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IX

1

Jetzt begannen in ihr die Glocken zu läuten, wonach sie sich gesehnt hatte. Aber sie hörte es nicht, denn der Mensch umfaßt nur das klar und innig, was er nicht besitzt.

*  *  *

Sie war schon längst nicht mehr leidend.

Aber wenn du lange im Bett liegst, so ist es, als löse sich dein geheimstes Leben langsam von der Welt um dich los und fließe in dich hinein, einsam und verwaist, wie in müder Resignation. Und die Gegenstände um dich leben weiter, und jeder hinschwingende Tag gibt ihnen einen neuen Zug der Fremdheit. Endlich weißt du gar nicht mehr, wo sie stehen mit ihrem Sein.

Dieses ist der Augenblick, in welchem du die Qual der Unverständlichkeit deines eigenen Lebens drückender empfindest als sonst.

So war es Leonore; eine zähe, schwache Benommenheit ihres Denkvermögens lähmte sie, als wirke ein langer, verschwundener Traum wirr in ihr Wachen hinein. Schwankende Gestaltenreihen dehnten sich in sie fort bis in ihre tiefste Vergangenheit, so daß sie nicht wußte, was Wirklichkeit und Spuck sei.

Sie begriff nicht, warum sie geheiratet habe, wie sie Mutter geworden sei. Ein unbegreiflicher Strudel hatte sie durch das Haus getrieben und endlich in das Bett geworfen. – Darum wich sie nicht von ihrem Lager, in dem zwecklosen Glauben, sie werde schon alles erfahren, irgend woher.

Die kindliche Mitteilsamkeit hatte sie ganz eingebüßt. Sie war von einem überlegenen Mißtrauen erfüllt. Auch ihre Mutter erfuhr nichts von ihrem Zustande.

Wenn die Alte nach Schluß des Geschäftes herüberkam und, neben ihr sitzend, plauderte, lag Leonore still da und horchte ihr scheinbar zu. Aber sie sah doch nur auf das unentwirrbare Rätsel ihres Lebens, das durch die Nähe dieses liebsten Menschen Farben annahm, in denen eine geheimnisvolle Verständnismöglichkeit lag. Dazu klang über ihre versunkene Seele der liebe Tonfall der herben, mütterlichen Stimme und vermehrte so die Täuschung einer klaren Übersicht.

Nachdem sie einmal so, auf der rechten Seite liegend, lange ihrer Erzählung eifrig zugehört zu haben schien, frug sie mit heißem Stoße:

»Wie håst'n du a Våter kennen gelernt?«

»Näha, wie kemmst'n etze auf dås?«

»Je nu ...«

Sie errötete und kehrte sich schnell gegen die Wand.

Die Mutter schwieg beunruhigt eine Weile. Dann aber frug sie mit erkünstelter Sorglosigkeit:

»Hä, Joseph is doch gut zu dir?«

»Ja Griebel?«

»Nä, Joseph, ma sprecht doch Joseph. Griebel is doch zu fremde.«

»Nu – – – ach meintswegen.«

*

In Ausdauer wartete sie auf die Klärung ihres inneren Zustandes. Oft betete sie auch; aber sie kam dadurch nicht mehr in wunschlose, hohe Weiten. Wie sie sich auch zur Aufmerksamkeit mühte, nach einigen Minuten war das Gebet ein leeres Hinsinnen geworden, das sofort jäh und heiß abbrach, wenn sie den Schritt ihres Mannes auf dem Flur hörte. Dann deckte sie sich bis an den Hals zu und verharrte so mit angehaltenem Atem. Eine seltsame Unruhe erfüllte sie, und alles andere war wie ausgelöscht.

Und wenn er dann zu ihr kam, mit seinem schlaffen, langen Schritt, sich bequem auf den Stuhl am Bette niederließ und mit dem unvermeidlichen: »Na, Lorla, wie stehts?« zu reden begann, erlag sie einer blinden Enttäuschung.

Sie lachte dann hart mitten in seine Worte oder drehte sich in leidenschaftlicher Eile gegen die Wand und schwieg. Und darauf jedesmal dieses ewige:

»Ha, Lorla, bist'n noch biese?«

Wie sie das haßte!

Aber wenn ihre Härte ihn traurig gemacht hatte, that es ihr leid darum, und sie wurde gesprächig, um oft plötzlich wieder in ein lustiges Lachen auszubrechen, das gar nicht enden wollte.

»Haha! Joseph, haha, so was!«

Sie kämpfte gegen ihr Lachen, und es peitschte sie dazu, und immer schlug dann ihre Lustigkeit um, ward scharf, beißend, voll Hohn, bis ihr die Thränen in die Augen traten. Mit schütterndem Schluchzen warf sie sich endlich aufs Gesicht und griff mit ihren Händen tief in die Kissen.

»Jessas Maria, Lorla, wås håts n?«

Er glaubte, sie werde ersticken und wollte sie aufreißen. Mit wildem Griff stieß sie seine Hände von ihrem Leibe.

»Rühr mich nich an, weg!«

Dann ging er in tiefem Kummer hinaus und blieb lange horchend an der Thür stehen, um bei der Hand zu sein, wenn ein Fenster klirrte, denn er konnte den Staatsanwalt nicht aus den Gedanken bringen. Aber es blieb immer still.

Leonore kniete wieder im Bett wie immer, die Arme steif aufgestützt. Ihr Auge blitzte und ihr Atem ging heiß und scharf. Es war eine zehrende Wollust in ihr, unter der sie litt. Gar zu gern hätte sie mit ihrem Manne gerungen. Aber er ging wieder fort mit seinen langen, leisen Schritten.

»Hm! – hm!!«

Ihr Kopf sank auf die Brust und lange sah sie mit starrem Auge vor sich hin. Sie bohrte ihr ganzes Wesen in diesen Blick, der sie nach und nach trunken machte, dumpf, schwer.

Dann bettete sie sich wieder hin und lag still unter der undurchdringlichen Last ihres Lebens.

2

Von Ungeduld gepeinigt sprang sie endlich vom Lager, im Morgengrauen und mitten im Tasten nach Gewißheit.

»Es muß ein Ende gemacht wer'n.«

Womit, das wußte sie nicht, und was werden sollte, war ihr ebenso unklar. Sie gehorchte der Entschiedenheit eines Affektes, und das umspannte sie. Als ihre Füße den Boden berührten, war sie sicher.

Sie fühlte sofort ein springendes Bedürfnis, zu gehen und that in Neugier ein paar entschiedene Schritte.

Nichts behinderte sie dabei. Das Hemd streifte nur schwebend die Haut ihrer Beine, leise, wie ein feines, neckisches Kitzeln und sie machte darum noch ein paar Schritte. Dabei kam ihr ein unbezwingliches Gefühl überlegener Freiheit, eine Lust, die sie verführte, lange, weiche Bewegungen auszuführen, als ob jemand in der Nähe sei, der, verborgen, sie belausche.

Sie bog sich auf die linke Seite; dann schnellte sie ihren Leib in entgegengesetzter Richtung empor, hob sich auf die Zehen, rundete beide Arme über ihrem Haupte, ließ den Oberkörper in Rucken vorgleiten, schüttelte, wie von der Hast eines Griffes erschreckt, in harter Ablehnung die Woge ihres blonden Haares, wich mit abwehrend vorgestreckten Armen zurück und stand, einem Weichenden enttäuscht nachstarrend, eine Weile so – gestrafft, mit stockenden Pulsen und aussetzendem Herzschlag. – Dann, mit prickelnd feinen Zuckungen einsetzend, begann vor dem unsichtbaren Zuschauer das Spiel von neuem. Es war ein schreitender Tanz, ein stummer Lockruf und wie das Blut schneller, heißer durch ihren Leib rann, ward die Vorstellung eines Belauschenden zwingender, schloß sich der Kontakt zwischen ihr und dem geheimnisvollen Wesen unmittelbarer.

Das erhitzte sie noch mehr, und schon begann sie leise zu summen und setzte während des Ankleidens den Verkehr mit dem Unbekannten fort.

Durch einen Zwischenzustand hindurch sah sie ihn. Er stand weit, dort, wo in uns die Möglichkeit der Dimension beginnt. Seine Gestalt wuchs aus den einfachsten Regungen der Räumlichkeit, aus Linien, die in allem wiederkehren, so einfach, daß sie ihn überall sah, daß er aus allem blickte. Im Flug, auf den Wellen ihrer leichten Bewegungen, glitt sie vor ihm hin.

Durch die Dämmerung war sie ihm näher, die Undeutlichkeit machte ihn körperlicher. In der zunehmenden Helle zog er sich, immer schemenhafter, zurück. Nur hin und wieder glomm sein Bild auf, zuletzt mit dem zuckend verebbenden Spiel einfacher Linien. Ein weicher, schöner Schimmer an den Grenzen ihrer Seele starrte dem Hinschwindenden bange nach. Dann versank auch dieses, wie das tote Licht, das in durchsichtigen, trockenen Halmen wohnt. Ihr war dabei, als ob sie abblühe, einsinke, erkalte. Die Bewegungen ihres Werbens wurden müder, nüchterner, schwerer.

Nun flog der erste scharfe Strahl über den Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses in die Stube.

