Stendhal
Rot und Schwarz
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40. Kapitel

Julian las seine Briefe noch einmal. Als es zu Tisch läutete, sagte er sich: »Wie lächerlich muß ich dieser Pariser Puppe erschienen sein! Welche Tollheit war es, ihr ehrlich zu sagen, was ich dachte? Aber vielleicht war die Tollheit nicht so groß. Die Wahrheit war in diesem Falle meiner würdig. Was hat sie mich über vertrauliche Dinge auszufragen? Das war taktlos von ihr. Gegen die gute Sitte. Meine Gedanken über Danton gehören nicht zu dem Amt, für das mich ihr Vater bezahlt.«

Als Julian in den Eßsaal trat, vergaß er seine schlechte Laune über der Verwunderung, Fräulein von La Mole in Trauerkleidung zu sehen, im übrigen aber niemanden von der Familie in Schwarz.

Nach der Tafel verspürte er nichts mehr von der Begeisterung, die ihn den Tag über erfüllt hatte. Zum Glück war der lateinkundige Akademiker Tischgast. »Dieser Mann wird sich am wenigsten über mich aufhalten«, dachte Julian, »wenn meine Frage über Fräulein von La Moles Trauer, wie ich vermute, eine Ungeschicklichkeit wäre.«

Mathilde sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Das ist wohl pariserische Koketterie, wie Frau von Rênal sie mir geschildert hat?« sagte er sich. »Ich war heute morgen nicht liebenswürdig gegen Mathilde. Ich bin auf ihre Laune, mit mir plaudern zu wollen, nicht eingegangen. Dadurch bin ich in ihrer Achtung gestiegen. Der Teufel kommt ja stets auf seine Rechnung. Gelegentlich wird sie sich durch hochmütige Geringschätzung schon zu rächen wissen. Ich traue ihr alles zu. Was für ein Unterschied gegen das, was ich verloren habe! Wie reizend natürlich war Luise! Wie harmlos! Ich kannte ihre Gedanken immer früher als sie selbst. Ich sah sie entstehen. Es war keine Gegenströmung in ihr, außer der Furcht, ihre Sünde könne sich an ihren Kindern rächen. Das war eine vernünftige, natürliche Zuneigung, eine Wonne selbst für mich, wiewohl ich darunter litt. Ich war ein rechter Tor! Die falsche Vorstellung, die ich mir damals von Paris machte, war schuld daran, daß ich dieses herrliche Weib nicht voll gewürdigt habe. Großer Gott, welch ein Unterschied! Was finde ich hier? Nichts als eisige, hochmütige Eitelkeit, alle Spielarten der Eigenliebe – und weiter nichts!«

Man stand vom Tisch auf.

»Daß mir nur mein Akademiker nicht weggeschnappt wird!« sagte sich Julian. Als man in den Garten ging, näherte er sich ihm, machte ein sanftmütiges und unterwürfiges Gesicht und teilte in dem sich entspinnenden Gespräche seine Wut ob des Erfolges von Viktor Hugos Hernani, der eben, im Februar des Jahres 1830, seine Uraufführung erlebt hatte.

»Lebten wir doch noch in der Zeit der Lettres de cachet!« heuchelte Julian.

»Dann hätte er sich nicht erfrecht!« rief der Akademiker mit einer Handbewegung frei nach Talma.

Als die Rede auf irgendeine Blume kam, zitierte Julian etliche Stellen aus Virgils Georgica. Des weiteren bemerkte er, nichts ließe sich mit den Versen des Abbé Delille vergleichen. Mit einem Worte, er schmeichelte dem Akademiker auf jede Weise. Schließlich sagte er im gleichgültigsten Tone: »Ich vermute, Fräulein von La Mole hat einen Onkel beerbt. Sie trägt Trauer.«

»Was!« sagte der Akademiker, indem er plötzlich stehenblieb. »Sie gehören zum Hause und kennen ihre Verschrobenheiten noch nicht? Es ist in der Tat sonderbar, daß ihre Mutter dergleichen nachsieht. Aber, unter uns gesagt, ist es mit der Charakterstärke in diesem Hause so eine Sache. Fräulein Mathilde besitzt sie für alle andern mit, und so regiert sie über alle. Heute haben wir nämlich den 30. April...« Damit brach der Akademiker ab und sah Julian verschmitzt an. Dieser lächelte möglichst verständnisinnig.

