Stendhal
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18. Kapitel

Am 3. September abends zehn Uhr setzte ein Gendarm, der die Hauptstraße hinaufgaloppierte, die ganze Stadt in Aufruhr. Er brachte die Kunde, daß Seine Majestät der König am nächsten Sonntag nach Verrières käme. Es war bereits Dienstag. Der Regierungspräsident gestattete – das hieß soviel wie: er befahl – die Aufstellung einer Ehrenwache. Der Empfang sollte so feierlich wie nur möglich werden.

Alsbald ward ein reitender Bote nach Vergy geschickt. Herr von Rênal traf noch während der Nacht in der Stadt ein. Die ganze Bürgerschaft war auf den Beinen. Jedermann hatte sein besonderes Anliegen. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, mietete sich einen Balkon, um den Einzug des Königs zu sehen.

»Wer wird die Ehrenwache führen?« fragte man sich. Der Bürgermeister war sich sofort klar, daß es im Interesse der zu enteignenden Grundstücke war, wenn Herr von Moirod diesen Ehrendienst erhielt. Damit erleichterte man ihm die Anwartschaft auf den Posten des Vizebürgermeisters. An Moirods kirchlicher Gesinnung war nicht das geringste auszusetzen; die war über allen Zweifel erhaben. Aber er hatte noch nie auf einem Gaul gesessen. Er war ein Mann von sechsunddreißig Jahren und in jeglicher Beziehung ein Hasenfuß. Vor dem Herunterfallen fürchtete er sich genauso wie vor jeder sonstigen Lächerlichkeit.

Frühmorgens um fünf Uhr ließ ihn Herrn von Rênal zu sich bitten.

»Sie sehen, Herr von Moirod, ich hole Ihren Rat bereits ein, als hätten Sie schon den Posten, den Ihnen jeder Gutgesinnte wünscht. In unsrer Unglücksstadt kommt die Industrie bedenklich hoch. Die Liberalen werden Millionäre; sie trachten nach der Macht und wissen aus jedem Umstand gegen uns Waffen zu schmieden. Behalten wir das Wohl Seiner Majestät, der Monarchie und vor allem unsrer heiligen Kirche unentwegt im Auge... Sagen Sie mal, Verehrtester, wen könnte man am besten mit dem Kommando der Ehrenwache betrauen?«

Trotz seiner Heidenangst vor jedem Pferd nahm Moirod schließlich den Ehrenposten wie eine Märtyrerkrone an.

»Ich werde die Sache schon machen«, versicherte er dem Bürgermeister.

Man hatte gerade noch Zeit, die Uniformen instand zu setzen, die vor sieben Jahren gelegentlich des Durchzugs eines königlichen Prinzen angeschafft worden waren.

Um sieben Uhr früh kam Frau von Rênal mit den Kindern und dem Hauslehrer aus Vergy an. Sie fand ihren Salon voll von Damen der Liberalen, die von der Versöhnung der Parteien salbaderten und sie dringlichst baten, bei ihrem Gatten ein gutes Wort einzulegen, daß ihre Männer und Söhne zur Ehrenwache befohlen würden. Eine von ihnen behauptete: wenn ihr Mann nicht dazu käme, würde er aus Gram und Kummer Bankrott machen.

Frau von Rênal jagte die ganze Sippschaft zum Tempel hinaus. Sie hatte sichtlich besondre Gedanken. Julian war erstaunt, ja geradezu verstimmt, daß sie ihm nicht anvertraute, was sie so versonnen machte. Voll Bitternis sagte er sich: »Ich habe es immer gewußt. Vor dem Glück, den König in ihrem Hause zu empfangen, ist all ihre Liebe verflogen! Der Jahrmarktslärm benimmt ihr den Kopf. Sie wird mich erst dann wieder lieben, wenn die Ideen ihrer Kaste ihr Hirn nicht mehr verwirren.«

Und doch liebte er sie mehr denn je. »Welch Mirakel!« gestand er sich.

