Ludwig Steub
Sommer in Oberbayern
Ludwig Steub

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Carl Ettinger: Gmund.

Am Tegernsee

Wer sich auf Reisen belehren will, darf nicht ewig in Gmund bleiben. Ein Ausflug nach Tegernsee ist gerade so nahe und so wichtig wie einer von Schwabing nach der Residenz.

Es war an einem Sonntagmorgen, als ich alpenbedürftig vor der Post ankam. Ach, das sah aus wie ein Jahrmarkt, wo der am dichtesten ist! Ein halbes Dutzend Stellwagen luden ihren mannigfaltigen Inhalt aus, verschiedene Equipagen rollten vor, etliche Sonntagsreiter mischten sich unter die Menge, die von einem Kranz von Schifferinnen, Wildpretschützen, Almerinnen und Landleuten aller Art malerisch umfangen war. Auch etliche Tirolerinnen machten ihre Aufwartung und waren mit Aprikosen wie anderen Südfrüchten freundlich zur Hand. Die Kellner rannten, die Lakaien schwirrten, die Hausknechte brüllten. Viele Ankömmlinge standen ratlos in dem Wirrsal – kein Zimmer, kein Quartier, kein Bodenloch! hieß es von allen Seiten. Desto sicherer drehte sich da um die eigene Achse ein unzerstörbarer Stock von wohlvermieteten Münchnern, lauter gute Leute, die zum Ausschiffen der Stellwagen herbeisputeten wie die Kinder zur Wachtparade. Es ist so angenehm, sagt der alte Dichter, vom sichern Ufer aus dem Schiffbruch der anderen zuzusehen. Diese Zuschauer gewährten auch in der Tat lauter angenehme Gesichter und schienen in der herrlichsten Sonntagslaune. Herr Oberleutnant N., in der Stadt so vornehm, grüßte mich sogar. Viele andere gebildete Zivilpersonen von der Altane, von der Türstaffel herab taten desgleichen. Und wirklich, diese Blumenlese von lieben Bekannten – wer konnte sie nur im Traume ahnen! – sie ging weit über die kühnsten Wünsche. Hier der Herr Sekretär, dort der Herr Assessor, der Herr Bezirks-, der Herr Regierungs-, der Herr Appellations- und Oberappellationsrat, der Herr Staatsanwalt, der Herr Kommissar, der Herr Oberkommissar, der Herr Inspektor, der Herr Direktor, der Herr Konsistorialrat mit seinem christlich-germanischen Lächeln – auch der Herr Baron, der Herr Freiherr, der Herr Graf aus München waren da, alle in der Joppe und im ländlichsten Humor – aber es war fast zuviel auf einmal, und wirklich überwältigend.

Ach, lieber Gott, betete ich endlich, nur ein norddeutsches Gesicht, sei's ein Hannoveraner, ein Märker, ein Mecklenburger oder Pommer, nur einmal eine Abwechslung! – Und übersättigt von der Süßigkeit taumelte ich fort an die Table d'hôte zu Guggemoos und kam unbewußt neben ein fremdartiges Hochzeitspaar aus Niedersachsen zu sitzen. Dieser günstige Zufall goß vorläufig Ruhe in mein beängstigtes Gemüt. So gibt's denn doch noch ein Fleckchen, dacht' ich mir, wo ihr nicht seid, ihr Lieben und Getreuen! Die junge Dame war schön und liebenswürdig, zum erstenmal im Gebirge und sonst auch ganz glücklich. Aus den reinen Augen lachte jene harmlose Seelengüte, die ich an den Frauen immer mehr schätzen lerne, je seltener ich sie in Wahrheit zu finden glaube. Hin und wieder sprachen wir etwas, hin und wieder auch nichts. Dieser geringe Verkehr stellte gleichwohl meine geistige Gesundheit wieder her. Als die Tafel aufgehoben war, dachte ich mir: »Noch einmal wag' ich's!« – und machte mich auf nach Egern.

