Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Ludwig Steub lernt Grödnerisch

Im Dörfchen Pufels herrschte tiefe Stille, und wir fanden selbst am Wirtshause die Türe verschlossen. Doch gelang es, durch die Scheune einzudringen und auf diesem Wege endlich auch die Wirtin zu erschreien, die im Speicher mit ihren Vorräten beschäftigt war. Sie sprach deutsch, wie es die Grödnerinnen sprechen, das heißt immer mit einem welschen Rückhalte und mit großem Anstoß am ›R‹. Es wurde ihr eröffnet, daß wir geschwind noch Grödnerisch zu lernen gedächten, ehe wir ins Tal hinunterstiegen, und über diese Absicht sowie über die Eilfertigkeit, mit welcher wir sie betrieben, fing sie herzlich zu lachen an. Wir blieben gleichwohl fest bei unserm Vorsatze.

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Nach ein paar Stunden schlossen wir die Untersuchungen, da es Abend werden wollte und noch etwa eine Stunde nach St. Ulrich, dem Grödner Hauptort, vor uns lag.

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Oben indessen hatten wir auch gelernt, wie es auf ladinisch lautet, wenn man fragt: ›Wie weit ist es denn von hier nach St. Ulrich?‹ Dies hieß also: ›Tang longsch ie'l pa da tlo fin a Urteschei?‹ Urteschei (Urticetum, Nesselwang) ist nämlich der grödnerische Name von St. Ulrich. Diese Phrase übten wir so lange ein, bis wir sie mit voller Geläufigkeit zu Tage bringen konnten. Wir freuten uns aufrichtig, als wir alle Schwierigkeiten überwunden hatten, und nahmen uns auch gleich vor, sie bei erster Gelegenheit zu benützen.

Wir waren also kaum etliche hundert Schritte von Pufels entfernt und hatten eben eine zahlreiche Familie bemerkt, die weit drinnen im Felde mit der Gerstenernte beschäftigt war, als wir beide zu gleicher Zeit über die Stoppeln hinriefen: »Tang longsch ie'l pa da tlo fin a Urteschei?« Kaum waren die rauschenden Worte verklungen, als sich Vater und Mutter und die Kinder sowie auch die Knechte und die Mägde schleunigst aufrichteten und uns sprachlos anstarrten. Hierauf wiederholten wir den Ruf; aber nunmehr, da sie gewahrt hatten, daß wir landesfremde Wanderer seien, brachen sie alle in schallendes Gelächter aus und schrien uns verschiedene Anzüglichkeiten zu, die wir sämtlich nicht verstanden. Wir ließen uns indessen durch diese Begegnung nicht abschrecken, sondern machten vielmehr gleich wieder einen Versuch. Da traf es sich nämlich, daß wir an einer jähen Halde hinschritten und unter uns im Gerstenfelde einen Mann bemerkten, der langsam gegen uns heraufstieg und eine breite Garbe über dem Haupte trug, so daß er uns nicht ersehen konnte. Wir riefen also wieder: »Tang longsch ie'l pa da tlo fin a Urteschei?«, worauf er laut und vernehmlich sprach: »Mezza ora.« Diesen hatten wir also wirklich berückt, und dadurch fanden wir uns reichlich belohnt für die kurze Mühe, die wir auf die Erlernung des Grödnerischen gewendet hatten; ließen uns auch nicht irremachen, als der Mann, bald darauf den Steig betretend, seine Last von sich warf und uns deutsch nachrief, er wisse doch, daß wir keine Grödner seien.

Ein Jahr lang hatte ich den Spruch im Kopfe behalten, und als ich zum zweiten Male über Kastelrutt ins Grödnertal ging und beim Weiler Rungaditsch vorüberkam, fiel er mir wieder ein. Damals sah ich im Vorbeigehen einen Knecht hinten im Heustadel stehen und rief zu deutsch: »Wie weit noch nach St. Ulrich?« Der Knecht in seinem grödnerischen Hochmut aber tat, als verstände er nichts, und arbeitete lautlos fort. Dadurch empfindlich, sann ich auf Rache, und nach ein paar Schritten, als das Stadeltor mich verdeckte, rief ich laut: »Tang longsch ie'l pa da tlo fin a Urteschei?« Worauf der Knecht wie ein angeschossener Keiler herausstürzte, weil er's für Teufelsspuk hielt, daß der fremde Pilger, der soeben vorübergezogen, in der Zunge von Gröden rede. Als er mich nun aber voll stummen Erstaunens betrachtete, sagte ich: »Gehe nur wieder hinein, o Knecht, und da du Deutsch verstehst, so warte künftig nicht mehr, bis dich die Fremden in der Sprache von Gröden anreden, welche im gelehrten Deutschland niemand erlernen kann, weil alle literarischen Hilfsmittel, insbesondere Grammatik und Wörterbücher, vollkommen fehlen.« Da der Knecht aus dieser Rede nicht klug werden konnte, so zog er sich, ohne ein Wort zu sagen, gedemütigt in seinen Heustadel zurück.

 


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