Stendhal
Rot und Schwarz
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66. Kapitel

Julian blieb unbeweglich stehen. Er sah nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß alle Andächtigen aus der Kirche flohen. Der Priester hatte den Altar verlassen.

Langsam schritt Julian hinter ein paar Weibern her, die kreischend davonliefen. Eine der Frauen, die rascher laufen wollte als die andern, prallte heftig an ihn an. Dadurch geriet er aus dem Gleichgewicht und stolperte über einen von der Menge umgerissenen Stuhl. Als er wieder aufstehen wollte, fühlte er sich am Kragen gepackt. Ein Schutzmann in voller Uniform nahm ihn fest. Unwillkürlich griff Julian nach seinen Pistolen, aber ein zweiter Gendarm fiel ihm in den Arm.

Man führte ihn ins Gefängnis ab, steckte ihn in eine Zelle und legte ihm Ketten an. Dann verließ man ihn, und die Tür ward fest verschlossen. Alles das geschah in rascher Folge.

Unempfindlich ließ er alles geschehen. Als er zur klaren Besinnung kam, sagte er sich: »Ja, ja, nun ist alles aus! In vierzehn Tagen stehe ich vor der Guillotine ... wenn ich mich bis dahin nicht selber umgebracht habe...«

Mehr vermochte er nicht zu denken. Es war ihm, als würde ihm der Kopf mit aller Gewalt zusammengepreßt. Er blickte um sich. Er hatte die Empfindung, als habe ihn jemand angefaßt. Nach einer Weile schlief er fest ein.

Frau von Rênal war nicht tödlich verwundet. Die erste Kugel hatte ihren Hut durchbohrt. Gerade als sie sich umwandte, war der zweite Schuß losgegangen. Die Kugel war bis auf das Schulterblatt eingedrungen, hatte den Knochen zerschmettert, war dabei aber zurückgeprallt und gegen eine der gotischen Säulen geflogen, aus der ein Stück Stein abgesprengt ward.

Als ihr der Wundarzt, ein ernster Mann, nach schmerzhafter Umständlichkeit einen Verband angelegt hatte, erklärte er: »Ich stehe Ihnen für Ihr Leben wie für das meine!« Da ward sie tieftraurig.

Seit langem hegte sie aufrichtige Todessehnsucht. Der Brief an Herrn von La Mole, den ihr jetziger Beichtvater ihr abgezwungen hatte, versetzte ihrem durch beständiges Herzeleid zerrütteten Gemüt den letzten Stoß. Dies Herzeleid hatte seinen Grund in der Trennung von Julian. Sie nannte es freilich Reue. Ihr Seelsorger, ein tugendhafter junger Eiferer, der erst kürzlich aus Dijon hergekommen war, täuschte sich über ihren Zustand nicht.

»Solch ein Tod, nicht durch eigne Hand, wäre keine Sünde«, dachte Frau von Rênal bei sich. »Gott vergibt mir wohl, daß ich mich über meinen Tod freue.« Sie wagte nicht hinzuzusetzen: »Und von Julians Hand zu sterben, wäre mir die höchste Glückseligkeit.«

Kaum war sie der Gegenwart des Arztes und der in Menge herbeigeströmten guten Bekannten enthoben, da ließ sie ihre Jungfer Elise kommen.

»Der Kerkermeister ist ein Menschenschinder«, sagte sie voll Scham. »Ohne Zweifel wird er den Attentäter mißhandeln, im Glauben, mir damit einen Gefallen zu tun. Der Gedanke daran ist mir unerträglich. Könntest du nicht, gleichsam aus freien Stücken, zu diesem Menschen gehen und ihm dieses Päckchen bringen? Es sind ein paar Goldstücke drin. Du müßtest ihm sagen, es wäre wider Gottes Gebot, einen Gefangenen zu quälen. Selbstverständlich darf er ihm nichts von dem Gelde sagen.«

Diesem Umstände verdankte Julian, daß ihn der Kerkermeister menschlich behandelte. Es war noch immer Noiroud, jene echte Beamtenkreatur, den damals der Besuch des Herrn Appert in tausend Ängste versetzt hatte.

Der Untersuchungsrichter erschien in der Zelle.

»Ich habe den Mord mit Vorbedacht begangen«, erklärte ihm Julian. »Die Pistolen habe ich kurz vorher beim hiesigen Waffenhändler gekauft und mir von ihm laden lassen. Nach dem Strafgesetzbuche verdiene ich den Tod und erwarte ihn.«

Der Richter war über diese Antwort erstaunt. Er versuchte noch mehr Fragen zu stellen, damit sich der Angeklagte in Widersprüche verwickele.