»Welchen Zusammenhang mag es zwischen der Hegemonie im Hause, dem Tragen eines schwarzen Kleides und dem 30. April geben? Ich muß doch viel dümmer sein, als ich dachte.«

»Ich muß Ihnen gestehen...«, sagte er zu dem Akademiker und sah ihn fragend an.

»Machen wir einen Gang durch den Garten«, schlug dieser vor und nahm mit Entzücken die Gelegenheit wahr, eine lange feingedrechselte Erzählung vom Stapel lassen zu können.

»Sollte es wirklich der Fall sein, daß Sie nicht wissen, was sich am 30. April 1574 ereignet hat?«

»Wo?« fragte Julian verwirrt.

»Auf dem Grève-Platz.«

Julian war so erstaunt, daß ihm selbst diese Ortsbezeichnung nicht auf die Spur half. Der Grève-Platz war seit uralters her der Ort der öffentlichen Hinrichtungen. Neugier und die Erwartung, irgendeine tragische Begebenheit zu hören, die so recht zu seinem Charakter paßte, brachten in seine Augen jenes Flackern, das ein Erzähler so gern bei seinen Zuhörern sieht. Der Akademiker war entzückt, ein jungfräuliches Ohr zu finden, und erzählte nun lang und breit, warum der schönste junge Mann seines Jahrhunderts, Bonifaz von La Mole, und sein Freund, Hannibal von Coconasso, ein piemontesischer Edelmann, am 30. April 1574 auf dem Grève-Platz enthauptet worden waren. »La Mole war der heißgeliebte Favorit der Königin Margarete von Navarra – und beachten Sie«, setzte der Akademiker hinzu, »daß sich Fräulein von La Mole Mathilde-Margarete nennt. La Mole war zugleich der Günstling des Herzogs von Alençon und der Busenfreund des Königs von Navarra, des späteren Heinrichs IV., des Ehemannes seiner Geliebten. Am Fastnachtstage des Jahres 1574 weilte der Hof mit dem unglücklichen König Karl IX., der im Sterben lag, in Saint-Germain. La Mole wollte die ihm befreundeten Prinzen entführen, die von der Königin Katharina von Medici am Hofe gefangengehalten wurden. Er ließ zweihundert Reiter vor die Mauern von Saint-Germain rücken. Aber der Herzog von Alençon hatte keinen Mut, und La Mole verfiel dem Henker.

Was nun Fräulein Mathilde ganz besonders rührt, wie sie mir selbst vor sechs oder sieben Jahren einmal eingestanden hat, als sie zwölf Jahre alt war ..., schon damals war sie ein Mordsmädel..., sage ich Ihnen ...« Der Akademiker seufzte und blickte gen Himmel. »Was sie bei dieser politischen Katastrophe geradezu erschüttert hat, das ist die Tatsache, daß die Königin Margarete von Navarra, die sich in einem Hause am Grève-Platz verborgen gehalten hatte, es wagte, den Henker um das Haupt ihres Geliebten bitten zu lassen. In der Nacht darauf, um Mitternacht, nahm sie das Haupt mit in ihren Wagen und begrub es eigenhändig in einer Kapelle am Fuße des Montmartre.«

»Großartig!« rief Julian ergriffen.

»Fräulein Mathilde verachtet ihren Bruder, weil er, wie Sie sehen, die alte Historie nicht in Ehren hält und am 30. April keine Trauer anlegt. Seit dieser berühmten Hinrichtung tragen übrigens alle männlichen Mitglieder der Familie zum Andenken an die Freundschaft von La Mole und Coconasso, der sich, als echter Italiener, Hannibal nannte, die Vornamen Bonifaz und Hannibal. Es bleibe nicht unerwähnt ...«, setzte der Akademiker hinzu, indem er seine Stimme dämpfte, »der Coconasso war, nach Karls IX. eigenem Ausspruch, einer der grausamsten Mordgesellen der Bartholomäusnacht, am 24. August 1572 ... Aber wie ist es möglich, mein lieber Sorel, daß Sie, ein Mitglied dieses Hauses, von alledem nichts wissen?«

»Also deshalb hat Fräulein von La Mole ihren Bruder heute bei Tisch zweimal Hannibal genannt. Ich glaubte mich verhört zu haben.«

»Das sollte ein Vorwurf sein. Wie gesagt, es ist merkwürdig, daß die Marquise derartige Narrheiten duldet...«

Es folgten ein paar satirische Bemerkungen. Die gehässige Freude, die in den Augen des Akademikers gleißte, berührte Julian unangenehm. »Wir benehmen uns wie zwei Dienstboten, die über ihre Herrschaft klatschen«, dachte er. »Aber an so einem Akademiker darf mich nichts verwundern.« Julian hatte ihn nämlich eines Tages auf den Knien vor der Marquise überrascht, wie er sie bat, einem seiner Neffen in der Provinz einen Tabakverschleiß zu erwirken.

