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Zar Paul I.

Zar Paul I.
Bildquelle: wikipedia.org

Aus dem Leben Pauls des Irrsinnigen.


Die Kindheit Pauls. – Sein Versuch mit der Gräfin Czartoryska. – Seine erste Ehe mit Wilhelmine von Hessen-Darmstadt. – Die Beziehungen der Großfürstin zum Grafen Andreas Rasumowsky. – Pauls zweite Heirat mit Sophie Dorothea von Württemberg. – Paul als Zar. – Seine Verrücktheiten. – Die Ehe des Kaiserpaares. – Charakter der Kaiserin. – Fräulein Nelidow. – Der Günstling Kutaïsow. – Fräulein Lopuchin. – Ermordung Pauls.


Man hat den Zaren Paul vielfach mit seinem angeblichen Vater, mit Peter dem Närrischen, verglichen. Sicherer als die Abstammung Pauls von Peter III. ist, daß er mindestens ebenso verrückt, wenn nicht noch verrückter war als jener.

Paul hatte bei Lebzeiten Peters des Dritten kein frohes Kinderleben. Der »Vater« wußte gut, daß sein Thronfolger nicht sein eigen Kind war Man behauptet übrigens, aber mit Unrecht, daß Katharina nicht einen Sohn, sondern ein Mädchen bekam und daß Paul ein untergeschobenes Kind von einer finnischen Mutter war. und ging ernstlich mit der Absicht um, die ungetreue Gattin und das uneheliche Kind zu verstoßen. Katharina kam ihm zuvor und bestieg im Namen ihres Sohnes den Thron.

Durch 35 Jahre hielt Katharina die Zweite den Thron ihres Sohnes inne. Denn als Paul herangewachsen war, hatte Katharina keine Lust mehr, ihm die Zügel der ihr liebgewordenen Herrschaft wieder auszuliefern und Paul war zu schwach, sie ihr gewaltsam zu entreißen.

Aus Furcht, der Sohn könnte eines Tages doch sein Recht verlangen, suchte Katharina den jungen Großfürsten durch knechtische Behandlung geistig zu töten, und das gelang ihr besser als sie erwartete.

In seiner Kindheit zeigte Paul gute Eigenschaften: er war klug, offenherzig, gutmütig, rührig, fleißig. Aber alles ging zugrunde, weil man es nicht bloß vernachlässigte, sondern erstickte. Die Klugheit wandelte sich zur Hinterlist, die Offenherzigkeit zur Verschlossenheit, an Stelle der Gutmütigkeit trat finstere Strenge, an Stelle des Fleißes und der Rührigkeit tyrannische Quälerei.

Der Großfürst Paul war der am meisten geknechtete Mensch im knechtischen Rußland Katharinas der Zweiten. Jeder Kammerdiener eines Günstlings seiner Mutter hatte mehr Freiheit und Freuden als er, ihr Sohn, der präsumtive Herrscher des Reiches. So wuchs er heran, ein Opfer brutaler Familienverhältnisse, wie der Cäsarewitsch Alexey, wie Peter der Närrische, und es ward ihm ein Ende beschieden, gewaltsam wie das jener beiden …

Katharina dachte schon früh daran, dem Thronfolger eine Gemahlin zu geben. Aber er schien so kalten Temperaments und schwachen Körpers zu sein, daß sie fürchtete, er könnte für einen Ehemann noch nicht reif sein. Um sich Gewißheit zu verschaffen, gab sie der jungen Gräfin Sophia Ossipowna Czartoryska den Auftrag, »den Großfürsten zu erproben«. Der Versuch glückte, denn nach Verlauf von neun Monaten stellte sich bei der Gräfin ein Knäblein ein, das dem Großfürsten ähnlich war, wie ein Sohn dem Vater. Der Knabe erhielt den Namen Simeon Welikoy und wurde von der Kaiserin in Pflege genommen; er trat, als er erwachsen war, in die Marine ein. Die Gräfin wurde mit dem Grafen Gregor Rasumowsky verheiratet.

Nachdem Paul einen so guten Beweis seiner Mannbarkeit abgelegt hatte, zögerte Katharina nicht, ihn zu verheiraten. Die Gemahlin des Thronfolgers sollte aber eine Prinzessin sein, die der Kaiserin nicht gefährlich werden konnte.

Der in dänischen Diensten stehende Geheimrat von Asseburg, ein vertrauter Freund des Erziehers des Thronfolgers, des Grafen Panin, wurde von der Zarin mit dem Auftrage betraut, die protestantischen Höfe Deutschlands zu bereisen mit der geheim gehaltenen Aufgabe, diejenige Prinzessin auszusuchen, die am geeignetsten erscheine zur Gemahlin des zukünftigen Zaren. Asseburg vollführte diesen ihm erteilten, verantwortungsvollen Auftrag mit dem Geschick des gewandten Diplomaten. Eleonore von Bojanowski hat in ihrem Buche über die Großherzogin Luise von Sachsen-Weimar die Geschichte dieser Reise nach der Braut für den Zarensohn zum ersten Male ausführlich beschrieben, und ihr verdanken wir die zahlreichen interessanten Dokumente über diese sonst stark vernachlässigte Episode der russischen Hofgeschichten. Vgl. E. v. Bojanowski Luise Großherzogin von Sachsen-Weimar und ihre Beziehungen zu den Zeitgenossen. Stuttgart 1903.

Er besuchte die deutschen Höfe, prüfte Anlagen, Erziehung und Erscheinung der jungen Prinzessinnen aufs gewissenhafteste, ebenso wie Charakter und Gesinnung der fürstlichen Eltern und sandte der Kaiserin Katharina eingehende Berichte, denen wohl auch die Porträts einzelner Prinzessinnen beigefügt wurden. Die Kaiserin begutachtete mit scharfem Auge und Verstande seine Angaben bis in die kleinsten Details. Selbst aus einem kleinen deutschen Fürstenhause stammend, sah sie weniger auf eine Verbindung mit politisch mächtigen Staaten, als auf die Charakteranlage der Auserwählten. Im ganzen verlangte man, wie Friedrich II. zynisch in einem Briefe an die Landgräfin von Hessen bemerkte: »de la douceur, un maintien honnête et de la fécondité. Quant au dernier point, il faut s'en rapporter aux probabilites, les expériences ne seraient pas admissibles sur un sujet si délicat.« Friedrich ließ durch seinen Staatsminister von Finkenstein dem Geheimrat Asseburg den Wunsch mitteilen, die Wahl möchte auf eine der darmstädtischen Prinzessinnen fallen. Ein Vorschlag, bei dem politische Erwägungen mitspielten, da eine durch diese Verbindung erreichte Verwandtschaft der künftigen preußischen Königin mit der künftigen Zarin die Festigung eines guten Verhältnisses zwischen Preußen und Rußland gesichert erscheinen lassen mußte. Asseburg hatte bereits verschiedene Höfe besucht, darunter auch den von Darmstadt. Seinen Vorschlägen gegenüber hatte Katharina auch schon drei deutsche Prinzessinnen als Kandidatinnen aufgestellt: eine Prinzessin von Gotha, von der man jedoch bald wieder absah, eine Prinzessin von Württemberg, welcher Katharina am meisten geneigt war, die aber noch zu jung war, Das war Sophie Dorothea, die nach dem Tode der ersten Gemahlin Pauls doch dessen Gattin wurde. und schließlich eine der Darmstädter Prinzessinnen. Von den letzteren hatte man anfangs die jüngste, Luise, als im Alter am besten passend ins Auge gefaßt, die sich aber, hauptsächlich des geforderten Religionswechsels wegen, ablehnend verhielt. Die Mutter der Prinzessinnen hielt es für ihre Pflicht, die Aussicht auf eine so glänzende Verbindung für eine ihrer Töchter nicht abzuweisen, sondern die Leitung dieser Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Dabei aber machte sie es sich zur Gewissenssache, den Entschluß ihrer Töchter in keiner Weise zu beeinflussen. So schreibt sie an Asseburg: »Ich werde mutig genug sein, lieber mit meinen drei Töchtern aus Petersburg zurückzukehren, als eine oder die andere von ihnen unglücklich zu machen, war ich ihnen doch bisher keine barbarische Mutter und werde es auch niemals werden.« Nachdem die diplomatischen Verhandlungen soweit gediehen waren, daß die Zarin die Landgräfin mit ihren Töchtern nach Petersburg einladen konnte, wurde nunmehr auch der Landgraf von dem Plane in Kenntnis gesetzt, und er gab, wenn auch ziemlich widerwillig, seine Zustimmung zur nordischen Reise. Und Anfang Mai 1773 begab sich die Fürstin mit ihren drei Töchtern an den russischer Hof.

In Gatschina, das damals ein Lustschloß des Grafen Orlow war, fand die erste Zusammenkunft mit der Zarin Katharina statt. Die Zarin stand am Fenster und beobachtete die Prinzessinnen beim Aussteigen aus dem Reisewagen; dabei gab sie gleich zu ihrer Umgebung gewendet ihr Urteil über die Gäste ab und sagte von der ersten Prinzessin, die herauskam: »c'est un mouton« (das galt der nachherigen Markgräfin von Baden), von der zweiten, der Prinzessin Luise: »c'est une tête«; und von der dritten, der nachmaligen Großfürstin: »c'est ce qu'il nous faut«. Der die deutschen Damen begleitende Kammerherr von Schrautenbach bemerkte in seiner Schilderung dieses Moments: »daß Ihre Majestät zufrieden war, und daß sie die Prinzessinnen schöner fand, als sie geglaubt, und besonders die Prinzeß Wilhelmine hübscher, als es ihr Bildnis annehmen ließ, und man erkannte leicht, daß diese ihr am besten gefiel.«

Die Besorgnis der Landgräfin wegen einer endgültigen Entscheidung sollte schon nach wenigen Tagen eine günstige Lösung finden. Die Kaiserin forderte, nachdem auch dem Großfürsten Prinzessin Wilhelmine am besten gefiel, am 29. Juni deren Hand für ihren Sohn. Die Landgräfin teilt hocherfreut dieses Ereignis nach Hause mit: »Gott gebe dazu seinen Segen; möge es sein Wille sein, daß das Bündnis zu seiner Ehre, zum Glück von dreiundzwanzig Millionen Menschen, des Prinzen, der Kaiserin und meiner Tochter sich vollziehe. Ihre Schwestern beneiden sie nicht um ihr Geschick … Mehrere Herren haben geäußert, es tue ihnen leid, daß es nicht drei Großfürsten gäbe, um alle meine Töchter hier behalten zu können.«

Auf den Lustschlössern von Zarskoje Sselo und Peterhof, wo Kaiserin Katharina ohne den ganzen Zwang der Etiquette ein freieres Landleben führte, gab es nun eine Zeitlang ein heiteres und glänzendes Treiben. Bälle und Empfänge wechselten mit Gartenfesten und anderen Lustbarkeiten. Nach kurzer Zeit traf die Einwilligung des Landgrafen ein und die öffentliche Verlobung fand statt. Vorher noch war die Prinzessin bereits zur griechischen Kirche übergetreten und hatte den Namen Natalie angenommen.

Die darmstädtische Prinzessin brachte dem Großfürsten außer ihrer Person fast gar nichts mit. Als vom Trousseau die Rede war, bemerkte die Landgräfin satirisch, sie wolle sich nicht darein mischen, denn um ihn zu bezahlen, müßte sie sich am Ende selbst verpfänden. Dafür hatte die Kaiserin die Verlobte ihres Sohnes schnell lieb gewonnen und reichliche Mittel bereitgestellt, um alles Nötige anzuschaffen. Auch die Landgräfin und die Schwestern der Braut erhielten viele Geschenke an Diamanten, Kleidern und Geld; für die Landgräfin wurden 100000, für jede der Prinzessinnen 50000 und für die Reiseausgaben der Gäste 20000 Rubel aus der Kaiserlichen Schatulle angewiesen.

Die Hochzeit des jungen Paares wurde mit großem Gepränge am 10. Oktober gefeiert.

Die Ehe war nicht glücklich, und die sanfte Großfürstin zeigte sich als ein stilles, aber tiefes Wässerchen.

Der Großfürst hatte als Freund einen Grafen Andreas Rasumowsky, mit dem zusammen er erzogen worden, der fast immer in seiner Nähe war und sein ganzes Vertrauen genoß. Kaiserin Katharina glaubte nun zu bemerken, daß zwischen Rasumowsky und der Großfürstin ein kleines Verhältnis bestand, und diese Entdeckung empörte, nach dem Muster der sittenstrengen Elisabeth, die sittenstrenge Katharina aufs äußerste. Sie warnte ihren Sohn, und Paul fand einen interessanten Briefwechsel zwischen seiner Gemahlin und seinem Freunde. Aber ehe er Zeit hatte, sich zu rächen, starb die Großfürstin in ihrem ersten Wochenbett am 26. April 1776. Das Volk behauptete hinterher, Katharina hätte den Tod der Großfürstin Natalia Alexejewna beschleunigt … Um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, wurde Rusumowsky bloß als Gesandter nach Venedig und Neapel geschickt.

