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XIV.

Nun waren die Glocken verklungen, für immer.

Ein zitternder Ton wohnte am andern Morgen im ganzen Hause.

Leonore schaffte seit den frühen Morgenstunden emsig in der Küche. Sie war krankhaft hungrig nach Arbeit. Besonders geräuschvolle Thätigkeiten, das Anlegen der Kohle, das plärrende Aufwaschen des Geschirrs, das Knirschen der sich drehenden Kaffeemühle, thaten ihr wohl. Alle Gegenstände ergriff sie hastig und schüttelte sie wie werfend aus der Hand. Plötzlich, mitten in der Küche stehend, fuhr sie zusammen:

»Seid amål stelle, ihr Mädla! – nä, horcht 'och!«

»Je'es, wie reda S'n?«

»Wie dn?«

»Nu, wie mir ...«

»Ach, Anna, dås is ålls, alles eegal. – Åber härt ihrsch nie? – Dr Wend!«

»Ach nu, 's wird ebenste Frihjåhr, Frau; das is Frihjåhrswind; hör'n Se nie, wie a huch gieht?« erklärte die Amme sehr überlegen.

Erschrocken sah Leonore auf sie, senkte aber sofort verwirrt den Blick, schüttelte verneinend den Kopf, murmelte etwas und verließ schnell die Küche. Auf den Zehen schlich sie nach der Kinderstube und lehnte ihr Ohr an die Wand nach dem Schlafzimmer zu. Sie hörte nur sehr undeutlich den Schritt ihres Mannes. Zusammengekauert verharrte sie lange. Die unbequeme Stellung verursachte ihr im Rücken und in den Beinen Schmerzen, die sich fortwährend steigerten. Aber sie stand nicht auf.

Wenn ihr das Rückgrat bräche, daß sie qualvoll stürbe ...

Glücklich lächelte sie darüber und krümmte sich noch mehr zusammen, so wie ein Bündel verbrauchter Kleider am Boden liegt.

Allein sie mußte sich wieder erheben.

Langsam, niedergeschlagen ging sie nach der Küche zurück, an der Uhr vorüber, die noch nicht wieder in Gang gesetzt war.

Leonore erschrak, als sie bemerkte, daß die Zeiger 15 Minuten nach sieben wiesen.

Aber sie leugnete vor sich, zu wissen, warum sie sich entsetze.

Vorsichtig, daß niemand es höre, zog sie die Uhr auf und stellte sie. Als der Perpendikel wieder sein ewig gleiches Ticken in gemächlichem Schwunge herausstieß, traten ihr die Thränen in die Augen und gebeugt schlich sie davon.

In der Küche kam eine leere Aufmerksamkeit über sie. Mit unwissenden Augen sah sie auf alles in der Runde, riß Anna das Taburett mit dem Geschirr für das Frühstück aus den Händen und trug es mit stoßend-steifen Schritten nach dem Wohnzimmer. Das Mädchen öffnete ihr die Thür. Leonore sah erst in den offenen Raum, in dem ein furchtsames Frühlicht wohnte und aus dem der Weindunst ihr entgegenschlug. Es war ihr, als müsse sie alles hinwerfen und fortlaufen. Ein tauber Zwang aber schob sie mit plumper Hand hinein.

Griebel, der halb angekleidet vor dem Spiegel stand und seinen Hals betrachtete, drehte sich hastig um und eilte mit starken Schritten in das Schlafzimmer.

Leonores furchtsam zitterndem Blick waren die blutigen Male und Streifen am Halse und die vielfarbigen Beulenflecken seines Gesichtes nicht entgangen. Ihr wurde schwarz vor den Augen, und sie bebte am ganzen Leibe.

Dann kam eine blöde, starre Ruhe über sie. Steif am Tische stehend, ihre Lippen zusammengekniffen, mit übergroßen Augen stand sie lange und unbeweglich und betrachtete mit tierisch-blöder Aufmerksamkeit das vor ihr stehende Geschirr, die bauchige Weinflasche, den Ring mit dem roten Stein. »Etze muß ich wieder gehn«, kam es kraftlos über sie. Die Arme fielen ihr schlaff am Leibe nieder. Mit müden Schritten ging sie hinaus.

