Heinrich Stilling
Buntes Allerlei
Heinrich Stilling

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Die Geschichte von der Schildkröte Johanna.

»Machen Sie den Mund recht weit auf! Noch ein bißchen mehr! So jetzt kann ich nach hinten! Es wird bestimmt nicht weh tun. So, es ist geschehn, hat's weh getan, Frau Meyer?«

Frau Meyer spülte den Mund aus, und dann sprach sie:

»Herr Doktor, was Sie bei Ihren Jahren noch eine leichte Hand haben, das ist geradezu unglaublich. Ich sag's immer zu meinem Mann, wenn wir jetzt wegziehn und gleich über die Grenze, werde ich je wieder einen Zahnarzt finden, wie Sie einer sind? Bei jedem werde ich an Sie denken und unzufrieden sein. Ja, wir haben Sie sehr gern gehabt, mein Mann und ich, und wir wollen Ihnen auch ein Andenken an uns dalassen.« 27

»Es genügt mir ein Gedenken in Ihrem Herzen«, erwiderte der Zahnarzt und sah unwillkürlich das große Gemälde »Abendlandschaft an der flanderischen Küste« vom Maler Flammery und den »Zahnauszieher« von dem Bildhauer Petterlin an. Er hatte diese Werke, wie überhaupt die ganze Kunstausstellung im Wartezimmer von Klienten als Geschenke erhalten, die damit ihre Rechnungen als abgegolten betrachteten.

»Wir wollen Ihnen die Johanna schenken«, fuhr Frau Meyer fort, »und mein Mann hat's zuerst angeregt. Ist das nicht lieb von ihm? Er hat gesagt, sie mit über die Grenze zu nehmen, das habe seine Schwierigkeiten, da brauche man ein ärztliches Attest und weiß Gott was; bei dem Zahnarzt könne sie auf seiner großen Terrasse umherlaufen und lebe wie Gott in Frankreich.«

»Ja, liebe Frau Meyer, wer ist denn diese Johanna, die Sie mir schenken wollen; es scheint doch etwas Lebendiges zu sein. Sie 28 wissen doch, daß ich unverheiratet bin . . .« »Weiß ich«, sagte Frau Meyer, »haben Sie keine Angst, Herr Doktor, was wir Ihnen schenken wollen, ist unsere Schildkröte Johanna, die wir seit sieben Jahren in unserem Garten haben, ein entzückendes Tier.«

Der Zahnarzt sprang erschreckt aus der Hockstellung dicht vor der Klientin auf. Er dachte an die große Lederschildkröte im Zoologischen Garten, zwei Meter lang und fünfhundert Kilogramm schwer, auf der er einmal, als Kind, seine ersten Reitversuche gemacht hatte.

»Um Gottes willen, Frau Meyer, meine Wohnung ist für ein solches Tier viel zu klein, ganz abgesehen von der Nahrungsfrage.«

»Ihre Achtzimmerwohnung nebst dem großen Balkon viel zu klein? Johanna ist nicht viel größer als meine Hand.«

Sie streckte dem Zahnarzt die Hand entgegen, der aber der Situation noch nicht völlig gewachsen war. Darum sagte er: 29

»Nun, so ganz klein finde ich das nicht, aber . . .«

Nun öffnete Frau Meyer ihre Handtasche, aus der einige sehr hübsche Banknoten heraussahen, und sagte:

»Herr Doktor, ich möchte doch sofort meine Rechnung bezahlen, wenn's Ihnen gefällig ist; wir reisen übermorgen schon fort.«

Diese gänzlich unerwarteten Worte trieben den Zahnarzt an seinen Schreibtisch, und nur noch einmal, bei dem Abschied, fand er die Gelegenheit, sein »Aber« an die Frau zu bringen.