Erschreckt fuhr sie empor und stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf:

»Jesses, so eine Albernheit! Gut, daß's niemand gesehen hat.«

Ein brummender Laut des Behagens erscholl von dem Bette ihres Mannes her und unterbrach ihren Selbstvorwurf, daß sie betroffen herumfuhr.

Aber Griebel wälzte seinen fetten Leib nur auf die andere Seite. Dann begann er wieder seine belegten, gleichmäßigen Atemzüge. Die ausströmende Luft blähte jedesmal seine Lippen ein wenig, daß die geraden Haare des harten Schnurrbartes sich bürstenartig aufrichteten.

Wie sie auf ihn hinsah, stieg ein scharfer Ärger in ihr auf, etwas wie Mißachtung. Und als Gegensatz woben die Maße ihrer feinsten Fähigkeiten ein Antlitz mit anderen Zügen um sein Gesicht, in schemenhafter Weite und nur erreichbar den Augen ihrer verborgensten Süchte. Aber die verhauchenden Linien seiner Umrisse wurden schärfer und das Bild, das noch eben fließend über dem Haupte Griebels geschwebt hatte, sank über dasselbe hin und ward körperlich: ein bleiches Antlitz mit einem feinen, schmalen Munde. Eine klingende Herbheit lag über ihm, die durch die hohe, weiße Stirn eine stille Weihe erhielt. Über den großen, tiefliegenden Augenäpfeln ruhten weiße Lider mit tausenden tiefblauer Äderchen. Ein ruheloses Prickeln und Zittern lief über ihre feine Haut, daß die langen schwarzen Wimpern fortwährend leise bebten.

Plötzlich gähnte der Tuchmacher laut wie ein Posaunenstoß und hieb im Schlaf mit der flachen rechten Hand auf die Decke.

Leonore schrak auf, daß es ihr kalt über den Rücken lief. Das fremde Bild war fort, und Griebels plumpes, gutes Gesicht mit den feisten, langen Bakken, den versteckten Augen und dem öligen Teint lag regelmäßig prustend in den zerwühlten Kissen.

»Da liegt er, hm, er!! ... und schläft, haha!« Mit einem Ruck riß sie sich los und glitt, herrisch aufgerichtet, eine bittere Kühle empfindend, an ihm vorüber zur Thür hinaus.

Allmählich kam der Schwung des Werbetanzes wieder über sie und brachte ihr die tiefinnerliche Sättigung eines Gebetes. Stark gemacht ging sie einher, wie nach einer rätselhaften Rechtsprechung ihres Daseins.

*  *  *

3

In der Küche dehnt sich die Magd, halbangezogen, herum. Als Leonore rasch hereintritt, fährt sie auf und starrt eine Weile verwundert nach ihr hin. Dann verfällt sie gleichgiltig in ihren alten Trödel.

»Wann denkst de denn, daß mr frihsticken, was?« fragt Leonore gereizt.

»Sie?«

»Warum ich?«

»Nu ... åch Maria, haha!«

Und sie dreht sich höhnisch lachend gegen die Wand.

»Ich verbitte mir das, verstehst de, Anna! – Und nu de Hände gerihrt und a wing dalli. Der Herr wird gleich aufstehn.«

Sie verließ die Küche und sah, ob ihr Mann schon auf sei.

Er stand am Waschtisch und wandte seinen großen Kopf mit den verwirrten Haaren herum. Als die Thür aufging, hörte er auf zu sprudeln.

»Na, auch aus den Federn, Langschläfer?«

Damit verschwand sie wieder.

»Lorla! – Du, Lorla! – Of een'n Schlag ...«

Er lief zur Thür und rief ihren Namen noch einmal den Flur hin; umsonst.

»Was is nu dås wieder?« und er hörte im Abtrocknen seines Gesichtes auf.

»Då kriecht se raus, ei dr Nacht noch, wirtschaft't im Hause rum, gieht wie ein Gevattala –de Thirn wummsa blos aso – un gestern da schrier se noch wie ma sie ågrif – hmhm! –«

Nachdenklich schüttelte er mit dem Kopfe und schlug das feuchte Handtuch einmal über die Lehne eines Stuhles.

»– – ob dås auch de Nerven sein – denn då scheint mirs wahrhaftig; ma weeß nich, ob ees gesund åber krank is – – na, s werd sich jå zeiga – ich hå s jå zum aushala –«

»Früh–stük–ken!« singt ihre Stimme von draußen herein.

»Nun da, da habn mirse schon wieder!«

Flink ist er fertig. Vor dem Hinausgehen bleibt er nach seiner Gewohnheit an der Thür noch einmal stehen, tritt einige Mal eilig mit den Stiefeln und schiebt sich dabei die Hosen mit den Händen noch mehr hinunter. Dann richtet er sich langsam, mit ersichtlicher Anstrengung auf:

» Haach – Nu da, da!«

Als er in das Wohnzimmer tritt, findet er den Tisch schon gedeckt. Alles ist sauber und blank. Eine still-lachende Behaglichkeit schimmert über allem.

Seine Frau steht neben dem gedeckten Tisch und schiebt eben mit der Linken den Kinderwagen leise hin, während sie mit der Rechten das Messer neben einer Tasse zurechtlegt.

»Ach, scheen gudn Morjen!«

Leonore nickt nur, und in ihr Gesicht steigt eine leise Röte. Den Kuß hat sich Joseph schon lange abgewöhnt. »Dås Gelutsche påßt sich fr tomma Jonga.«

Aber seltsam, sein Weib verlangt heute danach. Und wie sie beiseite tritt, damit er nach dem schlafenden Jungen sehen kann, muß sie daran denken, daß man zu Hause sich morgens immer mit einem Kusse begrüßt habe, »und das war bloß ihre Mutter«. Als er sich wieder aufrichtet, sieht sie ihn darum unwillkürlich fragend an.

Er versteht sie aber nicht und beginnt mit gutem Lächeln:

»Na, Lorla ...«

»... wie geht drsch n? – haha!« vollendet sie deswegen höhnisch.

»Nu, ha ...«

»... bis och niet biese!« ebenso.

Verdutzt sieht er sie an.

»Die is noch krank,« denkt er und begiebt sich an seinen Platz.

Sie setzt sich ihm gegenüber, reicht ihm Zucker, Milch und Semmel und spricht dabei:

»Sieh'ch, ich kann dich schon ganz gut auswendig.« Dabei lacht sie klingend, wobei ihre feinen Nasenwände zittern.

»Håst'n noch a bessla viel Hitze,« frägt er nach einer Pause mit unterdrückter Besorgtheit.

»Ach, nimm dr Semmel und stopp dr den Mund,« erwidert sie lachend.

Diese ihm unerklärliche Lustigkeit macht ihn immer bekümmerter.

Plötzlich hielt er im Essen inne:

»Nu, du wårscht åber doch krank?«

»Da soll man nich krank wer'n.«

»Wie meenst'n dås?«

»Ein aler Bär bist de!!«

»Haha!« Eine tolle Heiterkeit kam über ihn und er trommelte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den Tisch. – »Haha ... då ... då – ... sä ... mr ... blos ... haha ... warum denn ...« vor Lachen sprach er ruckweise, brach aber jäh ab, als er auf Leonore sah.

Sie saß starr aufrecht, bleich, und die Züge ihres feinen Gesichtes waren schneidend scharf.

Er fürchtete sich plötzlich, gelacht zu haben, raffte sich aber doch auf und that schüchtern noch einmal die Frage:

»Warum denn a Bär, hä?«

»Weil du – hm – weil du in alles, aber auch in alles aso – so – so neipatscht.«

Und als sie das in steigender Erregung hinausgeschleudert hatte, verhielt es ihr den Atem. Ein Ducken kam über sie, eine Furcht vor einem jähen Sprung. Und in dieser Furcht empfand Leonore eine merkwürdige strotzende Kraftfülle.

Aber es geschah nichts. Griebel saß eine Weile betreten da. Dann lenkte er ein:

»Nu bis och nie biese, Lorla!«

Sie empfing einen entehrenden Rutenstreich und beklommen und schwer ging ihr Atem.

Still wurde das Frühstück vollendet.

Währenddessen erlag Leonore wieder ihrer Weichheit, und als Griebel Miene machte aufzustehen, eilte sie hin und griff nach seinem Überzieher.

Indem sie das Kleidungsstück .von dem Ständer nahm, trat ihr Mann ganz nahe an sie heran: »Sieh'ch ich wußt's, Lorla, du bist doch gut.« Sein warmer Atem streifte ihre Wange.

Plötzlich hatte sie das körperliche Gefühl, er greife ihr unter die Arme, leicht neckend und doch mit Fingern, deren Zittern ein heißes Prickeln über ihre Haut rinnen ließ.

Mit einem Schrei drehte sie sich um:

»Aber Joseph, was machst du denn!?«

»Nu gar, reen gar nischt. Du siehst's jå, ich stieh blos då. Warum schreiste denn?«

Wahrhaftig, er stand da und kraute mit den Fingern der rechten Hand gemütlich seine feisten, langen Backen.

»Nu ja. Da stehste da, wie ein Teemannla! – Da, nimm!« erwiderte sie voll Verachtung, warf den Überzieher in seine Arme und ging erregt hinaus.