Eine welke, trostlose Wehmut lag den ganzen Tag auf ihr. An Handgriffen kam sie manchmal zu einem dumpfen Selbstgefühl, das sie nicht schmerzte.

Dann saß sie regungslos, und ihre Augen waren wie gebrochen.

*  *  *

Am andern Tage, vor dem Feste Mariä Verkündigung, das auf einen Sonnabend fiel, ging sie zur Beichte. Sie that es mit der sie nie verlassenden Betäubtheit, in der sich eine Angst rührte, wie ein einziges morsches Blatt in toter, ungeheurer Öde sich surrend auf- und niederwendet.

Sie suchte sich den Beichtstuhl aus, der tief in der dunkelsten Ecke unter dem Chore stand und fiel vor dem Gitter auf die Knie.

Die weiße Hand des Geistlichen schlug das Kreuz; dann neigte er sein Ohr nieder.

Zitternde Erregung kam über Leonore, die ihr bleiches Gesicht fest an die Gitterstäbe preßte und dachte: ›Wenn ich jetzt sterben könnte.‹

Dieser Gedanke gab ihr die anfängliche Leere und Starrheit wieder, daß sie alles vergaß und nur kurze, keuchende Atemzüge ausstieß.

Der Geistliche beugte sich endlich nieder und sah ihr ins Gesicht. Zwei hilflose stiere Augen, von denen eins seelenlos nach der Seite stand, erschütterten ihn.

»Gehn Sie nach Hause, Sie sind krank«, flüsterte er.

»Nicht lossprechen? nicht?« stotterte sie in höchster Todesangst.

»So beichten Sie!«

»... ich ... hab, hab ... meinen Mann erwürgen wollen ... aber meine Seele war eine einzige Wunde ... Herr Pater, haben Sie Gnade ... meine arme Seele ...« murmelte sie wirr mit geschlossenen Zähnen.

Der Geistliche sah ihre Verzweiflung, beugte sich nieder und entließ sie mit einem gütigen Zeichen, denn er kannte sie seit lange.

Dann wankte die Arme hinaus.

*  *  *

Ohne Unterlaß kamen qualvolle, schwere Beängstigungen in sie herüber von farblosen, kalten Trümmern ihrer rettungslos verlorenen Seele, die, ehedem eine märchenhaft unräumliche Welt, ein furchtbarer Orkan in eine trostlose Wüste verwandelt hatte.

Wie ein dürrer, körnerloser Halm wankte davon ihr Bewußtsein und rettete sich in den toten Rhythmus harter Werkeltage.

Aber in ihrer öden Tiefe kauerten unvertreibbar ein ruheloses Zittern, eine augenlose Angst, die sie bei klarem, lautem Sprechen noch schlimmer bedrängten.

Darum verstummte sie mehr und mehr, bis sie nur noch redete mit schwachen, bangen Bewegungen des Kopfes, müden Mienen, mit dem schlaffen Spiel ihrer überlangen Arme.

*  *  *

Zuletzt fand auch Leonore einen Ort, wo sie von ihrem Elend ausruhen konnte.

Mitten in der Trunkenheit der Handgriffe stand eine öde Grenzenlosigkeit in ihr auf und wogende Sucht packte sie, ein Wandertrieb, daß ihre Pulse begehrlich hämmerten. Wenn sie versuchte, diesem blinden Überfall standzuhalten, versagte ihr der Atem, verwirrte peinigende Unruhe das unbeseelte Gleichmaß ihrer Thätigkeit. Sie entglitt sich und wenn ihre Hände sich griffen, war es ihr, als berühre sie einen fremden Leib.

Darum ließ sie alles liegen und begann eine wirre, zwecklose Wanderung durch das weite Haus. Die vielfältigen Verhältnisse, Reflexe, Stimmungen und Töne, durch welche sie hineilte, brachten die Täuschung einer seelischen Auseinandersetzung in ihr hervor, zu welcher sie nicht die Macht des Mutes und der Kraft hatte.