Julian erwiderte lächelnd: »Sehen Sie nicht, daß ich das Schlimmste eingestehe? Größere Strafbarkeit können Sie nicht begehen. Gehen Sie, Herr Richter! Die Beute, nach der Sie jagen, ist Ihnen sicher. Sie werden das Vergnügen haben, mich verurteilen zu können. Ersparen Sie mir Ihre weitere Gegenwart!«

Mathilde fiel ihm ein.

»Jetzt verbleibt mir die verdrießliche Pflicht, an Fräulein von La Mole schreiben zu müssen.«

Der Brief erhielt folgende Fassung:

»Ich habe mich gerächt. Bedauerlicherweise wird mein Name durch alle Zeitungen laufen, und so ist es mir nicht vergönnt, namenlos aus dieser Welt zu scheiden. In acht Wochen bin ich tot.

Meine Rache ist so gräßlich wie mein Schmerz über meine Trennung von Dir. Von diesem Augenblick an untersage ich mir, Deinen Namen noch einmal hinzuschreiben oder auszusprechen. Rede nie von mir, auch später nicht zu unserm Sohne. Schweigen ist die einzige Möglichkeit, mich zu ehren. Für die große Herde der Menschen bin ich ein gemeiner Mörder.

Darf ich offen und ehrlich sein? Du wirst mich vergessen! Die große Katastrophe, von der Du gut tun wirst, nie mit einem Sterblichen zu sprechen, wird alle Deine Romantik und Freude am Abenteuerlichen auf Jahre hinaus stillen. Du hättest zur Gefährtin eines Helden des Mittelalters getaugt. Beweise Deinen Rênaissance-Charakter! Das Unvermeidliche muß heimlich erfolgen, ohne daß Du Dich vor der banalen Welt bloßstellst. Vertraue Dich niemandem an! Verbirg Dich irgendwo unter einem falschen Namen. Wenn Du aber durchaus der Hilfe eines Freundes bedarfst, so vermache ich Dir als solchen den Pfarrer Pirard.

Im übrigen sprich Dich vor keinem Menschen aus, zumal nicht vor Leuten Deiner Gesellschaftsklasse wie Luz und Caylus. Ein Jahr nach meinem Tode heiratest Du Herrn von Croisenois. Ich bitte Dich darum, ja, ich befehle es Dir als Dein Mann.

Schreibe mir nicht! Ich würde nicht antworten. Weniger schlecht als Jago, sage ich mit ihm: Von dieser Stund' an red ich nicht ein Wort!

Niemand soll mich mehr schreiben sehen noch reden hören. Dir gelten meine letzten Worte und zugleich meine letzte Liebe.

J.S.«

Erst nachdem dieser Brief abgegangen war, kam Julian einigermaßen zur Besinnung. Jetzt fühlte er sich grenzenlos unglücklich. Jene großen Worte: In acht Wochen bin ich tot! rissen ihm seine ehrgeizigen Hoffnungen mit Stumpf und Stiel aus dem Herzen. Der Tod an und für sich war ihm nichts Schreckliches. Sein ganzes Leben war ein Gang nach Golgatha gewesen, und nie hatte er im einzelnen Leid das Endziel des Lebens vergessen.

»Was soll das?« rief er sich zu. »Wenn ich in acht Wochen ein Duell mit einem berüchtigten Fechter hätte, wäre ich dann so schwach, in einem fort daran zu denken und Angst zu haben?«

Er brauchte mehr als eine Stunde dazu, um sich in dieser Hinsicht genau kennenzulernen. Als er sich schließlich über seinen Seelenzustand völlig klar war, als er die Wahrheit genauso deutlich vor sich sah wie die Pfeiler seiner Gefängniszelle, da fragte er sich: »Bereue ich?

Warum sollte ich Reue empfinden? Man hat mich auf das grausamste verletzt. Ich bin zum Mörder geworden. Ich verdiene den Tod. Das ist alles in Ordnung. Ich schließe meine Rechnung mit der Menschheit ab und sterbe. Ich hinterlasse keine unerfüllte Pflicht. Ich schulde niemandem etwas. Mein Tod ist nur durch seine Art eine Schande. In den Augen der Spießbürger von Verrières allerdings eine Riesenschande. Was gehen mich aber die Spießbürger an? Übrigens hätte ich ein Mittel, ihnen zu imponieren. Ich brauchte bloß beim Gange zum Hochgericht Goldstücke unter das Volk zu werfen. Durch die Verbindung mit dem Begriffe Geld bekäme mein Andenken eine ewige Gloriole...«

Dann wiederholte er sich: »Ich habe also auf Erden nichts mehr zu tun« und schlief fest ein.

