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Neue Freunde

In der Frühe des anderen Morgens, nachdem Frau Maxa ihr Haus bestellt und angeordnet hatte, Mäzli sollte den Tag bei Apollonie zubringen, damit es nicht allerlei Unheil anrichte, während die Geschwister in der Schule waren, zogen Bruder und Schwester aus, das Tal hinab. Es war ein sonniger Morgen und die Wege so trocken und schön, dass es eine Lust war, so dahinzuwandern. Der Weg von zwei Stunden war auch sehr schnell zurückgelegt. In Sils am Stein angelangt, wurden die Damen Remke gleich aufgesucht. Sie knieten jede vor einem grossen Koffer, rings umgeben von Haufen von Kleidern, Schuhen, Büchern, Schachteln und hunderterlei Kleinigkeiten, als die beiden Ankommenden in das Haus eintraten und gleich vor der offenen Tür des Packraumes standen.

Frau Maxa wollte entschuldigend zurückweichen, aber die Damen waren schon aufgesprungen und begrüssten mit grosser Zuvorkommenheit ihren lieben Herrn Falk, ihren Helfer und Retter aus allen Verlegenheiten, wie sie ihn nannten. Nun wurde auch mit besonderer Freude die Schwester des guten Freundes begrüsst, die sie schon immer gern kennen gelernt hätten, wie die Damen sagten, die nur sehr bedauern mussten, dass es erst jetzt und in einem Augenblick geschehe, da ihre Hausordnung sich im allerungünstigsten Lichte zeige. Frau Maxa versicherte, dass ihr die Vorbereitungen zur nahen Abreise sehr begreiflich seien. Die Störung, die sie verursachte, sollte auch so kurz wie möglich dauern; sie wollte darum ihr Anliegen gleich vorbringen. Ihr Bruder war unerschrocken zwischen den mannigfaltigen Gegenständen am Boden durchgesteuert, um zu den Sesseln zu gelangen, die er nun herbeibrachte, und Frau Maxa begann sofort, ihre Wünsche und Absichten auszusprechen und den Damen mitzuteilen, worauf sie ihre Hoffnung gründe, dass ihr entsprochen werde. Die Wärme und das Verlangen, das aus ihren Worten sprach, das kranke Töchterchen der Freundin zu pflegen, überzeugten die Damen schnell, dass das ihnen anvertraute Mädchen hier in gute Hände komme, und man konnte wohl sehen, dass es für sie selbst eine grosse Erleichterung war, das kranke Kind während ihrer Abwesenheit in so guter Obhut zu wissen.

»Es wurde uns natürlich schwer, uns zu entschliessen, Leonore zurückzulassen«, sagte die eine der Damen; »aber wir müssen reisen, und sie könnte es jetzt nicht ertragen. Nun es sich so schön fügt, dass Ihre Wünsche ganz mit den unseren zusammentreffen, möchte ich gleich fragen, ob es Ihnen wohl zuviel wäre, wenn wir unsere Rückkehr vielleicht um eine Woche hinausschieben würden. Sie wissen, wir müssen auch um einer Kranken willen reisen, da ist es ja immer ungewiss, welche Wendung ein solcher Zustand nimmt, und man möchte oft so gern noch einige Tage zusetzen.«

Frau Maxa versicherte, nichts könnte ihr lieber sein, als Leonore ein paar Wochen im Hause zu behalten. Sie würde den Damen jedenfalls öfters Nachricht vom Befinden des Mädchens geben, damit sie, wie sie hoffe, ausser Sorge bleiben könnten. Sie möchten sich nur ja mit der Rückkehr um Leonores willen nicht beeilen. Nun sprach sie den Wunsch aus, gleich das Mädchen begrüssen zu dürfen, um die Damen nicht länger an ihrer Arbeit zu stören; ihr Bruder würde sich nun auch entfernen wollen. Er hatte sich schon länger erhoben. Sobald er merkte, wie völlig die Damen auf die Vorschläge seiner Schwester eingingen, drängte es ihn, gleich alles in Ordnung zu bringen. Jetzt konnte er aufbrechen. Erst würde er nun den Doktor aufsuchen, um, wie er hoffte und den Damen mitteilte, seine Einwilligung zur Reise zu erhalten; dann würde er gleich den Wagen bereitmachen und herschicken, damit man mit der jungen Kranken in den besten Stunden des Tages die Fahrt machen könne; dann eilte er fort.