Am Ende ruhte dann der Komplex des Hauses in ihr, wie eine eigenpersönliche Welt. Im Bann fester Pole wandelte der Schlag ihres Herzens.

Die von der Zerstörung ihres Innern aus sich vertrieben, wanderte in blinden Zuckungen aus und fand mit den kümmerlichen Resten ihrer verwüsteten Welt eine Seelenheimat im seelenlosen Hause. Es nahm sie in seine weiten, steinernen Arme und wiegte sie in geheimnisvollen Frieden.

Einst, in den Tagen des Aufgangs ihrer qualvollen Sonne, hatte es das Spiel eines jungen Herzens mit seinem würdigen, mürrischen Grau abgewiesen, wie eines Greises eisstarre Braue das Spiel der Kinder verscheucht. Nun lockte es das Weib zu sich mit leisen, schonenden Lauten, daß es still wurde bei ihm und einen traumlosen Schlummer lernte nach dem Schiffbruch ihres Lebens.

Das Haus wurde ihr Leib, und wenn sie aus seiner Hülle sich entfernte, empfand sie die Qualen eines Kranken, der die Binde von seinen unheilbaren Wunden reißt. Gehetzt eilte sie durch die Gassen. Jeder neugierige Blick war ihr ein unbarmherziger Stich, jedes Lachen ätzendes Gift, jeder Gruß eine Beschuldigung, jede Unterhaltung Folter zu einem Geständnis.

Wenn sie, aufatmend, wieder ins Haus trat, schlürfte sie mit den müden, saugenden Schritten des Gefühls einer friedevollen Selbstbedeutung in sich. Ihr streichendes Gewand löste dann flüsterndes Wehen um sich aus, als wandle unsichtbar ein guter, mächtiger Freund neben ihr hin und säusle beruhigendes Raunen in ihr Herz.

Indessen brechen sich die streitenden Laute der friedlosen Welt draußen an seinem kühlen Stein und erreichen ihr gleichgiltiges Ohr als das Lallen tiefster Unwissenheit.

Aber das Haus wird auch ihre Seele.

Alles, was in ihr ewig versunken ist, weil aus ihrer Seele, dieser Kristallisation von Splittern, das Blut jeder schimmernden Kraft von unheilbaren Wunden klaffend hinausgeschleudert wurde, alles Immerverlorene quillt aus dem Hause in sie. Es ist hoch, starr und kalt wie ihr Inneres. Viele weite, unwohnliche, verlassene Räume sind in ihr, vollbepackt wie die Stuben des Hauses mit nun nutzlosem Gerät, und der Moderduft einer verlorenen Zeit lagert um alles.

Formlose Schatten wandeln durch sie; eisige Beängstigung kriecht an der Kahlheit hoher Wände empor und fällt knisternd zu Boden.

Einst ist irgend etwas in ihnen vorgegangen, Heiteres, in suchender Sehnsucht, klopfenden Herzens, verzückte Träume, fessellos Wildes; wer weiß es heute noch?

Als Staub liegt nun all jenes Leben auf den vermorschenden Zeugen dieser zertrümmerten Zeit. Niemand rührt ihn, aus Scheu vor den Geistern der Vergangenheit, auf, aus einer Scheu, welche vielleicht die letzte zu Tode getroffene Sehnsucht ist.

So ruht Leonore in der Sattheit dieser großen Ruhe. Ihr ist, als wandle Fernes, Niegesehenes noch einmal in ihr, wenn lange, unbestimmte Laute über die breiten Stiegen wehen.

Der Donner, den aufspringender Sturm aus den dicken Mauern schlägt, ergreift sie wie ein erschütterndes Ereignis. Der tanzende Sonnenstaub der Bodenkammern ist ihr Traum; in den Kisten und Kasten wohnt die Geschichte ihrer Jugend. Mit dem krachenden Stoß der Thorflügel schrickt sie auf und verfällt in das gleichmäßige Geräusch tiefeinsamen Seins, das eintönig mummelnd alle Winkel des Hauses füllt und durch alle Ritzen und Spalten ein- und ausgleitet.