Nichtsdestoweniger erscheint der Großfürst in einem Schreiben, welches die Trauerbotschaft seiner Schwägerin Luise meldet, aufs tiefste gerührt: Vgl. Eleonore von Bojanowski, Luise, Großherzogin von Sachsen-Weimar etc. Stuttgart 1903, S. 97. »La nature avait mis à sa délivrance des obstacles, que l'art n'a pas su vaincre. Tous les secours, qu'on a tenté de lui porter et la patience la plus admirable de sa part pendant cinq jours de souffrances cruelles n'ont pas pu me la conserver. Elle est decedée vendredi passé le 15. avril de notre style à cinq heures du soir. Sa fermeté et sa constance dans la douleur, sa serénité et sa grandeur d'âme dans ses derniers moments sont au dessus de tout ce que je pourrais vous en dire et même au dessus de ce que je croyais possible. Cet exemple est ce qui me soutient dans mon accablement et doit aussi vous soutenir dans le vôtre.«

Auch Katharina heuchelte einige Tage hindurch tiefe Trauer um die Verstorbene, beschäftigte sich dann aber sofort mit einem neuen Heiratsplan für den Großfürsten. Damals war Prinz Heinrich von Preußen, Friedrichs des Großen Bruder, nach Petersburg gekommen, und diesem machte die Kaiserin den Vorschlag, seine Schwestertochter, die Prinzessin Sophie Dorothea von Württemberg, dem Großfürsten zur Frau zu geben.

Die Prinzessin Sophie Dorothea war zwar schon mit dem Erbprinzen von Hessen-Darmstadt verlobt. Allein Prinz Heinrich zweifelte nicht, daß das große Zarenreich mehr Wert für die Prinzessin haben würde als das kleine Hessen-Darmstadt, und nahm es auf sich, die Verlobung zu lösen und die Prinzessin Sophie Dorothea dem Großfürsten zuzuwenden.

Er sandte einen Kurier an seinen Bruder, und Friedrich der Große selbst sprach mit dem jungen Prinzen von Hessen-Darmstadt über die Angelegenheit, und der junge Prinz von Hessen-Darmstadt war zwar sehr verliebt, aber er erstarb in Demut vor dem großen Friedrich und rechnete es sich beinahe zur Ehre an, dem großen Friedrich zuliebe von seiner Braut lassen zu müssen, um sie dem mächtigen Cäsarewitsch abzutreten. Und die junge Prinzessin Sophie Dorothea war zwar sehr verliebt in den Prinzen von Hessen-Darmstadt, aber wer wird lange wählen zwischen dem Duodezthrönchen von Hessen-Darmstadt und dem Koloßthron von Rußland? Und Bräutigam und Braut trennten sich im besten Einverständnis, und Friedrich der Große konnte seinem Bruder Heinrich melden: Alles geordnet! Zugleich lud er den Großfürsten nach Berlin, damit er persönlich die Prinzessin kennen lernte. Katharina nahm für ihren Sohn die Einladung an und ließ ihn zugleich mit dem Prinzen Heinrich nach Deutschland abreisen.

Vor der Abreise richtete Katharina folgenden eigenhändigen Brief an den Prinzen Heinrich:

»Ich nehme mir die Freiheit, Ew. Königlichen Hoheit die vier Briefe zu übersenden, deren Besorgung Dieselben unserer Verabredung gemäß übernehmen wollen. Der eine ist an den König, Dero Herrn Bruder, und die anderen sind an die Prinzen und Prinzessinnen von Württemberg. Ich wage es, Ew. Königliche Hoheit zu bitten, die drei letzten Briefe, sobald mein Sohn, wie ich hoffe, sich für die Prinzessin Sophie Dorothea erklärt haben wird, an die Betreffenden zu übergeben, und sie mit der einnehmenden Beredsamkeit zu unterstützen, womit Gott Ew. Königliche Hoheit so reichlich begabt hat. Die überzeugenden und wiederholten Beweise von Freundschaft Ew. Königlichen Hoheit gegen mich, Ihre Tugenden, die ich so sehr schätze, und mein unbegrenztes Zutrauen zu Ew. Königlichen Hoheit lassen mich den glücklichen Fortgang einer Angelegenheit nicht bezweifeln, die mir so sehr am Herzen liegt. Könnte ich sie wohl in bessere Hände empfehlen? Ew. Königliche Hoheit sind ein Unterhändler comme il faut; verzeihen Dieselben meiner Freundschaft diesen Ausdruck. Allein ich glaube, daß es kein zweites Beispiel von einer Angelegenheit dieser Art gibt, welche wie unsere unterhandelt worden wäre. Sie ist das Werk der innigsten Freundschaft und des unbedingtesten Zutrauens. Diese Prinzessin wird das Unterpfand davon sein. Ich werde sie nicht ansehen können, ohne mich zugleich dabei zu erinnern, wie diese Angelegenheit zwischen dem königlichen Haus Preußen und dem kaiserlichen Haus Rußland angefangen, betrieben und beendigt worden. Möchte sie doch dazu dienen, die Bande, die uns vereinigen, unauflöslich zu machen. Ich schließe und danke Ew. Königlichen Hoheit nochmals herzlich für alle dabei angewendete Sorgfalt und Bemühung, und bitte, überzeugt zu sein, daß meine Dankbarkeit, Freundschaft, Hochachtung und die Wertschätzung, welche ich gegen Ew. Königliche Hoheit fühle, nur mit meinem Leben endigen werden. – Zarskoje Sselo, 11. Junius 1776. – Katharina.«

In Berlin wurde der Großfürst mit den glänzendsten Ehrenbezeugungen empfangen und sogleich ins Palais geführt, wo König Friedrich ihn bereits an der Tür seines Zimmers erwartete.

Prinz Heinrich stellte den Großfürsten vor, der darauf mit diesen Worten den König begrüßte:

»Ew. Majestät, die Gründe, die mich von dem äußersten Norden in diese glücklichen Gegenden führen, sind das Verlangen, die Freundschaft zu bekräftigen, welche Rußland und Preußen auf ewig verbinden soll, und der Wunsch, eine Prinzessin zu sehen, die bestimmt ist, den russischen Kaiserthron zu besteigen. Diese Prinzessin werde ich aus den Händen Ew. Majestät empfangen, und ich wage es zu versichern, daß sie eben darum mir und der Nation, über welche sie gebieten soll, nur um so teurer sein wird. Endlich erlange ich heute, wonach ich mich schon lange gesehnt: ich sehe von Angesicht zu Angesicht den größten Helden Europas, den Gegenstand der Bewunderung unserer Zeit, den Gegenstand des Erstaunens der Nachwelt.«

Der König antwortete:

»Prinz, solches Lob verdiene ich nicht. Sie sehen in mir einen alten, schon halbkranken Mann. Aber seien Sie versichert, daß ich mich sehr glücklich fühle, den würdigen Erben eines mächtigen Reiches, den einzigen Sohn meiner besten Freundin, der großen Katharina, innerhalb dieser Mauern sehen zu können.«

Und so fluteten lange fort die zärtlichen Gespräche. Köstlich ist dabei, daß gerade zu jener Zeit Friedrich der Große eine von ihm verfaßte Satire auf seine »beste Freundin« in Berlin zirkulieren ließ, welche die kleinen Schwächen der großen Katharina witzig geißelte.

Vom König begab sich der Großfürst zur Königin, wo der ganze Hof versammelt war. Hier fand er auch die Prinzessin von Württemberg; sie gefiel ihm und der Bund war geschlossen. Die Verlobung wurde sofort vollzogen, und als der Großfürst nach Petersburg zurückkehrte, folgte ihm die Prinzessin Sophie Dorothea; sie trat zum orthodoxen Glauben über, erhielt den Namen Maria Feodorowna und feierte 1776 die Vermählung mit Paul.

Zwanzig Jahre später erst bestiegen sie gemeinsam den russischen Thron, nachdem Katharina im November 1796 ihr Leben geendet hatte.

In den letzten Lebensjahren der Kaiserin war die Kluft zwischen Mutter und Sohn derart mächtig geworden, daß Katharina beschlossen hatte, Paul zugunsten seines ältesten Sohnes Alexander zu entthronen. Der Tod aber verhinderte sie an der Ausführung, und Paul betrat nach jahrzehntelangem Warten den Thron der Romanows – den »Thron seiner Väter« darf man wohl nicht sagen. Außer den früher bereits zitierten Werken, wie von Crusenstolpe und Helbig und den Schriften über Peter III., Katharina II. und Alexander I. wurden folgende Arbeiten benutzt: R. C. H. de Chateaugîron, Notice sur la mort du Paul I. O. O. u. J. (etwa 1820 erschienen, 24 Seiten). – Paul. Von einem unbefangenen Beobachter. Leipzig 1801. – Bülau, Geheime Geschichten, 1863, Seite 58–95. – Dohm, Denkwürdigkeiten, Hannover 1815. – Achatz von der Asseburgs Denkwürdigkeiten, Berlin 1842. – Bienemann, Aus den Tagen Kaiser Pauls, Leipzig 1886. – Tettenborn, Leben Pauls, Frankfurt 1804. – N. K. Schilder, Kaiser Paul, St. Petersburg 1901, russisch. Dasselbe französisch, Paris 1899. – Kobeko, Der Cäsarewitsch Paul, St. Ptrsbg. 1882, russisch. Eine französische Übersetzung erschien 1896 in Paris unter dem Titel »La jeunesse d'un tsar«. – Kaiser Pauls Korrespondenz mit der Nelidow. Russkaja Starina 1873, 4. – Interessante und denkwürdige Taten und Anekdoten von Kaiser Paul Petrowitsch Russky Archiv 1864. – Memoiren Semen Poroschins, St Ptrsbg. 1844, russisch. – Afanassjew, Archiv juristischer und praktischer Mitteilungen, 1860, 2. russisch. – Kaiser Pauls I. Ende von R. B., Stuttgart 1897. – Theodor Schiemann, Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, Band I, Memoiren von Sanglen, Stuttgart 1894. – Theodor Schiemann, Kaiser Alexander I., Berlin 1904. – Th. Schiemann, Die Ermordung Kaiser Pauls und die Thronbesteigung Nikolaus I., Berlin 1902. – Daudet, Princesse de Lieven, Paris 1903.

Seine erste Regierungszeit war, wie die Peters des Dritten, freundlich und segensreich. Er überhäufte seine lang vernachlässigte Familie mit Liebkosungen und seine Untertanen mit Wohltaten; er übte selbst Gnade an den Günstlingen seiner verhaßten Mutter und ließ die alten Minister und Würdenträger in ihren Stellungen. Alles staunte ob seiner Großmut. Bald aber schlug er völlig um, die ihm zuteil gewordene Erziehung wirkte, die plötzliche Freiheit nahm ihm alle Sinne, verwirrte und verirrte ihn, machte ihn wahnsinnig …

Das zeigte sich anfangs in harmloseren Dingen, als er sich mit größtem Eifer um die Form von Hüten, um die Höhe der Grenadiermützen, um die Farbe von Federn, um Stiefel, Kokarden, Zöpfe und Degenkoppeln kümmerte. Wer mit blankgescheuerten Knöpfen zu ihm kam und die neue, von ihm eingeführte Uniform so schnell als möglich anschaffte, wurde mit Orden und Ehren beschüttet. Wer es aber wagte, sich noch in alter Uniform zu zeigen, dem erging es übel genug; geschah es doch, daß wegen solch himmelschreienden Vergehens hohe Generale zu gemeinen Soldaten degradiert oder gar verbannt wurden. Selbst Ausländer wurden nicht geschont. Der preußische Gesandte Tauenzin wagte sich in einer Uniform am Hofe zu zeigen, die Pauls Geschmack verletzte, und mußte deshalb sofort Petersburg verlassen. Eines Tages erschien ein Befehl des Kaisers, daß runde Hüte nicht mehr getragen werden dürften, und Polizisten und Soldaten schlugen jeden nieder, der seinen runden Hut aufbehalten wollte. Ein anderer Ukas verbot, die Pferde auf russische Art anzuspannen. Und wollte jemand trotzdem mit russischem Gespann durch die Stadt fahren, so hielten Polizisten den Wagen auf offener Straße an und schnitten die Stränge durch.

Einer alten Hofsitte zufolge mußte man ehemals vor dem Zaren, selbst wenn man ihm auf schmutziger Straße begegnete, sofort in die Knie sinken. Katharina hatte diese Sitte abgeschafft, Paul führte sie wieder mit aller Strenge ein. Den Kaufleuten wurde plötzlich verboten, auf ihren Schildern ihr Geschäft als »Magazin« zu bezeichnen, sie mußten »Lawka«, Bude, hinschreiben. »Denn nur der Kaiser darf Magazine haben,« sagte Paul, – »ein Kaufmann aber nur Buden …«

Und so, wie im Staate, ging es in des Kaisers Familie zu. Hatte er sich schon vor seiner Thronbesteigung wenig um seine Familie gekümmert, so geschah das jetzt noch weniger.