Die Tapezierer begannen sich im ganzen Hause breitzumachen. Lange lauerte Julian vergebens nach einer Gelegenheit, ihr ein paar Worte zu sagen. Endlich traf er sie, als sie gerade aus seinem Zimmer kam, einen seiner Röcke überm Arm. Sie waren allein. Er wollte sie anreden, aber sie entzog sich ihm, ohne ihn anzuhören. »Ich bin ein rechter Narr«, grollte er, »eine solche Frau zu lieben! Der Ehrgeiz macht sie genauso verrückt wie ihren Mann.«

In der Tat war sie es mehr denn er. Schon lange hegte sie den Herzenswunsch, ihren Julian, und sei es auch nur auf einen Tag, einmal nicht in seinem tristen schwarzen Rock zu sehen. Aus Angst, ihn zu kränken, wollte sie es ihm nur nicht gestehen. Mit wirklicher Verschmitztheit, wie man sie einer so natürlichen Frau gar nicht zutrauen sollte, verstand sie es, zuerst Herrn von Moirod und darauf den Landrat von Maugiron zu überreden, daß Julian mit in die Ehrenwache kam und somit fünf oder sechs reichen Fabrikantensöhnen vorgezogen wurde. Zwei von ihnen waren obendrein exemplarische Frömmler. Herr Valenod, der seine Kutsche ein paar schönen Damen zur Verfügung gestellt hatte, damit seine Normannen bewundert werden sollten, mußte eins dieser Prachttiere an Julian abtreten, den er doch ingrimmig haßte.

Nun fehlte nur noch die Uniform. Sämtliche andern Ehrengardisten hatten feine eigene oder geliehene kornblumenblaue Waffenröcke mit Stabsoffiziersepauletten, deren Silberfransen allerdings nicht mehr so glänzten wie vor sieben Jahren. Frau von Rênal wollte Julian in einer neuen Uniform sehen. Vier Tage waren wenig Zeit, um Waffenrock, Schulterklappen, Hut, Säbel und alles, was sonst zur Ausstaffierung eines Ehrengardisten gehört, aus Besançon kommen zu lassen. Sie hielt es für wunder wie klug, alle diese Dinge nicht in Verrières zu bestellen. Julian und die Stadt sollten überrascht werden.

Nachdem die Frage der Ehrenwache und der öffentlichen Stimmung erledigt war, mußte sich der Bürgermeister damit befassen, eine große kirchliche Feier in die Wege zu leiten. Karl X. wollte Verriéres nicht passieren, ohne der berühmten Reliquie des heiligen Clemens seinen Besuch abzustatten, die in Hohen-Bray aufbewahrt ward, einem kleinen Orte, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Ein zahlreicher Klerus sollte zugegen sein. Dies war aber keine einfache Sache. Maslon, der neue Pfarrer, wollte nichts davon wissen, daß man den alten Pfarrer Chélan heranzog. Vergeblich stellte ihm der Bürgermeister vor, dies sei unumgänglich. Der Marquis von La Mole, dessen Vorfahren so lange Zeit in dieser Gegend der Freigrafschaft geherrscht hatten, sei als Begleiter des Monarchen befohlen. Er kenne den Abbé Chélan seit dreißig Jahren. Es sei vorauszusehen, daß er bei seiner Anwesenheit in Verrières nach ihm frage, und wenn er von seiner Absetzung erführe, wäre er just der Mann, ihn in dem Häuschen, in das er sich zurückgezogen hatte, aufzusuchen. Er und das ganze Gefolge, über das er verfügte. Das wäre eine Riesenblamage!

»Wenn Chélan unter meinem Klerus erscheint«, jammerte der Abbé Maslon, »dann ist es um mein Ansehen hier und in Besançon geschehen! Ein Jansenist! Großer Gott!«

»Das ist alles schön und gut«, erwiderte ihm Herr von Rênal, »aber ich habe keine Lust, die Behörde der Stadt Verrières der Gefahr auszusetzen, eine scharfe Bemerkung des Herrn Marquis einstecken zu müssen. Sie kennen ihn nicht. Bei Hofe vermickst er sich nicht, aber hier in der Provinz ist er Witzbold, Spötter. Er bringt die Leute gern in Verlegenheit. Er ist imstande, uns vor den Liberalen lächerlich zu machen, bloß um seinen Spaß daran zu haben.«

Erst in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, nach drei Tagen des Hin- und Herredens, beugte sich der hochmütige Geistliche vor der zu Mut gewandelten Angst des Stadtoberhauptes. Der Pfarrer Chélan bekam einen honigsüßen Brief, in dem er gebeten ward, dem feierlichen Akt vor der Reliquie von Hohen-Bray beizuwohnen, wenn dies ihm bei seinem hohen Alter und seiner schwachen Gesundheit möglich wäre. Chélan sprach daraufhin den Wunsch aus, Julian als Subdiakon in seiner Begleitung zu haben. So erhielt auch Julian eine Aufforderung, der Zeremonie beizuwohnen.