Nur der Löwenkopf am Ende der Stiege schreit mit weitem Rachen in stummer, verzerrter Wut, obwohl die Kruste des hohen Alters in den Winkeln seiner stieren Augen hockt, wie in ihren öden Tiefen das ruhelose Zittern und die augenlose Angst kauern und sie nie verlassen.

Dieses verborgene Leben pulste in ihr; aber niemand konnte es verstehen.

Es sog sie aus. Ihre Fülle verfiel; die Wogen des feinen Busens vertrockneten; die Haut des mageren Gesichtes ward papierweiß; ihr Haar bekam eine spröde, graublonde Farbe; der leise Gang ihrer weichblauen Augen war längst verstummt.

Mitten auf den Wellen lachendster Menschenzeit welk und morsch, war es, als sei sie ohne Jugend auf die Welt gekommen.

*  *  *

Längst lebte sie mit ihrem Manne wieder das alltägliche Leben.

Nachdem sie scheu einander ausgewichen waren, »hatte es sich von selbst gemacht«. Sie wußten nicht, »wie sie wieder zusammengekommen waren«.

Aber sie redeten miteinander über eine Strecke hinweg, die keines überschritt.

Sie verkehrten miteinander wie Freunde, die ein gemeinsam begangenes Verbrechen vor sich verheimlichen.

*  *  *

Zuzeiten hatte Leonore Rückfälle.

Als sie einst, einen Topf voll Kartoffeln in der Hand, aus dem Keller heraufkam, war von irgend jemand das Thor geöffnet und nicht wieder geschlossen worden. Goldenes Sonnenlicht strömte jubelnd herein und tauchte sie in schimmerndes Glück.

Da ließ Leonore bestürzt den Topf fallen und indem ihr Herz schmerzend zu schlagen begann, als wolle es sich von einer Kette losreißen, floh sie in das Dämmern des Flures.

Eine Woche lang war sie sehr unruhig und verfiel oft ohne Grund in ein krampfhaftes Schluchzen.

*  *  *

Tönte Vogelgesang aus dem Garten in die Küche, erbleichte sie und schloß eilig das Fenster.

*  *  *

Nach einem Mittagessen saßen sie still und kauten gemächlich die letzten Bissen, als Griebel in eine Erzählung aus ihrer Vergangenheit stolperte. Er sah vor sich nieder, während er sprach.

Ein tiefes Stöhnen schreckte ihn aus seiner lässigen Mitteilsamkeit.

Sein Weib saß da, als atme sie lähmendes Gift: steif und ihre Augen starrten regungslos in die Luft, als sähen sie Gespenster.

Sofort brach er stotternd ab.

Lange saßen sie einander gegenüber und klammerten sich mit stummen Blicken aneinander. So sehen sich Kinder an, wenn in furchtbarer Mitternacht ein ängstliches Geräusch sie zum Bewußtsein bringt. Ihre Haut häufelt sich im Frost der Furcht, und ein eisiger Hauch weht in ihre tiefste Seele. Wenn das Entsetzen sie ermüdet hat, fallen sie vorsichtig um und verkriechen sich in den Schutz des Schlafes.

Leonore und Griebel schlichen nach einer Weile von einander fort und verbargen sich in der Ruhe ihres leeren Alltags.

*  *  *

In einer Vollmondnacht fuhr Leonore aus beginnendem Schlafe auf und rüttelte leidenschaftlich ihren schlürfend-schnarchenden Mann zur Besinnung.

»Wenn' s'och a Jingla wär',« sagte sie nach einer Pause im unverfälschten Dialekt ihres Mutterhauses..

