Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Die Fremden kommen

Ins bayerische Gebirge

Das längst Befürchtete ist eingetroffen, der Schlag ist gefallen – das bayerische Hochland ist fashionabel geworden! In Schliers gibt es bereits Markgräfler mit Sodawasser und das Pfund Forellen um 1 fl. 30 kr.; in Tegernsee ringen fremde Prinzen, Wiener Equipagen und Pariser Toiletten wetteifernd um die Aufmerksamkeit eines auserlesenen Publikums. An den Table d'hôten findet sich allenthalben jene vornehme schweigsame Gesellschaft, die immer den Eindruck macht, als könne keines das andere ausstehen, als möchte jeder den Nachbar wenigstens nach Helgoland oder in die Pyrenäen verwünschen.

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Vor allem wäre, wenn wir so viel Zeit hätten, das neue geräuschvolle, wimmelnde Leben zu schildern, das sich jetzt in unserm Gebirge auftut. Die Eisenbahn bringt nie gesehene Schwärme deutscher Ausländer herbei, Westfalen, Niedersachsen und Friesen, Holsteiner und Mecklenburger, Pommern, Märker usw., die alle freundlich aufgenommen werden, aber mitunter noch etwas ungemächliche Herberge finden. Ob dieser Strom fremder Landfahrer, der sich unaufhaltsam durch unsere keuschen Alpentäler ergießt, der Einfachheit der alten Sitten nicht etwa gefährlich werden könne, ist nur noch eine müßige Frage, da er anerkanntermaßen gar nicht mehr aufzuhalten ist. Die Vertreter der materiellen Interessen, die Posthalter und die Wirte, denken eher darüber nach, wie man den willkommenen Zuzug festhalten, ihn der verführerischen Schweiz, der schmeichelhaften Grafschaft Tirol entziehen und jene, die einmal gekommen, auch für die nächsten Jahre wieder herbannen könne. Daß wir Münchener, ehemals Tonangeber und Herrscher im Oberland, jetzt eigentlich expropriiert sind, daß uns die Gäste mit ihrer freigebigen Hand allenthalben zuvorkommen, daß wir statt der erwünschten Einsamkeit, in der wir nach Römer Art procul negotiis zu dämmern und Bürostunden, üble Launen der Vorgesetzten, Parteien und Klienten zu vergessen pflegten, jetzt allenthalben feine Geselligkeit, Gespräche über Literatur und Münchener Berufungen, hochschottisch aufgeputzte Kinder, zeichnende Fräulein mit grünen Augengläsern, fischende Jungen im Shawl, gelehrte Teetrinker und viele andere fremdartige Erscheinungen antreffen; daß wir, statt wie früher unsere alten Röcke sparsam auszutragen, jetzt mit eleganter neuer Gebirgstoilette erscheinen müssen, um nur noch gezählt zu werden, alles das sehen wir ein, ergeben uns ins Unvermeidliche und trösten uns nur damit, daß wir unsere Alpen auch noch in ihrer Reinheit und Jungfräulichkeit, in ihrer Stille und in ihrem Frieden gesehen haben. Von jetzt an, heißt es, ist's damit vorbei, und die wehmütigen Bergfreunde denken schon an neue Entdeckungsfahrten in ruhigere, auch wohlfeilere Länder, wie zum Beispiel in den bayerischen Wald jenseits der Donau und in andere Gegenden, die ich nicht verraten will, damit ihnen die neue Völkerwanderung nicht abermals nachsetze.

