Ludwig Steub
Sommer in Oberbayern
Ludwig Steub

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Über Bahnhöfe

In dem Bahnhofe zu Rosenheim findet man ein Beispiel, wie schwer uns bescheidenen Altbayern der Glaube fällt, daß aus uns und unseren Schöpfungen etwas Großes werden könne. Dort legte nämlich der Baumeister die Erfrischungshalle nicht geräumiger an als die Herrenstüblein, die er etwa zu Neubeuern oder zu Reit im Winkel gesehen hatte. Wenn nun aber jetzt in diesen schönen Tagen die Züge von München, von Wien, von Innsbruck zusammentreffen, die Touristen von den Säulen des Herkules, von den britannischen Inseln, von den rhipäischen Gebirgen, von Kolchis, vom Nil und vom Ätna, so stürzen sich – gelinde gesagt – fünfzig bis sechzig Personen an den kleinen schmalen Schenktisch und verlangen zu trinken. Innerhalb steht aber nur eine dicke Samariterin, die sich nicht zu helfen weiß. Mittlerweile fangen die Reisenden, welche sechs, sieben Mann hoch übereinander drängen, zu kreischen und zu schelten an. Die Glücklichen in der vordersten Reihe, welche ihr Bleiglas und ihre Wurstsuppe errungen haben, beschütten, indem sie sich wieder herauswinden, die übrigen, die noch warten. Die Ungeduld und der Lärm werden immer größer. Die Madame, oder wie wir sie nennen wollen, verliert die Fassung.

»Jetzt schrein s' wieder alle z'samm, jetzt versteht man gar nichts mehr!« ruft sie in solchen schweren Augenblicken und legt die Hände in den Schoß.

Rosenheimer Bahnhofsrestauration
Holzschnitt von Wilhelm Busch, 1860

Derweilen wird wieder zum Zug gerufen und die Mehrzahl zieht schimpfend, aber ungelabt von dannen.

»Das ist eine ungeschickte Einrichtung«, sagte kopfschüttelnd ein Sachse, der neben mir stand.

Leicht zufrieden, wie wir sind, plädierte ich für mein Vaterland, bezog mich auf die Schwäche der menschlichen Natur und die Unerreichbarkeit des Ideals, worauf aber jener: »He, mein Bester, das Ideal ist schon erreicht – kommen Sie nur auf unsern Bahnhof zu Riesa – dort ist eine lange Tafel mit hinreichenden Leuten aufgestellt, und wenn hundert zu trinken begehren, sind sie in drei Minuten bedient!«

Ich fühlte mich belehrt, wußte aber doch nicht recht, wie man in das kurze Zimmer jene lange Tafel stellen sollte.


Der Bahnhof zu Prien hat eine etwas schalkhafte Natur, vor der wir warnen zu dürfen glauben. Freundlich lassen die Leiter des Zugs die harmlosen Fremdlinge aussteigen und rufen ihnen traulich zu: »Erquicket und labet euch!« Mitunter aber setzt sich ohne ein Zeichen, einen Ruf oder Pfiff die Maschine plötzlich in Bewegung und enteilt mit dem Zug, noch lange verfolgt von den Wehrufen und Verwünschungen derer, die sie zurückgelassen.

Wer erinnert sich nicht an den melancholischen Fall, als am 12. Mai v. Js. (= 1870) auch zwei angesehene Herren aus Tirol zur Stelle waren, ein geistlicher und ein weltlicher, vielleicht gar ein Reichsrat, welche sich in die nächste Nähe zerstreut hatten, und plötzlich mit peinlichster Überraschung die Lokomotive ohne allen Abschiedsgruß davonjagen sahen. Der eine Herr, der weltliche, sprang zwar noch auf Leben und Tod in einen Packwagen hinein, der andere, der geistliche, welcher sparsamerweise von seinen beiden Beinen weder das linke noch das rechte riskieren wollte, blieb zurück, machte noch eine sprechende Gebärde, und begab sich dann, aufrecht erhalten durch die Tröstungen der Philosophie, ins Wirtshaus, wo er nicht weniger von der Freundlichkeit der Bedienung, als von der Bildung der dort versammelten Honoratioren überrascht war. Teilnahmsvoll sagten ihm die Eingeborenen, daß sie an den Anblick Zurückgebliebener schon gewöhnt seien, da dieses unabwendbare Mißgeschick nicht gar selten hereinbreche.

Und auch am 23. Juli soeben, als ich in dritter Klasse fuhr, da ich wie Herzog Ludwig zu Giengen »unter meinem Volk« sein wollte und vor der geschlossenen Wagentüre stand, ging der Zug urplötzlich unter meinen Händen davon, so daß der nächstgelegene Kondukteur nicht einmal die Türe mehr öffnen, sondern mir nur zuschreien konnte, mich zu retten wie ich könne. Worauf ich denn nachlaufend noch zufällig ein anderes Pförtchen offen und dort auch den besagten Kondukteur wieder fand, welcher mir auf die Bemerkung, daß ich mich diesmal über solche Manier gleichwohl beschweren werde, den freundlichen Rat erteilte, ich solle lieber der Vorsehung danken, daß ich nach allem diesem noch meine geraden Glieder habe. Wünschenswert wäre es aber gleichwohl, daß eine Methode erdacht würde, um künftig auch auf der Station zu Prien (nach einigen, aber wenigen, der Hauptsitz der alten Horazischen Breuni oder der Breonenser) eine halbe Minute vor Abgang ein Warnungszeichen zu geben – eine Rücksicht, welche, wenn auch nicht die einheimischen, so doch die fremden Reisenden zu verdienen scheinen.

