so viel Mißtrauen betrachtet hatte, weit über den Kopf, bereit, daraus mit großer Schnelligkeit eine tödliche Moskitofalle herzustellen.

Der singende, klingende Ton ließ nicht lange 79 auf sich warten. Er kam näher und näher und endete plötzlich auf der blaßblauen Seidendecke Napoleons des Großen, direkt über dem Kopfe des Generals. Mit Blitzesschnelle bog er die Decke um und hämmerte mit beiden Fäusten auf die Stelle, wo er den Moskito vermutete. Dann zündete er das Licht an, um siegestrunken die Leiche des Feindes zu betrachten. Er fand sie nicht, und als er kurz darauf das Licht wieder verlöschte, verkündete ein fernes Summen, daß der General seine dritte Schlacht verloren hatte.

Apathisch lag er nun auf seinem Bett und wartete ergeben, daß sich das Singen wieder einstellte. Aber darüber schlief er ein, und dann träumte er zum zweiten Male.

Wieder beschäftigte er sich im Traum mit Flugzeugen. Er hatte soeben das Zeichen zum Angriff gegeben und war im Begriff, aus dem Schützengraben auf der Hochebene von Portenuzzo herauszuklettern. Seine Truppen hatten schon längst den Grabenrand überstiegen 80 und stürmten den feindlichen Gräben entgegen. Aber ihm, dem General, war es nicht möglich, in die Höhe zu kommen. Immer, wenn er seinen Fuß ansetzte, bröckelte der Sand ab, und er glitt in den Graben zurück. Er schämte sich furchtbar, und er arbeitete tapfer mit Händen und Füßen; aber er kam nicht hoch. Auf einmal hörte er den Ruf: Infanterieflieger, Deckung! Erleichtert ließ er sich zurück in den Graben plumpsen; aber es war zu spät. Ein dunkler, breiter Gegenstand, ähnlich einem amerikanischen Marinefeldstecher, flog aus der Höhe . . .

Als der General am Morgen aufwachte, griff er sich sofort an die Stirne.

»Verdammtes Mistvieh«, sagte er, als er den Umfang der großen Beule über dem linken Auge abgetastet hatte. Das linke Auge war fast geschlossen, um so größer wurde plötzlich das rechte. Vor ihm, dem General, stand auf der blaßblauen Seidendecke Napoleons, auf allen Beinen und in einer aufreizenden Ruhe, 81 der siegreiche Moskito. Schon hob der General die Hand, um zuzuschlagen, als ihm ein Gedanke kam.

»Vieh«, sagte er, »bleib wo du bist und grüße mir eventuell die Nummer 317.«

Vorsichtig, um ja dem Moskito keinen Schaden anzutun, stieg er aus dem Bett und trennte sich von ihm, nicht ohne einen Blick, in dem ein ganz klein wenig Hochachtung schimmerte.

Klirrenden Schrittes durchmaß der General den Korridor, um hinab in das Frühstückszimmer zu steigen. Ueberall öffneten sich die Türen, angezogene, halbangezogene und im Nachtgewand befindliche Mitmenschen beeilten sich, einen Blick auf den Helden von Portenuzzo und Camborini zu werfen. Auch versuchte man zu knipsen und zu kurbeln, jedoch im großen und ganzen ohne Erfolg.

Als der General in den Frühstückssaal trat, ertönte plötzlich von einem kleinen, runden Tisch, an dem eine einsame, alte Dame saß, der durchdringende Aufschrei: 82 »Good gracious!« Um der Wahrheit die Ehre zu geben: der General achtete nicht darauf. Er hatte in seinem militärischen Leben schon so viele Schreie gehört, daß ihm ein einzelner – und besonders von einer älteren Dame – gar nicht auffiel.

Er war noch nicht lange auf sein Zimmer zurückgekehrt, als ihm der Chasseur einen Brief brachte, der stark parfümiert war. Der General roch daran und las dann die Aufschrift:

»An den glorreichen Sieger von Portenuzzo und Camborini und vom 15. Juli 1933.«

»Daß ich der Held von Portenuzzo und Camborini bin«, dachte der General, »das ist historisch nachgewiesen, aber vom 15. Juli 1933? Wann war denn das? Gestern!«

Hastig riß er das Kuvert auf und las:

»Ruhmreicher Feldherr!