»Wußt ichs doch, dåß dås bloß Krankheet is,« sann Griebel hinter ihr her, beteuerte es sich außerdem mit einem Kopfnicken, sah noch einmal nach dem Knaben und verließ das Zimmer ...

»...åber ees wundert mich: daß se nie schlecht aussieht, wenn's auch noch aso sehr mit'r wirtschaft't. Nee, s Gegenteel, se sieht gut aus, mecht ma sprecha – unberufa.«

Er war vor die Hausthür getreten, hatte die rechte Hand über die Augen gelegt und sah zum Himmel empor. Dann ging er eigentümlich schnell in die Mitte der Gasse, warf einen forschenden Blick auf die Fenster seines Wohnzimmers und schritt beruhigt seines Weges. Unterwegs kehrte er in dem Laden seiner Schwiegermutter ein:

»Guda Morgen, Mutter!«

»Scheen guda Morgen, lieber Herr Schwiegersohn! – Na, was macht de Lordl?«

»Deswegen komm ich eben her,« und er erzählte alles. »De Krankheet håt sich jetze bei n'r gedreht. Jetze hat sie de heeßa Nerven. Dås låß ich mir nie nahma. Wenn de zum Beispiel zu n'r sprechst: Lorla, dås is eene Semmel, då werd se steif, macht ronde, grußa Aja, wart' 'n Weile un schreit drnoch: då mecht ma krank wer'n. Sieh'ch dir se ån, wie se aussieht. Gieh och månchmål een Schlag nieber. Ma weeß doch nie. Vorgesehn is immer besser wie nåchgedåcht.«

*  *  *

4

In den schönsten Frühlingstagen verwandelt sich die lachende Klarheit des jungen Lichtes ohne erkennbare Veranlassung plötzlich in das unreine Quirlen eines schimmernden Luftstaubes. Dann erblickt man die ganze Welt wie durch angelaufene Fensterscheiben: Alles sieht weicher, müder aus, eine ganz leise Regung der Trauer liegt auf allem, und die Stimmen des süßen Raumes tönen verhüllt, aus Fernen, zaghafter, so wie das Schluchzen der Menschenrede einsetzt, mit einer leidenschaftlich heißen Schwäche.

Gerade dieser Veränderung erlag auch Leonore, die in der Schlafstube sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte. All ihre Sicherheit war zitternd, alle Helle unbestimmt, die Klarheit des Tages ihrer Pflichten gesetzlos geworden. Wie in Wolken eingehüllt saß sie. Der lange, gemessene Schritt ihres Mannes ärgerte sie nicht; er klang in ihrem Ohr noch, als er schon außer Hörweite war und verlor sich dann in dem Summen ihres Selbstempfindens wie ein verhauchendes Klingen. – So saß sie, die Hände im Schoß, und die Finger spielten eilig umeinander.

Von Zeit zu Zeit nickte sie langsam, als wisse sie nun alles, und dabei wurden ihre Augen groß:

»Ja, ja ... das Leben, das Leben ... ich weeß nie ... ja, ja! ...«

Die eintretende Amme störte sie.

»Wo is'n Gustla,« frug sie in ihrer abgehetzten Manier.

»Ich wer bei 'm bleiben. – Geh du in die Küche und hilf dr Anna.«

Und als die Amme kaum hinausgequirlt war, polterte das Dienstmädchen mit der Frage herein:

»Soll ich 'n s ganze Rindfleesch druffsetza?«

»Nein, die Hälfte. Hack's bei der großen Knoche weg. Das andre leg ein zum Sauerbraten.«

Dann war sie wieder allein.

Draußen fegte der Wind durch die Gassen, der unbändige Wind des Herbstes. Er riß den Leuten die Rede von den Lippen und lief lachend damit fort. Die Wimmerlaute lastgepeinigter Räder versetzten ihn in höchstes Entzücken, daß er sich hinter Häuserkanten tanzend drehte und ihnen nachäffte. Er warf mit Blättern und Sand um sich und schrie ungeschlachte Laute in offene Hausthore.

Das große Griebelsche Haus brummte in seinen Lärm und man wußte nicht, ob aus Ärger oder vor Behagen.

»Das geht ja tolle um,« dachte Leonore und erhob sich, um nach dem Knaben zu sehen.

Der aber schlief fest, die kleinen Fäustchen gegen die roten Wangen gedrückt.

Bei dem Anblick empfand sie eine Freude, als lege ein weicher Schleier sich wohlthuend über ihren ganzen Leib.

Sie rückte einen Stuhl zum Wagen und langte sich ihr Strickzeug herbei ... Schlingen auf Schlingen hüpften von der glänzenden Nadel – traumhafte Kreislein, die sich lautlos zu einer unendlichen Kette in ihr spannen: ... es ist ein schöner Hügel in einer gesegneten Weite. Die Wünsche blühen wie stille Blumen. Die Blätter der Bäume regen sich sacht. Das goldene Licht tropft von ihnen und sanfte Bäche trinken es mit glänzenden Augen.

Einmal hörtest du ein Lied hinter dem Hügel. Das ist lange her.

Nach Jahren kommst du wieder und sitzest und lauschest.

Alles ist wie immer.

Nur das Lied fehlt.

Aber du bist nicht traurig; denn es hat doch einmal dir geklungen dort hinten und hängt noch immer stumm, mit seiner unnennbar süßen Geberde in der Luft um dich – über den stillen Blüten – den sachten Bäumen – den glänzenden Augen der sanften Bäche – – – traumhafte Kreislein, die sich zu einer unendlichen Kette in ihr spannen: – – – und der Knabe schlief tief.

*  *  *

Dann kam die Mutter.

Ihre Augen hatten den großen, starren Blick der Sorge.

Leonore erhob sich, ging ihr einen Schritt entgegen, küßte sie still auf die Stirn und lachte froh, so: besorge dich nicht. Dann fiel sie ihr in mädchenhafter Anmut nochmals um den Hals. Diese Umarmung dauerte lange, und ihr stummes Umfangen hatte das Wesen der Offenbarung eines tiefen Geheimnisses.

Plötzlich kam jache Glut über sie, und von ihren Lippen stürzten sich fiebernde Küsse. Dazwischen hauchte die Scham ihres Bekenntnisses: »Mutter! – Mutter! – Liebe, allerliebste Mutter!«

Als sie sich endlich von ihrem Halse losrang, standen ihre glänzenden Augen voll Thränen.

»Nä ha, Lordl!« konnte die Alte endlich hervorbringen.

»Ach Lordl! – Lordl! – Siehst de; aber der spricht halt immer Lor–la!«

»Das is doch egal.«

»Nein, wenn's egal wär, da, da ... wärsch eben egal, da ...«

»Na ja, solche Tommheit! – Aso is! – Was håst de nu heite wieder mit 'm gemacht!?«

»Was denn?«

»Nu hä, verstell dich nie erscht. Er hat ... er is doch ...«

»Er? – er!! – Natürlich. ›Er‹ lauft zur Schwiegermutter wie ein Junge: de hå'n mrsch Pfadla weggenumma!«

»Nu här åber uf! Wås wellst de denn? – Sol a etwa nie zur Mutter giehn, sol a etwa zu fremda Leita?«

»Ach!«

»Ja, dås is keene Årt nie. Du warscht arm wie a leeres Kuchabrat un er hått'ålls.«

»Aber wenn ich dir sage, er hat mich geärgert.«

»Wie denn? – Na, wie denn, hä? – Ja, da weeßt de kee Stäubla! Der? dich ärgern? – Du mein! Kee Wåsser kånn der nich betrüba!«

»Här auf Mutter! 's is zum Verricktwer'n. Das verstehste nich, merk dirs, das versteh ich blos, ich ganz alleene, denn ich bin sei Weib.«

Bei den letzten Worten richtete sie sich auf und eine tiefe Röte stieg ihr ins Gesicht.

Die Mutter dachte an die »heißen Nerven« und lenkte ein.

Bald glitt das Gespräch in jenem seichten, sanften Fahrwasser dahin, von dem es getragen wird, wenn Frauen über alles reden.

Darüber erwachte Gustav. Sogleich riß ihn die Mutter aus dem Wagen und wiegte ihn in stürmischer Freude in den Armen:

»Das Tind wird Hungerle haben! – Was für ein Duschele es ufsperrt – ha! – ausdeschlaft? – – – Wie ein Terke ... wie ein Terke ... mir ... mir ... wart, wart Dustele ... mir wer'n den Kerl amål aufpacken, daß er sich ausstrabeln kån.«

»Aber nich ganz auspacken, Mutter, er kennde sich erkälten.«

»Ach 's is jå wårm hier ... a muß doch a wing sich ausziehn! – Sieh'ch amål, wie a sich streckt, was fir a langer Kalle dås is!«

»Jesses, aber Mutter, was denkt 'r denn?«

Leonore ward glührot und deckte eine Windel auf seinen entblößten Unterleib.

»Åber Mädl, du bist doch seine Mutter!«

»Nein, das geht nich, Mutter, nein!«

»Nu mein Gott 'och a, du bist doch jetze verheirat't.« Und sie zog mit Gewalt die Unterlage wieder fort.