»Nu een Jonga hå'n mr jå. Etze macht' ich mr aus eem Mädla aach nischt,« erwiderte Griebel, dessen Ausdrucksweise sich einst im Dienst um seine Frau der Sprache ihrer Blütezeit genähert hatte, nun aber, da alles vorüber war, die alter Gewohnheit wandelte.

»Åch, du heilger Himmel, sä dås nie. Du versindigst dich å' mir. Ich bete schon Tag un Nacht drem.«

Ihre Stimme erstarb.

Dann hörte man lange nur die kummerschweren Atemzüge der beiden.

»Der muß Geistlich wer'n,« begann endlich Leonore noch furchtsamer.

»I, då muß er een'n kluja Kop hå'n. Wer åber weeß dås?«

»Er muß! – er muß!« stieß es das Weib in höchster Bedrängnis heraus.

»Nu, er muß, wie tomm dås is!«

»Er muß,« wiederholte sie in irrer Dumpfheit.

»Denn wås gelt unse Gebete nåch dem? – Åber, wenn a reenes Kend um uns Gott bitt', das kånn uns verleicht noch derliesa uns zwee arma, arma Menscha.« – – –

*  *  *

Kraftlose Bäume werfen die Früchte vorzeitig ab.

Die Geburt des Kindes trat einen Monat zu früh ein. Aber das erste Mal hatte das Schicksal Leonores verschwiegenes Schluchzen erhört: es war wieder ein Knabe, der die Namen Josephus Arnestus erhielt und trotz voreiliger Ankunft kräftig und gesund war, da er alle brachliegende Kraft des mütterlichen Leibes aufgesogen hatte.

Wie eine leere Schale blieb dieser zurück.

Nach langen Monaten war Leonore so weit gekräftigt, daß man sie auf einen Wagen verpacken und einem benachbarten kleinen Badeorte zuführen konnte, dessen Quellen bei »Frauenleiden Wunder wirkten«.

Griebel, der sie die Treppe hinunterführte, spürte Leonores Widerstand nicht. Er fühlte nur ihre Hand zittern und sah einzelne Thränen langsam aus ihren fast erloschenen Augen sickern.

Als man dem Badeorte schon ganz nahe war und den roten Turm seiner neuerbauten, Kirche über die Baumwipfel hinweg sehen konnte, wies Griebel mit ausgestrecktem Arme nach jener Richtung hin und sagte:

»Siehst de, dat is schon Cudowa!«

Leonore reckte ihren abgemagerten, kleinen Kopf auf dem dünnen Halse wie im Schreck jäh auf. Dann fiel sie hoffnungslos zurück. Während sie von den Stößen des Wagens hin- und hergerückt wurde, murmelten ihre Lippen immerfort dasselbe, erlöschend und stumpf:

»Dat – starb – ich – ge–weiß – ...«

»Nee, dat wirscht de gesund, Lorla; denn fr wås sein denn sonste de Bäder?« antwortete Griebel, der sie endlich verstanden hatte.

Leonore schüttelte mit der letzten Kraft ihrer Abwehr den Kopf und verfiel dann in eine traumähnliche Ohnmacht.

So trug man sie in ihr stilles Zimmer, dessen Fenster nach dem einsamsten Teile des kleinen Parkes zu lagen. –

Gehorsam, wie ein artiges Kind, mit dem ewig gleichen, welken, schluchzenden Lächeln in dem blauweißen Gesicht, erfüllte sie alle Anordnungen des besorgten Arztes, der über die Zähigkeit ihres ausgesogenen Leibes staunte.

Nur eins begriff er nicht. Wenn er warm und glücklich ihr einen baldigen Spaziergang verhieß, dann ward sie bekümmert und sah ihn, durch Thränen um Schonung flehend, an.

Einst war sie besonders kräftig, da sagte sie:

»Ich wer' dås nich aushala, nee, ich weeß gewiß, dås hal' ich nich aus, Herr Dokter.«

»Ach nein, liebe Frau Griebel, die Sonne wirkt Wunder, und die Menschen, die Sie sehn, zerstreuen Sie auch. So was kräftigt.«

»Nein, nein! Eben de Sonne un de Leute ... eben dås ... eben dås ... dås is ... ja eben ...«

Ihre Worte verirrten sich in eine Starrheit, wie sie über Sachen liegt, über Stühlen, Wegesteinen, unbewohnten Häusern.