»Aber«, sagte er, »von was lebt denn so eine Schildkröte eigentlich?«

»Nun, von dem, von dem Sie seit vierzehn Jahren auch leben, von Salat und Kartoffelbrei. Johanna ist auch Vegetarianerin; es ist eben, als ob es sein sollte, daß sie zu Ihnen kommt. Adieu, Herr Doktor!«

Der Zahnarzt blieb in Bestürzung zurück und überlegte den ganzen Nachmittag, woher 30 Frau Meyer diese Details aus seinem Privatleben wußte.

Daß er sie selber Frau Meyer bei ihrem ersten Besuch vor Jahren bekanntgegeben hatte, daran erinnerte er sich heute nicht mehr.

 

Am andern Tag hielt Johanna, die Schildkröte, ihren Einzug in die Wohnung des Zahnarztes. Sie hatte bisher in dem Meyerschen Garten und in einem kleinen Gartenhäuschen darin ein ziemlich zurückgezogenes Leben geführt, nun kam sie in das Zentrum der Stadt, in den ersten Stock, in eine Achtzimmerwohnung mit Parkettböden und allen modernen Einrichtungen.

Die modernen Einrichtungen sagten Johanna, der Schildkröte, nicht sehr viel, dagegen gefiel ihr der Parkettboden außerordentlich; denn sie glitt auf ihm, ohne Anstrengung, rasch dahin.

»Sehen Sie«, sagte Frau Meyer zu ihrem Zahnarzt, nachdem sie einen Abschiedskuß auf 31 das Schildpatt Johannes gedrückt hatte und sie sorgfältig auf den Parkettboden placierte, »sehen Sie nur, Herr Doktor, wie sie sich bei Ihnen gleich wohl fühlt! Der geht's so wie einem, der viele Jahre in den Tropen gelebt hat und nun plötzlich in Europa wieder einmal Schlittschuh laufen darf. Oder ist das Bild falsch, Herr Doktor?«

Tatsächlich zeigte Johanna, die Schildkröte, nicht die geringste Scheu; mit erhobenem Köpfchen schlitterte sie über das Parkett im Wartezimmer hinüber in das Ordinationszimmer und direkt an den verchromten Fuß der Bohrmaschine, wo sie, wohl etwas benommen von der entwickelten Schnelligkeit, unbeweglich sitzenblieb.

»Vier Franken hat uns das Tierchen gekostet«, rief Frau Meyer noch, »aber für mehrere Nullen mehr hat es uns Vergnügen gemacht. Und wie intelligent es ist! Kaum ist es bei Ihnen, da geht es schon schnurstracks zu dem Apparat, womit sein zukünftiges 32 Herrchen die meiste Arbeit leistet, um ihn zu bewachen. Seien Sie recht lieb zu ihm! Fräulein Künkerlin, die neue Klientin, die ich Ihnen gebracht habe, wird mir schreiben, wie Sie mit der Johanna auskommen. Leben Sie wohl, Herr Doktor!«

 

Fräulein Künkerlin schrieb nicht gerne Briefe über die Grenze hinaus; ihre unberechtigte Angst, daß wildfremde Menschen sie lesen würden, verhinderte das; aber wenn sie geschrieben hätte, die Briefe wären voll des Lobes gewesen für den Doktor in seinen Beziehungen zu Johanna, der Schildkröte.

Der erste, der unter diesen Beziehungen zu leiden hatte, war der Polizeihauptmann Gottfried Spoery. Er war ein großer Kavallerist, der nach seinen morgendlichen Ritten, hoch gestiefelt und stark gespornt, seinen Freund, den Zahnarzt, zu besuchen pflegte.