Auffallend ist es immerhin, daß unsere Oberkondukteure, obgleich die wenigsten studiert haben, doch nicht praktischer sind. Manchmal scheint dieser Zug zwar noch höher hinaufzusteigen, wie man denn bei der großen Eröffnungsfahrt nach Wien, die sich jetzt jährt, zwar eine vollständige Sammlung der wichtigsten Bürokraten, Diplomaten und Postbeamten hinunterschickte, dafür aber die berühmten Pfleger der Wissenschaft, die Münchner Mitglieder der Wiener Akademie, die österreichischen Künstler, die mit Zelebrität in München leben, und andere literarische Männer, die im Nachbarlande sehr gut bekannt sind, in Vergessenheit ließ, während man ihre Namen, wenn man sie nicht selber wußte, bei gebildeten Leuten leicht hätte erfragen können. Bei solchen Gelegenheiten fühlt man noch heutzutage sehr kräftig, daß wir in einem agricolen Lande leben, und daß die aus dem Nährstande hervorgehende Bürokratie oder wenigstens ein ziemlicher Teil derselben unsere »höheren Güter«, wie Kunst, Wissenschaft, Literatur, immer noch als Dinge betrachtet, welche ins Bayerland gar nicht hereingehören. Es ist daher Pflicht, stets darauf hinzudeuten, daß die Repräsentation einer Hauptstadt nicht in einem lebendigen Auszug aus dem Staatshandbuche besteht, sondern eher aus jenen Leuten, welche sich unabhängig davon einen Namen erworben haben. Wie ein gebildeter Fremder, der nach München kommt, zuerst nicht nach den Münchener Akten und Verordnungssammlungen fragt, sondern nach Kunstschätzen, Ateliers, Theater, Konzerten usw., so wird man auch, wenn man in anderen Städten derlei Festzüge mustert, zunächst nicht nach dem Registratur V., nach dem Sekretär W., nach dem Assessor X., auch nicht, wenn sie sonst nichts weiter sind, nach dem Kollegialrat Y. und dem Direktor Z. sich erkundigen, sondern nach Künstlern, Gelehrten, Dichtern usw. Das wollen aber jene Leutchen nicht begreifen.


Wer etwa am 13. August zu Holzkirchen auf dem Bahnhof war, der wird sich noch lange erinnern, wie es damals bald nach Mittag zuging. Daß das reisende Publikum den Gedanken nicht los wird: es seien alle Beförderungsanstalten nur seinetwegen da! Daher das viele Schimpfen und »Aufbegehren«, welches den guten Sitten so zuwider ist und mitunter sogar den Respekt gegen Kondukteure und Bahnbeamte verletzt – während der Pilger jene Institute doch eigentlich als eine Gottesgabe, als ein himmlisches Gnadenbrot erachten sollte, für welches seine Fahrtaxen nur als eine Art Stolgebühren wie bei Kindstaufen und Hochzeiten erscheinen, wobei alles Räsonieren wegen mangelhafter Verrichtung gänzlich ausgeschlossen ist.

Hundert Menschen also sprangen damals aus den Wagen und stürzten dahin, um die hintere Front des Bahnhofs zu gewinnen, wo das ehrsame Holzkirchen sich darstellte und die blauen Alpen, leider aber nur vier oder fünf Stellwagen. Über letzteres verdüstert, griffen manche sogleich zum Wanderstab, der sie wenigstens bis zu Holzkirchens Sommerkellern geleitet haben mag, die andern aber warfen sich zurück und auf eine kleine Schießscharte im Bahnhof, die dem Publikum einen vielbeschäftigten Mann im blauen Rock bis zum Kinn hinauf sichtbar werden ließ, der die Billette für die Stellwagen langsam austeilte. Und da entstand ein Gedränge, welches man wegen der mancherlei dabei beteiligten Damen und bei der jetzigen Bildung der Touristen fast erstaunlich nennen konnte, denn sie haben sich, um mit Kobell zu reden, »die schönste Sottise gesacht«.

Doch die Miesbacher und die Schlierseer kamen glücklich davon in ihrer Arche, aber wir Tegernseer stritten zu dreißig sehr höflich um Einlaß in einen schmalen Kasten, der kaum ein halb Dutzend fassen konnte.

»Man lasse Wagen kommen aus dem Markt!« herrschte sofort eine Stimme im blauen Rock, die dieser Not ein Ende machen wollte.

Sehr traurig ist es aber, daß der Markt nicht da steht, wo man den Bahnhof hingebaut, und daß der Tag so heiß war; denn als man nach einer halben Stunde nachfragte, hatte es wegen der tropischen Hitze niemand gewagt, in den Flecken hineinzutraben, und über die Wagen war keine Kundschaft einzuziehen.