Am Sonntag vormittag fluteten Tausende von Landleuten, die aus den nahen Bergen kamen, durch die Straßen von Verrières. Es war herrlicher Sonnenschein. Gegen drei Uhr erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Auf einer Höhe, eine Wegstunde vor der Stadt, loderte ein gewaltiges Feuer auf. Das war das Zeichen, daß Seine Majestät die Grenze des Regierungsbezirks überschritten hatte. Alsbald begannen überall die Glocken zu läuten, und die alte spanische Kartaune, die der Stadt gehörte, gab zur Feier des großen Ereignisses Salutschüsse ab. Die Hälfte der Einwohnerschaft war auf die Dächer gestiegen. Alle Balkons waren voller Damen.

Die Ehrenwache setzte sich in Bewegung, um den König einzuholen. Alles bewunderte die schmucken Uniformen. Man erkannte in dem und jenem Reiter Verwandte und Bekannte. Die Ängstlichkeit Moirods, der alle Augenblicke mit der Hand nach dem Sattelknopf fuhr, erregte Heiterkeit. Etwas aber übte die allergrößte Wirkung auf die schaulustige Menge aus. Man erblickte im Flügelmanne der neunten Rotte der Ehrengarde, einem bildhübschen überschlanken Burschen, der auf einem der stadtbekannten Valenodschen Pferde saß: den kleinen Sorel, den Müllersjungen! Erst hatte man ihn übersehen. Jetzt erkannte man ihn unter Ausrufen der Entrüstung oder unter dem Schweigen der Verblüffung. Das war allgemein eine Sensation. Man schimpfte auf den Bürgermeister, zumal bei den Liberalen. Es sei unglaublich! Weil dieser Handwerkerjunge im Pfaffenrock der Schulmeister seiner Schlingel war, habe Rênal die Unverschämtheit, ihn in die Ehrenwache zu stecken, zur Benachteiligung soundso vieler reicher Fabrikantensöhne!

Die Ehefrau des Bankiers von Verrières meinte: »Man sollte diesem im Dreck geborenen Frechdachs eine ordentliche Lektion erteilen!«

»Er ist hinterlistig und trägt einen Säbel!« warnte ihre Nachbarin. »Er ist imstande und haut zu!«

Schlimmer noch waren die Vorwürfe der adligen Gesellschaft. Die Damen fragten sich, ob der Herr Bürgermeister wohl allein an dem großen Mißgriff schuld wäre. Eines erkannte man allgemein an: daß er den Standesunterschied nicht hatte gelten lassen.

Derweile war das Opfer all der Klatscherei der glücklichste Mensch der Welt. Von Natur beherzt, saß Julian besser zu Pferde als die meisten jungen Leute der Gebirgsstadt. Daß man über ihn sprach, ersah er aus den Augen der Frauen. Seine Epauletten funkelten in ihrer Neuheit. Zu seiner besonderen Freude machte sein Pferd alle Augenblicke Kapriolen; und schier grenzenlos war sein Übermut, als beim Vorüberreiten am Alten Wall das alte Geschütz losdonnerte und der Gaul aus Reih und Glied brach. Es war Zufall, daß Julian im Sattel blieb. Von diesem Augenblick an hatte er das Gefühl, ein Held zu sein. Es war ihm, als sei er ein Ordonnanzoffizier Napoleons, der einer feuernden Batterie Befehl überbrachte.

Jemand war noch glücklicher als er: Frau von Rênal. Zuerst hatte sie ihn von einem Fenster des Rathauses aus vorbeireiten sehen. Dann war sie schnell in den Wagen gestiegen und hatte auf einem Umweg durch seitliche Straßen den Zug überholt. Sie kam gerade zurecht, um zu ihrem Schreck zu sehen, wie Julians Pferd ausbrach. Zu guter Letzt gelangte sie im stärksten Trab durch ein andres Stadttor auf die Landstraße, auf der Seine Majestät kommen mußte. Ihr Wagen fuhr nun dicht hinter der trabenden Ehrenwache, in einer anständigen Staubwolke.

Vor der Stadt hatte der Bürgermeister die Ehre, den König mit einer Ansprache zu begrüßen. Zehntausend Bauern brüllten mit: »Es lebe der König!« Eine Stunde später hielt er in der Stadt seinen Einzug. Wiederum donnerten die Salutschüsse des alten Geschützes vom Wall herab. Dabei passierte ein Malheur, nicht den Kanonieren, die ihre Feuerprobe bei Leipzig und Montmirail bestanden hatten, wohl aber dem Vizebürgermeister in spe, Herrn von Moirod, den sein Gaul sanft in die einzige Pfütze beförderte, die auf der Hauptstraße vorhanden war. Das war besonders peinlich, weil der königliche Wagen erst weiterfahren konnte, als man Moirod auf die Beine geholfen hatte.