»Gottfried«, sagte der Doktor eines Tages zu ihm, indem seine kurzsichtigen Augen 33 suchend über das Parkett glitten, »ich muß dich bitten, in Zukunft nicht mehr in Reitstiefeln zu mir zu kommen.«

Der Polizeihauptmann folgte seinem Blick und lachte dann häßlich auf:

»Wegen deiner zerschlissenen, alten Teppiche? Du Geizhals, du hast die beste Praxis in der ganzen Stadt!«

»Nein, Gottfried, wegen Johanna!«

»Wieder eine neue, tüchtige Haushälterin? Einen schönen Verschleiß in dieser Kategorie findet man bei dir. Sie wollen dich alle heiraten und müssen bei deinen Jahren, nolens volens sofort die Sturmleitern ansetzen . . .«

»Johanna ist meine Schildkröte. Da kommt sie! Ist sie nicht ein entzückendes Tierchen?«

Johanna fühlte sich bei dem Zahnarzt nun schon ganz zu Hause, wenigstens meinte das der Doktor.

Sie lief direkt auf die übereinandergeschlagenen, schimmernden Reiterbeine des Polizeihauptmanns los, die sie wahrscheinlich mit dem 34 verchromten Fuß der Bohrmaschine im Ordinationszimmer verwechselte.

Der Polizeihauptmann zog die Beine in die Höhe. »Herrgott«, rief er, »mußt du dir auf deine alten Tage noch solches Viehzeug anschaffen? Nun muß ich mich, wenn ich dich besuche und dein Spielzeug nicht zertrampeln will, sofort aufs Sofa legen. Oder kann sie klettern? Klettert sie vielleicht am Sofa in die Höhe?«

Sein Freund, der Zahnarzt, gab ihm darauf keine Antwort, sondern ging mit erhobenem Haupt und mit raschen Schritten in das Ordinationszimmer. Die Schildkröte Johanna drehte dem Polizeihauptmann die Rückseite zu, schlitterte ihrem Herrn nach, und während dieser auf die Terrasse trat, um Luft zu schöpfen, setzte sie sich, unter deutlichen Anzeichen des Gekränktseins, vorläufig an den verchromten Fuß der Bohrmaschine im Ordinationszimmer nieder. 35

 

Am nächsten Tag hing mit des Doktors Handschrift ein Plakat im Wartezimmer. Es lautete:

»Man bittet höflichst um Vorsicht wegen Johanna!«

Dieses wortarme Plakat gab Anlaß zu den merkwürdigsten Vermutungen, die lange über den Tod der Schildkröte Johanna – und der Wahrheit die Ehre, auch über den Tod des Doktors – hinausdauerten.

Aber das beschäftigt uns nicht, sondern eine Unterredung, die der Zahnarzt mit dem Fräulein Künkerlin hatte, die die Wahrheit kannte, öfters von ihr Gebrauch machte und besonders jetzt, in dem Augenblick, wo der Doktor mit dem linken Fuß nach der Bohrmaschine angelte, um den hohlen Backenzahn plombierbar zu machen.

»Wirklich und wahrhaftig«, sagte sie hastig und betrachtete dabei die genannte Maschine, die schon tatenlustig schnurrte und brummte, »es ist doch jammerschade, daß Ihre Qualitäten 36 einmal so ganz verlorengehen. Wie sich die Johanna in der kurzen Zeit an Sie gewöhnt hat, das ist staunenswert. Das zeigt, was Sie für ein guter Mensch sind, Herr Doktor!«

Und als sich die Spitze des Bohrers trotzdem ihrem Munde näherte, wich sie, mit dem Kopfe nach unten, aus, um noch sagen zu können:

»Eben läuft die Johanna auf die Terrasse hinaus, hoffentlich stürzt sie sich nicht durch das Gitter hinunter.«

Der Zahnarzt hing den Bohrer, der sofort sein unangenehmes Rasseln einstellte, wieder in die Stütze, weil er wußte, daß mit Fräulein Künkerlin heute doch nichts anzufangen war, und sagte: »Sie kann ruhig auf den Balkon gehen, die Johanna, sie kommt auch wieder zurück, sie fühlt sich so wohl bei mir. Außerdem kann sie durch das Gitter nicht hindurch, es ist zu eng.«

Trotzdem ging er auf den Balkon, und Fräulein Künkerlin, die die heutige Sitzung für beendigt hielt, folgte ihm. 37

Johanna, die Schildkröte, trippelte auf dem kürzesten Weg an das Gitter der Terrasse. Dort hielt sie einen Augenblick an, da tatsächlich das Gitterwerk für sie zu eng war. Aber ehe Fräulein Künkerlin einen Schrei ausstoßen und der Doktor hinzuspringen konnte, richtete sie sich halb auf, schob sich quer durch das Gitter und ließ sich aus der Höhe des ersten Stockes ohne Umstände in den Garten fallen.

