Stendhal
Aphorismen aus Stendhal
Stendhal

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Ueber Theater.

Eines Tages sagte Corvifart, des Kaisers Leibarzt, zu Talma, der nach Malmaison gekommen war, um sich vor seiner Abreise zu einer Tournee im Süden zu verabschieden: – Könnten Sie nicht irgend einen Melodramenschauspieler auftreiben, der wie Sie schwarze Haare hätte und kurzsichtig wäre? Er müßte noch außerdem etwas Aehnlichkeit mit den schlechten Bildern besitzen, die man auf den Boulevards von Ihnen feil bietet.

– Und was sollte ich mit ihm thun? sagte Talma, erstaunt über eine so lange Frage.

– Sie schickten ihn an Ihrer Statt in die Provinz, und er würde mehr Erfolg haben als Sie.

* * *

Das größte tragische Vergnügen, das ich von meiner Mailänder Zeit im Theater empfunden habe, verdankte ich Mouvel, den ich noch in der Rolle des Augustus in Cinna gesehen habe. Die übertriebene Geste Talma's und seine geschraubte Stimme streiften in meinem Gefühl bereits an die Komik und hinderten mich, diesen großen Schauspieler zu genießen. Lange nach Mouvel habe ich Kean in London gesehen, in Othello und Richard III. Ich glaubte damals im Theater nie lebhafter empfinden zu können. Aber die schönste Tragödie Shakespeare's macht auf mich nicht halb so viel Wirkung wie ein Ballet von Vigano. Das ist ein genialer Mann. Leider wird er seine Kunst mit sich fort nehmen. In Frankreich kennt man überhaupt nichts ähnliches, und es wäre verwegen, eine Idee davon geben zu wollen; man würde sich immer etwas im Genre von Gardel vorstellen.

* * *

Neapel. – Benefiz zu Gunsten Duport's. Er tanzt zum letzten mal, das ist ein Ereignis für Neapel.

Duport ist eine alte Bewunderung, der ich treu geblieben bin. Er macht mir Spaß wie eine junge Katze: ich könnte ihn Stunden und Stunden tanzen sehen.

Heute Abend hielt das Publikum mit Mühe seine Klatschlust zurück. Der König selber gab das Beispiel. Ich hörte bis in meine Loge Seiner Majestät Stimme. Das Entzücken steigerte sich bis zur Wut und dauerte drei Viertelstunden.

Duport hat noch die ganze Leichtigkeit, die wir zu Paris im Figaro an ihm bewundert haben. Niemals fühlt man die Anstrengung, nach und nach wird sein Tanz lebhafter, und mit dem Ueberschwang und der äußersten Trunkenheit der Leidenschaft hört er auf. Er besitzt die ganze Stufenleiter der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit. Ich habe nie ein Aehnliches beobachtet. Vestris, Taglioni, wie überhaupt die gewöhnlichen Tänzer, vermögen erstens nicht die Anstrengung zu verbergen; zweitens hat ihr Tanz keine Steigerung. Und so kommen sie bei weitem nicht jener sinnlichen Lust nahe, die der Kunst oberster Zweck ist.

Die Frauen tanzen besser als die Männer.

Bewunderung und sinnliche Lust sind fast die einzige Wirkung dieser engbegrenzten Kunst. Durch den Reichtum der Dekorationen und die Neuheit der Gruppen soll das Auge bezaubert und die Seele in einen Zustand versetzt werden, in dem sie die Leidenschaften, die der Tanz ausdrückt, nachzufühlen vermag.

Den Kontrast der beiden Schulen – der italienischen und französischen – habe ich wohl bemerkt. Die Italiener nehmen die Ueberlegenheit der unsrigen ohne Schwierigkeit an, aber sie sind, ohne es zu ahnen, der Vollkommenheit der ihrigen viel zugänglicher. Duport kann heute Abend zufrieden sein: man hat ihm reichlich Beifall gespendet. Aber die wirkliche Begeisterung hat doch der Marianne Conti gegolten. Ich hatte einen wohlerzogenen Franzosen neben mir, der, von Leidenschaft hingerissen, sogar das Wort an mich richtete. Quelle indécence! sagte er alle Minuten.

Die Indezenz ist fast nur eine Conventionssache. Und der Tanz ist fast ausschließlich auf eine Stufe der Wollust gegründet, die man in Italien bewundert und die unsre Anschauungen verletzt. Mitten in den lebhaftesten Pas hat der Italiener nicht die kleinste Empfindung der Indezenz. Er hat vor der Vollendung im Tanz den gleichen reinen Kunst-Genuß, wie wir vor den schönen Versen des Cinna . . .

Was in Paris liebenswürdig ist, ist in Genf unpassend: das hängt von dem Grade der Prüderie ab, die der Ortsgeistliche einflößt. Die Jesuiten sind den schönen Künsten günstiger als die Methodisten.

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Wo ist das Ideal des Tanzes? Bis jetzt giebt es keines. Diese Kunst ist zu abhängig vom Einfluß des Klimas und unsrer körperlichen Organisation. Das Ideal würde alle hundert Meilen wechseln müssen.

Die französische Schule hat nur die Vollkommenheit der Technik.