Karl X. verließ seine Kutsche an der schönen neuen Kirche, die an diesem Tage im vollen Schmuck ihrer karmesinroten Behänge prangte. Dann sollte der König das Mittagsmahl einnehmen und unmittelbar darauf nach Hohen-Bray fahren, um die berühmte Reliquie des heiligen Clemens zu besuchen. Kaum war er in die Kirche eingetreten, da ritt Julian im Galopp nach dem Rênalschen Hause. Dort legte er seufzend seinen Säbel ab, zog den schmucken kornblumenblauen Waffenrock samt den Schulterklappen aus und kroch wieder in seinen tristen schwarzen Rock. Dann saß er von neuem auf und war in wenigen Minuten in Hohen-Bray, das auf einem anmutigen Hügel thront. »Die Begeisterung stampft Bauern aus der Erde!« scherzte Julian. »In Verrières stehen sie knüppeldick, und um die alte Abtei hier nicht minder!« Die Abtei war durch das Vandalentum der Revolution halb zerstört, in der Restaurationszeit aber prächtig wiederhergestellt worden. Man begann auch bereits von Wundern zu fabeln.

Julian meldete sich beim Pfarrer Chélan, der ihm eine tüchtige Strafpredigt hielt und ihm eine Soutane und ein Chorhemd einhändigte. Er machte sich rasch zurecht und folgte Chélan zum Bischof von *******, dem jugendlichen Kardinal von Rohan. Der Monsignore war ein Neffe des Marquis von La Mole, ehedem napoleonischer Offizier und noch nicht lange in seinem Amte.

Der Bischof, der damit betraut war, Seiner Majestät die Reliquie zu zeigen, war aber nicht zu finden. Der Klerus ward unruhig. Man erwartete das Oberhaupt in dem düstern gotischen Kreuzgang der alten Abtei. Vierundzwanzig Geistliche waren vereint, um das ehemalige Domkapitel von Hohen-Bray darzustellen, das bis Anno 1789 aus vierundzwanzig Domherren bestanden hatte. Nachdem sie drei Viertelstunden lang ein Klagelied über die Jugendlichkeit des Bischofs angestimmt hatten, hielt man es für angebracht, den Dekan zu Seiner Eminenz zu schicken und ihm zu vermelden, daß Seine Majestät jeden Augenblick kommen müsse und es Zeit sei, sich in das Chor zu begeben. Chélan war seines hohen Alters wegen Dekan. Trotz seiner Verstimmung über Julian gab er ihm einen Wink, daß er ihm folge. Julian stand das Chorhemd vorzüglich. Unter Anwendung eines geistlichen Toilettengeheimnisses hatte er sich sein schönes welliges Haar ganz glatt gebürstet, indessen vergessen, die Sporen abzulegen, die unter den langen Falten seines Chorhemdes hervorblinkten, was den Zorn Chélans verdoppelte.

Im Vorzimmer des Bischofs angelangt, gab einer der baumlangen, in ihren Galaröcken herumstehenden Lakaien ziemlich ungnädig die Auskunft, Eminenz sei nicht zu sprechen. Als ihm der alte Pfarrer begreiflich zu machen begann, als Dekan des hochedlen Kapitels von Hohen-Bray habe er das Vorrecht, jederzeit Zutritt zum amtierenden Bischof zu verlangen, da lachte man ihn aus.

In seiner Stimmung war Julian über die Frechheit der Lakaien empört. Er durchschritt die einstigen Schlafsäle der Abtei und rüttelte an allen Türen, an denen er vorbeikam. Eine kleine Pforte sprang auf, und Julian stand in einer Zelle mitten unter einer Schar von bischöflichen Kammerdienern in schwarzer Livree, mit Ketten um den Hals. Da er so ungestüm eintrat, glaubten die Leute, er sei zu Monsignore befohlen und ließen ihn durch. Nach ein paar Schritten befand er sich in einem riesigen, überaus düsteren gotischen Saale, dessen Wände und Decke mit dunklem Eichenholz getäfelt waren. Die Spitzbogenfenster waren mit Ausnahme eines einzigen mit Ziegelsteinen vermauert. Dies rohe Werk bildete einen trübseligen Gegensatz zu dem prächtigen alten Getäfel. An den beiden Langseiten des Saales standen Reihen von reichgeschnitzten Chorstühlen, auf denen man in buntem Holzmosaik sämtliche Mysterien der Apokalypse sehen konnte. Der Saal war unter den burgundischen Altertümern berühmt. Karl der Kühne hatte ihn um 1470 als Buße für irgendeine Sünde erbaut.