Abends gegen neun Uhr weckte ihn der Kerkermeister und brachte ihm das Abendessen.

»Was redet man in der Stadt?«

»Herr Sorel, an dem Tage, wo ich hier meine Stelle antrat, habe ich einen Eid geleistet, der mich zum Stillschweigen verpflichtet.«

Weiter sagte er nichts, verblieb aber. Seine gemeine Heuchelei belustigte Julian.

»Ich muß ihn recht lange nach dem Taler zappeln lassen, den er von mir erwartet, um mir seine ewige Seligkeit zu verschachern!«

Als der Kerkermeister sah, daß die Mahlzeit zu Ende ging, ohne daß ein Bestechungsversuch stattfand, sagte er in verlogener Zutraulichkeit: »Die Freundschaft, die ich für Sie hege, zwingt mich zu reden, obgleich man behauptet, das sei gegen das Interesse der Justiz, weil Sie sich darnach Ihre Verteidigung zurechtlegen könnten ... Sie sind ein guter Kerl! Es wird Sie freuen zu hören, daß es der Frau Bürgermeister besser geht...«

»Was!« schrie Julian außer sich. »Sie ist nicht tot?«

»Wußten Sie das denn nicht?« fragte der Kerkermeister, während seine stumpfsinnige Miene mehr und mehr den Ausdruck vergnügter Habgier verriet. »Eigentlich sollte Herr Sorel dem Doktor ein kleines Douceur zukommen lassen, denn von Rechts wegen darf er nichts verlauten lassen. Um Ihnen einen Gefallen zu tun, bin ich nämlich zu ihm gegangen und habe mich erkundigt. Er hat mir alles erzählt...«

»Also ist die Wunde nicht tödlich?« unterbrach ihn Julian voll Ungeduld. »Der Teufel soll Sie holen, wenn Sie lügen!«

Noiroud, ein baumlanger Mensch, bekam Angst und wich nach der Tür zurück. Julian sah ein, daß er auf diesem Wege schwerlich die Wahrheit erführe. Er setzte sich nieder und warf dem Gefängniswärter ein Goldstück hin.

Der weitere Bericht des Mannes überzeugte ihn, daß Frau von Rênal nicht tödlich getroffen war. Er fühlte sich dem Weinen nahe.

»Gehen Sie!« herrschte er ihn an.

Der Kerkermeister gehorchte.

Kaum war er hinaus, da rief Julian aus: »Allmächtiger, sie ist nicht tot!«

Er sank in die Knie und vergoß heiße Tränen. Im Augenblicke seiner Erregung war er gläubig.

Als er sich dessen bewußt ward, sagte er sich: »Was geht mich die Komödie der Pfaffen an? Sie haben mit der erhabenen Wahrheit des Gottesgedankens nichts zu schaffen!«

Nun erst begann er die begangene Untat zu bereuen. Er wäre der wildesten Verzweiflung verfallen, wenn nicht gleichzeitig durch einen merkwürdigen Zusammenhang die körperliche Überreizung und die seelische Halbverrücktheit von ihm gewichen wären, die ihn seit seiner Abreise von Paris in ihrem Bann gehabt hatten. Die Tränen, die er vergoß, hatten eine edle Quelle. Er zweifelte nicht daran, daß er dem Tode geweiht war.

»So bleibt sie am Leben!« flüsterte er vor sich hin. »Sie wird leben ... mir verzeihen ... mich lieben!«

Am nächsten Morgen weckte ihn der Kerkermeister sehr spät.

»Sie müssen Nerven aus Eisen haben!« meinte er. »Ich bin schon zweimal dagewesen, wollte Sie aber nicht wecken. Hier sind zwei Flaschen Wein bester Sorte. Unser Pfarrer, Herr Maslon, schickt sie Ihnen ...«

»Was? Der Spitzbube ist noch immer im Ort?« unterbrach ihn Julian.

»Freilich, Herr Sorel!« erwiderte Noiroud mit verhaltener Stimme. »Sprechen Sie nur nicht so laut! Es könnte Ihnen schaden.«

Julian lachte herzlich.

