Stendhal
Rot und Schwarz
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

70. Kapitel

Die Unterhaltung ward unterbrochen. Julian wurde verhört. Darnach fand eine Besprechung mit seinem Verteidiger statt. Dies waren die einzigen wirklich unangenehmen Augenblicke in seinem Dasein voller Sorglosigkeit und holder Träumerei.

Sowohl dem Untersuchungsrichter wie seinem Anwalt erklärte er: »Es war Mord, vorsätzlicher, mit Überlegung ausgeführter Mord!« Und lächelnd setzte er hinzu: »Es tut mir leid, meine Herren, wenn dieses Geständnis Ihre Arbeit beträchtlich vermindert.«

Als er sich von den beiden Kreaturen wieder befreit sah, sagte er zu sich: »Mich dünkt, ich bin doch tapfer, zweifellos tapferer als diese beiden Leutchen. Sie halten mein Duell mit dem Schicksal, bei dem ich auf dem Platze verbleiben werde, das ich aber erst am betreffenden Tage ernst nehme, für ein Kapitalunglück.« Er philosophierte weiter: »Ich habe größeres Leid erfahren. Als ich das erstemal nach Straßburg reiste und mich von Mathilde verlassen wähnte, da habe ich tausendmal mehr gelitten ...« Er verlor sich in Grübeleien. »Damals sehnte ich mich toll darnach, Mathilde ganz mein eigen zu nennen. Und heute läßt sie mich unsagbar kalt. Wahrlich, ich bin viel glücklicher, wenn ich allein bin, als wenn dies schöne Weib meine Einsamkeit teilt!«

Der Anwalt, ein Pedant und Formelmensch, hielt Julian für verrückt. Er nahm an – und dies war die allgemeine Meinung –, daß ihm die Eifersucht die Pistole in die Hand gedrückt habe. Eines Tages erlaubte er sich anzudeuten, daß diese Motivierung der Tat, gleichviel ob falsch oder wahr, ein ausgezeichnetes Verteidigungsmittel sei. Aber der Angeklagte regte sich ob dieser Zumutung ungeheuer auf.

Ganz außer sich rief er aus: »Herr Anwalt, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so unterstehen Sie sich ja nicht, eine solch abscheuliche Lüge vorzubringen!«

Im Moment hatte der kluge Advokat Angst, erdrosselt zu werden. Es war übrigens die höchste Zeit, daß er die Verteidigung ausarbeitete, denn die Hauptverhandlung stand nahe bevor. Besançon und der ganze Kreis sprach von nichts als von diesem Sensationsprozeß. Julian wußte nichts davon. Er hatte darum gebeten, ihn mit Einzelheiten zu verschonen. Als ihm Fouqué und Mathilde gewisse merkwürdige Gerüchte mitteilen wollten, die ihrer Ansicht nach zu Hoffnungen berechtigten, ließ er sie gar nicht ausreden.

»Laßt mir mein Leben in der Idee!« sagte er zu ihnen. »Eure Maulwurfsinteressen, der Kleinkram des wirklichen Lebens sind mir mehr oder weniger widerlich. Das zerrt mich aus meinem Himmel. Jeder stirbt, so gut er kann. Ich habe meine eigene Anschauung vom Tode. Was geht mich die der anderen an? Habe ich doch mit den anderen urplötzlich nichts mehr zu tun. Tut mir den Gefallen und redet mir nicht mehr von den Leuten! Ich habe gerade genug, wenn ich den Richter und den Rechtsanwalt sehe.«

Bei sich selbst meinte er: »Eigentlich müßte ich meinen letzten Gang in Träumerei versunken gehen. Ein obskures Individuum wie ich, das die Gewißheit hat, binnen vierzehn Tagen gänzlich vergessen zu sein, ist zweifellos ein Narr, wenn es noch immer Komödie spielt ... Seltsam, daß ich die Kunst des Lebensgenusses erst jetzt begreife, wo so bald alles aus ist!«

Er verbrachte seine letzten Tage damit, im engen Dachhofe des Turmes spazierenzugehen und die ausgezeichneten Zigarren zu rauchen, die Mathilde durch einen Kurier hatte aus Holland kommen lassen. Dabei ahnte er nicht, daß sein Erseheinen tagtäglich von sämtlichen Fernrohren und Opernguckern der Stadt erwartet wurde. Seine Gedanken waren in Vergy. Aber niemals erwähnte er im Gespräche mit Fouqué Frau von Rênal. Ein paarmal vermeldete ihm sein Freund, daß sich der Zustand der Verwundeten rasch bessere. Solche Mitteilungen ließen Julians Herz höher schlagen.