Der Doktor stutzte einen Augenblick, dann sprang er die Treppe hinunter in den Garten, während Fräulein Künkerlin wieder in den Operationsstuhl zurückkehrte, sich ein Glas Wasser einschenkte und dann nach dem zahnärztlichen Handspiegel griff, um ihre Gesichtsfarbe den kommenden Ereignissen anzupassen.

Nach einigen Minuten kehrte der Doktor mit der Schildkröte in der Hand zurück.

»Ist sie tot?« rief Fräulein Künkerlin. »Wenn sie tot ist, dann kann ich sie nicht mehr sehn. Ich kann schon eine kranke Freundin 38 nicht sehen, wieviel weniger eine tote Schildkröte.«

»Sie ist nicht tot«, sagte der Zahnarzt, »ihr Schildpatt hat sie geschützt; aber stellen Sie sich vor, Fräulein Künkerlin, die Schildkrott ist sofort nach ihrem Sturz weitergelaufen, auf dem kürzesten «Weg an das Gartentor.«

»Herr Doktor«, meinte Fräulein Künkerlin, »sind Sie ganz sicher, daß Ihre Johanna ein Weibchen ist?«

»Frau Meyer hat es gesagt«, erwiderte der Zahnarzt.

»Das ist für mich nicht maßgebend, was die Frau Meyer sagt; die ganze treulose Art und Weise von Ihrer Johanna beweist, daß sie in Wirklichkeit ein Johann ist. Es wird Ihnen nichts anders übrigbleiben, als sie anzubinden.«

»Aber wie soll ich das machen?«

»Wie seid Ihr Männer doch so ungeschickt, ich verstehe nicht, wie Sie so lange ohne Frau auskommen konnten, Herr Doktor! Sie nehmen hier Ihre Bohrmaschine, bohren ein Loch 39 in das Schildpatt der Johanna und ziehen durch das Loch einen Strick. Fertig ist die Laube.«

»Fertig ist die Laube«, rief der Zahnarzt, »aber nicht meine Humanität. Ich bin Mitglied des Tierschutzvereins, Fräulein Künkerlin . . .«

»Als ob der Johanna das Loch in ihrem Schildpatt weh tun würde? Ihre fürchterliche Bohrmaschine hätte in ihrem Dasein noch nie so eine schmerzlose Arbeit verrichtet wie in diesem Fall. Ihre Humanität endet in einer Tragödie. Alle Humanität endet in einer Tragödie, damit der gesunde Menschenverstand wieder zum Durchbruch kommt.«

»Ja, das sind so die Erfahrungen aus einem langen Nachdenken«, sagte sie dann noch, grüßte und ging.

 

Es ist unmöglich, daß gerade ein Zahnarzt, zumal im Frühling, bei geschlossenen Fenstern und Türen arbeitet, lediglich weil seine Schildkröte auf die Terrasse hinaus will, um von 40 dort in die Freiheit zu gelangen. Als er daher eines Tages ein Paket erhielt, das mit einer wunderschönen gelben Seidenschnur umwickelt war, dachte er an Fräulein Künkerlin und ihren Vorschlag. »Immerhin«, sagte er sich, »es ist menschlicher, Johanna mit einer Seidenschnur an mich zu fesseln, als mit einem Strick, nachdem sie mir schon fünfmal über den Balkon gesprungen ist.«

So war er eben im Begriff, die Knoten der Schnur zu lösen, als der Hausbesitzer, ein kleiner, dicker Herr, eintrat.

