Stendhal
Rot und Schwarz
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36. Kapitel

Für einen Neuling aus der Provinz, der aus Stolz nie Fragen stellte, war Julians Benehmen nicht zu reich an großen Dummheiten. Eines Tages flüchtete er vor einem Platzregen in ein Café in der Rue Saint-Honoré. Ein Herr in einem langen Rock aus Kastorin, dem Julians finstrer Blick aufgefallen war, starrte ihn genauso an wie damals in Besançon der Liebhaber von Fräulein Amanda. Julian hatte sich viel zu oft Vorwürfe darüber gemacht, daß er jene Beleidigung eingesteckt, als daß er diesen Blick ertragen hätte. Er verlangte eine Erklärung. Der Mann im langen Rock antwortete ihm mit ein paar gemeinen Schimpfworten. Alle im Café Anwesenden umringten die beiden; draußen blieben die Vorübergehenden stehen. Vorsichtig, wie Provinzler sind, trug Julian immer ein paar kleine Pistolen bei sich. Krampfhaft griff er in die Tasche nach einer. Doch war er vernünftig genug, seinem Gegner nur immer wieder zuzurufen: »Ihre Adresse, mein Herr! Ich finde Sie verächtlich!«

Die Beharrlichkeit, mit der er sich an diese Worte klammerte, fiel den Umstehenden schließlich auf.

»Zum Donnerwetter, der andre, der erst das große Maul gehabt hat, der soll ihm doch seine Adresse geben!«

Schließlich warf der Mann im langen Rock Julian fünf oder sechs Karten ins Gesicht. Zum Glück traf keine. Julian hatte sich nämlich gelobt, von seinen Pistolen nur Gebrauch zu machen, wenn er angerührt würde. Der Mensch ging, nicht ohne sich mehrfach umzudrehen, mit der Faust zu drohen und ihm Schimpfworte zuzurufen.

Julian war in Schweiß gebadet. »So steht es in der Macht des lumpigsten Menschen, mich dermaßen aufzuregen!« sagte er sich voller Wut. »Wie kann ich mir diese demütigende Empfindlichkeit nur abgewöhnen?«

Woher sollte er einen Sekundanten nehmen? Er besaß keinen Freund. Wohl hatte er mehrere Bekanntschaften gemacht, aber sie hatten sich nach sechs Wochen regelmäßig wieder gelöst. »Ich bin ungesellig und werde jetzt grausam dafür gestraft«, dachte er. Endlich kam er auf den Gedanken, einen Leutnant a. D. vom 96. Regiment namens Liéven aufzusuchen, einen armen Teufel, mit dem er oft gefochten hatte. Julian beichtete ihm die Geschichte.

»Ich will gern Ihr Sekundant sein«, sagte Liéven, »aber unter einer Bedingung: wenn Sie Ihren Gegner nicht verwunden, so müssen Sie sich hinterher auf der Stelle mit mir schlagen!«

»Einverstanden!« sagte Julian voller Entzücken. Beide suchten zufolge der auf der Karte bezeichneten Adresse mitten im Faubourg Saint-Germain einen Herrn Karl von Beauvaisis auf. Es war um sieben Uhr morgens. Erst im Moment, wo sich Julian anmelden ließ, fiel ihm ein, daß dieser Herr der junge Verwandte von Frau von Rênal sein könnte, der früher bei der Gesandtschaft in Rom oder Neapel gewesen war und dem Sänger Geronimo ein Empfehlungsschreiben an die Familie Rênal mitgegeben hatte.

Julian gab einem Riesen von Kammerdiener eine der ihm gestern zugeworfenen Karten und eine der seinigen.

Man ließ ihn und seinen Sekundanten volle drei Viertelstunden warten. Endlich wurden sie in ein wundervoll elegantes Zimmer geführt. Dort empfing sie ein junger Herr, der wie eine Puppe angezogen war. Seine Züge erinnerten an die Vollkommenheit der altgriechischen Schönheit. Er hatte einen merkwürdig schmalen Kopf und das schönste Blondhaar, das mit großer Sorgfalt frisiert war. Nicht ein einziges Härchen lag anders als das andere.