Die Zarin Maria Feodorowna wird allgemein als eine Frau von Sanftmut, Milde und Bescheidenheit bezeichnet. Der Bericht eines Zeitgenossen schildert sie als »auffallend schön, von hoher Gestalt, stark, blond, kurzsichtig, in ihrem Auftreten bescheiden bis zum Übermaß, schwerfällig, ja langweilig.« Ihr Charakter konnte durch die harte Behandlung, die sie von Paul zu erdulden hatte, nicht verdorben werden. Sie war, wenn man Paul mit Peter dem Dritten zu vergleichen liebt, nicht im geringsten Katharina ähnlich. Sie war wirklich eine brave Gattin Mirabeau hat in seiner geheimen Korrespondenz Maria Feodorowna, als sie noch Großfürstin war, in ihrer ehelichen Treue zu verdächtigen versucht. Er erzählt von einem Liebesabenteuer der Großfürstin Maria mit einem jungen Edelmann, der in französischen Diensten stand, und schlägt der französischen Regierung vor, sich für den Fall des Ablebens Katharinas der Zweiten dieses jungen Menschen zu bedienen. Vgl. Mirabeau, Histoire secrète de la Cour de Berlin. 1789. I. 96. Die Geschichte ist erfunden. – Über Maria Feodorowna veröffentlichte E. S. Schumigorski 1892 in St. Petersburg eine ausführliche Arbeit in russischer Sprache. und vortreffliche Mutter. Sie weihte ihre Tage wohltätigen Handlungen, Pflichten, die für ihr Geschlecht paßten und ihre hohe Stellung adelten. Ihre Kinder wurden ihr, so lange sie Großfürstin war, durch Katharina vorenthalten; aber als sie Kaiserin ward, verstand sie es, großen Einfluß auf die Denkungsart und den Charakter der Söhne wie der Töchter in erstaunlich kurzer Zeit zu gewinnen. Zar Nikolai sagte von seiner Mutter Maria in einem Schreiben vom 31. Januar 1829: »Glücklich ist der, den die Vorsehung von einer Mutter geboren werden ließ, die mit Herzensgüte, kluger Bedachtsamkeit, ernster Gesinnung und einem durch Wissenschaften bereicherten Verstande eine lebendige Liebe verbindet, ihre vielfachen Mutterpflichten oft unter zahlreichen Entbehrungen zu erfüllen. Tief gerührt fühlen Wir Uns veranlaßt, den Allgütigen zu preisen, der Uns dieses unschätzbare Glück verliehen hat. Wir erkennen dankbar, daß Wir dasjenige, so Wir bei Ausübung unseres glorreichen, aber verantwortlichen Berufes, zum Wohle der verschiedenen, unter Unserem Zepter vereinigten Völker auszurichten vermögen, nächst Gott einer Mutter zu danken haben, die, mit ungewöhnlichen und erhabenen Eigenschaften ausgerüstet, durch ihre Gottesfurcht, ihre mütterliche Liebe, ihre Sittenwürde, ihr ungeschminktes herzliches Wohlwollen, ihre milde Anmut, ihre Wohltätigkeit eine Zierde ihres Geschlechts, ein Vorbild aller häuslichen Tugenden war.«

Man nannte sie die emsigte und am meisten beschäftigte Frau des Reiches. Neben ihren häuslichen Pflichten und den Pflichten ihrer schweren Würde übte sie die schönen Künste mit großer Lust und Liebe. Musik, Malerei, Kupferstechkunst und Stickerei fanden in ihr eine gleich vollendete Schülerin.

Daß sie schön war, wissen wir. Doch war in ihrer Haltung mehr Majestät als Grazie, und sie besaß auch mehr Gefühl als Geist. So kam es, daß sie, die edelste und beste Frau ihres Landes, einer häßlichen Favoritin weichen mußte, daß sich Paul nach einer Geliebten umsah, die ihm jene Freuden schenken sollte, die er infolge seiner eigenen Schuld in seiner Ehe nicht fand. Sein Auge fiel auf ein Fräulein Nelidow, Über die Nelidow veröffentlichte E. S. Schumigorski eine ausführliche Schrift, deren zweite Auflage 1902 in St. Petersburg erschien; eine französische Bearbeitung davon gab Dmitri de Benekendorff 1902 in Paris heraus (»La favorite d'un tsar«). – Vgl. ferner »Correspondance de Marie Féodorowna avec Mlle. de Nelidoff«, publ. par la Princesse Troubetzkoi, Paris 1896. die als Gesellschafterin der Großfürstin ins Palais gekommen war.

Katharina Iwanowna Nelidow wurde 1758 als Tochter des Leutnants Iwan Dmitrijewitsch Nelidow und der Anna Alexandrowna Simonow geboren; ihr Geburtsort war das Dorf Klimiatino im Distrikt Dorogobuschky, Gouvernement Smolensk. Im Jahre 1765 wurde sie in das adlige Institut des Smolnaklosters bei St. Petersburg gebracht, das unter der unmittelbaren Protektion der Kaiserin Katharina II. stand. Schon als kleines Kind fand sie das Wohlwollen der Zarin, als diese einmal das Institut besuchte. In einem Briefe schrieb Katharina II. von der damals 12jährigen Katharina Nelidow: »Ihre Erscheinung ist ein Phänomen.« Diese häßliche Kleine besaß eine unvergleichliche Grazie, und sie siegte, wenn sie tanzte; sie tanzte sich in alle Herzen hinein. Katharina II. war Dramendichterin und Theaterfreundin, und als die kleine Nelidow bei dem Spielen einer Komödie durch ihre künstlerische Auffassung auffiel, hatte sie die Kaiserin für sich gewonnen. Ihre Häßlichkeit vergaß man durch ihr bewegliches Auftreten. Sie war sich ihrer körperlichen Nachteile selbst wohl bewußt, aber sie verstand es augenscheinlich, aus den wenigen Vorzügen, welche die Natur ihr verliehen hatte, ein großes Kapital zu schlagen und das Geringste auszunützen. Die Kaiserin schenkte ihr nach einer Vorstellung einen Diamantring und ließ sie, als Menuett-Tänzerin, von dem Maler Lewitzky porträtieren. Ein Vierteljahrhundert später noch war die Nelidow eine berückende Tänzerin.

Im Alter von achtzehn Jahren kam die Nelidow an den kaiserlichen Hof als Ehrendame der Gemahlin des Thronfolgers Paul. Ihre Stellung war von Anbeginn keine leichte. Sie hatte bei Hofe keine Verwandten, keine Freunde. Alle, die sie kennen lernte, waren Intriganten und Intrigantinnen. Sie begann die Dinge anders anzusehen, als sie ihr geschienen hatten, da sie noch im Smolnakloster geweilt. Selbst die Kaiserin Katharina, ihre Wohltäterin, verlor in ihren Augen schnell den Nimbus der Hohen, der Unantastbaren. Als sie die gespannten Beziehungen zwischen der Kaiserin und dem Thronfolger erkannte, wandten sich ihre Sympathien dem letzteren zu. Großfürst Paul zählte damals 24 Jahre und war ritterlichen Charakters, erfüllt vom Wunsche, das Reich, das ihm zufallen sollte, mit Gerechtigkeit zu regieren. Er konnte wohl auf die aus dem Kloster an den Hof gekommene exaltierte Jungfrau einen tiefen Eindruck machen, und das friedliche stille Leben des großfürstlichen Hofes im Gegensatz zu der schwülen Atmosphäre am Hofe der Kaiserin Katharina gefiel der jungen Hofdame, die an klösterliche Stille gewohnt war. Beider Charakter war sentimental. Beide liebten die Natur. Sie arrangierten kleine häusliche Feste, bei denen die Nelidow ihr Talent als Tänzerin zur Geltung bringen konnte. 1781 begleitete sie das Großfürstenpaar auf einer Reise nach Europa. Auf dieser Reise lernten sich der Thronfolger und die Nelidow noch inniger verstehen.

Mit diesem Moment beginnt das intime Verhältnis des Großfürsten Paul mit der Hofdame seiner Gemahlin. Seither findet man in den Briefen und Memoiren der Zeitgenossen die Nelidow als Favoritin und Maitresse Pauls erwähnt. Ob die letztere Bezeichnung ihr gerechter- oder ungerechterweise zuteil wird, darüber ist viel gestritten worden, ohne daß bisher über diesen heiklen Punkt volle Klarheit geschaffen wäre. Ohne Zweifel stammten die Gefühle der Nelidow aus reiner Quelle. Sie empfindet Mitleid für den jungen Großfürsten, den seine Mutter tyrannisiert und haßt. Die persönlichen hohen Qualitäten, welche Paul damals noch nicht eingebüßt hatte, wandeln das Mitleid in höchste Achtung und Verehrung. Diese Verehrung nimmt in dem Maße zu, in welchem das Leid wächst, das Paul zu erdulden hat, und sie kennt keine durch die höfischen Schranken gezogenen Grenzen mehr, als der Großfürst unter den Verhältnissen psychisch deprimiert wird, als sich seine Klugheit in Mißtrauen wandelt, als er sich von Spionen der Kaiserin umgeben wähnt und die Irritation seiner Nerven zu fixen Ideen, zu Verfolgungswahn führt. Bei alledem bleibt seine Seele noch rein, sein Denken noch erhaben, seine Moral edel, auch wenn seine Taten bereits die späteren Ausbrüche seiner Krankheit ahnen lassen. Die Angst um die Zukunft des edlen Geistes, der hier systematisch zerstört wird, gesellt sich dem Mitleid, der Liebe, der Verehrung. Die Freundin fühlt sich zum Schutzengel berufen, ihr Leben hat eine Mission. Der Beschützte nimmt die Liebe dankend entgegen. Als Paul auf Befehl der Kaiserin nach Finnland zieht, um am Feldzuge teilzunehmen, schreibt er der Freundin: » … und sterbend werde ich noch an Sie denken!« …

Die Reinheit des Verhältnisses, seinen damals gewiß durchaus moralischen, sozusagen religiösen Charakter bezeugte der Großfürst selbst. Im Jahre 1790 erkrankte er, er glaubte sich dem Tode nahe. Er sieht die Angriffe voraus, denen die Nelidow ausgesetzt sein würde, und schreibt an seine Mutter, die Kaiserin Katharina: »Ich wende mich an Ew. Majestät als an meine Souveränin und meine Mutter. In diesem feierlichen Augenblicke muß ich gegenüber Gott und meinem Gewissen eine heilige Pflicht erfüllen, muß ich eine Person rechtfertigen, welche unschuldig an dem ist, was man gegen sie aufgebracht hat. Ich habe erfahren, wie sehr die menschliche Bosheit die geistige Vereinigung, welche mich mit Fräulein Nelidow verknüpft, mißdeutet. Ich beeide vor Gottes Tribunal, daß wir beide vor demselben erscheinen können, ohne uns vorwerfen zu müssen, daß wir uns gegeneinander oder gegen unsern Nächsten vergangen haben … Unser Verhältnis war heilig und ohne Makel. Gott ist mein Zeuge! …« Und in einem Briefe, den Paul viele Jahre später, als er schon Kaiser war, an die Nelidow selbst bei Übersendung eines religiösen Buches richtete, heißt es: »Die Liaison, die uns vereinigt, ihr Charakter, die Geschichte unserer Beziehungen, ihre Entwickelung, die Umstände, unter denen Sie und ich diese Existenz durchschritten haben – all das mit einem Wort hat so etwas Besonderes, daß es unmöglich wäre, es nicht immer in Erinnerung zu behalten … Seien Sie nachsichtig gegen einen Menschen, der Sie mehr liebt, als sich selbst. In diesem Sinne bitte ich Sie meine Sendung anzunehmen. Gott selbst weiß, wie sehr ich Sie liebe und was ich an Ihnen liebe. Ich rufe auf Ihr Haupt allen Segen Gottes herab und bleibe immer Ihr Diener und Ihr Freund.«