Eine alleinstehende Witwe wollte einen Helden sehen, und da nahm sie ihr Opernglas 83 (»Verdammte Schwindlerin«, dachte der General, »ein amerikanischer Marinefeldstecher ist kein Opernglas«), und in der Aufregung fiel ihr das Glas aus der Hand. Das Glas fiel dem Helden auf den Kopf, sie selber aber in Ohnmacht, so daß sie die Folgen ihrer Tat erst heute im Frühstückszimmer erkennen konnte.

Die schuldig-unschuldige Witwe weiß aus der Geschichte, daß Helden Eisenschädel haben; auch ihr verstorbener Mann hatte einen solchen, wenn er dabei auch nur an Nikotinvergiftung zugrunde gehen durfte. Aber auch Eisenschädel können brechen, wenn sie von der Entfernung des dritten Stockes zum Erdboden getroffen werden. Ich weiß alles, General; der Oberkellner Jean hat es mir erzählt. Was kann ich zur Sühne tun? Ich weiß, General, Sie sind Präsident der Kriegsopfer. Hier eingelegt finden Sie einen Scheck auf 100 000 Lire für diese Kriegsopfer und als Sühnegabe einer schuldig-unschuldigen und unvorsichtigen

Witwe.« 84

Der General strahlte über das ganze Gesicht, soweit er es mit dem fast zugeklebten Auge tun konnte, und ein dankbarer Blick des rechten Auges fiel dann auf den Moskito, der noch immer unbeweglich auf der blaßblauen Seidendecke Napoleons des Großen saß.

Auf einmal verfinsterte sich sein Gesicht: er hatte unten am Briefe ganz klein die Worte entdeckt: »bitte wenden«.

Er drehte das Blatt und las:

»General! Soeben höre ich von meinem Zimmermädchen, daß durch unser Hotel das Gerücht, das abscheuliche Gerücht läuft, ich hätte mich vor zwei Tagen mit einem jungen italienischen Boxer verheiratet. Die Wahrheit, die volle Wahrheit ist die, daß ich mit diesem jungen Menschen, der mir gegenüber immer Gentleman blieb, in der Kirche zur heiligen Dreifaltigkeit war, um ihm ein Gemälde Tizians zu zeigen und zu erklären. Solche junge Boxer sind immer ungebildet, und man soll etwas für ihre Bildung tun. Doch blieb dabei 85 mein Herz unberührt, und meine Hand ist noch immer frei.

Die Witwe.«

Als der General dies gelesen hatte, faltete er zwar sorgfältig den Scheck zusammen, dann aber stürzte er eiligst an das Bett Napoleons des Großen, holte unter dem Bette seine Pantoffeln hervor, haschte von dem Bette sein Nachtgewand, ohne auf den Moskito irgendwelche Rücksichten zu nehmen, und warf beides, nebst der Zahnbürste, eiligst in den Handkoffer. Dann läutete er nach dem Oberkellner.

»Die Rechnung«, sagte er, »und haben Sie einen Lieferanteneingang?«

»Gewiß, Exzellenz!«

»Dann bestellen Sie dort an den Ausgang ein Motorboot, und zwar in zehn Minuten.«

Und tatsächlich nach zehn Minuten schlich der General über die Lieferantentreppe hinab an den Kanal, nicht ohne sich mißtrauisch nach allen Seiten umgesehen zu haben. 86

Erst wie der General den nächsten Zug besteigt, der ihn auf das Festland bringt, klirren seine Sporen wieder, und seine Orden schimmern fröhlich wie sonst. Wie er im Zuge sitzt, greift er sich an die Brusttasche, und sein gutmütiges Gesicht heitert sich auf, soweit es eben das geschwollene Auge zuläßt.

Dann aber lehnt er sich zurück, zündet eine Zigarette an, und in diesem Augenblick endet die Geschichte vom General, dem Moskito und der Nummer 317. 87

 


 


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