Die eine der Damen führte nun Frau Maxa zum Zimmer der Kranken, das im oberen Stock lag.

»Sie werden Leonore nicht allein finden«, sagte die Begleiterin, »ihr Bruder, der mit einem seiner Lehrer und einigen Freunden eine kleine Schweizerreise gemacht hat, ist gestern den anderen vorangeeilt, um seine Schwester hier zu grüssen; morgen werden die Mitreisenden ihn hier einholen, um dann nach Deutschland zurückzukehren.«

»Nun verliert ja der arme Junge seinen Tag mit der Schwester, wenn ich sie fortnehme«, sagte Frau Maxa mit Bedauern.

»Das kann nun nicht geändert werden«, fiel die Dame rasch ein; »es ist ja ein so glückliches Ereignis für alle, dass Sie das Mädchen zu sich holen; wer weiss, wie der Aufenthalt in diesem Krankenhaus gewesen wäre. Leonore fürchtete sich davor; aber wir wussten keinen Ausweg. Das tut nun auch nichts mit dem Besuch des Bruders; die Geschwister können sich in Hannover wiedersehen, er ist dort in einer Erziehungsanstalt.«

Jetzt machte die Dame eine Tür auf. Frau Maxa trat in das Zimmer.

»Hier, Leonore, bringe ich dir eine Freundin deiner seligen Mutter, Frau Pfarrer Bergmann«, sagte Fräulein Remke, »du wirst Freude haben über die Mitteilung, die sie dir machen wird. Nun mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch, Frau Pfarrer, und kehre an meine Arbeit zurück. Für Leonore ist schon alles gepackt, sie sollte ja nach dem Krankenhaus gebracht werden.«

Nun entfernte sich die Dame. Auf dem Bett in der Ecke des Zimmers sass das kranke Kind fertig angekleidet in die Kissen gelehnt.

Ja, ihr Bruder Phipp hatte recht, sagte sich Frau Maxa, das waren dieselben grossen sprechenden Augen, das weiche braune Lockenhaar, derselbe ernste Ausdruck auf dem feingeschnittenen Gesichtchen, ganz so, wie die Mutter war, als sie damals auf dem Schlosse erschien. Frau Maxa hätte das Kind erkannt, ohne seinen Namen zu kennen. Nur noch ernster als ihre Mutter schaute die junge Leonore aus ihren dunklen Augen. Ihr Blick war traurig; eben jetzt hingen ihr aber auch die Tränen noch an den Wimpern, das Kind hatte geweint. Der Junge, der am Bette sass, war aufgestanden und hatte eine Verbeugung vor Frau Maxa gemacht. Er hatte die fröhlichen blauen Augen und die offene helle Stirn seines Vaters. Sie bot ihm ihre Hand und trat dann an das Bett, die kranke Leonore zu grüssen. Frau Maxa war so bewegt, dass sie kaum sprechen konnte.

»Liebes Kind«, sagte sie, die beiden schmalen Hände ergreifend, »du gleichst so sehr deiner seligen Mutter, dass ich dich gleich als mein liebes Kind begrüssen muss. Ich hatte sie so sehr lieb, wir standen uns so nahe! Und du, Salo, mein lieber Junge, ich muss dich so nennen, du bringst mir deinen Vater und die Mutter zugleich vor Augen. Welch schöne, herrliche Zeiten habe ich durch die Freundschaft mit euren Eltern erlebt! Ihr müsst ein wenig meine Kinder sein, nun ihr diese Eltern nicht mehr habt, die meine teuersten Freunde waren.«

Diese Sprache musste Anklang gefunden haben in den Kinderherzen: Leonore ergriff als Antwort die Hand der Frau Maxa und hielt sie mit ihren beiden Händen fest.