 

Nach Tirol

Trotz unserer vorzüglichen Reisehandbücher mit ihren zwanzig und dreißig Auflagen dreht sich in den Alpen das ganze Touristenheer, namentlich wenn Gattinnen und Töchter mitkommen, um etliche vielbeschrieene Orte, die nun einmal das Prestige haben. Man stürzt dahin zu Hunderten, drängt sich, stößt sich, schläft unter dem Dache, zahlt überspannte Preise und zieht verstimmt nach Hause – weil man's nicht besser weiß. Anderswo spitzen ganze Täler nach den Silberlingen der edlen Germanen, da und dort blühen manche ganz treffliche Wirtshäuslein im Fichtenwalde oder auf der grünen Höhe; da und dort walten in Sittsamkeit die lieblichsten Kellnerinnen – aber sie brechen nicht hervor aus ihrer Dunkelheit – carent quia vate sacro. Das will nicht sagen, daß sie gerade ängstlich auf die Dichter warten, denn sie wären auch mit leidlichen Prosaikern zufrieden, wenn diese ihre Schönheiten in den Zeitungen nachdrücklich beschreiben wollten. Wären einst alle Örtlein bekannt, wo man sich still und ruhig seines Lebens freuen kann, so würden sich die Touristen mehr diluieren, mehr auseinanderlaufen, das ganze Alpenland wäre besetzt und vielleicht kein Ort überfüllt. Aber halt – diese Anschauung ist für die gewöhnliche Menschheit fast zu erhaben, zu großartig. Gibt es doch viele achtbare Männer, welche – gerade umgekehrt – behaupten, wer eine heimliche Stelle gefunden, der solle ja nicht darüber reden, noch weniger schreiben, weil sie sonst auch andere finden könnten. Werfen mir doch boshafte Freunde höhnend vor, ich hätte mich selbst aus dem lieblichen Brixlegg hinausgeschrieben, was denn doch sehr zweifelhaft, weil die Vorzüge dieses Örtleins auch ohne meine Zutat nicht mehr lange verborgen bleiben konnten. Einige sind sogar der Ansicht, man könnte ganze Länder unter den Scheffel stellen. »Nur nichts über Tirol schreiben!« sagte mir neulich mit warnendem Finger ein hochgebildeter, aber, wie es scheint, wenig belesener Tourist – »nur nichts über Tirol!« Gleichsam als wenn ich nicht schon mehrere, höchst lesenswerte Bücher darüber geschrieben hätte und als wenn das Land vergessen würde, wenn ein Autor weniger darüber schriebe.

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Der Jahrtag, welchen der deutsche Alpenverein heuer nach Bludenz ausgeschrieben, lockte manchen Sommerfrischler aus seinem Standquartier. Das meinige war im Unterinntal aufgeschlagen, in dem einst so ländlich-duftigen und jetzt so städtisch-ledernen Brixlegg. ›Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los‹ – möchte ich mit bekannten Versen sagen, die jetzt fast zu häufig zitiert werden, aber gerade auf diesen Fall noch nicht angewandt worden sind. Ja, unser trefflicher Tambosi, unser Café national, Herr Ludwig Gampenrieder, überhaupt unsere vornehmsten Kaffee-, Bier- und Kuchengärten haben ihre besten Gäste, ihre schönsten Leute ausrücken lassen, um das liebliche Örtlein geistig zu bajuwarisieren. Was ich jeweils empfunden habe, wenn sie so Stück für Stück aus dem Eisenbahnwagen hüpften und von der heiligen Tiroler Erde Besitz ergriffen, das läßt sich eher nachfühlen als beschreiben. Nunmehr trippeln sie bereits durch alle Auen und krabbeln auch schon etliche Felsen hinan. Dabei sind sie so bergselig, so alpenfroh! Die Landschaft kann sich allerdings mit der Sendlinger Haide messen, und unter der Kramsacher Linde vergißt man sogar den Grünen Baum. Die Nahrung ist stellenweise ganz genießbar, und was Bedienung betrifft, so ist der Münchener nicht verwöhnt. Er kommt daher ohne Verdruß zur Einsicht, daß sie auch in Brixlegg nicht besser ist als bei ihm zu Hause. Obgleich die kleine Kolonie keineswegs in politischer Propaganda macht, so hat ihr magnetischer Einfluß doch schon bewirkt, daß Herr Hillepold, der Lebzelter, Wachszieher und Passionsvorstand, seinen neuen Pumpbrunnen blauweiß anstreichen ließ. Möge er aus diesem Born nur unsere lautern, konstitutionellen Grundsätze und in religiöser Beziehung jene aufgeklärten Ansichten pumpen, welche bei den bayerischen Wachsziehern von jeher gefunden wurden.