Der wehmütige Prunk dieses durch die nackten Ziegelsteine und ihren grellen Mörtel geschändeten weiten Raumes ergriff Julian. Stumm blieb er stehen. Mit einemmal erblickte er am jenseitigen Ende des Saales, nahe dem einzigen unvermauerten Fenster, durch das helles Tageslicht fiel, einen drehbaren Spiegel in einem Mahagonirahmen. Drei Schritte davor stand ein junger Mann in violettem Meßgewand und einem Chorrock mit Spitzen, ohne Kopfbedeckung. Der Spiegel gehörte offenbar nicht an diesen frommen Ort; zweifellos war er aus der Stadt hergeholt. Julian hatte den Eindruck, daß der junge Mann ein grämliches Gesicht machte. Eben erteilte er, mit der Rechten nach dem Spiegel, würdevoll seinen Segen.

Was soll das wohl bedeuten? dachte Julian. Hält der junge Geistliche da ein Art Generalprobe? Vielleicht ist es der Sekretär des Bischofs ... ebenso unverschämt wie die Lakaien ... meinetwegen ... wir werden ja gleich sehen ...

Er ging weiter, ziemlich langsam, und durchquerte den Saal seiner Länge nach, den Blick dem hellen Fenster zugewandt. Er sah, wie der junge Mann immer wieder seinen Segen spendete, gemächlich, aber in einem fort, ohne sich einen Augenblick Rast zu gönnen.

Je näher Julian an ihn herankam, um so deutlicher erkannte er den griesgrämlichen Ausdruck seines Gesichts. Wenige Schritte vor dem Spiegel blieb Julian unwillkürlich stehen, betroffen über die prunkhaften Spitzen am Chorrocke des jungen Priesters.

»Es ist meine Pflicht, ihn anzureden«, sagte sich Julian schließlich. Aber die Schönheit des Saales hatte es ihm angetan, und darum empfand er im voraus die Häßlichkeit der groben Worte, die er wohl als Antwort zu erwarten hatte. Da erblickte ihn der junge Mann im Spiegel und kehrte sich nach ihm um. Seine griesgrämliche Miene war mit einemmal verschwunden. Im verbindlichsten Tone sagte er: »Nun, Verehrtester, ist sie endlich fertig?«

Julian war starr. Da sich der junge Mann umgewandt hatte, sah er das Bischofskreuz auf seiner Brust. Das war also der Bischof! »In der Tat: sehr jung!« sagte er sich. »Er ist höchstens sechs bis acht Jahre älter als ich.«

Jetzt schämte sich Julian seiner Sporen.

»Eure Eminenz«, begann er schüchtern, »der Herr Dekan des Kapitels, Herr Chélan, schickt mich ...«

»Aha! Ein ausgezeichneter Mann, wie man mir gesagt hat«, erwiderte der Bischof in so überaus höflicher Weise, daß Julians Entzücken noch wuchs. »Aber entschuldigen Sie nur, Herr Abbé, ich hielt Sie versehentlich für die Person, die mir meine Mitra bringen soll. Man hat sie mir in Paris schlecht verpackt. Der Silberbrokat an der Spitze war schrecklich zerknüllt. Sie wird übel aussehen – und nun muß ich auch noch warten.«

»Monsignore«, sagte Julian, »wenn Eure Eminenz es gestatten, werde ich die Mitra holen.«

Julians schöne Augen taten das ihre.

»Tun Sie es, Herr Abbé!« antwortete der Bischof voll liebenswürdiger Artigkeit. »Ich muß sie sofort haben. Ich bin untröstlich, daß ich die Herren vom Kapitel warten lasse.«

Als Julian in der Mitte des Saales war, drehte er sich nach dem Bischof um und sah, daß er wieder beim Segnen war. »Was soll das?« fragte er sich. »Ohne Zweifel ist das eine Vorbereitung für die in Aussicht stehende Feierlichkeit.«

Beim Eintritt in die Zelle, in der sich die Diener aufhielten, bemerkte er die Mitra in ihren Händen. Widerwillig fügten sie sich dem Herrenblicke Julians und reichten ihm die Bischofsmütze.