Salo kam ganz nahe und vertraulich zu ihr heran und sagte erfreut: »Oh, ich bin so froh, dass Sie gekommen sind, Sie helfen mir nun gewiss, Leonore zu trösten. Sie muss ins Krankenhaus und fürchtet sich so sehr, weil da lauter fremde Menschen sind. Und nun stellt sie sich noch vor, sie müsse da sterben, wo sie so allein ist und keinen Menschen kennt, und meint, weil ich so weit von ihr weg muss und wir uns vielleicht nie mehr sehen. Und ich kann nichts dagegen tun; morgen holen sie mich hier ab, und ich muss ja wieder auf die Schule zurück, da kann man nun gar nichts machen.«

»Nein«, sagte Frau Maxa, »da ist nun gar nichts zu machen; aber wenn Leonore auch wirklich einige Zeit im Krankenhaus zubringen muss, so soll sie nicht so fremd und allein dableiben. Ich werde dich oft besuchen, liebes Kind, und so ganz sicher ist es auch noch nicht, dass du dahin kommst.«

»O doch, noch diesen Morgen bringen sie mich hin, vielleicht schon ganz bald«, sagte Leonore, indem sie ängstlich lauschte und aufs neue die Hand der Frau Maxa umklammerte wie einen Rettungsanker.

Frau Maxa erwiderte nichts mehr darauf, wusste sie doch noch nicht, was der Arzt beschliessen würde. Sie suchte nur Leonore zu beruhigen, sagte ihr, zum Sterben krank sei sie doch jetzt nicht; es sei leicht möglich, dass sie in kurzer Zeit wiederhergestellt sei, wenn sie nun ruhig stillehalte. Dann würde sie wohl bald den Bruder wiedersehen können, die Damen würden sie ja dann gleich heimholen.

Kaum hatte Frau Maxa dieses Wort gesprochen, als Leonore gleich wieder die Augen voller Tränen hatte.

»Ich bin nicht daheim dort, wir sind jetzt nirgends mehr daheim«, sagte sie mit unterdrücktem Schluchzen.

»Ja, es ist wohl wahr, wir sind nirgends mehr daheim«, fiel Salo hier leidenschaftlich ein; »aber — aber — wenn du’s nur glauben wolltest, Leonore« — und nun musste Salo auch mit der aufsteigenden Bewegung kämpfen und schnell eine Träne aus den sonst so hellen Augen wischen —, »es währt nun nicht mehr so lange, dann bin ich mit der Schule fertig, dann kann ich tun, was ich will, und ich will dann ein kleines Haus suchen, wo wir zusammen daheimsein können. Das will ich haben, und wenn ich nachher gleich zwanzig Jahre lang das Feld hacken muss, bis es bezahlt ist.«

Salos Augen waren während seiner Rede wieder sonnenhell geworden, und er stand so entschlossen da, als wollte er gleich die Hacke ergreifen.

Jetzt hörte man einige Schritte herankommen. Die Tür wurde rasch aufgemacht, und Fräulein Remke rief schon im Hereintreten: »Da steht schon der Wagen vor dem Haus; nun bitte, etwas schnell fertig gemacht; wir dürfen den Herrn nicht warten lassen. — Sie helfen mir gewiss, Leonore aus dem Bette zu heben und hinunterzubringen?«

Leonore war schneeweiss geworden vor Schrecken.

»Darf ich fragen, ob es der Wagen meines Bruders ist, oder ob —«

Frau Maxa zögerte ein wenig.

»Jawohl, gewiss«, fiel das Fräulein ein, eilig einige Tücher und Decken aus dem Schrank herausreissend, »Ihr Herr Bruder ist selbst mitgekommen, um zu sehen, ob der Wagen auch recht geschlossen werde, und dem Kutscher noch Anweisungen über zu Fahrt zu geben. Das ist ein wahrhaft edler Menschenfreund, wir dürfen ihn nicht warten lassen.«

Frau Maxa hatte Leonore schon aus dem Bette gehoben und trug sie hinaus.

»Bringen Sie nur die nötigsten Sachen nach, es geht ganz gut so, sie ist so leicht«, rief sie der Dame zurück, die nacheilen wollte, um mitzutragen.

Die Treppe hinuntersteigend, sagte Frau Maxa: »So, Leonore, nun nehme ich dich mit mir nach Hause. Der Arzt hat erlaubt, was ich wünschte; nun bleibst du bei mir, bis du wieder gesund bist, und ich pflege dich. Ist es dir recht, mit mir zu kommen? Wir kennen einander doch nun schon ein wenig, du wirst bei uns nicht fremd sein.«

Leonore schlang ihre Arme um den Hals der Frau Maxa und hielt sie so fest, dass sie wohl fühlen konnte, sie war dem Kinde keine Fremde mehr. Plötzlich rief Leonore in völligem Jubelton zurück: »Salo! Salo! Hast du es gehört?«

Den Ruf hörte Salo wohl, sonst hatte er nicht verstanden.

