Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Im Wirtshaus

Also kam ich an und begrüßte meine alte Freundin, die gute Frau **, recht herzlich, fand aber einen ganz andern Empfang als sonst. »Tut mir leid«, sprach sie mit sehr kühlem Bedauern, »nichts mehr frei!« – »Ei was«, sagte ich, »gar nichts mehr? Ich nehme ja mit allem fürlieb.« – »Nein, gar nichts mehr.« – »Ja, was fang' ich an?« – »Müssen halt anderswo schauen.« – »Können Sie denn nicht herumschicken?« – »Wir haben keine überflüssigen Leute.« Also fort in die finstre Nacht hinaus – denn die Straßenbeleuchtung lag damals noch in den Windeln –, zuerst zum ›Stern‹, dann zum ›Ochsen‹, dann zum ›Hirschen‹ und zu den anderen Bestien, bis endlich eine ihre Arme auftat und den müden Wanderer willkommen hieß.

Wer nun aber die nächtliche Dunkelheit der kleinen tirolischen Städte und ihrer Wirtshäuser nicht kennt, weiß auch nicht, wie schauerlich eine solche Lage ist.

Wenn die Gäste um diese Zeit gehen, werden zwar die Lichter ausgelöscht, aber die Kellnerin legt sich noch nicht zu Bette, sondern lehnt sich an den Ofen und schläft ein. Das Haustor steht wohl noch auf, führt aber in einen Vorplatz, der nicht beleuchtet ist. Dort lauert auf den harmlosen Wanderer nicht selten eine unvermutete Staffel, um ihn tückisch zu Falle zu bringen. Jedenfalls leidet der Boden des Torwegs an allerlei Löchern, und der arme Wanderer kann dreimal auf die Nase fallen, ehe er nur tappend die steinerne Stiege erreicht. In diesem Momente pflegen ihn die blutdürstigen Haushunde zu hören – wenn er nicht schon vorher über sie gestolpert ist, denn sie legen sich sehr gern auf seine Pfade –, und er kann dreimal zerrissen werden, ehe er nur drei Stufen erstiegen hat. Endlich erwacht die Kellnerin und bringt die Köter zu einiger Ruhe. Der weitere Verlauf und die Rettung des Wanderers hängt dann von den Umständen ab. Er kann möglicherweise auch zum zweiten und dritten Male abgewiesen werden.

Ein leidenschaftlicher Hang zur Unbequemlichkeit ist den Altbayern, bei allen ihren sonstigen Tugenden, ohnedem nicht abzusprechen. Man hält viel auf Sitzbänke, die zu schmal, auf Betten, die zu kurz sind, und auch die Wohltat einer leichten Sommerdecke schleicht sich erst allmählich ein in schwerem Kampf mit den alten winterlichen zentnerschweren ›Plumeaus‹, dem Stolz der Wirtinnen. Man macht sich auch wenig daraus, wenn eine Tür so krachend zufällt, daß bei Nacht alle Schläfer erwachen, wenn irgendwo ein Nagel herausschaut, an dem sich die Kleider reißen, oder ein Balken, an dem man den Kopf anstößt. So zum Beispiel findet sich beim Husarenwirt zu Garmisch im obern Stock ein Ort, den man täglich besucht und an dessen Türpfosten ein überflüssiges Brett so weit heruntergenagelt ist, daß sich jeder, der das Rekrutenmaß hat, das Haupt anrennt. Wenn dann der Unglückliche mit der Hand vor der Stirn und dem Ausdruck des Leidens im Angesicht wieder herniedersteigt, so lächelt die Husarenwirtin freundlich, als wenn etwas eingetroffen, was sie längst vorausgesehen, und sagt dann schmeichelnd: »Haben sich gewiß da oben angestoßen! Ja, ja, da stoßt sich jedermann an, das weiß ich schon!« Weil es aber ein altes Herkommen ist, so bleibt es bei dem Brett, und die Eingebornen, die von Jugend auf sich zu bücken gewöhnt sind, würden es wohl auch ungern vermissen.

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Ein oft bemerkter Charakterzug ist auch eine moralische Abneigung gegen schöne Aussichten. So ein Wirt gewahr wird, daß sich die Fremden an seinem Fenster über die Aussicht freuen, so setzt er schnell, wenn er keine Holzhütte braucht, wenigstens ein paar Bäume davor. Ein ehemaliger Posthalter in Tegernsee errichtete sogar gerade zwischen dem Posthaus und dem See ein neues Wohngebäude, damit den Reisenden das herrliche Gewässer nicht zu sehr in die Augen steche. In Walchensee ist's, wenn ich mich recht erinnere, ebenso; in Seeshaupt hat man den Schirm etwas auf die Seite gesetzt; in Possenhofen legt man jetzt zu demselben Zweck einen Obstgarten an und so weiter. Es ist dies übrigens eine Eigentümlichkeit, die man bis Meran hinein verfolgen kann.