Da verließ Leonore flüchtend die Stube.

Die Mutter stand vor einem Rätsel. Ihr Gesicht war tief bekümmert. Langsam, wie eine mühselige, schwere Arbeit, verrichtete sie das Einbetten des Kindes.

»Dås weeß dr Himmel, wås met dem Mädel håt. As, aso ... nä ... aso was! ... Dås weist nie gut. Ich möchts åber um ålls eo der Welt wessa, vo' wem die a Kop håt! ... Mei Mån? ... nä! ... oder ich? Du mein och a! ...«

Sie redete noch immer vor sich hin, als Leonore mit der Amme wieder hereintrat.

Stumm legte die alte Marseln dieser den Knaben in die Arme, und als sie ihrer Tochter die Hand zum Abschied reichte, gab sie ihr ein Zeichen, mit auf den Flur zu kommen.

Als sie draußen standen, ergriff die Alte hastig die Hände des jungen Weibes und indem sie tief in ihr Gesicht schaute, sagte sie in gedämpfter Härte:

»Du, Lordl, bet', bet'! – Das is a biese Fleckla, å dem de stiehst. Bet', daß du's iberkemmst.«

»Mag sein, ich kann nie, Mutter, dås nie; iberhaupt wenn jemand derbei is,« antwortete sie entschieden.

Bekümmert ging die Alte.

Trotzdem war Leonore in kurzer Zeit wieder in der ruhigen, verhaltenen Stimmung, in den weichen Armen eines verborgenen Liedes.

5

Ein weiches, mehr angedeutetes Lächeln verschwand lange nicht von ihrem Gesicht. Sie lachte es auch mit jeder Bewegung ihres Leibes. In spielender Biegsamkeit, schwebend, nicht mehr in jäher Aufgeregtheit, zuckend ging und arbeitete sie. Sie gewöhnte sich eine eigene Art an, die Haare an den Schläfen zurückzustreichen. Dann hielt sie langsam, wie auf die leise Sicherheit eines bedeutsam-inneren Anstoßes hin, inne, bog wie trinkend das Haupt zurück, und während sie die entgegengesetzte Hand in weitem Bogen an ihrer Stirn vorüberführte, um danach wühlend durch die goldenen Locken über ihren dünnen Ohren zu fahren, schloß sie die Augen, und ihr Gesicht nahm einen seligen Ausdruck an. Das stärkte und erheiterte sie, gleich einem tiefen Stoßgebet.

Die Unterordnung der Dienstboten unter den klaren Willen Leonores hatte sich unterdeß auch vollzogen, und so atmete die Zeit regelmäßige, scheinbar sanfte Tage durch das große Griebelsche Haus.

Die Hände auf dem Rücken, die Lippen und das Haupt vom Sinnen eines behorchten Gesanges gefangen, schritt Leonore oft lange im Flur des zweiten Stockwerkes hin und her.

Es that ihr wohl, wenn die rollenden Falten ihres Kleides die Luft um sie aufregten, daß sie streichelnd an den Wänden hinglitt. Denn dann hatte sie die stolze Empfindung einer geheimnisvollen Stärke, einer Wirksamkeit jenseits körperlicher Grenzen. Je tiefer ihr aufgeregtes Schreiten sie in diese Empfindung hineinführte, desto lebhafter entstand ein Gewirr tiefster Töne, brennendster Farben, grellster Gedankenstücke, jähester Stimmungen in ihr, die sich in blinder Inbrunst ruhelos durcheinanderschlangen.

Alles Stärkste, Hingebende, Heilige und Reine lag darin und rann durch die Luft, die ihr Kleid um sie aufwühlte, zwecklos aus ihr hinaus, ohne wiederzukehren. Und in dieser Lücke ihres Daseins, durch das sich alles verlor, wohnte dann das Saugen eines Verlangens, das so qualvoll war, weil noch keine Richtung es abgeschwächt hatte. So kam sie zu der Überzeugung, daß sie doch ganz hilflos und umsonst lebe. In heißem Pochen gab ihr Herz diesem Gedanken recht, daß sie im Schrecken stillstand und mit fragendem Blick den Flur hinsah. Die weite, kahle Stille erbarmte sich ihrer nicht, sondern bestätigte mit herzloser Ruhe diese Befürchtung.

Beizende Thränen erfüllten endlich Leonores Blick, die so tief erschüttert war, als hätte jemand mit tausend guten Gründen die Unnötigkeit ihres Lebens bewiesen.

»Ach du mein eenziger Gott, wo sol ich denn hin! – Ich kann doch nischt derfier! – Warum geht mir's so?« Dann eilte sie in den großen Garten und wandelte unter den stillen Bäumen hin und her, durch deren herbstlichtere Kronen der kühl-blaue Himmel den Drang ihrer fernsten Seele beruhigte.

Bei dieser Gelegenheit kam Griebel auch manchmal in den Garten. Während sie unter den Bäumen wandelte, kroch er umher, trug dürre Ästchen zusammen, schnitt da und dort ein Wasserreis ab, band ein gelockertes Bäumchen fester, um sich dann ganz unvermittelt an sein Weib zu wenden:

»Lorla! ha, gelt, scheen Wetter, wås? – Nu, ja, ja, mr hå'ns auch schon andersch gehåt. 's is ebenste: bal'e so, bal'e so, nach, met em Worte: Herbst. Dås heest eben, månchmål bloßig.«

So oder ähnlich redete er, ohne innere Teilnahme. Zu Anfang seiner Worte richtete er sich wohl wie zu etwas Bedeutsamen auf. Die letzten Worte aber streute er, teils gemummelt, teils unnötig schreiend, schon wieder so nebenher zwischen sein Gebastel und Umherstöbern. Leonore ließ ihn lächelnd gewähren. – Als er einmal neben sie trat und, gleichen Schritt haltend mit ihr umherwandeln wollte, gab sie sich anfangs den Anschein, als sehe sie es nicht. Dann aber wandte sie sich, stehen bleibend, zu ihm und maß ihn verwundert:

»Ist dås dein Ernst?«

»Ja – du lieber Gott, Ernst? – Wie dn? – Ernst, nee, zu mei'm Spaße mehr.«

»Du willst sprechen zur Freude. Macht dr so was wirklich Freude, Joseph?«

Eine frohe Überraschung machte Leonore herzlich.

»Ach, nu freilich, een-, zweemål um a Gårta rum hal' ich's aus, drnach is de Freede aus. Denn sieh'ch ein Mån, mach kee biese Gesichte –dås is wås andersch, wie Wenterloda und scheen glåtter Kåmmgarn, es is...«

Ärgerlich unterbrach Leonore seine langstielige Beweisführung.

»Ach nu, laß, Jesses Maria, laß doch, wenn dir's keine Freude macht! Wer zwingt dich denn? – Ich nehm dirsch nicht ibel. Vor mir geh und mach du weiter eim Garten rum.«

Der Doktor hatte ihm neulich den Rat erteilt, ihr allen Willen zu lassen, daß sie in der begonnenen Beruhigung ihrer Nerven erstarke. Daran dachte er und begann sogleich gehorsam seine alte Beschäftigung wieder, da seine Unterhaltung nicht ihren Beifall gefunden hatte.

Leonore schien wirklich durch den Stumpfsinn ihres Mannes kaum berührt. Sie schritt am anderen Ende des Gartens, schwebend, wie hingezogen von dem durchsichtigen Licht, das sie umspielte und sie trank die schöne Stille der fruchtbunten, herbstlichen Weiten hastiger, denn das Betragen ihres Mannes hatte das saugende Verlangen stärker gemacht, das in der Lücke ihres Daseins wohnte.

*  *  *

Auf einem Spaziergange mit ihrem Manne wurde dieses saugende Verlangen ein Bild ihrer heimlichsten Seele. Es war an einem jener wunderbaren Spätherbsttage, die uns alle Wunder der Nähe enthüllen in schimmernder, plastischer Deutlichkeit.

Sie schritten auf einem wenig benutzten Feldwege hin, der langsam auf den langen Rücken eines Hügels, der Scheide zweier Thäler, klomm. Es waren tiefgeschnittene Bergthäler, und in jedem lag ein betriebsames Dorf. Beide verloren sich gegen das fernere Hochgebirge durch Windungen im Walde. Dort guckten dann Fabrikschlote heraus und das langsame Dröhnen des Eisenhammers quoll träge durch die Gassen des Dorfes. Es klang, als erzähle ein müder Riese eine lange Geschichte, jede Silbe seiner eintönigen Wörter mit immer gleicher, rauher Wucht hervorstoßend. Die Pausen, in denen das Pfauchen ausströmenden Dampfes wie schwerer Atem hörbar wurde, füllte das eintönige Leben des Dorfes mit leiserem Geschwätz.

Der Tuchmacher und sein Weib schritten ins Feld hinein, indem sie gemächlich den steigenden Windungen des einsamen Weges folgten. Das Getön zu ihren Füßen wurde immer schwächer. Nun klang es nur wie ein leises Brausen, das in regelmäßigen Stößen mit den undeutlichen Schlägen des ferneren Pochwerkes einsetzte.