Julian war stolz, daß er sie bringen durfte. Als er den Saal wieder durchquerte, ging er ganz langsam. Er trug sie voll frommer Scheu. Der Bischof hatte sich gesetzt, und zwar vor den Spiegel. Seine Rechte war müde geworden, aber hin und wieder teilte sie immer noch den Segen aus. Julian half ihm die Mitra aufsetzen. Sodann schüttelte der Bischof mehrmals mit dem Kopfe.

»So! Jetzt sitzt sie!« meinte er in zufriedenem Ton zu Julian. »Wollen Sie einmal ein wenig zur Seite gehen?«

Mit raschen Schritten ging er in die Mitte des Saales. Dann schritt er langsamen Ganges wieder auf den Spiegel zu, zog sein grämliches Gesicht von vorhin und erteilte würdevoll den Segen.

Julian rührte sich nicht vor Staunen. Er ahnte den Sinn des Vorganges, traute aber seiner Vermutung nicht recht. Der Bischof blieb stehen und schaute ihn an. Sein Gesicht verlor rasch den Ausdruck der Würde.

»Was sagen Sie zu meiner Mitra?« fragte er Julian. »Sitzt sie gut?«

»Sehr gut, Monsignore!«

»Sitzt sie nicht zu weit nach hinten? Das sähe töricht aus. Hinwiederum darf man sie auch nicht zu tief ins Gesicht drücken wie einen Offizierstschako.«

»Meiner Meinung nach sitzt sie vorzüglich!« wiederholte Julian.

»Majestät ist ehrwürdige und unbedingt ernste Geistliche gewöhnt. Ich möchte nicht kokett aussehen; gerade, weil ich jung bin, nicht.«

Dabei setzte sich der Kirchenfürst von neuem in Bewegung, wiederum Segen spendend.

»Es ist klar«, sagte sich Julian, der endlich zu verstehen wagte. »Er übt sich im Segnen.«

Nach einigen Augenblicken erklärte der Bischof: »Ich bin fertig. Gehen Sie voran, Herr Abbé, und geben Sie dem Herrn Dekan und den Herren vom Kapitel Bescheid!«

Alsbald trat der alte Chélan, gefolgt von den beiden nächstältesten Pfarrern, durch eine große, prächtig geschnitzte Pforte ein, die Julian bisher nicht bemerkt hatte. Seinem Rang entsprechend schloß er sich dem in den Saal dringenden Schwarm der Geistlichkeit als Allerletzter an und konnte den Bischof nur noch über die Schultern der andern sehen.

Der Bischof schritt ihnen langsam entgegen. Jetzt traten die Geistlichen zur Prozession an. Einen Augenblick lief alles durcheinander. Dann setzte sich der Zug unter Anstimmung eines Psalms in Bewegung. Der Bischof, zwischen dem Pfarrer Chélan und einem andern älteren Geistlichen, folgte dem Klerus. Dicht hinter dem Bischof schritt Julian als Subdiakon Chélans. Der Zug ging durch die langen Gänge der Abtei, die trotz des einfallenden Sonnenscheins düster und dumpfig waren. Endlich erreichte man die Vorhalle des Kreuzgangs.

Julian war tief ergriffen von der schönen Feier. Sein angesichts des jugendlichen Kirchenfürsten von neuem lodernder phantastischer Ehrgeiz und das feine vornehme Wesen des Kardinals stritten sich um sein Herz. Solche Urbanität war doch etwas andres als die Leutseligkeit des Herrn von Rênal, selbst wenn er seinen guten Tag hat. »Je höher man die Stufenleiter der Gesellschaft emporsteigt, desto mehr findet man so entzückende Manieren«, sagte sich Julian.

Die Prozession zog durch ein Seitenportal in die Kirche. Plötzlich durchhallte das altertümliche Gewölbe ein fürchterlicher Lärm. Julian wähnte, es stürze ein. Wiederum war es die alte Kanone, die draußen, von acht Pferden gezogen, eben im Galopp in Stellung gegangen war und auch schon durch die Kanoniere von Leipzig abgeprotzt worden war. Sie gab ihre fünf Schuß in der Minute ab, als stünden drüben die Preußen.