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Die früheren bayerischen Kellnerinnen, die schlanken, leichten, neckischen Elfen, haben sich nahezu verloren. Die schönen kann man, wie vielfache Erfahrungen gezeigt, länger als drei Vierteljahre nicht im Hause behalten, und der ewige Wechsel ist zu lästig. Man wählt jetzt lieber garstige, die über Hoffnung wie Furcht hinaus sind und ihren Dienst oft sehr pflichtgetreu verrichten, nur daß die Grazie fehlt. Immerhin ist man noch stets viel wohliger daran als mit dem vornehmen, windigen Kellnertroß in den großen deutschen Hotels.

Statt der frischen, lustigen, goldgelben Biere kommen jetzt auf dem flachen Lande die traurigen, brenzlichen, dunkelroten schon mehr und mehr in Schwung, weil profitabler für die Wirte, welche, wie man unter vier Augen gesteht, hier noch ein erkleckliches nachgießen können, ohne daß die Farbe darunter leidet. Das scheint mir der Anfang vom Ende. Übrigens wie im glücklichen Hellas sieben Städte um die Heimat Homers, so streiten im glücklichen Bayern sieben oder noch mehr brave Landstädtchen um den Ruhm, das beste Nationalgetränk zu brauen – ich aber lege meinen Lorbeerkranz auf das ehrenreiche Bräuhaus zu Tegernsee, wo der uneigennützige Königssohn eine lautere Quelle strömen läßt, an der sich im Sommer alle deutschen Völker von Auf- und Niedergang, alle politischen Parteien mit Dank und Verehrung laben, Großdeutsche und Gothaer, wie die zukunftsvollen Anhänger der Trias, ja selbst die Demokraten, insofern man bei der letzten Volkszählung überhaupt noch Anhänger dieser widerwärtigen Sekte gefunden haben sollte.

 

In Bayrischzell

Auch die Wirtsleute sind bieder und freundlich, obgleich sie in der Woche nur zweimal eine Postverbindung genießen, und ich hatte fast nichts mehr, um mich zu ärgern, als die Erinnerung, daß in Schliers die neuen Kartoffeln eben ausgegangen und in Bayrischzell dieselben noch nicht angekommen waren; daß man in letzterem Ort, nach der Härte des Weißbrots zu urteilen, nur alle drei Monate zu backen scheint; daß das Nationalgetränk allenthalben, wo es versucht wurde, matt und lau war – was vollkommene Unkenntnis der kühlenden Kräfte unseres vaterländischen Eises verriet; daß man sich hin und wieder nicht entblödet, einem neuen Gast ein altes Tischtuch vorzubreiten, und daß die unendliche Reihe oder die feste Kette von Kalbsschnitzeln, die den Reisenden wochenlang umgürtet, nur selten durch eine Forelle oder ein Huhn gesprengt werden kann, da ihr Preis für mich und andere am Werktag zu hoch ist. Drum habe ich schon öfter gesagt: Wer im Bayerischen Gebirg angenehm leben will, muß eigentlich nach Tirol gehen. Und so sehne ich mich auch jetzt, nach dieser ersten Serie vaterländischer Reisebegebenheiten, wieder ziemlich stark nach dem teuren Lande der Glaubenseinheit.

 