Fräulein Remke hatte ihm soviele Tücher und Schleifen auf den Arm gelegt, dass ihm immer eines über das andere herunterrollte und er immer wieder etwas aufzuheben hatte. Er lief schnell, so schnell es ihm unter diesen Umständen möglich war, der Schwester nach.

Unten beim Wagen schaute Frau Maxa gleich nach ihrem Bruder aus. Sie wollte ihm Leonore übergeben, um zuerst einsteigen und dort alles bequem für sie zurechtlegen zu können. Da stand er schon. Er verstand der Schwester Wink, nahm das Kind von ihrem Arm und hob es ihr gleich nachher in den Wagen herauf. Dann fielen seine Augen auf den Jungen, der mit seinen Tüchern am Wagen stand. Plötzlich rief er in freudiger Überraschung aus: »So wahr ich lebe, da steht ein junger Salo, es steht ihm in den Augen geschrieben! Gib mir die Hand, mein Junge, dein Vater war mein Freund, mein bester Freund, so sind wir auch schon gute Freunde!«

Salo machte immer erstauntere Augen. Ein solches Abholen ins Krankenhaus kam ihm doch sonderbar vor; aber noch merkwürdiger war ihm, dass Leonore jetzt ganz zufrieden lächelnd in ihrer Wagenecke sass, Frau Maxa hatte ihr soeben noch etwas zugeflüstert.

»Salo«, sagte Frau Maxa, »ich denke eben, du könntest dich draussen zum Kutscher setzen, wenn dir das recht ist, und mit uns nach Nollagrund hinauffahren, damit du siehst, wo Leonore hinkommt. Morgen, auf die Zeit, da deine Freunde ankommen, lasse ich dich hierher zurückbegleiten. Das wird dir ja auch recht sein, Phipp?«

»Gewiss, gewiss«, antwortete der Bruder; »aber wenn es nun so zugeht, so komme ich auch mit. Ich dachte, das gibt eine recht traurige Fahrt, und nun kommt sie mir ganz so wie eine kleine Festfahrt vor, da bin ich auch dabei. Wir bleiben beide oben, und morgen bringe ich meinen jungen Freund zur Zeit wieder zurück.«

Mit strahlenden Augen stieg Salo, der jetzt verstanden hatte, dass es nicht nach dem Krankenhaus gehen sollte, zu dem hohen Sitz hinauf, den der Kutscher soeben verlassen hatte, und nach vielen Händedrücken und Wünschen, sich bald und auf freudige Weise wiederzusehen, entliessen die Damen Remke ihren Freund, der sich nun zu Salo hinaufschwang, und nach den allerletzten Abschiedsgrüssen der Damen in den Wagen hinein und zum hohen Sitz hinauf, rollte der Wagen ins Tal hinein.

Leonore legte sich bald ermattet an ihre Begleiterin und schlief ein. Sie hielt aber die Hand der Frau Maxa unentwegt fest; zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich von einer Mutterhand gehalten.

Draussen auf dem hohen Sitz ging es ungeheuer lebhaft zu. Der junge Salo musste erzählen, wo er lebe und was er treibe, und zwischendurch erklärte ihm sein Begleiter die Gegend und was überall Merkwürdiges geschehen war. Die Frage, ob Salo auch eine Erinnerung an Vater und Mutter habe, verneinte der Junge; weder er noch seine Schwester konnten die leiseste Erinnerung an sie haben. Ihre allerfrühesten Erinnerungen gingen auf ein Gut in Holstein zurück, wo sie bei einer älteren Tante lebten; sie war die Schwester ihrer Grossmutter gewesen. Sie waren etwa fünf und sechs Jahre alt, als diese Tante starb. Dann kamen sie beide zur Erziehung nach Hannover in die Häuser, wo sie jetzt noch waren.

Zweimal im Jahr kam ein Verwandter der Tante, sie zu besuchen. Er war aber ein so stiller und steifer Herr, dass sie sich nicht freuen konnten, wenn er kam; aber er hatte zu sagen, was mit ihnen geschehen sollte. Sie sollten beide dableiben, wo sie waren, bis für ihn, Salo, alle Studien zu Ende waren, dann durften sie wählen, wo sie bleiben wollten.

»Aber ich weiss schon, was ich tue«, setzte Salo mit funkelnden Augen hinzu.

Eben kam das alte Schloss in Sicht.