Der wunderschöne Salutdonner machte aber keinen Eindruck mehr auf Julian. Napoleon und Soldatenruhm waren vergessen. »So jung!« schwärmte er. »Und schon Bischof von *******! Was mag ihm die Stelle einbringen? Wohl zwei- oder dreimal hunderttausend Franken!«

Die Lakaien des Bischofs erschienen mit einem prachtvollen Thronhimmel. Der Pfarrer Chélan ergriff eine der Tragestangen, aber in Wahrheit war Julian der Träger. Der Bischof stellte sich darunter. Es war ihm wirklich gelungen, alt auszusehen. Julians Bewunderung kannte keine Grenzen mehr. Was bringt man mit Geschicklichkeit nicht alles fertig! dachte er.

Der König trat ein. Julian hatte das Glück, ihn ganz aus der Nähe betrachten zu können. Der Kirchenfürst hielt eine weihevolle Ansprache, wobei er nicht vergaß, einen Anflug ehrfürchtiger Befangenheit vor der Majestät zu simulieren. Aus der Rede des Bischofs erfuhr Julian unter anderm, daß der König von Karl dem Kühnen abstammte.

Eine genaue Schilderung der Hohen-Brayer Feierlichkeit ist nicht vonnöten. Vierzehn Tage lang waren die Spalten der sämtlichen Provinzzeitungen voll davon. Julian hatte später die Kostenberechnung des ganzen Empfanges aufzustellen. Der Marquis von La Mole, der seinem Neffen das Bistum verschafft hatte, erwies ihm obendrein die Höflichkeit, sämtliche Kosten der kirchlichen Zeremonie zu bestreiten, die allein dreitausendachthundert Franken betrugen.

Nach der Rede des Bischofs und den Erwiderungsworten des Königs trat Seine Majestät unter den Thronhimmel und kniete andachtsvoll auf einem Kissen nahe dem Altar nieder. Rings im Chor standen Lehnstühle, zwei Stufen über den Steinfliesen. Auf der untersten Stufe nahm Julian Platz, zu Chélans Füßen, wie in der Sixtinischen Kapelle in Rom die Schleppenträger der Kardinale. Das Tedeum begann. Qualmende Weihrauchfässer wurden geschwenkt. Und draußen donnerten schier endlose Kanonen- und Flintenschüsse. Die Bauern waren trunken vor Frömmigkeit und Überschwang. Ein solcher Tag macht die Wühlerei von hundert Nummern der sozialistischen Zeitungen zunichte.

Julian stand sechs Schritte vom König entfernt, der wirklich mit Andacht betete. Zum erstenmal fiel sein Blick auf einen kleinen Herrn mit klugen Augen, dessen Rock beinahe unbestickt war. Als einzigen Schmuck trug er ein breites himmelblaues Ordensband über der Brust. Der so einfach Gekleidete stand näher bei Seiner Majestät als die meisten andern Herren, deren Röcke derart von Gold strotzten, daß Julian kaum das Tuch zu erblicken vermeinte. Ein paar Augenblicke später erfuhr er, daß dies Herr von La Mole war. Es schien ihm, als habe der Marquis ein hochmütiges, fast arrogantes Aussehen.

»Dieser Grandseigneur«, dachte Julian, »ist gewiß nicht so urban wie mein koketter Bischof. Ja, der geistliche Stand macht mild und weise ... Der König ist doch gekommen, um die Reliquie anzubeten. Ich sehe aber keine. Wo steckt denn der heilige Clemens?«

Sein Nachbar, ein Chorknabe, belehrte ihn, daß sich die heilige Reliquie in einem erleuchteten Katafalk befände, in einem höher gelegenen Räume des Gebäudes.

»Was ist das«, fragte sich Julian, »ein erleuchteter Katafalk?« Er mochte nicht danach fragen; nur seine Neugier ward um so größer.

Wenn ein regierender Fürst eine Reliquie besucht, so will es die Etikette, daß die Geistlichen den Bischof nicht begleiten. Als man sich nach dem Katafalk zu gehen anschickte, winkte der Bischof demungeachtet den alten Chélan heran. Julian wagte sich anzuschließen.

Es ging eine lange Treppe hinauf, bis man vor eine auffallend kleine Tür gelangte, deren gotischer Zierat prunkvoll vergoldet war. Die Vergoldung war offenbar neu. An dieser Tür knieten vierundzwanzig junge Mädchen aus den besten Familien von Verrières. Ehe der Bischof durch die Tür schritt, kniete er mitten unter den Jungfrauen nieder. Es waren lauter hübsche Mädchen. Während er mit lauter Stimme betete, bewunderten sie seine schönen Spitzen, sein zierliches Wesen und sein jugendliches, sanftes Gesicht immer wieder von neuem. Vor dieser Szene verlor Julian den Rest seines Verstandes. In diesem Augenblick hätte er sich mit voller Überzeugung für die Inquisition geschlagen.