Trotz des damals anscheinend noch lauteren Verhältnisses, hatte der Großfürst vollkommen recht mit seiner Äußerung betreffs der Bosheit der Nebenmenschen. Die Nelidow fühlte selbst am meisten die Schwierigkeit ihrer Situation. In allen ihren Briefen aus jener Zeit klingt der Wunsch wieder, nach dem friedlichen Smolnakloster zurückzukehren, nach dem Leben fern von den Intrigen des Hofes. Die Freunde der Großfürstin boten alles auf, um deren Rivalin zu entfernen. In der Erhöhung der Nelidow sah man natürlicherweise eine Erniedrigung der Großfürstin. Letztere versuchte es mit einer förmlichen Verschwörung zum Sturze der Nebenbuhlerin. Sie erreichte damit das Gegenteil. Der Großfürst verließ seine Frau und reiste zur Nelidow. Das gab einen furchtbaren Skandal. Die Nelidow sah sich genötigt, die Kaiserin um Enthebung von ihrem Amte zu bitten. Erst nach mehrfacher Wiederholung ihrer Bitte wurde ihr willfahrt; denn der Großfürst hatte ihre Entfernung durchaus nicht zugeben wollen. Im September 1793 heißt es in einem Briefe der Nelidow an den Fürsten Kurakin über die endlich erreichte Zustimmung des Großfürsten zur Abreise seiner Freundin: »Unser Freund war sehr bewegt und zeigte sich trostlos über meine Entscheidung … Das Datum meiner Abreise kann ich noch nicht bestimmen, denn mein Freund will, daß ich noch den Herbst mit ihm beisammen bleibe; dann will er mich alle Sommer zu sich zurückkehren sehen und daß ich alle Tage zu ihm soupieren komme. Ich wünsche, von seinen Einladungen sehr wenig zu profitieren, aber ich will ihn an die Erfüllung seiner Wünsche glauben lassen. Die Großfürstin wird mich morgen Ihrer Majestät vorstellen, damit ich Gelegenheit habe, der Kaiserin zu danken für das Geschenk, das sie mir gemacht hat (ich glaube 4000 Rubel). Die Großfürstin wird mir auch eine Dotation von 6000 Rubeln und eine Jahrespension von 600 Rubeln geben. Das ist mehr, als ich wünschen kann. Aber jede Medaille hat zwei Seiten: die Unabhängigkeit werde ich nicht haben, ich werde nicht frei werden von der Dankbarkeit … Ich bin besonders darüber bestürzt, daß die Großfürstin dies für mich tut, wie für keine andere Ehrendame. Wie hätte ich glücklich sein können, wenn die Dinge eine andere Wendung genommen hätten! … Was unseren Freund (den Großfürsten) anbelangt, so beschäftige ich mich viel mit ihm, aber in anderem Sinne als Sie vielleicht denken; ich weiß, daß er magere Ressourcen hat. Er hat seine Absicht nicht ausgesprochen, aber nach einigen flüchtigen Worten darf ich annehmen, daß ich eine der Personen sein werde, auf die er seine ganze Generosität verwenden will. Ich habe ihm gesagt, daß meine Bedürfnisse sehr eingeschränkt sein werden in der Zurückgezogenheit, die ich erwählt habe und die zu erhalten ich das Glück hatte. Sie können kaum begreifen, wie sehr ich glücklich sein würde, wenn ich nicht seine Börse belasten müßte! … Meine Hoffnungen und Wünsche konzentrieren sich alle darin: glücklich zu sein in der Ruhe und Einsamkeit. – In Smolna werde ich tausenderlei Freuden finden inmitten der Personen, die mich erzogen haben, die ich unendlich ehre und deren Gefühle sich unverändert für mich erhalten haben trotz allem, was mir zugestoßen ist. … Sie stellen sich diese Anstalt trist, langweilig vor. Sie vergessen, daß ich Dank der Großmut meines Freundes eine gute Bibliothek habe, daß ich meine Harfe und meine Feder besitze, lauter Dinge, die mir schon soviel Dienste geleistet haben in den peinlichsten Momenten meines Lebens. Ich werde ferner ein für mich ganz neues Vergnügen genießen: junge Verwandte unter meinen Augen wachsen zu sehen; deren Fortschritte werden mich ununterbrochen an die Generosität meines Freundes denken lassen, der die Kosten ihrer Erziehung bezahlt. Ich werde nicht, wie Sie annehmen, so unzufrieden damit sein, daß ich gebrochen habe mit den Beziehungen zu einer Welt, die nicht gewußt – besser gesagt: nicht gewollt hat, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich fühle mich so erhaben über diese böse, ungerechte und kuriose Welt, daß mich ihre Gesetze in keiner Façon interessieren.«

Wie erwähnt, hatte der Großfürst es jedoch durchgesetzt, daß die Nelidow auch nach der Enthebung von ihrem Amte als Hofdame der Großfürstin noch den Herbst hindurch bei Hofe blieb. Dies forderte neuerliche Angriffe auf die Nelidow heraus, wie aus einem Briefe des Hofmanns Rostoptschin an seinen Freund Woronzow hervorgeht: »Mlle. Nelidow«, heißt es da, hat den Urlaub erhalten, aber statt den Hof zu verlassen, setzt sie ihren Aufenthalt bei Hofe fort und hat damit einen Erfolg, welcher der Würde des Großfürsten schadet und ihm allgemeinen Tadel einbringt. – – Die arme Großfürstin ist vollkommen isoliert, findet niemanden, dem sie ihre Sorgen anvertrauen könnte und hat keinen anderen Trost als den, den ihr ein Leben voller Tugenden verleiht.« Und am 1. Dezember schrieb Rostoptschin an Woronzow: »Bei seiner Rückkehr nach Petersburg war der Großfürst gezwungen, sich von Fräulein Nelidow zu trennen, trotz zahlreicher Szenen, in denen Zorn und Härte mehr Raum hatten als Liebe und Zärtlichkeit. Aber diese kleine Zauberin frequentiert trotzdem noch den Hof und ihre Retraite scheint nicht ernst zu sein.« Die Nelidow wiederum schreibt an ihren und des Großfürsten Freund, den Fürsten Kurakin: »Ich bin bereit, allem zu entsagen. Ich wüßte nicht ruhig und gemäßigt zu bleiben, wie ich es wahrscheinlich sein müßte gegenüber den Manifestationen eines Charakters, wie es der des Großfürsten ist. Mein Herz revoltiert, wenn ich mir den Trubel des seinigen vorstelle … Was Sie betrifft, Fürst, seien Sie nachsichtig gegen ihn, bewahren Sie kaltes Blut, was ich nicht konnte. Beweisen Sie Ihre Noblesse und Sanftmut gegenüber seiner Seele, die nicht ganz der Güte enträt. Ach, man glaubt allgemein, daß er mich liebt, und doch sah gestern alle Welt, wie er mich behandelt …« Der Großfürst hatte der Nelidow in einem Anfall von Tobsucht heftige Szenen gemacht, und darauf spielt die Favoritin hier an.

Nunmehr verließ Katharina Nelidow wirklich den Hof und flüchtete in das Smolnakloster. Gewinnen hatte dabei die Großfürstin nicht. Die Umgebung des Großfürsten kümmerte sich nicht um eine Versöhnung der Gatten, sondern suchte für Paul ein neues Verhältnis. Eine Frau Pleschejeff, Natalia Feodorowna, geb. Werigin, war bereit die Stelle der Nelidow zu vertreten. Paul ließ sich die jugendliche Frau Natalie anfangs gefallen; doch schon nach kurzer Zeit langweilte sie ihn, und er sehnte sich stärker als je nach der alternden häßlichen Nelidow. Er schrieb ihr, bat sie um Verzeihung wegen der letzten Szene, die sie fortgetrieben hatte, bettelte um ihre Rückkehr. Jahre vergingen, er hörte nicht auf, ihre Rückkehr zu verlangen. Am 1. November 1796 schrieb die Nelidow an Kurakin: »Mit Zartheit, aber mit der Geradheit eines loyalen Herzens, das der Liebedienerei unfähig ist, habe ich ihm erklärt, daß mein Entschluß unabänderlich ist.« Vier Tage später starb Katharina II., und Paul bestieg den Thron nach einer martervollen Wartezeit, während welcher ihm mehr als einmal das Schicksal der Enterbung, der Verbannung, ja selbst der Tod durch Meuchelmörderhand gedroht hatte. Und nun wird das stille Smolnakloster der Wallfahrtsort für den Kaiser aller Reußen, für die zarische Familie, für alle Großen des Reiches.

Seit lange war die Freundin von Paul geschieden. Aber ihr Einfluß wirkte auf ihn fort. Nun war er Kaiser und rief sie zu sich. Sie weigert sich, an den Hof zurückzukehren. Er überschüttet ihre Familie mit Gunstbezeugungen. Kaum ist Paul Kaiser geworden, wird der Bruder der Nelidow außertourlich zum Oberstleutnant befördert. Man verstand die Ursache dieser besonderen Beförderung. Am 23. November, am Vorabende ihres Namensfestes, erhält die Nelidow vom Zaren ein kostbares Geschenk, sie verweigert die Annahme alles Kostbaren und behält bloß ein einfaches Porzellanservice. Am 5. Dezember schenkt der Kaiser dem Bruder seiner Geliebten 1000 Seelen. Zu ihrem Geburtstag am 12. Dezember wagt Paul ihr nicht wieder direkt etwas zu schenken und giebt dafür ihrer Mutter 2000 Seelen im Gouvernement Smolensk. Die Nelidow schrieb ihm darauf: »Ich bitte, Sire, im Namen Gottes, Ihr zu reiches Geschenk herabzumindern, wenigstens auf die Hälfte. Meine Mutter hielt selbst stets schon 1000 Bauern als einen großen und unerwarteten Reichtum. Ich wage 1000 Bauern für sie nicht zu refusieren, weil sie meine Mutter ist … Schon das Geschenk von 500 Bauern würde meine Mutter generös gefunden haben, während die Zahl von 2000 Bauern mein Gewissen bedrückt …« Und sie schließt mit den Worten: »ich wäre glücklich, wenn ich weder Namenstag, noch Geburtstag hätte.«

Als sie trotz aller dieser Aufmerksamkeiten nicht kommt, faßt der Zar einen schnellen Entschluß. Er reist zu ihr, begleitet von seinem ganzen Hofstaat, selbst die Kaiserin und die Großfürsten, seine Söhne, müssen nach dem Kloster von Smolna wallfahrten, um der Favoritin des Kaisers zu huldigen. Da, als der Zar selbst kam, konnte die Günstlingin nicht mehr widerstehen. Paul und Katharina Nelidow feierten ihre vollkommene Versöhnung.

Fortan kannte die Welt den mächtigsten Einfluß, der auf den Kaiser ausgeübt wurde; bald erfuhr sie auch, daß dieser Einfluß vielfach Segen in dieser unglückseligen Epoche stiftete; im Smolnakloster weilte der Schutzengel des Autokraten nicht bloß, sondern der Schutzengel aller, die mühselig und bedrückt dorthin pilgerten, Hilfe und Rettung zu erflehen, wenn der zarische Zorn sie zu zerschmettern drohte. Auf die Verwaltung des Reiches hatte die Nelidow freilich keine große Einwirkung gewonnen. Sie war jetzt, da ihr Verehrer Alleinherrscher über eines der größten Länder der Erde geworden war, noch immer der sentimentale Zögling des Klosters geblieben, voll guter Intentionen, aber allzu naiv. Es fehlte ihr jede Eigenschaft für die Politik, jede administrative Fähigkeit. Ihren Kredit beim Kaiser nützte sie nur dazu, um unberechenbare Folgen seiner Wutausbrüche von den Häuptern Unschuldiger abzuwenden, um Gnade und Gunst für Gefallene zu erwirken, um gutgesinnten und treuen Leuten Stellen und Würden zu verschaffen.

Auf die innere Politik nahm also Fräulein Nelidow keinen besonderen Einfluß; desto mehr mischte sie sich in äußere Fragen. Leider, muß man hinzufügen. Denn sie trieb keine Verstandes-, sondern eine Gefühlspolitik. Sie war von übertriebenem Wohlwollen für die Opfer der französischen Revolution erfüllt. Sie zog die Emigranten an den russischen Hof, verschaffte ihnen Würden und Reichtümer und machte sich schließlich zum Werkzeug der katholischen Propaganda im Reiche der Orthodoxie. So schuf die Nelidow selbst immer neue Unzufriedenheit mit ihrer Macht, und es war klar, daß sie nicht mehr lange den Intrigen ihrer Gegner stand zu halten vermochte, obwohl sie jetzt gerade da eine Stütze hatte, wo man es bisher am wenigsten erwarten durfte: die Kaiserin war ihre Freundin und Helferin geworden! …

Es gilt schon eines der interessantesten Rätsel zu lösen, wenn man das Verhältnis untersucht, in dem sich eine gewöhnliche Sterbliche als Gattin zu einer Nebenbuhlerin befindet. Wieviel merkwürdiger und komplizierter ist dieses psychologische Problem, wenn es sich um die Gattin eines Kaisers handelt, die mit einem einfachen Mädchen aus dem Volke nicht bloß das Herz des Gatten teilen muß, sondern mit der Rivalin auch um den stärksten Einfluß auf die Herrschaft bei Hofe ringt; die nicht bloß aus Eifersucht, sondern auch aus Klugheit, aus Angst um ihr Ansehen im Reiche und beim Volke, aus Besorgnis um Thron und Krone, im Interesse ihrer eigenen Person, ihrer Familie, ihrer Söhne und ihrer Anhänger, den schweren Kampf geheim und öffentlich zu führen hat. Wir haben bisher gesehen, wie Paul, trotz angeblich bloß platonischer Gefühle, doch Jahrzehnte lang unter dem alleinigen Einfluß des häßlichen und alternden Mädchens blieb. Diese merkwürdige Episode in den Romanen der Romanows ist gerade in jenem Teile am interessantesten, der sich auf das Verhältnis zwischen der Gemahlin Pauls und der Favoritin bezieht.