So lebten denn die andern alle, die Herren und Damen vom Isarstrand und aus anderen Flußgebieten, in heiterer Anmut zusammen und pflogen feiner Geselligkeit, während mich allein eine sanfte Melancholie unaufhaltsam in die nahen Wälder trieb. Um aber der allgemeinen Heiterkeit nicht ganz teilnahmslos zuzusehen und sich selbst auch ein Vergnügen zu bereiten, erhöhten die Eingebornen so rasch als möglich die früher so angenehmen Preise, so daß jetzt selbst ein Berliner die Landschaft nicht mehr ›lächerlich billig‹ finden wird.

Wenn das Örtlein nur kein tellurischer Luftkurort, kein Stelldichein für alle fünf Weltteile, keine Völkerrast wird, wie sie Herr Dr. Mazegger zu Meran gegründet hat. Das kleine benachbarte ›Badl‹ zu Mehren nennt sich allerdings bereits ›Universalbad‹, und neulich sah man auch als unheimliche Vorboten in der Bahnhofsrestauration zwei schwarze Engländerinnen sitzen, die eine Suppe begehrten. Die deutschgesinnte Schenkin, unsere Leni, welche in die Zukunft blickt, ließ sie aber drei Viertelstunden vergeblich warten, worauf sie schließlich verdrießlich abschwenkten, so daß das garstige Omen wieder verscheucht war. Für das vielverlangende und vielbezahlende Britannien die erhabene Schweiz mit ihren fürstlichen Hôtelen und deren widerlichem Kellnervolk, für uns anspruchslose Germanen das wunderbare Land Tirol mit seinen gemütlichen Wirtshäusern und deren lieblichen Kellnerinnen!

Für mich selber gab es freilich schönere Zeiten, als ich hier allein noch alle fünf Weltteile repräsentierte und mit meiner kleinen Familie Völkerrast hielt.

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Nun aber fort und das schöne Inntal hinauf, an Märkten, Dörfern, Schlössern, an verfallenen Burgen und neuen Landsitzen dahin, um in der alten Stadt Hall zu landen und zum Bognerwirt in Absam zu gehen. Dort traf ich im Garten zwei befreundete Seelen, welchen es in der Welt auch leicht zu voll wird, so daß sie sich mit glücklicher Wahl dieses Absam, wo auch eine wundertätige Muttergottes, als Herbstsitz ausersehen hatten. Das grüne Tal von Innsbruck und die Landeshauptstadt selbst und die Stubaier Ferner lagen im Abendschein so verklärt vor uns wie ein Stück aus dem verlorenen Paradies. O du edler Friede, der uns da umwob, o du hehre Einsamkeit, die uns da umzog! Man glaubt wenigstens hundert Stunden jenseits der bösen Welt zu sein. Um aber auch der Sehnsucht nach dem Überirdischen einen sichtbaren Ausdruck zu geben, hat Herr Bogner in seinem mächtigsten Birnbaum hoch über der Erde ein Belvedere eingerichtet, eine kleine Tenne mit Geländer und drei Stühlen, wo die Aussicht noch schöner als in dem Garten, wo der Mensch bei einem edlen Weine die irdischen Sorgen, Begierden und Leidenschaften noch leichter vergißt als unten. Wer den Sommer dort oben zubrächte, müßte ein edlerer Mensch werden. Ich meinte auf jener Tenne schon nach der ersten Viertelstunde selbst einige bessere Anwandlungen zu empfinden, wenigstens sagte ich im Geiste meinem alten Gönner, dem geheimen Rat in Berlin, der auch ein großer Verehrer der Einsamkeit, die Freundschaft auf, weil er mir's einmal als seinen Lieblingsgedanken anvertraut hatte: in Tirol ein altes Ritterschloß mit vier Ecktürmen zu erwerben, auf jedem Turm eine Kartaune aufzupflanzen und jeden Berliner niederzuschießen, der ihn etwa besuchen wollte.

 


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