Die stille Feierlichkeit des Herbstlichtes wiegte sich auf den weichen Flügeln eines sanften Windes zu jenen langen, scharfen Tönen, wie sie eben nur der Wind des Oktobers singen kann mit leise eingekniffenen, sinnenden Lippen. Die Sturzäcker umspielte die Glorie künftiger Fruchtbarkeit. Vogelschwärme warfen sich in schnellenden Linien von Busch zu Busch, wie unruhige, wirre Pläne des Himmels. Lerchen liefen eilig in den Furchen, hielten dann hinter Ackerklumpen und stammelten einige zaghafte Triller mit jähem, schluchzendem Abbruch. Am hohen Himmel aber wandelten in stummer Majestät Wolkengebirge über den blauen Abgrund, von einer verborgenen, unerreichbaren Gewalt hingetrieben – ein stummes, riesenhaftes Durcheinanderwogen – ein Kampf, dessen Gewaltsamkeit aussah wie ein Schattenspiel. Denn noch war der Sturm jenes Ringens fern, so weit, daß keiner seiner Laute auf die Erde gelangen konnte.

Diese lag in dem unberührten Traume eines Tages, dessen allgegenwärtiges Licht mit seinem tiefsten, bebenden Leben nach dem großen Hintergrunde, jenem weltabgelegenen Wetter griff.

Über Leonore kam eine steigende Hast. Sie eilte auf die Höhe des Rückens. Und als sie dort stand, trank sie mit weiten Augen die stumme Wolkenschlacht des Himmels. Davon bemächtigte sich ihrer die Empfindung eines Rausches, dem sie dadurch entrinnen zu können glaubte, daß sie die Hand über die Augen legte.

Als sie so dastand, in die selbstgeschaffene Nacht in sich hineinlugend, wachte in ihr eine grundentstiegene Unsicherheit auf. Das immer enger kreisende Wogen ihrer Leidenschaft stieß, angeregt von dem eben Gesehenen, ein eigenes Bild in ihr Bewußtsein.

Unterdeß war ihr Mann nachgekommen.

»Was hältst du denn die Augen zu?«

»... uh – ganz weit ... weit ... daß ei'm schwindelt ... verlorn und vergessen, als wenn man nischt wär ... ; aber es bliht grin auf un blau, man härts singen ... Dunner! wie Puschbeeme! ... Ma' mächt sich freun und fürcht' sich. – Heiliger Himmel, nu is als wenn was glänzniges käm un holt mich, und trägt mich un schwingt mich, weit über alle Berge ...«

Leise, verzückt, mit einem leidenschaftlichen Fluten in der Stimme, sprach sie.

»Verknucht! Jetze nimm de Hände weg und låß dås Gepaper! Wenn jemand kemmt, missa se ja denka Du best nie ganz gescheide« unterbrach Griebel sie zornig.

Leonore öffnete die Augen und lachte glücklich: »Da bin ich wieder bei dir, du, lieber, haha! lieber Månn. – Ach, wår dås åber weit! – Mach du mal die Augen zu, na!«

Griebel kniff die Augen ein, daß sie aussahen wie umwulstete Spalte. Und um der Sicherheit des Verschlusses willen, zog er seine korpulente Nase an den Strängen feister Falten in die Höhe. So verharrte er eine Weile und wartete auf eine Erscheinung.

»Na, was siehste denn?« frug Leonore ungeduldig.

»Nischt!« prustete er lachend und rieb sich die geöffneten Augen. »Kendscherei, tomme!«

6

So kam Leonore abermals in einen Traumzustand. Von der dauernden Mystik, welche ihre Seele früher erfüllt hatte, unterschied er sich durch das blutvollere Spiel einer Episode. Er blühte bis in das Geräusch des Tages hinein. Mitten im Schaffen erlag sie ihm, einer weichen, lösenden Mattigkeit. Dann fühlte sie sich aufblühen, als dehnten sich vertrocknete Gänge in ihr durch eine losbrechende Flut der Befruchtung. Und sie gab sich diesen Momenten vorwurfslos hin. Mit keinem Aufreißen des Willens zur Pflicht, wie früher, rüttelte sie an den versunkenen Thoren ihres Bewußtseins. So verschwand die uranfängliche Spaltung ihres Wesens. Ihr Tag wandelte in ihrem Traum, und der Puls ihrer Seele schlug in allen Handgriffen.

Dann saß sie, scheinbar wie immer, die feinen Finger in unruhigem Spiel bewegend. Aber ihre weichblauen Augen standen nicht verloren in einem weißen, scharfen Gesicht, sondern ihre Blicke glommen, und die Brust ging stürmischer, ein sieghafter Zug lag auf ihrem blühenden Antlitz.

Denn ihre Gestalt rundete sich mehr und mehr. Die keimende Woge eines jungen Busens blühte in volleren Wallungen. Das Weiß ihrer Nägel wich einem immer satteren Rot, und das müde Blond ihres reichen Haares war goldiger.

Auch das wesenlose Lied ihrer Seele schien verstummt. Die krankhafte Starrheit war von dem rechten Auge gewichen. Lag sein Lid auch noch in alter Kraftlosigkeit über ihm hin, so wandelte es darunter doch ohne Hemmung wie der Stern des anderen. Eine unnennbare süße, heiße Fülle empfand sie auch oft, wenn sie den Knaben küßte.

Jäh aufkochende Glut riß sie dann aus dem Tritt ihrer gewohnten Arbeit. Sie warf weg, was sie in der Hand hielt, eilte fliegend zu dem Kinde und nahm es jubelnd aus der Wiege.

»Frau, Sie missa Gustlan nie immer aus'm Schlofe reißa. Oan wenn ach, dat åber hiebsch staate: psch, psch Gustla! – Asu, dåß a recht langsam ufwacht. A kån jå amål vr Erschrecknis de Krämpfe krieja,« verwies es ihr die Amme.

Das war das Wuchten heißer Stöße, wie wenn ein Sturm einsetzt.

Dann lag die alte Fremdheit, die tote Schicht wieder Tage lang zwischen ihr und dem Knaben. Umsonst langte er von dem Arm der Amme mit lallenden Lauten nach ihr. Sie ging achtlos vorüber, kaum daß sie ihm ein zerstreutes, leeres Lächeln zuwarf und sein Weinen rührte nicht an ihr Gemüt.

Auch mitten im Taumel ihrer Glut erlag sie dieser eisigen Ausschaltung.

Die Bewegungen des Knaben, die eben noch von einem Schimmer umgeben waren, wurden ihr zuwieder; der Duft süßer Kindheit verschwand, und sie roch die süßsaure Dumpfheit, die um kleine eben liegt. Die selige Musik der Kinderstimme, die nur das Herz hört, war wie versunken, und sie vernahm unausstehlich schneidende Laute.

Dann warf sie den Knaben hin und eilte hinaus, um stundenlang in einer Starre dazusitzen, die am Ende in eine gespannte Stumpfheit überging. Sie vermied jede Gesellschaft und ging verstört umher, bis endlich ein sanftes Weinen sie von den Klammern dieses seelischen Krampfes erlöste.

In ruhigen Minuten klarer Bewußtheit machte sie den festen Vorsatz, diesen heißen Überfällen ihrer »Laune« durch stetige Sanftmut entgegenzuwirken. Aber was galten die Fälle, in denen dieser Selbstzwang ihr gelang, gegen jene häufigen Ausbrüche, die sie nötigten, ihr Kind in peinvoller Bedrängnis von sich zu stoßen!

»Warum schmeißt du nu Gustlan wieder hin wie ee'n Wechselbålg?« verwies es ihr die Mutter, die Joseph auf »die neue Krankheit« Leonores aufmerksam gemacht hatte, und die gekommen war, ihr wieder »a Kop zurechtezusetza«.

Leonore hatte sich an das Fenster geflüchtet und starrte blicklos hinaus. Sie beantwortete die Frage ihrer Mutter nicht, denn die Erschöpfung der Ernüchterung machte sie wie regungslos.

Aber die Mutter ruhte nicht, mit Fragen an der Thür dieses rätselhaften Zustandes zu rühren. Lange war es umsonst. Endlich drehte sich Leonore um und sah sie tief an, mit bitterem Blick. Dann klemmte sie die Hände zwischen die Knie und bewegte ihren Oberkörper pendelnd hin und her.

»Hm, hm,« setzte zitternd ihre Stimme ein, »wås sol ich erscht reden? s is eben wieder wås, wås ihr nie verstieht.«

»Liebes Lordl, sieh'ch ich bin deine Mutter un es thut mr leed, wenn du dei Kend aso behandelst. Ich kann mersch denka, es thut dr wieh eim Herze, selber, denn wås fr eene Mutter ... flenn nie, Lordl, ... sä' mrsch lieber, verleicht kån ich dr helfen.«

Leonore schüttelte traurig das Haupt.