Die schöne Fürstin mußte gänzlich hinter ihre Gesellschaftsdame Katharina Iwanowna Nelidow zurücktreten. Beide waren gleichaltrig. Sonst aber könnte man sich keine größeren Gegensätze denken als die, welche zwischen diesen beiden Frauen bestanden. Die Nelidow war brünett, mit geistvollen, funkelnden Augen, bei aller Bescheidenheit immer animiert, immer lebhaft. Großfürst Paul war in seinen jüngeren Jahren ein Träumer, stets zum Mystizismus geneigt; die Schwierigkeit seiner Position gegenüber der herrschsüchtigen Mutter suchte er im Erträumen einer schöneren Zukunft zu vergessen. Seine Gattin verstand seine Gedanken und Wünsche nicht und war nur personifizierte Resignation. Ihre Sentimentalität mußte den ehrgeizigen Thronfolger langweilen. Er kümmerte sich wenig um ihre artistischen Liebhabereien; er suchte für seinen Kummer keinen Trost in ihren theatralischen Amateurvorstellungen, in ihren literarischen Veranstaltungen. Volles Verständnis fand er dagegen bei der Nelidow. Maria Feodorowna riet ihrem Gemahl stets zu vollständiger Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen und Befehlen der Kaiserin Katharina, sie sah nur in bedingungsloser Unterwerfung das Heil. Die Nelidow riet ihm allerdings zur Klugheit und Vorsicht gegenüber der Mutter und Kaiserin, die den Sohn so tyrannisierte, daß sie ihm selbst seine Kinder wegnahm; aber die Favoritin flößte dem Thronerben auch den Mut zu Stolz und Selbstbewußtsein und zum Beharren in seinen Rechten ein.

Nach alledem ist es kein Wunder, daß Paul sich weniger zu seiner Gattin als zur Nelidow hingezogen fühlte. Der letzteren Bizarrerie sogar mußte ihm gefallen. Bei ihr fand er Kühnheit, Entschlossenheit, Entschiedenheit in allen Handlungen; sie fürchtete nicht, ihre wahre Meinung zu offenbaren; ihr Freimut und ihre Aufrichtigkeit wirkten vertrauenerweckend, während die stumme Widerstandslosigkeit der Gattin in Paul den Gedanken erregte an eine stumme Opposition, an einen stummen Tadel seines Verhaltens. Anfangs fiel das intime Verhältnis, das sich zwischen Paul und der Hofdame entwickelte, nicht auf. Niemand mochte an Liebe denken angesichts der märchenhaften Häßlichkeit des Mädchens. Die Großfürstin selbst bediente sich der Nelidow, als sie den Einfluß der Hofdame auf den Thronfolger erkannte, ahnungslos, wenn sie beim Gemahl etwas durchsetzen wollte. Als Großfürst Paul 1788 den schwedischen Feldzug mitmachte, schrieben ihm die Großfürstin und die Nelidow gemeinsame Briefe. Als die Nelidow einmal einem Freunde mitteilt: »Ich wünsche nichts sehnlicher, als in Ruhe leben zu können; o, erhielte ich die Erlaubnis, vom Hofe heimzukehren« – kommt gerade die Großfürstin dazu und schreibt an den Rand des Briefes: »Questo non sara«; darauf fügt die Nelidow ihrerseits hinzu: »Si, cela sera«, und schließt den Brief mit folgenden Worten: »Ich verlasse aber die Großfürstin nicht; ich liebe sie alle Tage mehr ob ihrer grenzenlosen Ergebenheit für ihren Gatten, für diesen teueren kleinen Paul, den ich von ganzem Herzen liebe …«

Seltsamer könnte die Situation nicht beleuchtet werden als durch diesen Brief: Katharina Iwanowna Nelidow, die Freundin des Großfürsten-Thronfolgers Paul Petrowitsch, liebt dessen Gattin ob der grenzenlosen Ergebenheit für den Gatten. Es ist kaum denkbar, daß Maria Feodorowna nicht schon in diesem Moment ihre eigene eigentümliche Position begriff. Im Grunde ihres Herzens konnte sie doch nicht damit zufrieden sein, daß nicht sie, sondern eine andere Person den stärksten Einfluß auf ihren Gatten hatte. Die familiäre Bezeichnung »der kleine Paul«, welche sich die Nelidow erlauben durfte, mußte die Großfürstin kränken. Die Nelidow übersah im Triumph ihrer Eigenliebe, wie sie die Herrin verletzte. Aber wenn beide Frauen anfänglich nicht zum Bewußtsein ihres anormalen Verhältnisses kamen, so sorgten bald, andere für die Aufklärung. Maria Feodorowna bewies dann zum ersten Male in ihrem Leben Energie, als sie sich aufraffte, um die Rivalin zu entfernen. Sie ging zur Kaiserin Katharina und beklagte sich über ihr Unglück. Die Kaiserin zog die Schwiegertochter vor einen Spiegel und sagte: »Schau, wie du schön bist; Deine Revalin aber ist ein kleines Monstrum. Höre auf, dir deinen Kopf zu verdrehen, und sei überzeugt von deinen Reizen.« Katharina vergaß, daß sie selbst, die Schöne, bei ihrem Gemahl hatte zurücktreten müssen hinter die häßliche Woronzow … Der Kaiserin, die den Thronfolger Paul übergehen und das Erbe des Reiches gleich ihrem Enkel Alexander überlassen wollte, paßte übrigens die Entfremdung zwischen ihrem Sohn und seiner Frau, und sie tat nichts, um die Schwiegertochter von ihrer Rivalin zu befreien. Seither blieb Maria Feodorowna fast stets resigniert; nur in Briefen beklagt sie heimlich ihr Schicksal: »Unser Benehmen gegenüber der Kleinen«, so schreibt sie einmal, »ist vollkommen korrekt, aber ich muß gestehen, daß sie immer mehr sans façon behandelt wird, daß sie selbst öffentlich Zärtlichkeiten genießt. Das ist ein sehr falsches Fräulein, ihre Zweideutigkeit zeigt sich in jedem ihrer Worte. Aber ich gehe meinen Weg, überzeugt, daß dies eine Prüfung Gottes ist.« Und 1792, als sie einem freudigen Ereignis entgegensieht, schreibt sie ihrem Freunde Pleschejeff: »Sie werden sich über mich moquieren; aber es scheint mir, daß die Nelidow jedesmal, wenn ich mich in dieser für mich gefährlichen, vielleicht tötlichen Lage befinde, daran denkt, eine zweite Maintenon werden zu können. Bereiten Sie sich deshalb vor: Sie werden ihr bald die Hand küssen müssen.« Trotz ihrer Bitterkeit kam aber die Großfürstin Maria Feodorowna gerade damals mehrfach in die seltsame Lage, sich des Einflusses ihrer Nebenbuhlerin beim Großfürsten Paul bedienen zu müssen. Als Großfürst Alexander, der Sohn des Großfürstenpaares, heiratete, weigerte sich Paul, zur Hochzeit zu kommen, und erst durch die Nelidow konnte Maria Feodorowna ihren Gatten umstimmen.

Endlich gelang es, wie wir wissen, der Nelidow den Hof zu verleiden; freiwillig zog sie sich für einige. Zeit zurück. Dann aber erschien sie wieder auf Wunsch des Thronfolgers. »Was soll das heißen?« fragte, darob bestürzt, die Großfürtin Maria in einem ihrer Briefe an ihren Vertrauten Pleschejeff. »Ich wundere mich über den Mangel an Verstand, den sie bekundet. In welcher Eigenschaft (als Hofdame der Großfürstin hatte sie ja ihre Entlassung bekommen) ist sie hergekommen? Mein teuerer Freund, wie ist doch diese Welt so niedrig, und wie ist alles so häßlich, was hier geschieht. Gott wird vielleicht ein Wunder tun, und diese Rückkehr, die ein Triumph scheint, wird sich dann in eine Konfusion verwandeln« … Und kurz darauf fand ein Wunder statt, aber ein anderes, als die Großfürstin geglaubt hat. Der früher schon einmal erwähnte Hofmann Rostoptschin schreibt voller Grimm an einen Bundesgenossen in Intrigen: »Der Großfürst befindet sich zur Stunde in besseren Beziehungen als je zu seiner Frau, weil er sich entschieden hat, dem Drängen seiner Freundin nachzugeben und sich der Großfürstin zu nähern.«

Dem Einfluß der Rivalin verdankte also schließlich die Großfürstin Maria die Versöhnung mit dem Gatten! Nun erkannte Maria Feodorowna, daß sie an der Nebenbuhlerin auch eine Freundin hatte, so paradox dies schien. Nicht ohne Bitternisse rang sie sich zu dieser Erkenntnis durch. Als die Nelidow zeitweilig entfernt worden war, hatte Maria bald verstehen müssen, daß dies für sie selbst kein Gewinn war; ihr innigster Anhänger und Vertrauter Pleschejeff hatte seine eigene junge Frau dem Großfürsten als Geliebte aufhalsen wollen. Um eine Versöhnung des Großfürstenpaares, um das Glück und die Ruhe der Großfürstin kümmerten sich nicht deren Freunde, sondern nur die Rivalin, die Nelidow selbst, ließ sich dies angelegen sein. So entstand eine förmliche Entente zwischen den beiden Frauen, die dem Großfürsten-Thronfolger am nächsten standen. Diese Entente wird zu einer förmlichen Allianz, als Paul den Thron besteigt. Der Charakter Pauls hat diese Entwickelung des merkwürdigsten weiblichen Freundschaftsverhältnisses, das nun ungestört fortdauern wird, herbeigezwungen. Beide Frauen lieben den Kaiser; wenn auch jede in ihrer Art ihre Gefühle manifestiert, im Ziele sind sie einig: sie wollen die Exzentrizitäten des Herrschers paralysieren, seine Zornausbrüche verhindern oder wenigstens die schlimmsten Folgen seiner Wutanfälle von Unschuldigen abwenden. Nun geht die Kaiserin am weitesten von allen, wenn es gilt, der Favoritin des Kaisers Hochachtung und Verehrung zu bezeigen. Der Hofarzt Dr. Rodgerson schreibt am 14. Dezember 1796 an den Grafen Woronzow: »Es wird Sie freuen, zu erfahren, daß Eintracht und Friede in der kaiserlichen Familie herrschen … Die Kaiserin besucht häufig Fräulein Nelidow im Smolnakloster und macht alle möglichen Anstrengungen, um die Favoritin an den Hof zurückzuführen.« Die Nelidow kommt zwar manchmal an den Hof, aber zu selten für den aufrichtigen Wunsch der Kaiserin, sie zu sehen; denn ohne die Nelidow ist die Kaiserin zu schwach für den Kampf gegen den unverläßlichen Charakter des Kaisers. »Sie werden also«, schreibt die Kaiserin einmal der Nelidow, »am 27. Juli kommen; wir sind darüber sehr glücklich. Alle, welche Sie zärtlich lieben, wünschen Sie zu sehen«. Die Kaiserin läßt im Winterpalais ein besonderes Appartement für die Nelidow einrichten, welche zuweilen dort wohnt, aber nicht dauernd bleiben will, aus Furcht vor dem rasch wechselnden Charakter des Zaren, aus Furcht vor der Kamarilla, aus Furcht auch, durch Mißbrauch der Gastfreundschaft ihrer kaiserlichen Freundin wieder in eine schiefe Position zu geraten. Das Motiv, das den Zaren betrifft, erweist sich auch als ein begründetes; sie gerät in einen Konflikt mit Paul und bleibt dann lange fort. Daraufhin werden die Rollen vertauscht, die Kaiserin bemüht sich um die Versöhnung ihres Gatten mit seiner Freundin. Maria Feodorowna schreibt der Nelidow einen rührenden Brief: »Sie sind unsere wahre und aufrichtige Freundin und werden es immer bleiben; Sie zu lieben ist unsere Freude. Kommen Sie zu uns, ich bitte Sie im Namen aller edlen Gefühle Ihrer edlen Seele, welche Ihnen diese gute Handlung diktieren müssen. Unser erhabener Kaiser ist in Verzweiflung darüber, daß er Ihnen Kummer bereitet hat; ich schwöre es. Die Reize von Gatschina verhören ihren Wert, wenn Sie abwesend sind. Der Kaiser fühlt dies lebhaft und manifestiert es, und ich wiederhole es mit ihm in jedem Augenblicke. Hören Sie die Stimme der Freundschaft, und glauben Sie es mir, teuere Freundin: Ihre verlängerte Abwesenheit wäre ein Übel, das Sie mir zufügen würden; ja, es wäre dies grausam von Ihnen, und Ihr Herz würde das Recht haben, Ihnen den Kummer vorzuwerfen, den Sie mir verursachen. Kommen Sie zu Ihren Freunden, die Sie zärtlich lieben. Wir erwarten Sie morgen bestimmt. Alles ist bereit für Ihren Empfang und wir werden Ihnen entgegeneilen, um Sie innig zu küssen.« Und der Kaiser fügt dem Briefe der Kaiserin dieses Postscriptum hinzu: »Wenn ich das Recht, Sie zu überzeugen, verloren habe, so würde ich keinen besseren Anwalt finden können, als die, welche vor mir die Feder führte. Unser Aufenthalt hier hat unter so glücklichen Auspizien begonnen, daß es von Ihnen grausam wäre, die Harmonie durch Ihre Abwesenheit zu stören. Nur Sie fehlen zu meinem Glücke. Kommen Sie, ich erwarte Sie – stören Sie nicht die glücklichen Auguren. Nochmals: ich erwarte Sie!« …

Und sie kam. Aber ihr Stern war im Verblassen. Jahrzehntelang hatte sie Einfluß auf Paul gehabt. Nun aber geriet ihre Macht ins Wanken. In dem Momente, da er die Allianz zwischen seiner Frau und der Nelidow als eine unerschütterliche erkannte, wurde Paul mißtrauisch gegen beide, die Nelidow verlor bei ihm allen Kredit, und die Intriganten hatten leichtes Spiel. Vergebens hoffte die Kaiserin auf eine neue Änderung der Dinge, als sie an die Nelidow schrieb: »Niemals wird es den Miserablen, welche den Kaiser umgeben, gelingen, in ihm die Gefühle der Verehrung zu ersticken, die er für uns hat. Im Grunde seines Herzens kann er die Beweggründe unserer Handlungen nur billigen. Welche Anstrengungen auch Iwan machen möge, um uns zu verleumden – der Kaiser könnte einen Augenblick blind sein, aber er kann es nicht bleiben. Dieser Elende, dieser Iwan, verläßt den Kaiser nicht eine Minute lang.« –

Dieser Iwan war der berüchtigte Kutaïsow.