»Dies verdammte Gigerl hat uns so lange warten lassen, bloß um sich zu frisieren!« dachte der Leutnant. Der karierte Hausrock, die weiten Morgenbeinkleider, die gestickten Pantoffeln, alles war tadellos und erlesen. Das vornehme ausdruckslose Gesicht ließ auf spärliche, doch höchst korrekte Gedanken schließen. Es war das Muster eines Metternichschen Diplomaten. Napoleon wollte unter den Beamten seiner Umgebung auch keine Denker haben.

Julian, dem sein Leutnant erklärt hatte, dieses Wartenlassen von Seiten einer Person, die ihm die Karten gröblich ins Gesicht geschleudert hatte, sei eine neue Beleidigung, war brüsk ins Zimmer getreten. Er wollte unverschämt sein; zugleich wünschte er freilich den guten Ton zu wahren.

Über die Maßen verblüfft über die milden Manieren des Herrn von Beauvaisis, über sein gemessenes, würdevolles und selbstzufriedenes Aussehen und über die bewundernswürdige Eleganz um ihn herum, gab Julian sofort jeden Gedanken an Unverschämtheit auf. Das war nicht sein Mann von gestern abend! Sein Erstaunen, statt dem gesuchten Flegel ein so distinguiertes Wesen anzutreffen, war so groß, daß er keines Wortes mächtig war. Er händigte ihm eine der ihm gestern an den Kopf geworfenen Karten ein.

»Das ist allerdings mein Name«, sagte der Dandy, dem Julians schwarzer Rock früh um sieben Uhr wenig Respekt einflößte. »Aber ich verstehe nicht, auf Ehre ...«

Die Manieriertheit in der Aussprache dieser Worte versetzte Julian von neuem in schlechte Laune. »Ich komme, um mich mit Ihnen zu schlagen, Herr von Beauvaisis!« sagte er und erläuterte kurz die Vorgeschichte.

Der Chevalier Karl von Beauvaisis war nach reiflichem Erwägen mit dem Schnitt von Julians schwarzem Rock ganz zufrieden. »Ohne Zweifel: er ist von Staub«, sagte er sich, indem er ihm zuhörte. Staub war der fashionable Kleiderkünstler von Paris. »Die Weste verrät Geschmack; die Stiefel sind schick ..., aber hinwiederum: schwarzer Rock so früh am Morgen? Wahrscheinlich um der Kugel möglichst zu entgehen.«

Nachdem er sich hierüber klargeworden, ward er wieder ausgesucht höflich und behandelte Julian fast wie seinesgleichen. Die Unterredung dauerte ziemlich lange. Die Angelegenheit war nicht so einfach. Schließlich konnte sich Julian dem Augenschein nicht verschließen. Der vornehme junge Herr da vor ihm hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem groben Patron, der ihn gestern beschimpft hatte.

Julian empfand unbezwinglichen Widerwillen vor dem Wiedergehen, und so zog er das Gespräch in die Länge. Die Selbstgefälligkeit des Chevaliers entging ihm nicht. So hatte er sich nämlich selbst genannt, als Julian ihn einfach mit Herr von Beauvaisis angeredet hatte.

Er bewunderte die merkwürdige Mischung von Würde, Zurückhaltung und Geckentum, die den Chevalier nicht einen Augenblick verließ. Auch war er erstaunt über sein sonderbares Anstoßen mit der Zunge beim Sprechen. Aber schließlich lag in alledem nicht der geringste Anlaß, Streit mit ihm zu suchen.

Der junge Diplomat stellte sich mit viel Grazie zum Zweikampf zur Verfügung, aber der ehemalige Sechsundneunziger, der seit einer Stunde mit gespreizten Beinen dasaß, die Hände auf den Schenkeln und die Ellbogen vorgestreckt, entschied, daß sein Freund, Herr Sorel, kein Recht habe, mit einem Gentleman einen Streit vom Zaune zu brechen, bloß weil diesem Visitenkarten gestohlen worden waren.

Höchst verstimmt empfahl sich Julian. Der Wagen des Chevaliers von Beauvaisis hielt gerade im Hof vor der Freitreppe. Zufällig blickte Julian auf und erkannte im Kutscher seinen Mann von gestern abend.