In Ospedale

Wenn der Forscher die Art und Weise der Menschen kennenlernen will, sie aber unterwegs nicht trifft, so bleibt ihm nichts übrig, als ins Wirtshaus zu gehen. Dort findet er wenigstens den Herrn, die Frau oder die Kellnerin, die ihm einstweilen als Repräsentanten des Volksschlages gelten können. Aus diesem Motiv kehrte ich auch, als ich erst eine oder zwei Stunden über Schluderbach hinausgekommen, in dem kümmerlichen Wirtshaus zu Ospedale ein. Es ist das erste welsche Haus an der Straße. Sein zerlumptes Aussehen gemahnte mich lebhaft, daß ich das moderne flotte Pustertal hinter mir und das uralte, aber wurmstichige Italien vor mir habe. In seinen Räumen bewegte sich eine junge, fast elegante Dame, die Gemahlin des Hoteliers von Ospedale, durch deren schwarze Haare sich ein messingener Reif zog. Sie sah wirklich etwas distinguiert und vornehm aus, war vielleicht vom seme puramente latino, vielleicht eine Enkelin der römischen Legionen, die einst hier lagerten, vielleicht Italianissima. Jedenfalls schien sie über ihre bescheidene Lage hoch erhaben und ihre niedere Umgebung nicht im mindesten zu beachten, denn Tische, Stühle, Fenster, Boden, Wände, ihre eigenen Kinder – alles war über die Maßen schmutzig. Ich nahm folgerichtig an, daß sich die Padrona auch um Knödel, Strauben, Krapfen, um Ragout, Schnitzel und Hammelbraten wie um andere vergängliche Dinge nicht halb soviel zu schaffen machen dürfte als ihre anspruchslose Kollegin in Höllenstein. Überdies liest sie vielleicht den Dante mit den neuesten Kommentaren, während die andere nur stellenweise die alte oder neue ›Presse‹ hernimmt. Wäre ich ein Sänger oder Held, so würde ich die Dame von Ospedale feiern, aber als hungriger Wanderer, der ich öfter, und als bescheidener Liebhaber guter Speise, der ich immer bin, muß ich unbedingt der Frau von Höllenstein den Vorzug geben. Sie beide ergänzen sich gegenseitig – die Herren Ghedina in Ampezzo sollten sie zusammen auf eine Leinwand malen – es wäre ein Bild wie Overbecks ›Germania und Italia‹. In diesen beiden Figuren, würde Riehl sagen, liegt eine ganze Geschichte.

 

In Alpbach

An einem Abend des vorigen Sommers saßen wir einmal zu fünft oder sechst in der Restauration am Bahnhof beisammen und berieten, was anderen Tages bei schönem Wetter zu tun sein möchte. Leni, die Kellnerin, welche im Alpbach gebürtig, beriet ebenfalls mit und meinte, wir sollten gerade dahin gehen, da Feiertag sei und ein Umgang gehalten werde. Für ein halbes oder ganzes Dutzend von Leuten sei die Wirtin immer eingerichtet, und wir würden auch unangesagt gute Zehrung finden. Mit unserem unumgänglichen Gefolge schlugen wir uns auch nicht höher an als auf zehn oder zwölf Personen.

Etwas spät, fast acht Uhr war es schon, als wir uns zusammenfanden und den Gang begannen. Glücklich hatten wir bald darauf den Wiesensteig hinter dem Bade Mehren bewältigt und sprangen eben über den Stiegel, als uns der erste Alpbäcker – der Schmalzjackel war's – begegnete. »So«, sagte er, »geht ihr auch ins Alpbach! Sind schon viele voraus.« – »Wie, viele voraus? Ja, wer denn?« – »Oh, Stadtleute genug; Herren, Frauen, Buben, Mädeln – leicht ihrer dreißig.«

Wir sahen uns bedenklich an. Was soll das werden, wenn schon dreißig kerngesunde Konsumenten voraus sind, alle mit den gleichen Aspirationen wie wir! Nichtsdestoweniger schritten wir unerschrocken weiter, weil wir dem Alpbäcker nicht recht glauben wollten; aber wir zweifelten mit Unrecht an seiner Wahrhaftigkeit, denn seine Aussage fand bald volle Bestätigung.