Iwan Kutaïsow war von Geburt ein Türke. Er wurde als Knabe im Türkenkriege 1770 bei der Einnahme von Bender gefangen genommen und als eine Art Kuriosum dem Großfürsten Paul geschenkt. Dieser bekehrte den jungen Mohammedaner zur griechischen Religion und behielt ihn als Diener, ließ ihm jedoch auch etwas Französisch und einige andere oberflächliche Kenntnisse beibringen. Kutaïsow verstand, sich dem Großfürsten nützlich zu machen und wurde bald sein Vertrauter in allen Dingen.

Nach Katharinas Tod, als Paul den langersehnten Thron bestiegen hatte, erreichte der Kammerdiener eine Macht, die selbst damals, in der Epoche wüstester Günstlingswirtschaft, in Erstaunen setzen mußte. Kutaïsow war der einzige, der mit Paul umzugehen wußte. Er allein vermochte die Launen des Zaren zu ertragen und nahm Schläge und Schimpf geduldig hin. Paul konnte bald ohne Kutaïsow nicht leben, nicht regieren, und der Kammerdiener des Kaisers war somit im stillen der eigentliche Herrscher des Zarenreiches, um dessen Gunst sich selbst Besborodko und Pahlen, die offiziellen Hauptminister, bewerben mußten. Der Günstling hatte wieder eine Günstlingin, die Chevalier, die ihn vollständig beherrschte, die Titel, Ämter und Güter öffentlich an ihre Günstlinge verschenkte oder verkaufte.

Aber auch bei Kutaïsow machte Pauls Launenhaftigkeit nicht immer Halt. Als höchster Staatswürdenträger behielt Iwan immer noch die Stellen eines Kammerdieners und Barbiers bei und besaß so die Möglichkeit, ununterbrochen um den Zaren zu sein und gegen alle zu intrigieren, die seinen Einfluß genierten. Wenn einmal eine seiner Verleumdungen an den Tag kam, pflegte wohl der Zar dem Kammerdiener die Wasserkanne an den Kopf zu werfen und ihm alles Geschenkte wieder zu entreißen, und eine lächerliche Kleinigkeit hätte dem Günstling sogar fast den Hals gebrochen. Bei Gelegenheit der Krönung des Zaren verlangte Kutaïsow, dessen Titel- und Ordenssucht unersättlich war, den Annenorden zweiter Klasse. Paul, der sich nichts vorschreiben ließ, geriet über den Wunsch des Günstlings in einen Zorn, der zu dem geringfügigen Anlaß in gar keinem Verhältnis stand, schlug auf den Kammerdiener los und jagte ihn aus dem Dienst. Durch mehrere Tage mußte Kutaïsow vor dem Tore des Palastes im Wagen bleiben und auf den Befehl des Kaisers warten, der den Ort seiner Verbannung bestimmen sollte. Bloß den vereinten Bemühungen der Kaiserin und der Nelidow gelang es, Paul zu besänftigen und ihn zu bewegen, daß er Kutaïsow wieder in Gnaden aufnahm. Der Gerettete warf sich den beiden Frauen zu Füßen und schwor ihnen ewige Dankbarkeit. Wie er den Schwur gehalten hat, werden wir sofort sehen.

Merkwürdigerweise war ja die Kaiserin, die anfangs auf die Nelidow eifersüchtig gewesen war, bald deren beste Freundin geworden und die beiden Frauen verstanden sich schließlich so gut, daß die Nelidow den Zaren immer dahin zu bringen suchte, wohin die Kaiserin ihn wünschte. Kutaïsow merkte dies, und ihm fing an bange um seine Macht zu werden. Er beschloß, die Nelidow sowohl als die Kaiserin zu stürzen, um den Kaiser durch eine andere, von ihm à la Potemkin ausgesuchte Geliebte zu beherrschen.

Als Paul sich zur Krönung nach Moskau begab, wurde ihm hauptsächlich durch die Bemühungen Kutaïsows ein prachtvoller Empfang zuteil. Entzückt vor Freude sagte der Zar zu seinem Günstling:

»Wie sehr hat mein Herz heute geschwelgt! Das Volk von Moskau liebt mich weit mehr als das von Petersburg, denn mir scheint, daß ich dort weit mehr gefürchtet, als geliebt bin!«

»Dies nimmt mich nicht Wunder«, entgegnete der schlaue Kutaïsow.

»Wieso?« fragte Paul.

»Ich wage es nicht, mich deutlicher auszusprechen.«

»Ich befehle es.«

»Versprechen Sie mir, Sire, es weder der Kaiserin noch Mademoiselle Nelidow wiederzuerzählen.«

»Ich verspreche es.«

»Es liegt daran, Sire, daß man Sie hier in Moskau so sieht, wie Sie wirklich sind: gut, großmütig und empfindsam. Während man in Petersburg sagt, wenn Sie eine Gnade gewähren: es ist die Kaiserin oder Fräulein Nelidow, die dies von Ihnen erlangen. So fällt das Lob an jene, wenn Sie Gutes tun. Wenn Sie aber strafen, Majestät, dann gilt aller Haß nur Ihnen.«

»Ja, – du hast recht – das darf nicht so bleiben … Man sagt also, daß ich mich von meiner Frau und der Nelidow beherrschen lasse?«

»Nicht gerade beherrschen – doch ja, Majestät, ich kann es nicht länger zurückhalten, ich sage es, und mag daraus für mich entstehen, was da wolle: man sagt, daß Sie sich von diesen beiden Frauen beherrschen lassen – –«

»Ah, meine Damen,« begann Paul zu wüten, »ich werde Ihnen zeigen, meine Damen, ob man mich beherrscht …«

Und in seinem Zorn stürzte er zum Tisch und wollte schreiben. Aber Kutaïsow, dem die Sache zu schnell ging, beschwor den Kaiser, nichts zu übereilen.

Am nächsten Tage besuchte Paul einen Hofball. Hier fand sich auch Kutaïsows Kreatur, die sechzehnjährige – nach anderen 19jährige – schöne Anna Petrowna Lopuchin, Tochter des Moskauer Senators Peter Wassiljewitsch, ein.

Zeitgenössische Berichte schildern sie folgendermaßen:

»Eine hübsche Brünette von mattem Teint und mit tief ausdrucksvollen Augen. Ihre Schönheit hat einen süßen und melancholischen Charakter und wirkt noch mächtiger durch die extreme Bescheidenheit des Auftretens.« Sie war aber doch in der Kunst der Koketterie genügend erfahren. Auffallend wußte sie dem Kaiser immer unter die Augen zu kommen. Sie folgte ihm überall auf Schritt und Tritt; wohin er seine Schritte richtete, sah er sie, die ihre Blicke unverwandt wie in Verzückung auf ihn heftete. Er fragte einen aus seiner Begleitung:

»Ei, was ist denn das mit diesem schönen Mädchen, das mir immerfort folgt?«

Der Gefragte, von Kutaïsow bereits instruiert, antwortete:

»Sie wird in Sie verliebt sein, Paul wird als ein häßlicher Mann geschildert, während seine Kinder alle schön waren. Als Knabe war Paul ebenfalls von großer Schönheit gewesen. 1764 oder 1765 wurde er von einer Krankheit erfaßt, die von Konvulsionen begleitet war und in seinem Antlitz Spuren der Verzerrungen hinterließ. Seine Augen hatten aber ihren tiefen Ausdruck behalten und seine Zähne waren so schön und weiß, daß sein Mund das ganze Gesicht verschönte. Er war auffallend mager, knochig und muskulös, aber dabei von schöner Statur, so daß man ihn einen gutgebauten Mann hätte nennen können, wenn er nicht durch theatralische Bewegungen, die ihm Majestät verleihen sollten, ins Lächerliche verfallen wäre. Majestät. Seit sie Sie gesehen, scheint sie völlig den Kopf verloren zu haben.«

Der Kaiser lächelte mit eitler Befriedigung und meinte:

»Aber, sie ist ja noch ein Kind, so jung.«

»Oh, sie ist schon sechzehn Jahre alt,« wurde ihm geantwortet.

»Hm, wirklich nicht übel,« sagte der Zar, indem er sie aufmerksamer betrachtete, und näherte sich ihr.

Er spricht sie an, unterhält sich mit ihr, findet sie drollig und naiv und ist entschlossen, sich der unglücklichen Verliebten mitleidig zu erbarmen. Er ruft Kutaïsow und beauftragt ihn, mit den Eltern des Kindes das Nötige zu arrangieren.

Das war schnell geschehen, und Paul hatte seine Maitresse …

Der Kaiser sprach so offen und so lebhaft von dem tiefen Eindruck, den die Lopuchin auf ihn gemacht hatte, daß die Kaiserin und die Nelidow beunruhigt wurden und die Abreise des Hofes von Moskau zu beeilen trachteten.

Es war bereits zu spät. Bald mußte die Kaiserin »das Unglück«, wie sie sich ausdrückte, in vollem Umfange als geschehen erkennen. Nachdem der Kaiser nach Petersburg zurückgekehrt war, bewies er seiner Frau und der Nelidow auffallende Kälte und schwärmte immer ungenierter von seiner neuen Liebe. Unglücklicherweise bewahrte die Kaiserin ihre Selbstbeherrschung nicht mehr, sie erregte durch ihre Unklugheit Pauls Zorn und Mißtrauen, der zu finden glaubte, daß sie ihm, dem Selbstherrscher, nicht genug achtungsvoll und gehorsam begegnete. Als Paul wieder abreisen soll, erkrankt die Kaiserin an einem typhösen Fieber. Der Zar sieht in der Krankheit eine Komödie, eine Opposition gegen seinen Willen. Die Kaiserin, aufs höchste erregt, will auf radikale Weise die Quelle des Ungemachs zerstören und schreibt der Lopuchin einen Drohbrief, um sie von der Liebschaft mit dem Kaiser abzuschrecken. Es bleibt mysteriös, wie dieser Brief sofort in die Hände Kutaïsows kam. Dann aber hatte ihn auch der Kaiser. Wütend wie ein Tier stürzte Paul auf die Kaiserin los und mißhandelte sie und die Nelidow tätlich.

Die Nelidow erbat ihren Abschied vom Hofe. Der Kaiser war damit im Herzen einverstanden, aus Eigensinn aber verweigerte er die Bitte, worauf die gestürzte Geliebte ohne seine Erlaubnis aus Petersburg floh und sich auf ihr Gut begab.