Während seine Seele fast immer im Traumlande weilte, befaßte sich Mathilde, als Aristokratin, nur mit Tatsachen, mit der Wirklichkeit. Sie hatte es zwar zuwege gebracht, daß der Briefwechsel zwischen Frau von Fervaques und Herrn von Frilair derart vertraulich ward, daß bereits das Schlagwort Bistum gefallen war. Der ehrwürdige Prälat, dem die Pfründen oblagen, hatte auf eine der Bittschriften seiner Nichte die Randbemerkung gemacht: »Der arme Sorel hat kopflos gehandelt. Ich hoffe, er bleibt uns erhalten.« Beim Anblick dieser Zeilen war Frilair schier zu Tränen gerührt. Er zweifelte nicht mehr an der Rettung Julians. Am Tage, ehe die sechsunddreißig Geschworenen durch das Los bestimmt wurden, äußerte er sich zu Mathilde: »Wenn wir das Jakobinergesetz nicht hätten, das die Aufstellung endloser Geschworenenlisten vorschreibt und keinen andern Zweck hat, als den Leuten aus den guten Familien jeden Einfluß zu entziehen, so würde ich mich für den Ausfall des Urteils verbürgen. Ich habe seinerzeit den Pfarrer N*** auch freibekommen.«

Zu seiner Freude erfuhr Frilair am nächsten Abend, daß sich unter den Gewählten fünf Besançoner Mitglieder der Kongregation befanden. Von auswärtigen Anhängern waren Valenod, Moirod und Cholin darunter.

»Für diese acht Geschworenen stehe ich zunächst«, sagte er zu Mathilde. »Die fünf ersten sind Drahtpuppen. Valenod ist mein Agent. Moirod verdankt mir alles. Und Cholin ist ein Feigling.«

Durch die Zeitung erfuhr Frau von Rênal die Namen der Geschworenen. Zum unbeschreiblichen Schrecken ihres Mannes wollte sie sofort nach Besançon reisen. Herr von Rênal erreichte schließlich, daß sie im Bett verblieb, um der Unannehmlichkeit zu entgehen, vor dem Schwurgericht als Zeugin zu erscheinen.

»Du verstehst meine Lage nicht«, stellte ihr der ehemalige Bürgermeister vor. »Ich gelte zur Zeit allgemein als verbitterter Überläufer zu den Liberalen. Somit liegt es auf der Hand, daß mir dieser Lump, der Valenod, und ebenso Frilair, beim Staatsanwalt und bei den Richtern alle nur möglichen Mißhelligkeiten bereiten.«

Frau von Rênal fügte sich ohne Widerrede dem Ratschlage ihres Mannes. Sie sagte sich; »Wenn ich im Gerichtssaal erscheine, so sieht das am Ende aus, als sei ich rachgierig.«

Trotz ihres Versprechens und Vorsatzes schrieb sie eigenhändig an jeden der sechsunddreißig Geschworenen einen langen Brief, in dem unter anderm stand:

»Ich werde zur Hauptverhandlung nicht erscheinen, weil meine Anwesenheit auf Herrn Sorels Sache ungünstig wirken könnte. Ich hege keinen andern wirklichen Wunsch hienieden als den, Herrn Sorel gerettet zu sehen. Seien Sie überzeugt, der entsetzliche Gedanke, daß meinetwegen ein Schuldloser zum Tode verurteilt worden sei, würde mein ganzes ferneres Leben vergiften und meinen eigenen Tod zweifellos beschleunigen. Sie können ihn nicht in den Tod schicken, da ich am Leben geblieben bin. Menschen haben überhaupt kein Recht, einem Mitmenschen das Leben zu nehmen, noch dazu einem Wesen wie Sorel. Es ist ja in Verrières allgemein bekannt, daß er zuweilen Zustände geistiger Verwirrung hat.

Der arme junge Mann hat mächtige Feinde, aber selbst unter seinen zahlreichen Widersachern zweifelt kaum einer an seinen bewundernswerten Fähigkeiten und seinen gründlichen Kenntnissen. Sie haben über keinen Durchschnittsmenschen zu richten. Anderthalb Jahre haben wir ihn alle fromm, klug und fleißig gesehen. Allerdings hat er zwei- bis dreimal im Jahre Anfälle tiefen Schwermuts gehabt, die bis zum Wahnsinn gegangen sind. Die ganze Stadt Verrières, alle unsre Nachbarn in Vergy, wo wir mit unserm ganzen Haushalt die Sommermonate zu verbringen pflegen, auch der Herr Landrat, alle werden Herrn Sorels musterhafte Frömmigkeit anerkennen. Er kann die ganze Bibel auswendig. Würde sich ein Gottloser der jahrelangen Arbeit widmen, die Heilige Schrift auswendig zu lernen?

Meine Söhne werden die Ehre haben, Ihnen diesen Brief zu überbringen. Es sind Kinder. Wollen Sie sie gütigst befragen. Sie werden Ihnen über ihren unglücklichen ehemaligen Hauslehrer genügend Einzelheiten berichten, um Sie davon zu überzeugen, daß es unmenschlich wäre, wenn man ihn verurteilte. Statt mir eine Sühne zu verschaffen, brächte mir das vielmehr den Tod.

Was können seine Feinde gegen diese Tatsachen vorbringen? Meine Verwundung? Die ist mir in momentaner Geistesgestörtheit beigebracht! Sie ist so belanglos, daß ich, kaum acht Wochen darauf, bereits wieder imstande wäre, mit der Post von Verrières nach Besançon zu reisen. Nur der Wunsch meines Mannes hält mich noch auf dem Krankenlager zurück...«


 << zurück weiter >>