»An dem Punkte, wo ich angelangt bin, mein Verehrtester«, sagte er, »könnten nur Sie mir schaden, indem Sie aufhörten, freundlich und menschlich mit mir zu sein...« Sich schnell verbessernd, setzte er in herrischem Tone hinzu, der durch die Gabe eines Goldstückes sanktioniert wurde: »Sie sollen auch gut belohnt werden!«

Noiroud berichtete abermals bis in alle Einzelheiten, was er über Frau von Rênals Zustand gehört hatte, nur verheimlichte er, daß Jungfer Elise bei ihm gewesen war.

Eine ordinärere Knechtsnatur gab es nicht so leicht. Einen Moment hatte Julian den Gedanken: Der Prolet hat keine drei- bis vierhundert Franken Jahreseinkommen. Und viel benutzt ist das Gefängnis nicht ... Wenn ich ihm zehntausend Franken zusichere, brennt er mit mir nach der Schweiz durch ... Das einzig Schwierige dabei wäre, ihn zu überzeugen, daß ich mein Versprechen auch halte...«

Aber die Vorstellung, mit dem Kerl lange reden zu müssen, war ihm widerlich. Er dachte an etwas andres.

Am Abend war es bereits zu spät. Um Mitternacht wurde er durch einen Postwagen abgeholt. Die Gendarmen, die ihn geleiteten, benahmen sich zu Julians voller Zufriedenheit.

Als er frühmorgens im Stadtgefängnis von Besançon ankam, wurde er zu seiner Freude im obersten Stock eines gotischen Turmes untergebracht. Julian schätzte die Bauweise des vierzehnten Jahrhunderts und bewunderte ihre Anmut und Leichtigkeit. Durch eine Scharte hatte er über einen tiefen Hof hinweg die wunderbarste Fernsicht.

Am nächsten Vormittag fand ein Verhör statt. Alsdann ließ man ihn ein paar Tage unbehelligt. Sein Gemütszustand war ruhig. Die Lage dünkte ihn ureinfach: »Ich habe töten wollen: also werde ich getötet!«

Weiter gingen seine Gedanken nicht. Die Hauptverhandlung, das Erscheinen vor der Öffentlichkeit, die Verteidigung, das Urteil, alles das erachtete er für belanglose Belästigungen und ärgerliche Formalitäten, an die vorher zu denken keinen Sinn hatte. Ebensowenig beschäftigte ihn der Augenblick der Hinrichtung. »Das hat Zeit bis nach meiner Verurteilung!« sagte er sich. Das Leben kam ihm durchaus nicht langweilig vor. Er sah alles wie mit neuen Augen an. Sein Ehrgeiz war dahin. Selten nur dachte er an Mathilde. Seine Reue nahm ihn ganz in Anspruch. Sie führte ihm häufig die Gestalt der Frau von Rênal vor das Auge, besonders in der Stille der Nächte, die in dem hochgelegenen Turmzimmer nur durch den Schrei eines Adlers unterbrochen wurde.

Er dankte dem Himmel dafür, daß er sie nicht zu Tode getroffen hatte. »Eins ist wunderbar«, dachte er bei sich. »Erst glaubte ich, mein künftiges Glück sei durch den Brief an den Marquis auf immerdar zerstört. Und jetzt, nach kaum vierzehn Tagen, denke ich schon nicht mehr an das, was mir damals nicht aus dem Sinn kam! Wenn ich noch einen Wunsch haben dürfte, so wäre es der: mit zwei-, dreitausend Franken im Jahre still in einem Gebirgsdorfe wie Vergy zu leben. Damals war ich glücklich! Ach, ich kannte mein Glück nicht!«

In andern Augenblicken sprang er plötzlich vom Stuhl auf. »Wenn ich Frau von Rênal tödlich getroffen hätte, so hätte ich Selbstmord begangen. Ich muß diese Überzeugung ganz fest halten. Sonst müßte ich mich selber verachten.«

»Selbstmord! Wäre er nicht auch so angebracht? Das will wohl überlegt sein. Was hat es für Zweck, erst vor die Richter zu treten, diese Paragraphenknecht, die auch den besten Bürger an den Galgen bringen, wenn sie einen Orden dafür bekommen! Ich kann mich ihrer Macht entziehen, den Schikanen ihrer miserablen Juristensprache, die man in den Amtsblättern forensische Beredsamkeit nennt...«

»Fünf bis sechs Wochen länger leben oder nicht?« sagte er sich ein paar Tage später. »Beim Teufel, ich bleibe leben! Napoleon hat auch weitergelebt. Übrigens ist mein Dasein angenehm. Ich habe einen friedsamen Wohnort. Langeweile habe ich auch nicht.«

Er lachte und schrieb ein paar Bücher auf, die ihm in Paris besorgt werden sollten.


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