Am 5. September 1798 verließ die Nelidow Petersburg und reiste nach Schloß Lohde in Esthland ab. Und schon am Tage darauf kam die Lopuchin mit ihrer ganzen Familie an den Hof. Am 6. September wurde sie zur Ehrendame der Kaiserin ernannt, ihr Vater zum wirklichen Geheimrat. Am 3. Oktober war Hofball, und Anna Petrowna Lopuchin soupierte zum ersten Male an der Tafel des Kaisers. Damals entwarf ein Teilnehmer am Hofball folgendes Bild von ihr:

»Sie hat einen schönen Kopf, aber ist klein, ohne Grazie, mit mittelmäßigen Manieren und Bewegungen. Sie hat schöne Augen, braune Haare und Augenbrauen, wunderschöne Zähne und einen angenehmen Mund. Ihre kleine Stutznase verleiht ihrem Antlitz etwas wenig Distingiertes. Doch ist der Ausdruck ihres Gesichtes sanft und gut. Tatsächlich ist die Lopuchin unfähig zu schaden, jemandem Übles zu tun. Sie hat wenig Geist, gar keine Bildung und ihre Erziehung ist gleich Null.«

Anna Petrowna Lopuchina verstand ihre Stellung nur einmal besser auszunützen als die Nelidow. Im Namen ihres Vaters bat sie beim Zaren um die Grafenwürde; es schickte sich doch nicht, meinte sie, daß die Geliebte des Kaisers eine bloße Adelige sei.

»Ja,« sagte Paul, »du hast recht. Du willst also Gräfin werden? Wohlan, du bist Fürstin.«

Und anderen Tages wurde ihr Vater Peter Lopuchin in den Fürstenstand erhoben.

Im übrigen mißbrauchten weder sie noch ihr Vater, der als gerecht, uninteressiert und maßvoll geschildert wird, die Stellung, die ihnen das Glück angewiesen hatte. Die Lopuchin beschränkte sich auf Erwirkung von Gunstbezeugungen, nahm aber auf wichtige Angelegenheiten keinen Einfluß, obwohl die Liebe des Herrn und die Niedrigkeit der Hofleute ihr die Möglichkeit boten, sich in alles zu mischen. Gleich der Nelidow bemühte sie sich meist, Gnade für Unschuldige zu erlangen, die des Zaren blinder Zorn bedrohte. Dann weinte sie solange, bis sie erhielt, was sie wollte. In ihrer Jugend und Unerfahrenheit hatte sie nicht – wie die Kaiserin und die Nelidow – das Verständnis für die Gefahren, die sie und ihren Herrn umgaben; sie begriff weder die wahren Aspirationen des Kaisers noch die seiner Feinde, und war unfähig, die Dinge zu dirigieren. So wurde sie ein blindes Werkzeug der Kamarilla und trug ohne ihr Wissen zum Untergang Pauls bei.

In den Memoiren des Fürsten Golowkin, Zeremonienmeisters am Hofe Pauls, findet man einige interessante Bemerkungen, die zu den früheren Mitteilungen über die Lopuchin in einigem Widerspruch stehen: Comte Fédor Golovkine, La Cour et le Règne de Paul Ier. Paris 1905. Seite 151, 167, 180-185, 186, 283. Golowkin erzählt zunächst, daß Anna Lopuchin trotz ihrer Jugend schon berüchtigt war durch ihr skandalöses Leben; sie war, bevor Paul sie kennen lernte, die Maitresse Uwarows, eines Adjutanten und Günstlings des Kaisers. Uwarow und Kutaïsow Hier will ich auch nachträglich ein paar Worte Golowkins über Madame Chevalier, die Geliebte Kutaïsow's, erwähnen: Der absolute Einfluß, den diese Sängerin auf Kutaïsow hatte, verlieh ihr, dank dem Einfluß, den Kutaïsow auf den Zaren hatte, einen direkten und wahren Anteil an der Macht. Sie war eine gutmütige Frau und mißbrauchte den Einfluß wenig, aber ihr Mann machte sich die Liebschaft seiner Frau mit dem allmächtigen Barbier des Zaren desto mehr zunütze. halsten sie dem Zaren auf; der Zeremonienmeister Walujew, der das Komplot gegen die Kaiserin mitmachte, stellte die Lopuchin bei dem Hofball ununterbrochen so auf, daß sie stets dem Zaren gegenüber stand, und die Kaiserin die Absicht nicht verkennen konnte … Paul glaubte, daß er, um Franz I., Heinrich IV. und Ludwig XIV. zu gleichen, eine erklärte Maitresse, »une dame de ses pensées«, haben müßte; und Mademoiselle Anna schien ihm, »obwohl sie weder hübsch noch liebenswürdig war«, für die brillante Rolle geeignet zu sein. Paul ging so weit, daß er seine Favoritin mit dem Großkreuz des Malteser-Ordens dekorierte, und damit sie die Erste würde, entzog man den Orden allen Frauen in Europa, die ihn schon früher gehabt hatten! Am Hofe war plötzlich alles verwandelt. Die kaiserliche Familie war nur noch die Hauptdekoration für ein Theater, auf welchem die Favoritin ihre Triumphe feierte.

Die Minister waren von dem Erscheinen dieser Sonne nicht entzückt, weil sie den Ehrgeiz des Vaters der Maitresse fürchteten; die Angst war um so mehr begründet, als der neue Fürst Lopuchin auch ein Mann von Begabung war.

Der Kaiser schenkte ihm Güter und 8000 Seelen, gab ihm sein Porträt und verlieh ihm das Großkreuz des Malteser-Ordens und den Andreas-Orden in Brillanten.

Mit der Familie Lopuchin kam ihr ganzer Anhang an den Hof. Da war zunächst der Fürst Gagarin, der mit Zustimmung des Kaisers Anna Lopuchin heiratete; die Hochzeit wurde mit großem Pomp gefeiert, aber die Fürstin Gagarin gehörte nach wie vor nur dem Zaren. Was bei Paul früher nur in geringem Maße der Fall gewesen war, das geschah jetzt: Frauen begannen eine große Rolle an seinem Hofe zu spielen. In erster Reihe stand die einstige Gouvernante und nunmehrige Gesellschafterin der Lopuchin, Madame Gerber, die für sich und andere großen Vorteil aus der neuen Situation ihrer ehemaligen Schülerin zog.

Seiner jetzigen Stellung entsprechend schaffte sich auch der Vater der Favoritin, Fürst Peter Lopuchin, eine Maitresse an; seine Geliebte war die schöne Gascoygne, Tochter des englischen Arztes Guthrie. Dieser übte jetzt seinen Beruf nicht mehr aus, sondern warf sich auf ein einträglicheres Geschäft: er schnüffelte in den Regierungsbureaus umher, notierte alle schon erledigten Angelegenheiten und veranlaßte einfach die Verzögerung ihres endgiltigen Abschlusses; dann begab er sich zu den Parteien, bot ihnen gegen gute Bezahlung seine Hülfe an, und richtig hatte er in 24 Stunden alles geordnet. Er ging immer sicher, verschaffte sich einen glänzenden Kredit und verdiente dank seiner genialen Methode ein Vermögen.

Die Kaiserin begegnete der Lopuchin ziemlich höflich, aber ihr eigenes Los verbesserte sie dadurch nicht.

Wie Peter der Dritte jeden mißhandelte, der sich seiner Gattin freundlich zu zeigen wagte, so machte es jetzt auch Paul. Die lächerlichsten Harmlosigkeiten boten ihm hierfür Anlässe. Es genügte, mit der Kaiserin zwei- oder dreimal zu reden, um des Kaisers Zorn zu erregen. Graf Wielhorsky, der als Hofmarschall der Zarin genötigt war, öfter mit ihr zusammenzukommen, näherte sich ihr eines Tages bei einem Hoffeste, um Instruktionen zu empfangen.

Paul bemerkte dies und sagte zum Großfürsten Alexander, indem er auf den Grafen zeigte:

»Der da bringt wieder unnützes Gewäsch vor.«

Der Großfürst warf dem Grafen einen Blick zu, um ihm den Rückzug anzuraten. Wielhorsky entfernte sich von der Kaiserin und trat auf einen Tisch zu, an dem man Karten spielte. Aber er hatte durch sein Gespräch mit der Kaiserin den unbesiegbaren Zorn des Zaren erweckt, und sein Verderben war beschlossen. Kaum hatte er sich den Spielenden zugesellt, da sagte Paul zum Großfürsten:

»Sieh mal, sieh, wie er versucht, sich uns auf Hörweite zu nähern, um uns zu belauschen. Das ist doch impertinent.«

Der Großfürst machte dem Grafen wieder ein Zeichen, das aber nicht beachtet wurde. Da rief Paul den Grafen Wielhorky, den Hofmarschall der Kaiserin, zu sich und fragte ihn:

»Ah, Herr Graf, wissen Sie schon, daß Herr von Naryschkin Hofmarschall der Kaiserin ist?« …

Wennmöglich noch nichtiger war der Grund eines Streites, den Paul mit dem Grafen Stroganow anfing, weil letzterer sich in einer – Wetterfrage auf die Seite der Kaiserin stellte.

Einmal schlug nämlich der Kaiser, als er sich in Pawlowsk befand, der Kaiserin einen Spaziergang vor. Durch das Fenster blickend, sagte die Kaiserin:

»Aber ich befürchte Regen.«

»Was halten Sie davon?« wandte sich Paul an den gerade anwesenden Grafen Stroganow, der als der vorsichtigste Mann an Pauls Hofe galt.

Der Graf schaute hinaus und entgegnete:

»Ich sehe den Himmel schwer bewölkt, wir dürften also aller Wahrscheinlichkeit nach bald Regen haben.«

»Aha,« fuhr der Kaiser auf. »Sie stimmen mit der Kaiserin überein, bloß um mich zu ärgern. Aber ich bin es überdrüssig, solche Falschheit zu ertragen. Ich merke, Herr Graf, daß wir einander nicht mehr konvenieren. Sie verstehen mich nie. Übrigens haben Sie in Petersburg zu tun, ich rate Ihnen, sofort dahin zurückzukehren. Diesmal, hoffe ich, verstehen Sie mich doch …«

Graf Stroganow machte eine tiefe Verbeugung und verließ den verrückten Monarchen. –

Oft kam es vor, daß Paul seine Gemahlin auf eine Anhöhe stellte, damit sie seinen Truppen als Absteckpfahl diente … Da stand die arme geduldige Frau stundenlang in Schnee oder Regen, Hitze oder Kälte – in einer Position, wahrlich würdig einer Kaiserin. –

Als Gattin kam Maria Feodorowna nicht mehr in Betracht. Im Jahre 1798 befahl der Kaiser der Kaiserin, ein separates Schlafzimmer zu beziehen. Um sie hierfür zu entschädigen, ließ er ihr einige Bewegungsfreiheit in politischen Angelegenheiten. Sie war unklug genug, hiervon Gebrauch zu machen, und sogleich brach Pauls Zorn wieder los. Es war am 25. Juli 1798 spät abends, als der Kaiser den Thronfolger zu sich rief und ihm auftrug, zur Kaiserin zu gehen und ihr zu sagen, daß sie sich in nichts mehr mischen solle. Alexander verwies auf das für ihn als Sohn Unpassende der Mission, da schrie der Kaiser außer sich: »Ich glaubte, nur meine Frau verloren zu haben; aber ich sehe, daß ich auch keinen Sohn mehr besitze.« Der Sohn warf sich dem Vater zu Füßen, es war umsonst. Der Kaiser stürzte selbst in das Zimmer der Kaiserin, mißhandelte sie und hätte sie erschlagen, wenn nicht Alexander herbeigeeilt wäre, um seine Mutter zu schützen. …

Nach dem Weggange der Nelidow hatte die tragische Entwickelung am Hofe Pauls begonnen, und immer schneller ging sie ihrem Ende zu. Die Kaiserin verlor alle Hoffnung, ihren Einfluß auf den Kaiser zurückzugewinnen und den Irrsinnigen von den Ausbrüchen seines Zornes abzuhalten. Pauls Wut, nicht mehr besänftigt und abgeleitet durch die kundigen und sicheren Hände seiner beiden wahren Freundinnen, seiner Gattin und der Nelidow, wächst zügellos. Der Kaiser wittert überall Verrat, züchtet durch seine Brutalität die Mörder, die ihn beseitigen werden. Seine Wutausbrüche schonen niemanden. Gnade und Ungnade wechseln hastiger als die Sekunden. Die Hofbälle gleichen, wie ein Zeitgenosse zitternd in sein Tagebuch schreibt, mehr Begräbnissen als freudigen Festen; denn just diese Gelegenheiten erwählt der Zar, um zu zürnen und zu strafen.

Am beklagenswertesten ist die Kaiserin, die mit der Nelidow ihre Stütze verloren hat. Sie klagt, daß sich die Freundin so leicht von ihr getrennt habe. Ihre Briefe an die Nelidow aus dieser Zeit sind voll tiefer Trauer um die glücklichen Tage der Freundschaft. Zwei Jahre gingen in dieser Ödnis hin, die immer schwerer zu ertragen war, da der Kaiser den Briefwechsel überwachen ließ. Die Verfolgungen, denen die beiden Frauen ausgesetzt waren, gehen aus nachfolgenden Ukasen hervor:

20. Oktober 1798: Alle Briefe öffnen, welche an Fräulein Nelidow auf Schloß Lohde adressiert sind.

7. November: Alle Briefe öffnen, welche die Nelidow absendet; aber nicht jene Briefe mehr öffnen, die sie erhält.

9. November: Alle Briefe öffnen und lesen, welche die Nelidow erhält und absendet.

11. November: Alle Briefe konfiszieren, die an Fräulein Nelidow vom Nuntius Litta kommen.

13. November: Alle Briefe öffnen, die in Reval und Narva eintreffen, um vielleicht auf Umwegen zu erfahren, was auf Schloß Lohde vorgeht.