Als ich an der Abtei, dem jetzigen Schloß, vorüberging, fiel mir die Vergangenheit ein, das Mittelalter, das Jahr 746, wo Otkar und Adalbert, die beiden frommen Brüder aus edlem Stamm, im Tegernseer Urwald den Grundstein des später so berühmten Stiftes legten. Ach, wie lange ist das her! Wie fern sind uns jene Zeiten, wo der bayrische Adel, statt in bedenklichen Wechselgeschäften zu machen, jenen Überfluß für Bildung und Wissenschaft strömen ließ! Übrigens gibt es Augenblicke auf dem Lande, wo uns zu engerem Umgang ein althochdeutscher Klosterbruder ebenso lieb wäre, als irgend eine hoffnungsvolle Nummer aus einem neuhochdeutschen Staatshandbuch. Wie herzlich gern wär' ich dir begegnet, verehrter Fromund aus dem zehnten Jahrhundert, du Freund des Sängers von Venusia und unermüdlicher Kopist, oder dir, mein Werinher, ein heiterer Scholastikus, der schon dazumal ein Lustspiel auf den Untergang des Antichrist geschrieben, welches man wohl einmal auf unserem Hof- und Nationaltheater aufführen dürfte – und wie gern hätte ich dich gesehen, Metellus, den ältesten Poeten des Bayerlands, der bereits zur Zeit der Ottonen lateinische Almenlieder gedichtet! Die Tegernseer Mönche schrieben nebenbei so schön, daß sie für ein kalligraphisches Meßbuch Weinberge, Wiesen und Gehölz bekamen. Auch Friedrich der Rotbart, der von ihrer Kunst vernommen, bestellte sich daselbst ein Missale, und ist der Brief noch heutigen Tages zu lesen. Kaiser Heinrich III. erhielt sogar eine ganz herrlich geschriebene Bibliothek geschenkt. Aus jenen dunkeln Zeiten leuchten deshalb mit besonderem Licht etliche kunstreiche Schönschreiber hervor, ein Sigibold, ein Adalbert, ein Ellinger usw., wogegen wohl mancher gelehrte Vater, der den Plato und den Aristoteles verstand, für alle Zeiten vergessen ist. In solchem Ansehen stand vor achthundert Jahren in Altbayern die edle Schreibkunst, welche da seitdem wieder so herabgekommen ist, daß man die verehrungswürdigen Erkenntnisse unserer Gerichte jetzt kaum mehr lesen kann, teils wegen Schlechtigkeit der Handschrift, teils wegen Unsinns der Abschreiber.

Das freundliche Egern ist nur durch eine kleine Meerenge von Tegernsee getrennt, doch behauptet man, zwischen den Städtern oder Sommerfrischgästen von Egern und denen von Tegernsee sei ein ungeheurer Unterschied der Denkungsart, der Sitten und der Tracht. Wer einmal in Tegernsee sich eingewohnt, passe seiner Lebtage nicht mehr nach Egern, und umgekehrt. Ein andermal werden wir vielleicht diese kulturhistorischen Rätsel näher untersuchen; heute wollen wir nur bemerken, daß auf jenem Gestade, wo die Fähre abstößt, an diesem Nachmittag sich fast immer mehr Seelen zusammenfanden, die nach dem Jenseits begehrten, als weiland um Charons schier zu oft zitierten Nachen. Früher war den Wartenden gar kein Schirm vor Regen oder Sonne geboten, jetzt steht wenigstens ein hölzernes Vordach da, unter welchem wir den glühenden Strahlen auszuweichen suchten. Da mir heute gar nichts zu Dank war, so dachte ich ärgerlicherweise: Wären wir jetzt im alten Griechenland, so stünde hier eine reizende Stoa mit korinthischen Säulen, und auf der Hinterwand hätte Zeuxis mit seinem famosen Pinsel ein mythologisch-historisches Gemälde hingehaucht, etwa wie die klassisch gebildeten Mönche von Tegernsee und ihre Braumeister sich mit Tritonen, Nereiden und Delphinen im Wasser tummeln – im Hintergrund der Hirschberg mit seinen Gemsen! Den Tegernseern wäre eine solche Pökile wohl auch schon angenehm, wenn sie nur einen unentgeltlichen Zeuxis fänden.