Der Doktor redete noch dringender auf sie ein, um sie zu überzeugen. Aber sie schien nichts mehr zu verstehen.

Unbeweglich sah sie vor sich nieder.

*  *  *

In einer milden, stillen Morgenfrühe führte sie die Wärterin in den Park.

Die Kapelle spielte eben den Anfang des zweiten Stückes, als sie die breite Allee betraten, die an einem kleinen Teiche endete, der, ins junge Licht feine Nebel träumend, in der grünverdämmernden Weite aufschimmerte.

Zaghaft, mit zu Boden geschlagenen Augen schlich Leonore dahin. Ihre Atemzüge waren tief und unregelmäßig. Immer schwerer lastete ihr Arm auf dem der Wärterin und sie stolperte oft über ihre eigenen Füße.

Etwa hundert Schritt vor ihnen wandelte ein junges Ehepaar. Die Frau in dem hellen Kleide und der roten Seidenblouse eng an ihren Mann geschmiegt, und ihr Köpfchen wiegte sich im Takte der Musik.

Die Wärterin, plump wie eine Futterrübe, machte sie auf die beiden aufmerksam:

»Sahn Se, die hå'ns freilich besser.«

Erschöpft hielt Leonore an und sah empor.

»Dorte, die meen ich,« wiederholte die Wärterin.

In dem Augenblicke schwenkte das Paar herum, und die junge Frau flog mit glücklichem Lachen in die geöffneten Arme des Mannes, der sie unter einem langen Kuß an sich preßte.

Mit einem markerschütternden Schrei brach Leonore zusammen. – –

Sofort entstand der übliche Skandal.

Aus allen Ecken eilten Neugierige herbei und umstanden die Unglückliche, die wie leblos am Boden lag. Jeder half mit lauten Ratschlägen, keiner faßte zu; die Damen wimmerten und klagten. – Die plumpe Futterrübe riß an Leonore herum und ächzte weinerlich immerfort:

»Ja, allene ertrag' ich se doch nie. – Gnädjer Herr, wellden Se nie a so gut sein. – Sehn Se 'och, gnädge Frau, de sterbt åb. – Ja, ich kån nie derfier, ich ertrag se doch nie alleene.«

Endlich erschien ein Dienstmann mit einem Rollstuhl. Die Kranke wurde hineingelehnt und in ihre Wohnung gefahren.

In erregtem Geschwätz zerstreute sich das Publikum und schimpfte über den unverantwortlichen Leichtsinn des Arztes, »diese totkranke Person« herausgelassen zu haben.

Leonore wurde am anderen Tage rücksichtslos nach Hause befördert, damit sie nicht im Bade sterbe.

Aber die tiefen Laute des ernsten Hauses auf der Walkergasse, die kahlen, hohen Räume, die schweren Schatten wirkten Wunder.

Sie wurde noch einmal so kräftig, daß sie in einem Lehnstuhl aufrecht sitzen und an einem Stock sich langsam bewegen konnte.

Die meiste Zeit jedoch saß sie im Lehnstuhl, ließ die Kugeln des Rosenkranzes durch ihre vertrockneten Hände gleiten und bewegte unaufhörlich die dünnen, fahlen Lippen.

Sie betete für ihre Sünden.

Gegen niemand redete sie mehr ein Wort.

Beim Eintritt ihres Mannes regte sie sich nicht.

Nur das Geplauder ihrer alten Mutter brachte manchmal ein Leuchten in ihre eingesunkenen Augen, das aussah wie das Glimmen der zerbrochenen Fensterscheiben eines verfallenen Hauses, auf die müder Mondschein fällt. –

Nach langen, langen Jahren, in einer Herbstnacht, erlosch sie stumm und einsam neben ihrem schlafenden Manne.


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