14. November: Der Nelidow soll man einen Brief der Kaiserin zukommen lassen, die anderen Briefe der Kaiserin an die Nelidow sollen konfisziert werden.

15. November: Ein Brief der Kaiserin an die Nelidow ist aufzufangen und dem Kaiser abzuliefern.

19. November: Befehl der Kaisers, daß niemand Schloß Lohde verlassen dürfe.

21. November: Ein Brief der Kaiserin an die Nelidow soll verbrannt werden.

22. November: Zwei Briefe der Nelidow an die Kaiserin sollen verbrannt werden.

24. November: Ein Brief an Fräulein Nelidow soll passieren,

26. November: Ein Brief der Nelidow an die Kaiserin ist zu konfiszieren.

27. November: Ein Brief der Kaiserin an die Nelidow ist zu verbrennen.

1. Dezember: Ein Brief der Kaiserin nach Lohde soll expediert werden.

Am 6. Dezember gibt der Kaiser Befehl, sowohl die Briefe der Kaiserin an die Nelidow als die der Nelidow an die Kaiserin uneröffnet passieren zu lassen, und am 10. Januar 1799 wiederholt er diese Order.

Die Nelidow, über die Handlungsweise des Zaren empört, wagt ihm auch direkt zu schreiben: »Wie können Sie zweifeln an Personen, die Ihnen Beweise ihres Respekts geben? Ich für mich, ich brauche Ihre Gunst nicht; sie schmeichelt nicht meinem Stolz; aber lassen Sie meinen Intentionen Gerechtigkeit zuteil werden und den Intentionen der geheiligten Person, die vor Gott geschworen hat, Ihnen das Leben zu opfern, und die ihre Tage einzig und allein Ihrem Glücke und Ihren Interessen weiht.« – Es war alles verlorene Müh', Paul hatte die Freundin und die Frau von sich gestoßen und suchte das Heil einzig bei jenen, die seine Henker werden sollten.

Eines Tages aber dämmert in dem umnachteten Geiste des Kaisers die Ahnung der Gefahr, in die seine haßerweckenden Taten ihn bringen. Da erinnert er sich seines Schutzengels, da ruft er die Nelidow herbei zu seiner Rettung. Er sendet eilig Hofwagen, um sie zurückzubringen. Wohl folgt sie noch einmal dem Rufe des Kaisers. Aber es ist zu spät. Selbst ihre Treue vermag nicht mehr den Schatten von Pauls Seele und nicht mehr die Hand des Mörders von Pauls Haupte zu bannen.

Paul hatte gefühlt, daß ihn ein gewaltsames Ende bedrohte und sich zu seiner Sicherheit einen eigens konstruierten Palast erbaut.

Er bezog ihn schon, als die Wände noch ganz feucht waren. Die Kaiserin erkrankte, der Großfürst Alexander erkrankte. Nur Paul selbst fühlte sich wohl in diesem Zwinger, wo Gräben, Zugbrücken, geheimnisvolle Korridore das Eindringen jedes Fremden unmöglich zu machen schienen.

Und doch wurde dieser Palast – das Grab des Zaren, Trotz aller Vorsichtsmaßregeln gelang es den Verschwörern, zum Kaiser zu dringen und ihn zu erdrosseln, nachdem er durch volle fünf Jahre das Land und seine Familie gepeinigt hatte. – – –

Die fünf Jahre der ereignisreichen Regierung Pauls boten den Forschern in der russischen Geschichte seit hundert Jahren ein beliebtes Feld ihrer Tätigkeit. Man hat Tagebücher und Memoiren von Zeitgenossen aufgestöbert, um jene kurze Epoche zu durchleuchten. Aber noch ist vieles in Dunkel gehüllt und manches selbst den eifrigsten Quellenjägern entgangen. Der eine sucht und findet nichts, dem anderen wird vom Zufall das Wertvollste ungesucht in den Schoß geworfen. Der französische Schriftsteller Bonnet entdeckte kürzlich in der Schweiz ein nicht sehr umfangreiches Manuskript des Grafen Feodor Golowkin, der als Zeremonienmeister am Hofe Pauls fungierte und in der Lage war, mehr zu beobachten, als viele andere, die bisher zu Worte gekommen sind. Diese Memoiren Comte Fédor Golovkine. La Cour et le Règne de Paul I. Avec introduction par S. Bonnet, Paris 1905. bringen denn auch in Form von Porträts Erinnerungen und Anekdoten ein überaus interessantes Material, das einige neue Momente zur Beurteilung jener Epoche enthält: Pauls erste Regierungshandlung hatte die Entehrung des Andenkens der verstorbenen Mutter zum Zwecke. Obwohl er selbst wußte, daß er ein unehelicher Sohn Katharinas war, S. 101-102, 126. befahl er, den Leichnam des ermordeten Peter III. auszuscharren und feierlich neu zu bestatten. Man konnte die Leiche nicht finden, holte den erstbesten Sarg aus dem Alexander-Newsky-Kloster und bestellte einen Sarg, der demjenigen, in welchem Katharina II. ruhte, genau nachgebildet werden mußte. Dann setzte man die angebliche Leiche Peters III. an der Seite Katharinas bei; diesem Begräbnis mußten die Mörder Peters III. und die Günstlinge Katharinas II. beiwohnen; der Fürst Orlow, der ein alter und gebrechlicher Mann geworden war, hatte kaum die Kraft, sich fortzubewegen, aber der Zar ließ ihm die kaiserliche Krone Peters III. bringen, daß er sie trage, und schrie ihn an: »Nimm's und geh! Marsch!« Das war der Anfang. Dann nahm Paul einen eisernen Besen in die Hand und fegte fast alle hinweg, die von früher her da waren. An die Stelle der Verjagten kamen ganz neue Männer. Da sah man plötzlich Menschen, die man bisher nirgends bemerkt hatte; in Uniformen, die man noch nie gesehen; bedeckt mit Orden, die nicht existierten. Das waren die »Gatschinesen«, jene Leute, die Paul als Großfürst in seinem Gefängnis zu Gatschina Jahrzehnte lang um sich gehabt und nach seiner Fasson dressiert und gekleidet hatte. Die Trachten, die der neue Kaiser für seine neuen Günstlinge ausgedacht, waren so mannigfaltig und so entstellend, daß die besten Freunde in den seltsamen Verkleidungen einander nicht erkennen konnten. – Beim ersten diplomatischen Zirkel, den Paul abhielt, sagte er zu den Gesandten: »Meine Herren, ich habe nicht die Streitsucht meiner Mutter geerbt, melden Sie das Ihren Höfen!« – Seinen eigenen Leuten erklärte er: »Ich bin nur Soldat und mische mich nicht in die Verwaltung oder in die Politik; ich bezahle Besborodko und Kurakin, damit sie sich um diese Dinge kümmern.« – Paul haßte den Adel, und um die Aristokratie einzuschüchtern, erließ er einen Ukas, der die Leibeigenen gegen ihre Herren aufhetzte; der Erfolg war sofort da, in Nowgorod und Twer brach eine Revolte aus; schnell lenkte Paul ein und gab einen neuen Ukas heraus, wonach der erste, der die Bauern zu Klagen gegen Unterdrückungen ermächtigt hatte, wohl fortbestehen blieb, aber den Zusatz erhielt: Daß jeder Leibeigene, der gegen seinen Herrn klagbar auftreten würde, erst angehört werden sollte, wenn er zur Strafe für diese Auflehnung eine Anzahl Knutenhiebe erhalten hätte! – Orden, Titel und Grade verlieh Zar Paul in solchem Maße, daß man seine Absicht erkennen mußte, alle Ehren verächtlich zu machen. Fürst Repnin wollte bei einer Parade ein Urteil über eine Truppe abgeben. Der Zar sah ihn groß an. Wer ist denn dieser Fürst Repnin, der Meinungen hat? Ah, er ist Feldmarschall! »Nun gut, Herr Marschall,« sagte der Kaiser zu ihm, »sehen Sie dort die 400 Mann! Ich brauche bloß ein Wort zu sagen, und sie alle sind Marschälle!« Demselben Repnin gegenüber bemerkte Paul einmal: »Lassen Sie sich's gesagt sein, nur jene sind große Herren in Rußland, mit denen ich spreche; und sie sind es auch nur so lange, als ich ihnen diese Ehre erweise.« – Der Kaiser machte Jünglinge zu Generälen und behandelte die ältesten Offiziere wie Knaben, die noch nichts gelernt haben. – Zu den Empfängen bei Hofe mußte alle Welt kommen, um vor dem Zaren in die Knie zu sinken und ihm die Hand zu küssen. Paul wollte aber, daß die Hunderte sich mäuschenstill verhielten. Das war unmöglich. Einmal war es dem Zeremonienmeister doch gelungen, eine riesige Versammlung in Gegenwart des Zaren zu tiefer Stille abzurichten. Der Zar lobte Golowkin, dieser erwiderte: »Aber leider ist nichts so lärmend, als das Stillschweigen von 600 Personen.« Der Zar wurde rot vor Zorn und schrie: »Ich finde, daß Sie es wagen, geistreich zu sein, während Sie nur deshalb hier sind, um meine Befehle zu empfangen.« – Eine fixe Idee Pauls war es, daß er – als Zar Chef der orthodoxen Kirche – auch das Recht zum Messelesen hätte. Schon bei seiner Krönung in Moskau wollte er es tun; es gelang damals, ihn davon abzuhalten. Paul beschloß darauf, zu diesem Zwecke extra nach Kasan zu reisen und sein priesterliches Debut in der dortigen Kathedrale zu veranstalten. Nicht die Religiosität trieb ihn dazu, nein, er verfolgte ein anderes Ziel: er wollte der Beichtvater seiner eigenen Familie und aller seiner Minister und Grünstlinge werden, um auf diesem Wege ihre Geheimnisse zu erfahren und vor jedem Verrat sicher zu bleiben! Er ließ also die prächtigsten Priesterkleider für sich anfertigen und ging daran, seinen Plan auszuführen. Der Heilige Synod kam auf eine glückliche Idee, um des Zaren fixe Idee unschädlich zu machen: man erklärte dem Zaren, daß die kanonischen Gesetze der griechischen Kirche die Zelebrierung der heiligen Gebräuche und Mysterien einem Priester verbieten, der sich wiederverheiratet habe. Der Zar, der in zweiter Ehe verheiratet war, mußte jetzt nachgeben, da er nicht wagte, einfach neue Kirchengesetze zu schaffen; er tröstete sich damit, daß er wenigstens das Priestergewand behielt und in diesem immer bei Besuchen in den Kirchen erscheinen konnte. – Es ist nur natürlich, daß der Charakter des Zaren, der sich so seltsam in allen inneren Verhältnissen manifestierte, auch den fremden Diplomaten ein unberechenbares und unlösliches Rätsel blieb. Paul hatte zum Kanzler den Grafen Rostoptschin ernannt, der – nach Golowkin – ein Parvenu von viel Geist, aber von vollständiger Unkenntnis in der auswärtigen Politik war. Der Kanzler durfte nur mit dem Kaiser direkt in Berührung treten, während die Diplomaten sich in allen Angelegenheiten an den Vizekanzler Grafen Panin wenden mußten. Das ergab eine unentwirrbare Kette von Komplikationen, Verzögerungen und Mißverständnissen, just in einer Zeit, wo in Europa die gewaltigsten Ereignisse rapid sich abspielten …

Selbst die aufrichtigsten und treuesten Anhänger Pauls – ach, es gab deren nicht viele – mußten sagen, daß nie ein Thronwechsel größeres Entzücken hervorgerufen. Der Zar hatte selbst nach und nach alles beseitigt, was ihm als Stütze hätte dienen können. Das Volk haßte ihn wegen der Leiden, die seine Willkür täglich über das Reich brachte; der Adel sann auf Rache für die verächtliche Behandlung, die ihm vom Zaren vom Anfang seiner Herrschaft bis zu ihrem Ende zuteil wurde; die fremden Diplomaten hielt Paul von sich fern, so daß keiner ihm raten, niemand ihn warnen konnte; die eigene Familie hatte er in Furcht und Schrecken vor seinen Launen und Irrsinnsanfällen versetzt; und schließlich kannten sogar die Günstlinge, die er mit Gnaden überhäuft hatte, nur die Sehnsucht nach dem Thronwechsel, weil man jede Gunst, die der Zar bezeigte, zahlen mußte mit Erduldung von Martern und Demütigungen. Keiner weinte dem Kaiser Paul eine Träne nach, als sich in seiner eigenen Umgebung seine Richter und Henker gefunden hatten …

 

Einige Fußnoten wurden aus technischen Gründen in den Text eingepflegt als <p class="note">. Re.für Gutenberg

 


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