Nach einer wägend hinschauenden Weile erzählte sie es doch mit jenem verhauchenden Tonfall, wie man ein traurig-unverständliches Märchen sagt:

»... es håt um dås Kind wås, dås is scheener wie Blumen, wie's Licht, wie dr Vogel singt ... irgend wås. Dås kemmt und geht oder versinkt eis Kind und blüht wieder raus ... kein Hauch ... nein ein zweetes ... Jesses, wie sol ich blos sä'n ... wenns Nacht is – – ja, sieh'ch, jetze hab ichs – wenns Nacht is und der Mond scheint. Du gehst ... am Mühlgraben hin und siehst iber die Wiese. 's Gras is schwarz wie ein Teich, und s Wasser thut wie ein Mensch, der stirbt. Då gehst de schneller und siehst dich um. Oh, dort drieben, mitten auf dr Wiese, steht plotze ein Engel im weißen Kleede und winkt dr mit seinen Armen und seine glänznichen Fliegel wehn. Du kannst dr nich helfen, gehst nieber drauf zu, die Herze hopst fr Freede und kannsts gar nich drwarten. Aber wie de näher kemmst verschwimmt das Scheene immer mehr. Nu bist de endlich da und streckst die Hand aus ... da greifst de in ein' Dörnerstrauch, dei Hand blut't – es raschelt um dich, und alles is häßlich und leer, daß dr angst und bange wird. – Sieh'ch aso geht mersch met Gustlan. Und wenn dås Scheene wie Mondschein wegfliegt von 'm, då is statt ei'm Engel a Strauch ...«

Ihre Erzählung verlor sich ruckend in eine aufgeregte Versonnenheit. Sie erhob sich und sah vor sich nieder. Dann strich sie sich mit der rechten Hand die Haare an der linken Schläfe zurück. Mit geschlossenen Augen stand sie zurückgebogen da.

Plötzlich hielt sie im Schreck mit einer jähen Erkenntnis im Kosen ihres Leibes inne.

»... ja wahrhaftig ... als wenn ich mei Kind gar nich gerne hätt, nich kißte, rausnehm, hielt' ... das andre, wås um ihn is ... das andre ... verleicht ... aber sä mr blos einer, wo kommt das andre her?«

Schlaff ließ sie den Arm sinken und starrte seiner fallenden Linie nach.

»Sahst de mein' Arm sinken?« sprach sie nach Augenblicken und schaute mit großen Augen auf ihre Mutter.

»Ach, nu freilich. – Då is doch auch weiter nischt drbei.«

»Nich? – Gell ock nein! ma wird noch rein verwirrt, und da war mirsch, wie ich meinen Arm sah'ch niederfallen, als sellde das de Antwort sein of meine Frage.« – –

7

Das Menschenleben hat Tage wie die Zeit, außerhalb der es wächst, ein Weltwunder.

Auch die Tage des Menschenlebens steigen aus Nächten über die visionäre Brücke der Dämmerung. In jenen Frühstunden der Seele, da sie mit den Ahnungen ihres Schicksals spielt wie die Erde mit steigendem Höhenrauch oder niedergehendem Gewölk, lugen die tiefsten Lieder der Ewigkeit durch den Spalt der Sinne aus dem Unendlichen herein – – –

Das Morgengrauen ...

In jener Frühe, die Leonore aus der Ungeduld des Wartens von ihrem Lager trieb, waren die Gesetze, die das Weib ewig regieren, in ihr Fleisch geworden.

Vor dem unsichtbaren Erfüller ihrer Sehnsucht hatte sie werbend getanzt. Die weichen Linien ihrer Bewegungen, das ganze süßverschwiegene Konzert ihrer Leiblichkeit hatte sie in den Vorhof der Liebe eingeführt. Und dann sang ihr Traum in verzückten Wallungen diese selbe Musik mit weichen Geisterlippen in das Geräusch ihres Tages und ihrer bebend-fragenden Sehnsucht, in der sie zitternd blühte, ein Wunder in einem Wunder.

*  *  *

Immer mehr schloß sich ihr Zustand zur Forderung zusammen in jener inbrünstigen Regellosigkeit, die schwachen Naturen eigen ist.

Bewußt zog ihre unbefriedigte Seele den Inhalt ihrer ganzen Vergangenheit auf einen Stoß. Leise, übersichtslos, in langsamer Unerbittlichkeit erblindeten alle Augen ihrer namenlosen Hoffnungen. Nur ein Auge blieb offen. Seine Sehkraft erschöpfte sie ganz, daß außer ihr nichts mehr lebte.

Der helle Schellenton eines vorübergleitenden Schlittens löste in ihr den Hunger nach einem jähen Rausch los, den sie vorgenoß, als wenn eine rasende Bogenlinie durch sie hinfahre, deren Bewegung über ihren Leib und ihre Gedanken einen heißen Taumel brachte.

Dann begann sie flutende, nie gehörte Melodien meistens auf »la« zu singen. In herzpochendem Jubel sang sie, mit ausgebreiteten Armen, in wogendem Schritt auf- und abwandelnd. Es war, als werfe sie durch dieses sonderbare Lied Anker aus.

Aus diesen Unendlichkeitsflügen stürzte sie jäh, wie mit gebrochener Schwinge, in das Klappern des Alltags. Und wenn sie, nach Verstehen ringend, in den bekannten Räumen umherschaute, schossen eigentümliche Thränen in ihr Auge, solche, die wie kochendes Gift ihre Lider ätzend angriffen und brennend die Wangen hinabliefen.

»Wås flerrst'n, Lorla?« frug dann wohl Griebel.

»Hm!« und sie sah ihn schneidend an, »hm und das fragst du noch, du ? – Ach, du mein lieber Gott.«

Und sie warf sich neben den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, in die Knie und schlug ihre gefalteten Hände wie betäubt auf den Sitz. Denn die schöne Kraft ihres Leibes war noch voller geworden. Die Wogen ihres Blutes gingen höher. Sie säten keine verträumten Farben und Bilder mehr in die Fruchtfurchen ihrer inneren Welt; sie rissen Schreie heraus, glühten Aufsturz, verwundeten das geheime Instrument ihres Innern, daß seine Saiten in ein regelloses Vibrieren gerieten. Ihr schien dann alles verloren und sie kauerte in der Dumpfheit eines Stoßes da. Wie auf einen Punkt zusammengeschrumpft kam sie sich vor.

Eine Macht, über die sie keine Gewalt hatte, warf sie aus qualvollen Jubeln in stumpfe Ängste. Ihrer Leidenschaft fehlte die Kraft der Zerstreuung, der gesunde Rückhalt eines gewöhnlichen Lebens, in dem die Seele ausruhen kann, wie der meermüde Sturmvogel auf der Sandbank.

Sie war wie nackt; nichts folgte ihr in die Glut. Immer weiter ward sie von allem und allen um sie abgeführt. Vor den gütigen, derben Worten der Mutter, deren Liebe nur den Schlag in ihre Wunden kannte, floh sie. Allein immer kehrten doch ihre Augen von jenen rätselhaften Gestaden ihrer innersten Seele zurück; immer fand sie sich wieder auf dem Wege von der Küche zur Wohnstube, auf dem Boden, in dem alten Zimmer und nie doch traf sie ihre Heimat in ihrem Heim.

Und nie erstarrte sie in der Glut oder dem Taumel der Dumpfheit. Zum Wahnsinn war sie nicht stark und nicht schwach genug.

8

So fuhr sie allmählich in eine immer mehr zunehmende Enge.

Sie saß oft in einem rein körperlichen Wogen da, ganz hingerissen und erschöpft von diesem wollüstigen Zustande. Auch im Gehen überfiel sie das. Wenn sie dann die Straßen hinschritt, bekamen die grauen, langweiligen Häuserfronten einen schönen Glanz. Ihre Scheiben schillerten. Wie tanzend schritten die Leute ein und aus. Und sie horchte gespannt auf alle Worte, die sie redeten, denn alle Menschen trugen den Zug der Güte und Freundlichkeit.

Ein Dienstmädchen, mit einem roten, lachenden Gesicht, wie sie, einen Korb am Arm tragend, hüpfte über die Straße und summte ein Lied zwischen den Zähnen.

Leonore empfand zu dem fremden Mädchen eine so heftige Zuneigung, daß sie, ihre Schritte beschleunigend, ihr zurief.

Das Mädchen blieb stehen, nickte freundlich und frug:

»Na, gudn Morjn, Frau Griebel?!«

»Ach Sie sind's, de Pauline von Heinzeln?«

»Jå, jå, kenn' Sie mich au?«

»Ach nu freilich, ich bin Ihn' zu gut.«

Das Mädchen errötete und verstummte. Dann sagte sie sehr befangen:

»Jetz muß ich aber machen, daß ich fortkomme, sonst schempft meine Frau. Adje, Frau Griebel.«

»Adje, Pauline, aber singen Se weiter, singen Se!« rief Leonore hinter ihr her und schaute ihr voll Glücksgefühl nach, durch dessen Licht, wie verwehende Nebelfäden, Wehmut zog. Nee so ein junges, lustiges Mädl, ach je nee, nee, das is wohl was scheenes, dachte sie bei sich.