Der Weg zieht sich lange und, wie schon früher bemerkt, ziemlich steil und rauh in die Höhe, an den Stationen des Leidens Christi hin. Solange es nun aufwärts ging, konnte ich nur gleichen Schritt mit den übrigen halten; aber als die Höhe erreicht war und der Pfad sich wieder abwärts senkte, eilte ich voraus so rasch als möglich, um der Gefahr ins Auge zu sehen. Und wie der Alpbäcker gesagt, es fanden sich da Herrenleute genug, in kleinen, niedlichen Häufchen, ganz morgenfrisch dahinpilgernd und feiertäglich aufgelegt. Ach, da war der Herr Akzessist, der Herr Leutnant, der Herr Vikar, der Herr Assessor, der Herr Notar, der Herr Bezirks-Appellations-, Oberappellations-Gerichtsrat, der Herr Staatsanwalt, der Herr Direktor – viele mit Gattinnen und Töchtern, welche Blumen pflückten, mit Söhnen und Hofmeistern, welche Schmetterlinge fingen, mit Gouvernanten, welche französisch sprachen – richtig gezählt und uns eingerechnet, an die siebenunddreißig Seelen. Sie waren teils von selbst auf den gleichen Gedanken verfallen, teils hatten sie von unserem Vorhaben gehört und dasselbe nachahmungswert gefunden. Eine tüchtige Ladung war auch vor ein paar Stunden erst aus der bayerischen Landeshauptstadt mit der Eisenbahn dahergekommen, hatte sofort von dem Programm gehört und es ebenfalls angenommen. So schritt ich nun durch die einzelnen Häufchen ängstlich dahin, wurde zwar von allen freundlichst begrüßt, aber auch immer, gleichsam als verantwortlicher Unternehmer, befragt, ob es denn hinten im Alpbach auch etwas zu essen gebe. »Forellen?« lispelte der Herr Staatsanwalt; »Hühner?« säuselte der Herr Direktor. »Laßt ihn nur machen«, schmeichelten die Rätinnen, »er wird schon für uns sorgen.« Je mehr sie ihre Liebenswürdigkeit an mir ausließen, desto schwerer fühlte ich die Bürde meiner Stellung. Endlich kam ich als der erste im Wirtshause an, erhitzt und aufgeregt, stürzte in die Küche, wurde von meiner alten Freundin herzlich aufgenommen und sprach: »Aber heute wird's uns schlecht gehen, Frau Knollin!« – »Ja, warum denn?« – »Ja, so viele Leute!« – »Ei, das ist ja die größte Ehre für uns!« – »Ihrer siebenunddreißig!« – »Immer noch nicht zuviel!« – »Wollen alle Forellen!« – »Sollen auch alle haben.« – »Gewiß?« – »Ja gewiß. Ist ja der ganze G'halter voll.« – »Aber Hühner wollen sie vielleicht auch!« – »Hätt' auch siebenunddreißig Hühner!« – »O edles Weib«, sprach ich, »wer kann dir's lohnen? Welche Angst hab' ich ausgestanden und wie glorreich ziehst du mich aus der Patsche!« – Sie lächelte milde über den Kleingläubigen. Ich gab ihr das Wort, nie mehr an ihr zu verzweifeln. Alsbald aber schickte sie ›zu ihren Mannen allen‹, das heißt zu allen Mädchen und Weibern, die abstechen und rupfen, sieden und braten konnten, im ganzen Lande Alpbach, und in wenigen Minuten regten sich zwanzig geschäftige Hände in der großen Küche, still und lautlos, wie von einem Geist beseelt, um das barmherzige Werk, die Speisung der Hungrigen, einem gedeihlichen Ende zuzuführen. Und als ich sie bald danach alle so fröhlich beisammen sah, meine lieben Landsleute, an den frischen, weißen Tischtüchern, vor den perlenden Pokalen, und als Hansel, der Erstgeborene des Hauses, in schneeweißen Hemdärmeln, den Hut auf dem Kopfe und eine Nelke im Mündlein, die Leckerbissen nacheinander auftrug, als jeder Hungrige sein Schwänzchen und, wer da wollte, auch sein Hühnlein vor sich sah, da kam eine selige Ruhe über mich, wie ich sie lange nicht mehr genossen. Bald stiegen auch die Alpbäcker ›Herren‹, nämlich die geistlichen – denn andere gibt es hier nicht –, vom Pfarrhof hernieder, um mit uns eine frohe Stunde zu verleben. Überdies gingen zwei liebliche Mädchen oder – was poetischer klingen möchte – zwei blühende Hirtentöchter im Feiertagsgewand vorüber, welche schüchtern hinauflugten nach unserer Tafel, die im Freien unter der vorspringenden Laube aufgeschlagen war. Kaum bemerkt, waren sie aber von Hansel auch schon verraten als Chorsängerinnen, die recht schön jodeln könnten. Sofort sprangen unsere Jünglinge auf, um sie mit freundlichen Worten abzufangen. Sie widerstrebten nicht lange, zumal da ihnen der Herr Kurat und der Hilfspriester zuwinkten und gewissermaßen eine obwohl unnötige Bürgschaft für unsere gute Aufführung übernahmen. Also setzten sie sich an unseren Tisch und begannen zu singen, und der Herr Lehrer mit seiner jungen Frau sang auch mit. Selbst die bajuwarischen Kehlen unsrer Würdenträger, ihrer Gattinnen, Söhne und Töchter mischten sich stark und milde in den schallenden Klang.