Plötzlich tat sich die kleine Pforte auf. Eine Flut von Licht drang aus der kleinen Kapelle. Drinnen auf dem Altar brannten mehr denn tausend Kerzen, zu acht Reihen geordnet; dazwischen standen Blumensträuße. Der süße Duft reinsten Weihrauchs drang aus dem Heiligtum. Die Kapelle, deren Vergoldung man erneuert hatte, war ziemlich klein, aber hoch. Julian schätzte die Kerzen auf dem Altar höher als zwei Meter. Die jungen Mädchen wurden zu einem Schrei der Bewunderung hingerissen. Außer den vierundzwanzig Jungfrauen befanden sich im Vorraum der Kapelle nur die beiden Priester und ihr Gefolgsmann.

Alsbald erschien Seine Majestät, nur vom Marquis von La Mole und seinem Oberhofmarschall begleitet. Alle andern, selbst die Ehrenwache unter präsentiertem Gewehr, blieben draußen auf den Knien.

Der König sank, oder vielmehr er stürzte in den Betstuhl. In diesem Moment erblickte Julian, der dicht an der goldnen Pforte kniete, über den bloßen Arm eines der jungen Mädchen hinweg den schimmernden Leib des heiligen Clemens. In der Tracht eines jungen römischen Kriegers lag er unter dem Altar. Am Hals hatte er eine weite Wunde, aus der Blut zu tropfen schien. Der Verfertiger der Statue war ein großer Realist. Die halbgeschlossenen, brechenden Augen des Heiligen leuchteten in überirdischem Glanz, ein keimendes Bärtchen schmückte seinen schönen Mund, der, ein wenig geöffnet, aussah, als flüstere er ein letztes Gebet. Bei diesem Anblick begann eine der Jungfrauen, Julians Nachbarin, zu weinen, und eine ihrer Tränen fiel ihm auf die Hand.

Einen Augenblick betete alles in tiefstem Schweigen, das nur durch das ferne Glockengeläut aus allen Dörfern in der Runde unterbrochen wurde. Danach bat der Bischof den König, seine Predigt beginnen zu dürfen. Es war eine kurze, sehr rührsame Rede, die mit ein paar schlichten Worten schloß, die starken Eindruck machten.

»Junge Christinnen, vergeßt nie, daß ihr einen der größten Könige der Erde vor einem Diener Gottes des Allmächtigen auf den Knien erblickt habt, vor einem jener schwachen Diener des Herrn, die hienieden verfolgt und gemordet worden, jetzt aber triumphierend an Gottes Thron sitzen. Einer von ihnen ist der heilige Clemens, dessen Wunde ihr hier bluten seht! Gelobt mir, meine jungen Christinnen, nie in eurem Leben dieses Tages zu vergessen! Ihr werdet den Unglauben verabscheuen und immerdar treu bleiben dem Herrn, dessen Rache so fürchterlich und dessen Güte so groß ist.«

Der Bischof richtete sich würdevoll auf.

»Nicht wahr, ihr gelobt es mir?« fuhr er fort, indem er die Rechte erhob und wie in gottseliger Weihe ausstreckte.

»Wir geloben es!« lispelten die jungen Mädchen, in Tränen zerfließend.

»Im Namen Gottes des Herrn«, schloß der Prälat mit Donnerstimme, »nehme ich euer Gelübde an.«

Damit war die Feierlichkeit zu Ende. Selbst der König weinte.

Erst lange nachher kam Julian so weit zur Besinnung, daß er sich erkundigte, wo denn eigentlich die Gebeine wären, die Philipp der Großmütige, Herzog von Burgund, aus Rom mitgebracht hatte. Man sagte ihm, sie seien in der schönen Wachsfigur eingeschlossen.

Seine Majestät geruhte, den jungen Mädchen, die ihn in die Kapelle begleitet hatten, das Tragen eines roten Bandes mit der eingestickten Devise:

Haß dem Unglauben in ewiger Anbetung!

allergnädigst zu erlauben.

Der Marquis von La Mole ließ zehntausend Flaschen Wein unter die Bauern verteilen. Die Liberalen benutzten den Anlaß, abends hundertmal schöner zu illuminieren als die Royalisten. Vor seiner Abfahrt stattete der König Herrn von Moirod einen Besuch ab.


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