»Oh, das Schloss dort oben mit den festen Türmen! Wie schön!« rief Salo aus. »Aber es ist ganz geschlossen, da ist niemand drin; es sieht doch nicht aus wie eine Ruine. Wie heisst das Schloss?«

»Es ist das Schloss Wildenstein«, entgegnete sein Begleiter kurz, indem er seinen forschenden Blick auf den jungen Wallerstätten warf. Dieser schaute ganz harmlos zu den grauen Türmen auf und meinte, wer ein solches Schloss besitze, sei gewiss der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.

»Der weiss nichts von seiner Väter Schloss und der ganzen traurigen Geschichte. Desto besser für ihn!« sagte sein Begleiter sich im Stillen.

Es war ganz still um das Haus der Frau Maxa, als der Wagen vorfuhr, noch waren die Kinder in der Schule. Mit erstaunten Augen kam Käthi herausgerannt; sie wusste ja gar nicht, was vorging; das war sie nicht gewohnt.

Salo wurden unversehens die Zügel in die Hand gedrückt. Sein Begleiter war mit einem Sprung auf dem Boden und rief zurück: »Nur ganz stillhalten, so bleibt das Pferd stehen.« Dann hatte er schnell den Wagen aufgeschlossen, Leonore herausgehoben, und trug sie nun die Treppen hinauf nach dem für sie bereiteten Zimmer. Frau Maxa folgte ihm auf dem Fusse nach. Dann kehrte er eilends zu seinem jungen Stellvertreter zurück. Es war ihm doch nicht ganz sicher zumute im Gedanken, was der mit Pferd und Wagen anstellen könnte. Wenn ihm eingefallen wäre, ein wenig umherzufahren, und das Pferd Sprünge machen würde? Nein da sass er noch ganz stramm und unbeweglich und hielt sein Pferd fest im Zügel.

Auch jetzt, da eine Menge leichter Füsse heranrannte und das grosse Geschrei mit ganz ungewöhnlicher Kraft ertönte: »Onkel Phipp! Onkel Phipp! Onkel Phipp!« — denn dass dieser so unerwartet heute noch einmal erschien, musste doppelt gefeiert werden —, rührte Salo sich nicht und hielt unentwegt seine Zügel fest.

Onkel Phipp war augenblicklich umringt, und acht Arme hielten ihn so fest, dass alle Gegenwehr vergeblich war.

»Nun schaut mir einmal meinen jungen Edelmann dort oben an«, sagte er, umsonst bestrebt, sich loszumachen, »der weiss einmal, was es heisst, unerschütterlich auf seinem Posten zu bleiben und seine Pflicht zu tun. Hätte er den Zügel nicht unbeweglich fest und sicher gehalten, euer Geschrei hätte Ross und Wagen längst in den Abgrund getrieben.«

Jetzt liessen plötzlich alle Arme los, und aller Augen wandten sich nach dem Kutschersitz und dem, der darauf sass, den in der unerwarteten Freude des Wiedersehens noch niemand beachtet hatte. Der freigelassene Onkel Phipp sorgte nun schnell dafür, dass Salo endlich auch heruntersteigen und mit den Kindern bekannt gemacht werden konnte.

Salo hatte für jedes einen so freundlichen Gruss, seine hellen Augen erglänzten so fröhlich bei dem allseitigen Händedrücken, sein ganzes Wesen war so zuvorkommend und gewinnend, dass die Kinder gleich alle mit grosser Lebhaftigkeit für ihn eingenommen wurden und ihn nun schon umringten wie einen alten Bekannten, so dass Salo plötzlich das Gefühl hatte, er sei mitten unter guten Freunden angelangt. Sogar der spröde Bruno, der noch keinen von denen sich hatte nahekommen lassen, die Freundschaft mit ihm halten wollten, legte nun ganz vertraulich Salos Arm in den seinen, um den Gast ins Haus zu führen.

Hier setzte sich Bruno gleich zu Salo hin, und augenblicklich waren die zwei in der feurigsten Unterhaltung. Mea, Kurt und Lippo liefen nun eines dahin, eines dorthin durchs Haus, die Mutter aufzusuchen; keines wusste ja, wo sie hingekommen war.