 

Im Etschtal

Bei Trient sowenig als bei Roveredo findet sich ein schattiges Plätzchen, wo der Fremde niedersitzen und in deutscher Weise bei mäßiger Erfrischung einen Dichter lesen oder die schöne Landschaft betrachten könnte. Die nächste Umgebung der Städte ist ohnedies, wie zu Bozen, durch die hohen Gartenmauern, zwischen denen sich enge staubige Sträßchen durchwinden, unangenehm und widerwärtig.

Das Etschland von Meran bis an die Veroneser Klause gehört immerhin zu den schönsten Gegenden Deutschlands, wenn man so sagen darf, da unsre Zunge bekanntlich zu Salurn erstirbt. Es streitet mit den gefeiertsten Landschaften am Rheinstrom. Die Etsch trägt zwar keine Schiffe und keine Gondeln, sondern nur Flöße, aber die Berge sind mächtiger als am Rhein; auch Burgen, Schlösser, Ruinen und anderes romantisches Zeug ist in Fülle vorhanden. Alte und uralte Kirchen ragen mystisch in die Gegenwart herein. Malerische Dörfer liegen im Tal oder klettern an den Abhängen hin und her.

Trient mit seinem Kastell, seinem alten Dom und seiner reichen Geschichte kann hier einigermaßen Mainz oder Köln vertreten. Ferner fehlt's nicht an bedeutsamen Liedern und Sagen, denn um dieses Gebirg herum spielen ja die alten ostgotischen und lombardischen Mären, auf denen jetzt freilich schon viel Staub liegt. Aber die angenehmen Gasthöfe, nicht die europäischen und teuren zu Mainz und Köln, sondern jene einladenden, reinlichen, billigen in den kleineren Orten, diese Gasthöfe mit den niedlichen Gärten und den Springbrunnen darinnen, oder auch jene idealen Wirtshäuschen, die unter der Linde am Strom oder auf einer Felsennase oder auf einem alten Turme liegen, die der Flaggenstock bezeichnet und Blumen und Büsche verkleiden – jene reizenden Örtlichkeiten, wo sich der Herr Pfarrer und der Herr Bürgermeister einfinden und die schönen Töchter des Landes allmählich zu singen beginnen, daß es von den Bergen widerhallt, während der Rüdesheimer im Glase und der Abendstern am Himmel funkelt – jene Gasthöfe und diese Kneipen und so viele andere kleine Freuden, die das Leben am Rhein so herrlich dahinfließen lassen, sie fehlen hier an der Etsch fast ganz und gar.

In den Landhäusern allerdings, zu Kaltern, zu Margreit, zu Matzon und anderswo, fühlt der Gast die Beschwerden dieses Jammertals nicht, sondern verlebt vielmehr im Herbst bei liebenswürdigen Familien die schönsten Tage – aber nicht jeder gute Deutsche kann da zu Gaste gehen, und wer in den gewöhnlichen Landwirtshäusern unterkommen muß, der zieht wohl bald wieder weiter, so dürftig, schmutzig, unheimlich sind die meisten schon auf der deutschen Seite, geschweige denn auf der welschen.

Was wir damit eigentlich sagen wollen, hat der denkende Leser wohl schon herausgefunden. Es sollte nur angedeutet werden, daß zwischen Bozen und der Veroneser Klause (auch in der Valsugana und im Nonsberg) für den behaglichen Aufenthalt gebildeter Menschen noch sehr wenig geschehen sei, obgleich die Landschaft für Frühling und Herbst – im Sommer ist's zu heiß – so freundlich und einladend herzurichten wäre wie die Gegenden am Rheinstrom und am Genfersee. Es ist noch viel unwirtliches Land in den Alpen, das mit der Zeit den reisenden Kindern der Welt dienstbar gemacht werden sollte, damit sie nicht wie jetzt, in wenige Lieblingsorte zusammengepfercht, einander zu sehr im Weg umgehen. Das Engadin hat im letzten Jahrzehnt einen völligen Umschlag erlebt und statt der schmutzigen Herbergen, die es früher verunzierten, eine ganze Reihe der angenehmsten neuen Gasthöfe erhalten. So kann man sich auch in eine schöne etschländische Zukunft hineinträumen, wo die beiden Nationen, die sich die Landschaft teilen, einen heroischen Anlauf nehmen und sie wirtlich herstellen, wo dann eine Menge achtbarer Familien – wenn auch protestantische – dort ihre Ferienwochen zubringen und bei den Wirten und Handwerksleuten ebenso beliebt sein werden wie am Rheinstrom oder am Genfersee.

 


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