Am Abend machte es eine kleine Kammerjungfer des Fräuleins von La Mole, die Julian nachstellte wie ehemals Elise, ihm klar, daß die Trauer ihrer Herrin durchaus nicht den Zweck habe, die Blicke auf sich zu ziehen. Dies seltsame Gebaren wurzelte in ihrem Charakter. Sie hegte wirkliche Liebe für den heißgeliebten Favoriten der geistreichsten Königin ihres Jahrhunderts, für Bonifaz von La Mole, der den Tod erlitten, weil er seine fürstlichen Freunde befreien wollte.

An vollkommene Natürlichkeit gewöhnt, wie sie ihm aus Frau von Rênals ganzem Wesen entgegengetreten war, glaubte Julian an allen Pariser Damen immer nur Affektiertheit zu erblicken. Wenn er nur im geringsten trüb gestimmt war, wußte er ihnen nichts zu sagen. Fräulein von La Mole machte eine Ausnahme. Julian fing an, die besondere Art von Schönheit, die sich aus vornehmem Wesen ergibt, nicht mehr für Herzlosigkeit zu halten, und führte längere Gespräche mit ihr, wenn sie nach Tisch im Garten vor den offenen Salonfenstern zusammen auf und ab gingen, wie dies bisweilen geschah.

Eines Tages gestand sie ihm, daß sie sich mit der Lektüre des Leben galanter Damen vom Seigneur de Brantôme beschäftigte und mit Agrippa d'Aubigne. »Sonderbare Lektüre!« dachte Julian. »Zumal, da ihr die Marquise nicht einmal gestattet, die Romane von Walter Scott zu lesen!«

Ein andermal erzählte sie ihm mit freudestrahlenden Augen, die von der Aufrichtigkeit ihrer Bewunderung zeugten, von einer jungen Dame unter der Regierung Heinrichs III., die ihren Gatten erdolchte, nachdem sie ihn der ehelichen Untreue überführt hatte. Das hatte sie eben in den Denkwürdigkeiten von L'Etoile gelesen.

Julian fühlte sich in seiner Eigenliebe geschmeichelt. Ein so viel umworbenes Wesen, das nach dem Ausspruche des Akademikers das ganze Haus regierte, geruhte, sich mit ihm auf eine Weise zu unterhalten, die an Freundschaft streifte.

»Ich habe mich geirrt!« sagte er sich aber alsbald. »Das ist nicht Vertraulichkeit. Ich spiele die Rolle des Vertrauten im klassischen Trauerspiel. Weiter nichts. Sie hat das Bedürfnis zu plaudern. Ich gelte in dieser Familie für literaturkundig. Ich muß mich an Brantôme, L'Etoile, d'Aubigne machen. Etliche der Anekdoten, die mir Fräulein von La Mole erzählt, werde ich in Zweifel ziehen. Die Rolle des passiven Vertrauten genügt mir nicht!«

Allmählich nahmen Julians Gespräche mit dem imponierenden und dabei ungezwungenen jungen Mädchen einen reizvolleren Charakter an. Er vergaß seine traurige Rolle als rebellischer Plebejer. Er fand Mathilde unterrichtet, ja sogar klug. Ihre Ansichten im Garten waren allerdings ganz anders als die, die sie im Salon äußerte. Einige Male war sie ihm gegenüber von einer Begeisterung und Offenherzigkeit, die im vollkommenen Gegensatz zu ihrem gewöhnlich so hochmütigen und kühlen Benehmen standen.

»Die Kriege der Liga sind die heroischen Zeiten Frankreichs«, erklärte sie ihm eines Tages mit geistsprühenden und enthusiastisch leuchtenden Augen. »Damals kämpfte jeder für irgendeine Sache, die er sich ersehnte. Er kämpfte, um seiner Partei zum Siege zu verhelfen, und nicht, um einen Orden zu ergattern wie zur Zeit Ihres Kaisers. Geben Sie nur zu, daß es damals weniger Selbstsucht und Kleinlichkeit gab! Ich liebe das Cinquecento!«

»Und Bonifaz von La Mole war ein Held jenes Jahrhunderts!« entgegnete Julian.