Erst als Onkel Phipp endlich ins Haus trat und die Umherirrenden zusammenrief, vernahmen sie, wo die Mutter war, und was sie den Kindern durch Onkel Phipp sagen liess. Sie konnte um des kranken Mädchens willen, das sie mitgebracht hatte, zwei oder drei Tage nicht mit den Kindern verkehren, und keines von ihnen durfte zu dem Zimmer heraufkommen, das sie mit der Kranken bewohnte, so hatte es der Arzt angeordnet. Die Kinder sollten alle ihr Bestes tun, dass während der Zeit alles gut gehe. Sollte die Krankheit schlimmer werden, so müsste eine Wärterin ins Haus kommen, und die Mutter wäre wieder frei. Sollte keine ernste Krankheit ausbrechen, so könnten die Kinder dann auch nach dem Krankenzimmer kommen, mit Leonore Bekanntschaft machen und sie verpflegen helfen; die Mutter würde sich dann nicht mehr mit ihr absondern, was fürs erste sein müsste. Mäzli sollte immer je am Morgen zu Apollonie gesandt werden und den Tag bei ihr zubringen. Das war eine recht niederschlagende Nachricht, dass die Mutter zwei oder drei ganze Tage nicht zum Vorschein kommen werde. Die drei machten auch so verblüffte Gesichter, als ständen sie vor einem Hindernis, das kaum zu übersteigen war.

»Na, was ist denn dabei«, sagte Onkel Phipp aufmunternd, wer wird denn gleich alle Flügel hängen lassen! Was? Wenn ihr’s hättet wie das Kind droben! Das hat gar keine Mutter, niemals, da könnt ihr ihm doch die eure für drei Tage gönnen, nicht? Und was kommt nachher? Da kommt der beste Teil erst wieder auf euch! Da kommt die Mutter herunter und führt euch eine neue Gespielin zu; die ist so freundlich und so liebenswürdig und so fein von Sitten, wie ihr noch gar keine gekannt habt. Kurt wird gleich hingehen und ein Dutzend Lieder auf sie singen. Mea wird in eine Feuer und Flammenfreundschaft für sie auflodern, und Lippo wird eine liebevolle Beschützerin seiner verkannten Tugenden in ihr finden. Seid ihr nun zufrieden?«

Wirklich hatte die Rede eine vorzügliche Wirkung. Nicht nur wollten die drei der kranken Leonore die Mutter gerne für die drei Tage gönnen, sondern auch selbst alles tun, dass sie bald gesund würde. Die Schilderung der neuen Spielgenossin hatte eine so lebhafte Teilnahme in ihnen geweckt, dass sie durchaus gleich zu allerlei Hilfeleistungen greifen wollten, so dass der Onkel ihren Eifer wieder dämpfen musste. Er schlug nun einen Spaziergang vor, um dem Gaste, der nur so kurz dableiben konnte, die Gegend zu zeigen. Als man sich aber jetzt nach Salo umsah, war er verschwunden, sowie auch Bruno, niemand wusste wohin.

»Die haben denselben Gedanken gehabt, wie ich«, sagte Onkel Phipp, »nun gehen wir, sie zu suchen, das ist erst recht ein kurzweiliger Weg.« Dann zogen sie aus.

Onkel Phipp hatte ganz richtig geraten: Bruno hatte an seinem neuen Freunde solches Wohlgefallen gefunden, dass er ihn am liebsten für sich allein behalten wollte. Wie nun Onkel Phipp in so lebhafte Unterhaltung mit den jüngeren Geschwistern geraten war, führte Bruno den Gast hinaus, um einen Gang durch den schönen Abend mit ihm zu machen. Salo war es wohl zufrieden; denn auch er fühlte sich zu Bruno hingezogen. Sie waren auch in der kurzen Zeit schon so vertraut miteinander geworden, als hätten sie sich schon seit Jahren gekannt. Jetzt wanderten sie, schon wieder in das lebhafteste Gespräch vertieft, dem Schlossberg zu.

»Weisst du, warum ich mit dir da hinaufgehe?« fragte Bruno, plötzlich das Gespräch unterbrechend.

»Weil es hier so schön ist«, entgegnete Salo rasch, indem er stillestand und über die blumenbesäten Wiesen nach dem grauen Schloss hinaufschaute, über dem jetzt am hellen Abendhimmel rosige Wolken dahinzogen.

»Nein, nicht darum«, sagte Bruno, »sondern weil das Schloss einem Onkel von dir gehört.«

Salo schaute ihn erst ganz verwundert an.