Ihn sehen, ihn an seinem langen Rock zerren, so daß er vom Bocke fiel, und ihn mit der Peitsche bearbeiten, war eins. Zwei Lakaien wollten ihren Kameraden verteidigen. Julian bekam ein paar Faustschläge, aber im Nu hatte er eine seiner Pistolen gespannt und gab einen Schuß auf die beiden ab, so daß sie die Flucht ergriffen. Das alles war das Werk eines Augenblicks.

Der Chevalier von Beauvaisis kam drollig-prätentiös die Treppe herunter und fragte im Tone des Grandseigneurs mehrere Male: »Was ist denn los? Was ist denn los?« Augenscheinlich war er sehr neugierig, aber seine staatsmännische Gewichtigkeit erlaubte ihm nicht, mehr Anteilnahme zu verraten. Als er erfuhr, um was es sich handelte, stritt in seinen Zügen der Hochmut mit der etwas spöttischen Gelassenheit, die einen Diplomaten nie verlassen darf.

Der Leutnant vom 96. Regiment begriff, daß Beauvaisis Lust bekam, sich zu schlagen. Politiker, der er war, wollte er seinem Freunde den Vorteil der Initiative sichern. »Na, da hätten wir ja Grund zum Duell!« rief er.

»Das will ich meinen!« erwiderte der Chevalier.

»Der Kerl ist entlassen!« sagte er zu seinen Lakaien. »Ein andrer auf den Bock!«

Der Wagenschlag wurde geöffnet, und der Chevalier nötigte Julian und seinen Sekundanten einzusteigen. Man fuhr zu einem Freunde des Chevaliers, der einen ungestörten Ort zum Zweikampf angab. Das Gespräch während der Fahrt war charmant. Nur nahm sich der Diplomat in seinem karierten Hausrock etwas sonderbar aus.

»Diese Herren«, dachte Julian, »sind auch von gutem Adel, aber bei weitem nicht so langweilig wie alle, die im Hause La Mole verkehren. Und ich weiß auch, warum«, setzte er einen Augenblick später hinzu. »Sie erlauben sich Unanständigkeiten.« Die Plauderei war nämlich auf die Ballettänzerinnen gekommen, denen das Publikum am Abend vorher eine Ovation bereitet hatte. Die Herren machten Andeutungen auf pikante Vorfälle, die Julian und seinem Freunde, dem Leutnant vom 96. Regiment, völlig unbekannt waren. Julian war nicht so albern, zu tun, als seien sie ihm bekannt, sondern gab seine Unkenntnis freimütig zu. Diese Aufrichtigkeit gefiel dem Sekundanten des Chevaliers, und er erzählte die Anekdote mit allen Einzelheiten, und zwar vorzüglich.

Über etwas wunderte sich Julian maßlos. Ein Altar, den man zur Fronleichnamsprozession mitten auf der Straße baute, hielt den Wagen einen Augenblick auf. Die Herren erlaubten sich allerlei Scherze. Der Pfarrer, so sagten sie, sei der Sohn eines Erzbischofs. Niemals hätte jemand gewagt, beim Marquis von La Mole, der Herzog werden wollte, ein derartiges Wort fallen zu lassen.

Das Duell wurde im Handumdrehen ausgetragen. Julian erhielt einen Schuß in den Arm. Man verband ihn mit Taschentüchern, die mit Branntwein durchtränkt waren. Der Chevalier von Beauvaisis bat Julian sehr höflich, ihm zu gestatten, daß er ihn in demselben Wagen, in dem sie gekommen waren, nach Hause bringen dürfe. Als Julian das Hôtel La Mole nannte, wechselte der junge Diplomat mit seinem Freunde einen Blick. Julians Droschke war gefolgt, aber er fand die Plauderei der beiden Herren viel unterhaltsamer als die des braven Sechsundneunzigers.

»Mein Gott!« dachte er. »Weiter ist ein Duell nichts! Wie froh bin ich, den Kutscher gefunden zu haben! Wie groß wäre mein Unglück, wenn ich zum zweitenmal eine Kaffeehaus-Beleidigung hätte einstecken müssen!«

Das amüsante Gespräch hatte kaum einen Augenblick gestockt. Julian kam zu der Ansicht, daß das Diplomaten-Dandytum schließlich auch seine guten Seiten habe.