»Zum mindesten wurde er geliebt, wie man zärtlicher kaum geliebt werden kann! Welche heutige Frau würde nicht davor zurückschaudern, den Kopf ihres enthaupteten Geliebten anzufassen?«

Frau von La Mole rief ihre Tochter.

Heuchelei, die Zweck haben soll, darf sich nie verraten. Julian aber hatte Fräulein von La Mole halb und halb zur Vertrauten seiner Bewunderung für Napoleon gemacht.

»Das ist der ungeheure Vorteil, den die Abkömmlinge alter Familien vor uns Plebejern haben«, sagte sich Julian, als er allein im Garten zurückblieb. »Die Geschichte ihrer Vorfahren hebt sie empor über die Gefühlswelt der Alltäglichkeit. Überdies brauchen sie nicht immer an ihren Unterhalt zu denken. Und wie kläglich!« setzte er bitter hinzu. »Ich bin unwürdig, über jene höhere Weltanschauung zu räsonieren. Mein Leben ist nichts als eine Kette von Heucheleien, weil ich keine tausend Franken Rente habe, um wenigstens mein täglich Brot gesichert zu sehen.«

»Wovon träumen Sie?« fragte ihn Mathilde, die eiligst zurückkam,

Julian war müde seiner Selbstverachtung. Stolz und offen äußerte er seine Gedanken. Allerdings ward er purpurrot, als er vor der so reichen jungen Dame von seiner Armut sprach. Aber gerade durch diesen stolzen Ton wollte er hervorheben, daß er um nichts bat. Niemals war er Mathilden so schön erschienen wie in diesem Ausdruck von Feingefühl und Freimut, der ihm oft fehlte.

Etwa vier Wochen später ging Julian im Park des Hauses La Mole nachdenklich auf und ab, aber seine Züge trugen nicht mehr den Ausdruck der Verbitterung und hochmütigen Resignation, den das beständige Gefühl seiner Niedrigkeit ihm aufgeprägt hatte. Eben hatte er Fräulein von La Mole, die sich angeblich beim Laufen mit ihrem Bruder den Fuß verstaucht hatte, bis an die Tür des Salons zurückbegleitet.

»Sie hat sich auf eine recht sonderbare Art auf meinen Arm gestützt«, dachte Julian. »Bin ich ein Narr? Oder sollte es wahr sein, daß sie Geschmack an mir findet? Sie hört mir mit so sanfter Miene zu, selbst wenn ich ihr alle Leiden meines Hochmutes bekenne, Sie, die gegen alle Welt so stolz ist! Man würde im Salon sehr erstaunt sein, wenn man einmal diesen Gesichtsausdruck an ihr sähe. Ganz gewiß, diese sanfte und gütige Miene hat sie sonst vor niemandem.«

Julian hütete sich, die seltsame Freundschaft zu überschätzen. Er verglich sie mit dem bewaffneten Frieden. Jedesmal, wenn man sich wieder traf, fragte man sich sozusagen, ehe man den nahezu vertraulichen Ton des vorhergehenden Abends wieder anschlug: »Sind wir heute Freunde oder Feinde?« Julian war überzeugt, daß er ein für allemal verlor, wenn er sich von diesem stolzen Mädchen nur ein einziges Mal ungestraft beleidigen ließ. »Aber wenn ich früher oder später doch mit ihr brechen muß«, sagte er sich, »ist es da nicht besser, ich tue es gleich? Jetzt wahre ich meinen berechtigten Stolz ihr gegenüber, während ich mich später gegen ihre Verachtung zu wehren habe, die sich sofort zeigen wird, sobald ich im geringsten auf das verzichte, was ich meiner persönlichen Würde schulde.«

Mehrmals versuchte Mathilde an Tagen, wo sie schlecht gelaunt war, vor ihm den Ton der Grande-dame anzuschlagen. Sie machte diese Versuche auf die findigste Weise, aber Julian ließ sie brüsk von sich abgleiten.

Eines Tages unterbrach er sie heftig: »Hat das gnädige Fräulein irgendwelchen Auftrag für den Sekretär Ihres Herrn Vaters?« fragte er sie. »Er muß ihre Befehle anhören und sie ganz gehorsamst ausführen. Im übrigen aber hat er kein Wort an sie zu richten. Er wird nicht bezahlt, um ihr seine Gedanken mitzuteilen.«

Die merkwürdigen kleinen Zwischenfälle und die sonderbaren Zweifel, die Julian beschlichen, hielten die Langeweile von ihm fern, die er ehedem in diesem prunkvollen Saale regelmäßig empfunden hatte, weil man sich dort vor allem und jedem fürchtete und weil es daselbst nicht schicklich war, über irgend etwas zu scherzen.