Ein anderes Mal kam sie vom Ringe und schritt die breite Kirchstraße herunter. Ein beißender Nordwind stürzte sich in die Straßen. Darum hielt sie sich auf dem linken Bürgersteig. Als sie beim Böttcher Meergans angekommen war, wo die schmale, dunkle Wassergasse einmündete, lenkte sie ihre Blicke dahin. Die Gasse sah eben wie ein dämmriger Schlund aus, weil der Wind, in dessen Richtung sie gekrümmt lag, mit unruhigen, stoßend einsetzenden Wirbeln den Schnee darin zu Wolken zerblies. Ein eisiger Staub drang ihr in die Augen, daß sie sie schließen mußte. Als sie nach Momenten die Lider wieder heben konnte, weil der Windstoß vorüber war, sah sie ein liebliches Bild. Ein etwa fünfjähriger Knabe, in allerhand Tücher eingepackt, daß er wie ein Bündel aussah, führte ein kleineres Mädchen an der Hand. Er trug irgend etwas in ein rotes Taschentuch eingeknüpft und sah besorgt auf seine Gefährtin, die er hin- und herleitete, damit ihre Füßchen nicht in zu tiefen Schnee treten sollten. Sobald ein neuer Windstoß mit hohem Heulton aus den Dachrinnen sich anmeldete, legte das Knäblein sein Pack auf die Erde und umschlang das kleine Mädchen mit beiden Armen, um sie vor dem Umfallen zu schützen. Das war ein Jubel für die beiden. Sie schrien ein glückliches Lachen in den Lärm, und wenn die Gefahr vorüber war, fielen sie sich um den Hals und küßten sich lange. Leonore schlug das Herz vor freudiger Überraschung, daß sie sich nicht bewegen konnte.

Der Böttcher trat aus dem Hause.

»Gu'n Morj'n, Frau Griebeel! Gelt die sein reen wie a påår Liebesleite. Dar Kleene macht's rechich schinner. wie månchmål a Ales. s is Gåssmånn Schneidersch Junge und Schmieds Lenla.« Die Angeredte lächelte zerstreut und ging dann mit behutsamen Schritten davon. Sie hielt sich dicht an den Häusern und ihre Rechte griff haltend nach den Mauern, denn sie war taumlig und murmelte fortwährend verzückt vor sich hin:

»Sie küssen sich ... wie sie sich küssen ... sie küssen sich gar zu scheen ... gar zu scheen küssen se sich ...« Dann las sie alle Firmenschilder. Sie schienen einen wundervollen Sinn zu haben. »Johann Laufer, Seiler. Karl Nieder, Gutes Sauerkraut, Landbrot, Vollheringe«, und sie glaubte diese alltäglichen Worte nicht und konnte doch auch das Frohe und Große nicht herausfinden, das hinter all diesem leuchtete.

In der Nähe der Straßenecken hatte sie die Empfindung, daß jemand von der anderen Seite kommen, sie umarmen und das Liebste nennen werde, was auf Erden sei. Darum verlangsamte sie ihre Schritte, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Aber die meisten Leute gingen gleichgültig vorüber. Manche grüßten wohl freundlich und Bekannte drückten ihr herzlich die Hand. Aber das war doch alles nicht das Schöne und Beglückende, das hinter der Ecke auf sie gewartet hatte. So erblindeten nach und nach alle Augen in Leonore; nur eines blieb offen.

An einem Nachmittage gegen vier Uhr riß sie die Küchenthür auf, lief bis in die Mitte des Raumes und sah forschend umher. Ihre Augen waren von heißer Erwartung weit geöffnet, und die Wangen glühten.

»Wås sucha S' 'n?« frug Anna, die eben Geschirr in den Schrank stellte und sah ihre Herrin über die Achsel an.

»Nu, ich hab's doch genau gehört.«

»Wås denn?«

»Er muß hier reingegangen sein.«

»Ach de Uhre is ganga, sonst nischte.«

»Ich hab's gehört. Es machte 's Tor auf, kam iber die Treppe rauf, hielt oben ein wing, als obs iberlegte, und dann kams mit langen leichten Schritten ...«

»Nu, – langen, leichten – säta Se nie a so, langen leich ... haha! – De Anna is vrhin barfissig im Flure afier ganga.«

»Nein, s war ein Mann!«

»Na Frau, etz sein Se åber bale stelle. Nu verstieh ich Se. Ein Mann?! – Ich hå keen'n Schatz nie. Oan wenn ich een'n hätt, dåweßt ichs doch, dåß sichs nie scheckt, wenn er åm Taje zum mr kemmt. – Oder wessa Sie 's etwan besser, dås ich een'n Schåtz hå?«

»Aber, Anna, so was. Wer wird denn von einem Schatz sprechen, so was? Schäm dich!«

Und während Leonore diese Worte stotternd sprach, war es ihr, als müsse sie umfallen, so brauste ihr Blut. Sie konnte vor Scham Anna nicht ansehen und floh aus der Küche.

»Wer soll sich schama?« schrie dadurch ermutigt, die streitsüchtige Magd, »ich etwan? Hähähä, ich hå keen'n Mån nie gehärt, ich nie ...«

»Gieh åch,« setzte Anna fort, als sich hinter ihrer Herrin die Thür geschlossen hatte und überließ sich ganz ihrer Wut. D, s wår de hechste Zeit, ich hätt dr sonst Beene gemacht ...«

Plötzlich brach sie ab und ließ die rechte Faust sinken, die sie gegen die geschlossene Thür geschüttelt hatte. Dann starrte sie vor sich hin mit einem Gesichtsausdruck, der aus Schreck sich langsam zum Hohne verwandelte.

»Ha, dås?« murmelte sie dabei. »Ach nu, warum kennde dås nie sein! Er is a aller plumpscher Drehdichlangsam und sie is flink un just wie a Gevatterla. Då is doch ålls meglich – – nu, uffpåssa wer ich.«

Sie hörte die gegenüberliegende Wohnstubenthür gehen und begab sich schleunigst wieder an den Schrank, weil sie vermutete, Leonore würde kommen, um sie wegen der letzten, vielsagenden Worte zur Rede zu stellen.

Allein die Thür schloß sich bald wieder, und alles blieb still.

Leonore hatte sich aus der Küche geflüchtet und war in das Wohnzimmer gestürzt, mit dem Gesicht gegen den Sofasitz. Ihr Leib blähte sich unter wuchtendem Atem auf und fiel ein. Er füllte und leerte sich bebend wie ein vielgegliederter, willenloser Schlauch, durch den das Stoßen eines wilden Gebläses ging.

Und aus ihren geschlossenen Augen fühlte sie Ströme von Feuer gehen, daß die Augäpfel wie glühende Kohlen brannten.

Dabei murmelte sie in heißer Verwirrung:

»Wer kann sagen, ich hab einen Schatz – ich? – ich hab einen Schatz – einen Schatz? – Schatz? – Schatz?«

Der zurückströmende Atem schlug sengend in ihr Gesicht. Es war, als wohne ein süßer Duft darin, und sie murmelte das wunderbare Wort weiter, immer leiser, süßer, inniger und trank den Duft, mit dem es ihren Atem füllte. Ihr zitternder Busen trank ihn, ihre lechzende Seele, ihr ganzer fiebernd-blühender Leib.

Endlich erhob sie sich und sank in Aufgelöstheit auf einen Stuhl. Mit geschlossenen Augen, das Haupt nach hinten hängend, saß sie, und ihre bebende Rechte strich mit leisen Fingern die Stirn nach der linken Schläfe hin.

Ihre Seele war wie ein sommerliches Feld, über dessen lodernder Blütenpracht das Licht einer senkrechten Sonne in flimmernder Glut brennt, bis hinaus an den verschwindenden Horizont. Ihr Blick wurde von innen her versengt, und als sie die Augen öffnete, sah sie alle Gegenstände durch einen grauen Schleier hindurch, mit fließenden Umrissen, hin und her schwebend, von blassem Schimmer umgeben. Plötzlich kam es wie die Wollust der Empfängnis über sie: Bewegungen aus ihr und um sie flossen zusammen; ein Leib löste sich von ihrem Leib; ihr Gesicht ward Antlitz vor ihr; ein Strahl wandelte aus ihrem Auge und ward sich fremd und ein Wesen entstand.

Noch sah sie es nicht, fühlte aber seinen guten, umfangenden Blick auf sich gerichtet. Dort von der Ecke neben dem Schrank her. Mit ihrem Leibe ihn trinkend, saß sie und wagte nicht aufzuschauen in demütigem Glück.

Ein weiches Gleiten ließ sie endlich den Kopf wenden. Doch sie konnte nichts deutlich unterscheiden. Nur wenn das pochend arbeitende Herz einen neuen Blutstrom ausstieß, glommen die Umrisse eines männlichen Wesens schärfer auf aus dem dämmrigen Winkel neben dem Kleiderschrank, wo der Kleiderständer sich befand, an dem ein Herrenüberzieher und darüber ein Hut hingen. Auch tiefe Atemzüge hoben auf Momente seinen Leib aus dem Nichts. Als sie sich aber zu einem durchdringenden Blick aufraffte, um sich Gewißheit zu verschaffen, fühlte sie es in ihrem Innern wie den jähen Zusammenbruch einer schönen Welt. Das blühende Großfeld ihrer Seele verschwindet hinter der engen Schranke ihres Bewußtseins und die Gegenstände ihrer Umgebung welken zu den gewöhnlichen Umrissen ein.