»Ein seltener Besuch«, meinte der Zahnarzt, »habe ich meine Miete nicht bezahlt, oder vielleicht gar wegen der Zähne?«

»Meine Zähne sind nicht der Rede wert«, sagte der Hausbesitzer und griff sich schützend über den Mund; »aber ich hätte Sie gerne einmal wegen Ihrer Schildkröten gesprochen.«

»Wegen meiner Schildkröten?«

»Nun ja. Also meine Frau geht nie mehr ohne aufgespannten Regenschirm aus dem 41 Haus. Sie sagt, von Ihrem Balkon kollern fortwährend so Biester herunter. Meine Frau behauptet auch, Sie würden Schildkrötenrennen über die Terrasse herunter veranstalten, und Ihr Freund, der Polizeihauptmann, streute ihnen Pfeffer auf die Schwänze, damit sie möglichst rasch laufen. Ich muß Ihnen schon sagen, dafür bezahlen wir die großen Gehälter von den Herren nicht und wo wir Hausbesitzer sowieso schon unsere Not haben . . .«

Der Zahnarzt unterbrach die Rede: »Was Sie da von meinem Freund, dem Polizeihauptmann, sagen, ist Unsinn!«

»Ich hab's ja auch nicht gesagt, sondern meine Frau. Ich muß Sie um Diskretion ersuchen; aber wenn Sie es ihm schon weitererzählen, dann sagen Sie ihm ausdrücklich, daß es meine Frau gesagt hat. Wo haben Sie übrigens Ihre Schildkröten eingesperrt? Im Schlafzimmer?«

Der Zahnarzt gab hierauf keine Antwort, nahm seinen Besucher am Arm und führte ihn 42 in das Ordinationszimmer. Dann wies er mit der Hand gebieterisch nach dem verchromten Fuß der Bohrmaschine. Aber dort saß keine Schildkröte.

»O Gott«, rief er auf einmal, »ich habe in Gedanken vorhin die Terrassentüre geöffnet, sie ist sicherlich hinaus und hat sich dann herunterfallen lassen.«

In diesem Augenblick ertönte von der Straße her ein lauter Aufschrei. Der Zahnarzt fuhr erschreckt zusammen und legte die Hand ans Ohr. Der Hausbesitzer sagte: »Ich bin überzeugt, das sind Ihre Schildkröten. Wenn sie einen Zusammenstoß mit meiner Frau gehabt haben, dann können wir was erleben.« Er sagte: Dann können wir was erleben.

»Sprechen Sie keinen Unsinn«, erwiderte der Doktor, »Schildkröten schreien nicht wie hysterische Frauen. Was sich da auf der Straße abspielt, hat mit meiner Schildkröte nicht das geringste zu tun, die ist noch nie aus dem Garten herausgekommen.« 43

Der Hausbesitzer schüttelte den Kopf und ging auf die Terrasse; der Doktor folgte ihm nach.

»Nichts zu sehen«, sagte der kleine, dicke Mann, »die Bäume sind zu hoch; aber wenn meine Anita zu Hause ist, dann werden wir gleich wissen, was los ist. Deswegen wohnen wir ja im dritten Stock, damit meine Frau die ganze Gegend überschauen kann.«

»Anita«, rief er laut, »bist du zu Hause?«

»Ja!«

»Gott sei Dank. Anita, wir haben hier einen furchtbaren Schrei gehört. Kannst du sehen, was passiert ist?«

»Ja, Franz, eine Dame ist an der Ecke in Ohnmacht gefallen, ein Kavalier in Uniform auf einem grauen Roß sprengt an ihre Seite, schwingt sich vom Pferd, die Ohnmächtige in seine Arme und . . .«

»Und?«

»Und trägt sie auf unser Haus zu.«

»Und weiter?« 44

Aber die Frau auf dem Balkon war ebensowenig wie Schillers Johanna geneigt, allzulange nur einen Beobachterposten einzunehmen; es erfolgte keine Antwort mehr, und deswegen liefen die beiden Männer auch hinaus auf den Flur und dann auf die Treppe, um den herankommenden Ereignissen näher zu sein.