»Es wäre spaßhaft, wenn sie mich liebte! Aber mag sie mich lieben oder nicht«, setzte Julian hinzu, »ich habe zur Vertrauten eine geistreiche junge Dame, vor der ich das ganze Haus zittern sehe und allen andern voran den Marquis von Croisenois, einen so höflichen, milden, wackeren jungen Mann. Er besitzt sämtliche Vorteile der Geburt und des Reichtums, von denen ein einziger mein Herz hoch erfreuen würde. Er ist wahnsinnig verliebt in Mathilde. Er soll sie heiraten. Wieviel Briefe hat mich Herr von La Mole nicht an die Notare schreiben lassen, um den Ehevertrag zustande zu bringen! Und ich inferiorer Federfuchser, ich triumphiere zwei Stunden später hier im Garten über diesen liebenswürdigen jungen Herrn? Denn alles in allem sind ihre Gunstbeweise auffällig und unleugbar. Vielleicht haßt sie Croisenois als ihren künftigen Gatten. Hochmütig genug ist sie dazu. Und die Aufmerksamkeiten, die sie mir erweist, empfange ich als vertrauter Untergebener!

Aber nein! Entweder bin ich ein Narr oder sie macht mir den Hof. Je kälter und ehrerbietiger ich mich gegen sie zeige, um so mehr bemüht sie sich um mich. Es könnte ja Spiel sein? Aber ich sehe ihre Augen aufleuchten, wenn ich unerwartet erscheine. Sind die Pariserinnen so ausgezeichnete Komödiantinnen? Doch was liegt daran? Mich umgaukelt eine Illusion. Genießen wir sie! Mein Gott, wie schön ist Mathilde! Wie gefallen mir ihre großen blauen Augen, wenn ich sie dicht vor mir schaue, und sie auf mir ruhen, wie sie dies oft tun! Was für ein Unterschied zwischen diesem Frühling und dem des vergangenen Jahres, als ich unter dreihundert boshaften und schmutzigen Heuchlern lebte und mich in meinem Unglück nur durch Charakterstärke aufrechterhielt. Ich war beinahe ebenso boshaft wie diese Gesellen.«

In den Tagen des Mißtrauens dachte Julian: »Dies junge Mädchen macht sich über mich lustig. Sie ist mit ihrem Bruder im Bunde, mich zum besten zu haben. Und doch scheint sie Norberts Mangel an Energie arg zu verachten. Er ist ein anständiger Kerl; das ist aber auch alles! hat sie mir einmal gesagt. Er habe nicht einen von der Mode unabhängigen Gedanken. Ich bin dann immer gezwungen, ihn zu verteidigen. Sie ist ein junges Mädchen von neunzehn Jahren. Kann man in diesem Alter jeden Augenblick eine bestimmte Rolle erheucheln?

»Andrerseits, wenn Fräulein von La Mole ihre großen blauen Augen mit einem gewissen eigentümlichen Ausdruck auf mich richtet, geht Graf Norbert immer weg. Das macht mich argwöhnisch. Müßte er nicht entrüstet sein, daß seine Schwester einen Domestiken des Hauses auszeichnet? So habe ich nämlich den Herzog von Chaulnes von mir sprechen hören.« Bei dieser Erinnerung verdrängte der Zorn jedes andre Gefühl. »Ist das Vorliebe für altertümliche Ausdrücke bei diesem idiotischen Herzog?«

»Jawohl, sie ist hübsch«, fuhr Julian mit Tigerblicken fort. »Ich werde sie besitzen. Dann mache ich mich aus dem Staube, und wehe dem, der mich in meiner Flucht aufhalten will.«

Dieser Gedanke ward allmählich zur fixen Idee in ihm. Er vermochte an nichts weiter zu denken. Die Tage vergingen ihm wie Stunden. Jeden Augenblick, wenn er sich mit etwas Ernsthaftem zu beschäftigen suchte, irrten seine Gedanken ab. Nach einer Viertelstunde kam er wieder zu sich, mit klopfendem Herzen, wirrem Kopf, brütend über dem einzigen Gedanken: »Liebt sie mich?«


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