»Langweiligkeit ist also nicht allen Leuten von vornehmer Geburt eigen«, sagte er sich. »Diese beiden scherzen über die Prozession am Fronleichnamsfest und wagen höchst anstößige Anekdoten mit drastischen Einzelheiten zu erzählen. Von politischen Dingen verstehen sie ja nicht das geringste, aber dieser Mangel wird durch ihre elegante Art und durch ihre äußerst treffende Ausdrucksweise mehr als aufgewogen.« Julian fühlte eine lebhafte Zuneigung zu den beiden Herren. »Wie glücklich wäre ich, wenn ich öfters mit ihnen zusammen sein könnte!« dachte er.

Kaum hatte man sich getrennt, als der Chevalier von Beauvaisis Erkundigungen über seinen Gegner einzog. Sie lauteten nicht gerade glänzend.

Auch er war begierig, seinen Mann näher kennenzulernen. Aber konnte er ihm schicklicherweise einen Besuch machen? Die knappe Auskunft, die er erhalten hatte, war nicht ermutigend.

»Das ist eine schauderhafte Geschichte!« sagte er zu seinem Sekundanten. »Ich kann unmöglich zugeben, daß ich mich mit einem simplen Sekretär des Herrn von La Mole geschossen habe, noch dazu, weil mein Kutscher mir meine Visitenkarten gestohlen hat.«

»Sicherlich gibt das Anlaß zur Lächerlichkeit«, meinte der Freund.

Noch am selben Abend erzählten der Chevalier und ebenso sein Freund aller Welt, daß Herr Sorel der natürliche Sohn eines guten Freundes des Marquis von La Mole sei und übrigens ein ganz tadelloser junger Mann. Dies Märchen fand allgemein Glauben. Sobald es Wurzel geschlagen hatte, würdigten der Diplomat und sein Freund den Verwundeten während der vierzehn Tage, wo er das Zimmer hüten mußte, etlicher Besuche. Julian gestand ihnen, daß er erst einmal in seinem Leben in der Oper gewesen sei.

»Das ist ja entsetzlich! Man geht nie woanders hin. Ihr erster Ausgang muß Sie in den Comte Ory führen.«

In der Oper stellte Beauvaisis ihn dem berühmten Sänger Geronimo vor, der damals Riesenerfolge hatte. Julian machte dem Chevalier fast den Hof. Dies Gemisch von Selbstverherrlichung, geheimnisvoller Wichtigtuerei und jugendlicher Blasiertheit bezauberte ihn. Wie schon gesagt, stieß der Chevalier etwas mit der Zunge an, und zwar bloß weil er die Ehre hatte, oft mit einem hohen Herrn zu verkehren, der stotterte. Julian hatte noch nie einen Menschen gesehen, dessen amüsant-komische Seite sich so mit der vollendeten Urbanität paarte, die auf einen armen Provinzler so verführerisch wirkt.

Als er in der Oper in Gesellschaft des Chevaliers gesehen ward, begann man von ihm zu sprechen. »So, so«, sagte eines Tages Herr von La Mole zu ihm. »Sie sind also der natürliche Sohn eines reichen Edelmannes aus der Freigrafschaft, eines guten Freundes von mir!«

Der Marquis schnitt Julian das Wort ab, als er sich dagegen verwahren wollte, daß er zur Verbreitung dieses Gerüchtes irgendwie beigetragen hätte.

»Herr von Beauvaisis hat mit dem Sohne eines Sägemüllers kein Duell haben wollen...«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn der Marquis. »Es ist jetzt an mir, dieser Legende eine Bestätigung zu geben, denn sie gefällt mir. Aber eine Bitte habe ich an Sie, die Ihnen nur ein halbes Stündchen Zeit kosten wird. Gehen Sie allabendlich um halb zwölf ins Vestibül der Großen Oper und sehen Sie dort zu, wie die vornehme Welt herauskommt. Sie haben hin und wieder noch Provinzmanieren. Die müssen Sie ablegen! Übrigens ist es ganz gut, wenn Sie die großen Persönlichkeiten, zu denen ich Sie vielleicht eines Tages mit einem Auftrag sende, wenigstens von Ansehen bereits kennen. Gehen Sie in die Theaterkanzlei und weisen Sie sich daselbst aus. Sie bekommen eine freie Dauerkarte!«


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