Die Treppe hinauf, nur von den rechtmäßigen Hausbewohnern geleitet – seine Uniform schützte ihn vor fremden Mitläufern – stieg der Polizeihauptmann Spoery und trug in seinen Armen Fräulein Künkerlin, die in tiefster Ohnmacht lag. Er sprach kein Wort, erst an der Türe des Wartezimmers sagte er »Polizei« und »Arzt«, was die Begleitung richtig dahin verstand, verschwinden zu müssen. Im Wartezimmer warf er seine Last auf das Sofa ab und sah dann seinen Freund, den Zahnarzt, düster an:

»Ich wußte, daß dir das Biest, die Johanna, die Katastrophe ins Haus bringt. Bei ihrer Flucht aus deiner Wohnung ist sie dem armen 45 Fräulein Künkerlin an der Straßenecke zwischen die Füße geraten; sie fiel hin, ich sah's, riß unwillkürlich an den Zügeln, mein Baldur bäumte sich, und wir hätten uns beide um ein Haar überschlagen, und das alles wegen einer Schildkröte, die es bei dir nicht aushält. Nun, jetzt ist sie tot.«

»Du hast sie getötet?«

»Das weiß ich nicht, vielleicht ist sie unter meine Stiefel gekommen, vielleicht ist sie erstickt, als Fräulein Künkerlin über sie fiel, vielleicht hat sie auch mein Roß Baldur durch einen Huftritt zerschmettert; auf alle Fälle, sie ist tot.«

»Aber ich bin nicht tot«, flötete eine Stimme vom Sofa, »Sie sind ein Held, Herr Hauptmann. Wie Sie mich auf Ihren starken Armen hierhergetragen haben, das waren die schönsten Augenblicke in meinem Leben.«

»Sie waren doch ohnmächtig, Fräulein Künkerlin?«

»Ja, natürlich; aber trotzdem habe ich alles 46 gemerkt, was um mich herum vorging. Sie sind wirklich ein Held, Herr Hauptmann, ich kann es Ihnen beweisen!«

»Wie ist das möglich?« antwortete nicht uninteressiert der Hauptmann.

Da sagte Fräulein Künkerlin vom Sofa her, mit schon stärkerer Stimme:

»Ach, wo ist denn nur meine Handtasche, ich habe meinen Spiegel und meinen Lippenstift drin. Ich sehe wohl furchtbar blaß aus, Herr Hauptmann?«

»Aber ganz im Gegenteil! Ihre Handtasche hängt an der Gartentüre links. Mein Freund Franz wird sie Ihnen sofort heraufbringen. Nicht wahr, Franz?«

»Aber nimm vorher rasch die Schildkröte heraus«, fügte er noch leise hinzu, »es würde doch einen schlechten Eindruck auf Fräulein Künkerlin machen, die gar nicht so übel ist, wie ich früher glaubte. Ich wollte dir nämlich an der toten Schildkröte beweisen . . .« 47

»Daß ich dich auch für einen Helden halten soll, schon gut, Gottfried.«

Der Zahnarzt ging zur Türe hinaus und langsam die Treppe hinunter; er hatte verschiedenes zu überdenken.

Als er dann die tote, freiheitsliebende Schildkröte aus der Handtasche nahm, tat er es sehr vorsichtig und liebevoll, und fast hätte er dem Beispiel der Frau Meyer im Anfang unserer Geschichte gefolgt, wenn er nicht eben ein Zahnarzt und deswegen im Grunde ein Sentimentalitäten abgeneigter Mann gewesen wäre. Denn nur ein solcher ist imstande, Instinkte, Absichten und Wirkungen nicht zu verwechseln.

Und nicht nur nicht zu verwechseln, sondern auch die reine Moral daraus für sich ganz persönlich zu ziehen. 48

 


 


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