»Nu Schatz, wo bist du denn?« frug Leonore mit bitterem Spott und konnte es doch nicht hindern, daß die Wehmut der Leere in den Worten wohnte. Sie erhob sich und schritt, um sich zu sammeln, durchs Zimmer. Jedes Gerät, an dem sie vorüberkam, berührte sie mit der Hand. Dabei sagte sie tonlos:

»Da ein Stuhl – der Tisch – der Nähtisch – der Wäscheschrank – noch ein Stuhl – – – immer so, dasselbe heite ... morgen ... in einem Monat ... ibers Jahr – bis ich sterbe –«

Plötzlich brach sie am Tisch, auf den sie sich bei den letzten Worten gestützt hatte, zusammen, warf die handverschlungenen Arme steif darüber hin und ließ ihr Haupt unter die Platte sinken.

So verharrte sie wie leblos.

Der leere Winterabend ließ seinen Nebelschutt immer dichter an den Fenstern niederrieseln.

Als sie den Schritt ihres Mannes hörte, sprang sie erschrocken auf.

»Wås muß er denken, dåß ich noch kein Licht hå?« fuhr es ihr durch den Kopf mit der Schärfe eines unruhigen Gewissens. Und während sie in der finsteren Stube immer ängstlicher nach Streichhölzern suchte, hörte sie ihren Mann die Küchenthür öffnen und hineinfragen:

»De Frau nie då?«

»O ja«, antwortete Anna.

»Nu, s'is jå fenster ei dr Wohnstube!?«

»Ne, de is doch nie fortgeganga. Vrhin amål, 's wår Nåchmettig, kam se ei de Kiche und fragte nach em Månne.«

Leonore wurde starr vor Schreck, als sie diese Worte des Dienstmädchens hörte. Sie mußte sich an das Fensterbrett anhalten. Dabei griff sie die Streichholzschachtel.

Im Nu war Licht.

Da trat auch ihr Mann schon ein.

»Gu'n Amd!« grüßte er verstimmt und hing seinen Hut an den Ständer. »Na, wo host'n a Mån?«

»Ich? Was een'n Mån?«

»Nu, de Anna säte doch, du hättst een'n Mån gesucht?«

»Die Anna, die! will die etwa noch Unfriede ins Haus bringen? Is noch nie genung, dåß se grob is wie Schrotmehl! die muß nu aus dem Hause. Soll ich etwa folgen, bin ich Herrin oder Dienstmädel?«

»Etze fang du mir noch å und mach mr a Kop vul. Iberal Ärger, ei der Werkstelle un derheeme!«

»Kånn ich drfier, wenn du aso anfängst und schimpfst, eh du ›Gu'n Amd‹ gesagt hast?«

»Jesses Lorla, is' dås eene Trosel wert oder a Salende? Ma kå doch een'n Spaß macha!«

Er griff neckend nach ihr; aber sie wich aus und verließ gekränkt die Stube.

Als dann Anna das Abendbrot aufgetragen hatte und das Zimmer verlassen wollte, begann Leonore wieder hartnäckig:

»Bleib mal da, Anna! – Nu sags vorm Herrn hab ich ee'n Mann gesucht?«

»Een Månn? – Sie freta doch, ob er ei dr Kiche is?«

»Nach wem hätt' ich denn gefragt, wenn dås wahr is?«

»Maria rein och a! Dås weeß ich nie, wan Sie sucha. Dås missa Sie åm besta wessa. Ich hå keen'n Schåtz,« erwiederte das Mädchen grob und verließ das Zimmer.

Leonore riß die Hand vors Gesicht, um die Schamröte vor ihrem Manne zu verbergen und brach in Thränen aus.

»Då håsts,« rief sie schluchzend, »se weeß nischt und sprecht ein Mann, sogar ein Schatz. Hå ich dich a mal belogen, hä?«

»Nu, Lorla, du weßt doch, dåß se sich nie halfa kån. Se meents doch nie aso. Bis och ruh'ch! Låß dås Flerrn sein un sag mrsch lieber.«

Durch gütiges Zureden besänftigte er sie endlich, daß sie ihm den Sachverhalt erzählte. Von dem Zustande ihres Innersten erfuhr er nichts, denn dieser war Leonore selbst ein Geheimnis.

Als sie geendet hatte, schüttelte er seinen Kopf und sprach dabei mit plumpüberlegenem Lächeln:

»Jesses nee, ma verhört sich halt månchmål. Då braucht doch nie a solches Lutterment gemacht wer'n. Meglich wårsch jå, dåß a Mån dågewåst wår. Denn der Reisende aus Frankfurt, dar mich met dam Indigo neigelegt håt, wollte jå komma. – – Åber etze, Schwåmm drieber, well mr sahn, wås dar grobe Teixel, de Anna, viergerecht håt.«

Dann machte er es sich mit umständlicher Behaglichkeit am Tische bequem.

Während er bedachtsam und eifrig zulangte, saß Leonore einsam da und rührte kaum etwas an. Plötzlich legte sie heftig Messer und Gabel hin und sagte ein abschüttelndes »Nein!«

»Na?« frug Griebel, ohne aufzusehen.

»Kenntst du mich haun, recht aus Wut?«

Griebel ließ die Hand sinken, mit welcher er eben ein Stück Wurst zum Munde führen wollte, und blickte sein Weib erstaunt an. »Die håt heite wieder ihren schlechten Tag,« dachte er. Dann antwortete er:

»Lorla, kendsche Lise, a so a Fråge!«

»Nein, du sollst sagen: ja oder nein.«

»Nu, wenn das wessa wellst: nee.«

»Ich hå mersch wohl gedacht. – Da iß och weiter!« Sie sagte das mit einem geringschätzigen, bitteren Lächeln und zerrieb dabei ein Stück Brot zu Krümchen. Dann sah sie nach dem Fenster hin, hinter dem die Wand der schwarzen Nacht stand, lange und mit leidenschaftlichen Augen that sie das.

Griebel »hamsterte« und plauderte dabei alles durcheinander.

Leonore litt an der großen Lücke ihres Lebens. Ihre Seele lag an fernen Gestaden und rang und schrie und betete und verzweifelte. Davon wurde die Farbe ihres Gesichtes immer blasser, die Haltung ihres Leibes immer starrer.

Die »Ja« und »Nein«, die sie an oft unpassenden Stellen in das Gerede ihres Mannes streute, trugen die Farbe ihres Innersten: sie klangen zagend, fordernd, zitternd, peinvoll auch wie das Flüstern einer Verlorenen.

Griebel wurde es immer unbehaglicher dabei. Er erzählte mit stets längeren Unterbrechungen und schwieg endlich betroffen.

Da war es totenstill.

Und die Seelen der beiden Menschen litten in stummem Schauer untereinander.

Leonore kam zuerst in ihr Leben zurück, und noch unter dem Bann ihres Schicksals stehend, sagte sie tonlos und eisig-ernst:

»Du sitzst weit von mir – weit!«

Griebel erschrak vor den nachdenklichen Augen seines Weibes, und indem er an einem Fleck seiner Weste herumkratzte, sagte er unsicher:

»Jå, jå, 's is månchmål komsch, wås uns de Aja viermacha. Ich kennde auch Steckla drvone erzehla – – åber loon mr dås; ich bin heite mide.«

Dann erhoben sich beide und trafen Vorkehrungen zum Schlafengehen.

Leonore unterbrach sich dabei und frug zaghaft: »Kommt der Reisende auch ans Meer?«

»Dar aus Frankfort?« lautete Griebels gelangweilte Gegenfrage. Dabei kraute er sich den Kopf.

»Nich der alleene; iberhaupt.«

»Ach nu freilich, 's håt 'r woll, die då hinkomma.«

»Das is tief – und – weit ...«

»Jå, Lorla, nischt wie Himmel und Wåsser. De Schiffe komma und fåhrn fort und niemand weeß månchmål, ob ma de Leite wiedersieht, die droffe sein.«

Darauf blies er die Lampe aus und sie begaben sich auf ihr Lager.

Eine Zeitlang horchte Griebel besorgt auf den Atem seines Weibes, der kurz und schwer ging.

»Wenn se och gut schlofa kennde, då wär ålls wieder gut manne« sann er. Plötzlich überfiel ihn die qualvolle Gewißheit, seine Frau kniee im Bette und ringe verzweifelt die Hände über ihrem Haupte.

Er dämpfte seine Stimme und frug anscheinend gleichgiltig:

»Liegst'n, Lorla?«

Doch die Antwort blieb aus.

Deswegen rief er stärker:

»Lorla!«

»Ja«, antwortete sie schwimmend-weich.

»Was machst 'n?«

»Ich dåcht ans Meer. Mancher mag gerne fort fahrn, weil ihn niemand hält. Wie er aber draußen is und blos sein' Herrgott und's Wasser rundum hat, da kommts doch ibern, daß sich niemand kimmert um ihn. Ein eenziges gudes Herze hätt' ihn gehalten. Nu aber fährt er naus, ins Ungewisse unds graut 'm dervier, in seiner Seele.«

Griebel vermochte nicht zu antworten. Die große, leere Stille, die sie den ganzen Abend getrennt hatte, wurde stärker zwischen ihnen.

Dahinein floß das eintönige Geräusch des schlafenden Hauses; es klang wie leise Wellengänge eines fernen Wassers.


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