Ich war schon wieder unversehens unter lauter Lieben, so daß ich nur in der goldenen Sonne, der herrlichen Landschaft, dem Blick auf die grünen Almen und den blauen See noch einigen Trost fand. Ach, du weiland stilles, idyllisches Egern, wie bist du doch so eigen geworden! Im See staken ein halbes Dutzend Bader, vielmehr Badende, männlichen Geschlechts natürlich, nur mit den Häuptern sichtbar, welche wie abgeschnitten auf den Wassern schwankten. Fräulein Crudelis fuhr schiffend am Gestade entlang, mutterseelenallein in einem bemalten Kähnchen. Die Zephire hatten – ich weiß nicht wie – den Weg in ihre weiße Krinoline gefunden, welche sich wie ein Segel blähte, so daß sie nur milde durch die Seerosen hinzusteuern brauchte, was sie mit himmlischem Lächeln tat. Derweilen schallen aus allen Fenstern die kunstreichsten Klavierkonzerte, die Chansons d'Amour, der Marsch aus dem Sommernachtstraum. Eine Zither schlägt den Elfenchor aus Oberon; Fräulein Amara jodelt: »Zu dir zieht's mich hin . . .« usw., mit jugendlichem Ungestüm, als wenn sie gar nicht mehr aufzuhalten wäre. Hin und wieder ein Trompetenstoß aus dem Wirtsgarten wie ein Posaunenschall aus einer anderen Welt, und von der nächsten Wiese die Musik des Rindviehs, welche wir weit oben im Bergwald aus sentimentaler Schwelgerei »Alpengeläute« nennen, während uns hier die einfachen Instrumente derselben neben der Harmonie der Pianoforte doch auch nur vorkommen wie die gewöhnlichsten Kuhschellen.

Im Wirtsgarten zu Egern saßen etliche Senate der beiden Münchner Bezirksgerichte beim braunen Bier, etliche Museumsfräulein bei ihrer Milch – mehrere würdige Matronen mit ihren keifigen Gesichtern lorgnettierten die ganze Welt. Da fand ich auch nicht, was ich im stillen begehrte – ich wollte nach Rottach hinüber, um das Letzte zu versuchen. Rottach ist der Zwillingsbruder von Egern, beide sich so ähnlich, daß man sie selbst in der Nähe kaum unterscheiden kann. Viele gingen nach Rottach, viele kamen daher – Männer und Frauen, diese verlockend geputzt mit den neuen Amazonenhütchen, auch schottisch verkleidete Münchner Kinder, welche unter sich französisch redeten; ferner der Herr Juwelier aus der Weinstraße, der Herr Großhändler von der Kaufingerstraße, die »lange Warenhandlung« vom Promenadeplatz, das Geschäftscomptoir bei den Theatinern – lauter Händedrücke, Begrüßungen und freundliche Erkundigungen. Wie man auf dem Maskenball fragt: »Bist auch da?«, so fragt man am Tegernsee: »Wie kommen Sie daher?«, obgleich jeder weiß, daß es da her eigentlich nur einen Weg gibt, und daß alle nur die eine Sehnsucht treibt, die Stadt und die Städter loszuwerden. Ihren Umarmungen kaum entrissen, begegnet der Wanderer wieder einer anderen Gefolgschaft – Dichtern, Malern, Professoren, Kunstschriftstellern, Politikern, nebst verschiedenen Gattinnen und Töchtern. Wieder Patschhändchen und Freundlichkeiten ohne Zahl. Ich nahm den Dichter zur Seite und flüsterte wehmütig: »Lieber Dichterling, ich habe einen wirklichen Poeten in der Tasche, möchte gern in einsamem Waldesgrün etliche Idyllen lesen – ist vielleicht dort drüben? ein stiller Ort unter einer Linde, oder wär' es auch unter einem Tannenbaum?« »Ach«, sagte der Poet, »dort drüben ist's noch viel ärger als hier. Hundert Münchner sitzen jetzt beim Kaffee und hundert andere krabbeln an den Bergen herum und machen die ganze Gegend unsicher!«

Eine alte Misanthropie, herber Täuschungen bitterer Sprößling – oft unterdrückt, nie ganz zu vertilgen –, brach nun unwiderstehlich los. Ihr lieben Freunde und Bekanntinnen, dachte ich, o wäret ihr doch jetzt nicht hier, sondern im Tivoli oder bei Reibel zu München, wo ich niemals hinkomme – und raschen Entschlusses flüchtete ich wieder über die Fähre, und ganz verschüchtert, allenthalben ausweichend, am Tegernseer Schloß vorbei und hinaus, hinaus, bis ich einsam am Wege stand, der da zieht von Tegernsee nach Gmund.

Die Sonne war untergegangen, ein feuriges Abendrot lag über dem Flachland draußen, die Luft war ruhig, der See auch, so daß man bis von Kaltenbrunn herüber die Mädchen lachen hörte. Die Berge standen schwarz und groß umher und die Sterne stiegen über ihnen funkelnd auf – o du herrliche Einsamkeit! O du stille Pracht der Nacht. Es war kein Gram mehr in meiner Brust, ich segnete alle, denen ich heute begegnet – es waren doch lauter treffliche Leute!


Oberländer: Oberbayrischer See einst und jetzt

 


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