Denkende Reisende fanden aber leicht einen Trost im Ungemach und setzten sich ihrer drei zum Tarock zusammen (ein feines Spiel und erwünschte Aushilfe für regnerische Sommertage und lange Winterabende, gleich hoch geschätzt von Geistlichen und Laien; es wird dadurch manche Ausgabe für Bücher erspart), und spielten zwanzig Sölchen »ohne Fragen«, ehrlich und wohlgemut, bis endlich zwei Vehikel daherschaukelten, eng, aber gemütlich, welche sich entschuldigten, daß die Pferde auf dem Feld gewesen und die Knechte nicht daheim – worauf sich dann die braven Landfahrer nach anderthalb Stunden mit lächelndem Brummen in diesen Gehäusen verloren.

»Bei uns«, sagte ein Stuttgarter – und sein schwäbischer Dialekt ließ seine Reden noch fremdartiger klingen – »weiß man bei gutem Wetter immer, daß mehr Leute kommen, und da tät' man den Posthalter zwingen, daß er lieber einen Wagen zu viel schickt, als zu wenig – und wenn einer leer bleibt, so kann er'n wieder heimführen.«

Neues Beispiel von der tiefen Kluft zwischen den deutschen Stämmen! Diese grausame Energie der Schwaben gegen die Herren vom Dienst, und dabei der unwürdige Servilismus gegen das Publikum! Wie ganz anders ist das bei uns. Einen bayrischen Posthalter zwingen – mich überlief es kalt. Und erst die Stuttgarter, die im voraus wissen, daß bei gutem Wetter mehr Leute ins bayrische Gebirge reisen? Wahre Teufelskerle!

Also wohl eingeschindelt und eingeschachtelt, Kopf an Kopf und Knie an Knie, nach Tegernsee. Je mehr dem Menschen gegeben wird, desto mehr verlangt er, woher auch die bekannte Maxime mancher Regierungsbeflissenen: daß man lieber gar nichts geben sollte. Jetzt, wo die Eisenbahn doch schon das schöne Stück bis Holzkirchen abkürzt, meint der Reisende, sei ein großer Übelstand, daß man nicht gleich bis an das Posthaus zu Tegernsee hinfahren könne. Freilich wird von einer Eisenbahn gesprochen, welche über Berg und Tal, durch Klüfte und Schluchten nach Miesbach hinziehen soll, in das freundliche Miesbach, wo unsere Miesbacher Kohlenbergwerksgesellschaft thront. Bei den Eisenbahnen sieht man bekanntlich, wie bei den Regierungssystemen deutscher Staatsmänner, frühestens zehn Jahre zu spät, daß sie ganz falsch angelegt worden, wonach dann die Reue über verlorene Zeit und das verschwendete Geld leider umsonst ist. Gott verhüte, daß dieses Schicksal auch dem kleinen zarten Ärmlein drohe, welches hier die Wien-Pariser Bahn mit naiver Neugierde verlangend in die Vorberge hineinstreckt. Unverständige Leute meinen, daß das freundliche Miesbach eigentlich eine Sackgasse sei, von wo aus die Bahn nur etwa über die Spitzing-Alm oder die Rote Wand im blauen Dunkel ferner Jahrhunderte, wenn einst auch diese Höhen mit blühenden und volkreichen Landgerichtssitzen besät sein werden, eine Fortbildung zu erhoffen habe, wahrend doch gerade im Süden von Holzkirchen die auf ebenem Boden zu erreichende »Kreuzstraße« liegt, ein unscheinbarer Punkt, der aber ein bisher verkanntes Talent zu naturwüchsiger Entwicklung zeigt. Von hier aus, sagt man mit einem Blick auf die Karte, würde auch das freundliche Miesbach in kurzer Zeit erreicht sein, und dann wäre einerseits »freie Hand« für die künftige Tölz-Kemptener Bahn – sollte sie auch auf lange hin nur erst durch eine gute Landstraße vertreten werden –, andererseits aber der Weg nach Kreut und ins herrliche Achental offen, wo so viele stille Seelen ohne Aufsehen hinpilgern, um des belebenden Umgangs der dort bei Scholastica hausenden Innsbrucker Gelehrten teilhaftig zu werden.

Solche Gedanken machten sich auch im Stellwagen laut, und die Verfechter der Kreuzstraße wußten sich nicht wenig mit ihrer besseren Einsicht, bis ich endlich, da ich das Räsonieren im Omnibus nicht vertragen kann, sie beschwichtigte mit der Bemerkung: es sei bei uns überhaupt nicht zu vermuten, daß etwas Ungeschicktes geschehe (man habe noch keine Beispiele), und wenn die Eisenbahn nach Miesbach einmal wirklich gebaut sei, so müsse man sie eben mit der Ruhe des Weisen hinnehmen, denn alles was existiere, sei auch vernünftig. Dies wirkte, bis wir nach Gmund am Tegernsee kamen, wo ich ausstieg.

 


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