Den großen Mann dieser Kunst besitzt Neapel. Aber man verachtet ihn dort. Vigano gab gli Zingari. Die Neapolitaner meinten, er wollte sich über sie lustig machen. Dieses Ballet hat eine komische Wahrheit enthüllt, von der kein Mensch eine Ahnung hatte: nämlich, daß die Nationalsitten Neapels ganz genau die der Zigeuner sind. (Siehe die Novellen des Cervantes.) So belehrte Vigano die Gesetzgeber. Solchen Einfluß hat die Kunst. Und es ist wahrlich ein schöner Erfolg, eine Kunst, die dem Ausdruck so widerstrebt, gezwungen zu haben, nicht nur die Leidenschaften zu malen und zwar vortrefflich zu malen, sondern sogar die Sitten darzustellen, also nicht vorübergehende Zustände der Seele, sondern auch ihre stehenden Gewohnheiten, das Glück zu suchen.

Die Geschichte dieses Ballets war mir ein Licht und hat mich auf den richtigen Weg gebracht, dieses Land zu studieren.

Vigano hat die Ausdrucksfähigkeit seiner Kunst in jeder Richtung gesteigert. Vom Vergnügen der Neuheit hingerissen, schwamm die Seele während fünf Viertelstunden in Verzückungen; und obgleich man diese, aus Furcht lächerlich zu werden, nicht beschreiben kann, erinnert man sich ihrer noch nach Jahren. Es ist freilich notwendig, daß die mit den Erinnerungen des spanischen Theaters und der Castillianer Novellen erfüllte Phantasie des Zuschauers selbst alle Situationen entwickele; es ist auch notwendig, daß sie der Entwickelungen, die das Wort giebt, müde sei. Von der Musik bewegt, nimmt jede Phantasie ihren Flug und läßt diese Leute, die nie reden, auf ihre Weise sprechen. So bekommt das Ballet nach Vigano ein Tempo, wogegen Shakespeare lahm ist.

Und diese eigentümliche Kunstgattung wird vielleicht verloren gehen. Sie hatte ihre schönste Entwickelung in Mailand, in den glücklichen Tagen des Königreichs Italien. Es braucht dazu großer Mittel, und das arme Scala-Theater hat vielleicht nicht zwei oder drei Jahre zu leben. Der dortige Despot sucht nicht, wie Lorenzo Medici, die Ketten und die Dienstbarkeit der Geister durch Kunstgenüsse zu maskieren. Die Frömmigkeit hat die Spiele unterdrücken lassen, deren Einkünfte die Bühne am Leben erhielten.

Vielleicht wird sogar die Erinnerung an diese Kunst gänzlich verloren gehen und nur der Name zurückbleiben. Da Paris nie etwas davon gewußt hat, hat auch Europa sie nicht gekannt.

Ich habe nur drei oder vier Ballette von Vigano gesehen. Er hat eine Einbildungskraft in der Art Shakespeare's, von dem er vielleicht nicht einmal den Namen weiß: es ist ein eben so großer Maler wie Musiker.

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Welche wunderliche Thatsache, die d'Alembert und Diderot sehr in Erstaunen gesetzt hätte: es ist ein Despot nötig, um Freiheit in der Komödie zu haben, wie es einen Hof braucht, um recht komische und recht deutliche Lächerlichkeiten zu besitzen. Mit andern Worten: sowie es nicht mehr für jeden Stand ein vom König vorgesetztes Vorbild giebt, dem alle Welt folgen will, kann man dem Publikum keine Leute mehr zeigen, die, im besten Glauben dem guten Ton zu folgen, sich durch dessen Verfehlen lächerlich machen.

Zu Molière's Zeit wagten es die Bürger, dem Lächerlichen zu trotzen. Louis XIV. verlangte, daß niemand ohne seine Erlaubniß nachdachte, und Molière war ihm nützlich. Er hat den Bürgern die Schüchternheit eingepfropft; aber seit sie die Macht des Lächerlichen übertreiben, hat die Komödie keine Freiheit mehr.

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Ich mag eine Shakespeare'sche Tragödie lieber lesen, als daß ich sie dargestellt sehe. Wer zu lesen versteht, für den verliert das Theater an Interesse. Man sieht es in Paris: Die großen und gerechten Erfolge finden sich im Ambigu-Comique, an der Porte St. Martin, in den Räumen, die von Zuschauern angefüllt sind, die nicht lesen können.

Den Leuten, die lesen, ersetzen die Romane und Zeitungen zur Hälfte das Theater. Dieses war das Element der Gesellschaft vor sechzig Jahren, zur Zeit Collé's, Diderot's, Bachaumont's (s. ihre Memoiren). Seitdem vollzieht sich eine große Veränderung aus mehreren Ursachen. Wenn man nur mit Phantasie begabt ist, so zieht man es vor, Andromaque zu lesen und dazu einen Moment zu wählen, wo der Geist sich seiner Herrschaft über die ihm anhaftende Materie bewußt ist.

Ich glaube, daß der dramatischen Kunst nur noch die Komödie, die lachen macht, übrig bleiben wird. Das kommt daher, daß das Lachen eben aus dem Unvorhergesehenen erfolgt und aus der jähen Vergleichung, die ich zwischen mir und einem andern ziehe.

Und daß meine Freude durch die des Nachbars vervierfacht wird.

In einer bis oben gefüllten Halle und einem einmal elektrisierten Publikum erneuern die Lazzi eines beliebten Schauspielers das Lachen in zwanzigfach so hohem Grad, als der wirklich komische Gehalt des Stückes bedingt. Regnard's Komödien muß man also spielen sehen und nicht lesen.

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A cette exception près le théâtre s'en va.

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Die großen Theater sind ein Mißbrauch der Civilisation und nicht ihre Vollendung. Man muß dort allen Nüancen Gewalt anthun, und so hört denn jede Nuance auf.

 


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