»Was fällt dir denn ein, Bruno«, rief er dann lachend aus, »das wäre nicht übel; aber das ist nichts. Wir haben einen einzigen Onkel, der lebt in Spanien seit undenklichen Jahren und bleibt da.«

»Ja, gerade der Onkel ist’s, der in Spanien lebt, dem das Schloss gehört«, behauptete Bruno und erinnerte Salo daran, dass es ja in dem Schlosse war, wo ihre beiden Mütter sich so oft gesehen und so nahe befreundet hatten.

Das liess Salo nun wohl gelten; aber er war fest davon überzeugt, dass das Schloss längst verkauft sei und sein Onkel nie mehr zurückkehren werde. Das hatte er in früherer Zeit schon von seiner alten Tante gehört und nie etwas anderes. Das konnte nun Bruno auch annehmen, dass das Schloss verkauft worden sei, wenn der Onkel doch nicht mehr zurückzukehren gedächte.

»Weisst du, Salo, am liebsten möchte ich, wie dein Onkel, fortreisen und verschwinden für lange Zeit«, sagte Bruno, nun sie wieder weitergingen, »so müsste ich doch nicht mit diesen zweien zusammengeschmiedet sein, das kann ich nicht aushalten, du weisst jetzt, wie sie sind.«

Salo, der bei der vorhergegangenen Schilderung von Brunos zwei Studiengenossen, ihrer unedlen Gesinnung und ihrer fortgesetzten wenig belustigenden Bubenstreiche, öfter einen verächtlichen Ausruf getan hatte, sagte jetzt mit tröstlicher Teilnahme: »Ja, ich glaube es wohl, dass es zum Davonlaufen ist, wenn man jeden Tag mit zwei solchen Knippeln zusammensein muss. Aber du musst nur gar nicht zuhören und nicht zusehen, sie mögen tun und reden, was sie wollen. Wollen sie gemein sein, so sind sie es für sich, anstecken können sie dich nicht.«

»Ja, wenn du nur dabei wärest, dann könnte ich das viel besser«, meinte Bruno, »dann wüsste ich immer, dass du bei allem so fühltest wie ich, und dass du mit empört wärest; aber wenn ich allein mit ihnen bin und sie ihre heimtückischen Bosheiten an Leuten ausüben, die sich nicht wehren können, dann werde ich so wild, dass ich sie zusammenhauen muss, und dann gibt’s furchtbaren Skandal und bei meiner Mutter einen grossen Jammer, das ist mir noch ärger. Wenn ich nur weit fort könnte und nie mehr mit diesen zwei zusammenkommen müsste!«

»Wenn du wüsstest, wie es ist, wenn man nirgends daheim ist, du würdest nicht so fort wollen, ohne zu wissen wohin«, sagte Salo, »du kannst dir gar nicht denken, dass etwas so schwer zu ertragen ist, weil du immer wieder heimgehen und alles deiner Mutter sagen kannst. Wenn du das immer vor dir siehst, so kannst du dann schon zwischendurch wieder etwas vertragen. Das wollte ich wohl über mich nehmen, mit den zweien während der Schulzeit zusammenzuwohnen, wenn ich für alle Ferienwochen dahin gehen könnte, wo ich daheim wäre und Leonore da fände, die dann auch eine Heimat hätte und nicht mehr jedesmal, wenn ich zu ihr komme, weinen müsste, dass wir keine Heimat haben. Ich denke immerfort etwas aus, was ich tun könnte, dass sie nicht mehr so lange warten muss, bis sie einmal daheim sein kann: aber es ist nicht leicht, das auszuführen; denn der Herr in Holstein, der über alles, was uns angeht, zu befehlen hat, will, dass ich viele Jahre studieren soll. Das währt aber viel zu lang, Leonore kann unterdessen sterben, und ich will doch besonders für sie das alles tun. Aber jetzt bin ich so froh, dass Leonore krank geworden ist und darum zu euch kommen durfte«, sagte er dann mit wieder hellem Blick, »ich wollte nur, sie würde noch recht lang krank bleiben — nicht stark«, verbesserte er sich schnell, »ich meine nur so ein wenig, so dass deine Mutter sie nicht fortliesse. Ich weiss ganz gut, wie wohl es nun Leonore bei ihr ist. Sie war gleich so gut und so bekannt mit uns. Seit die Tante tot ist, war kein Mensch so freundlich und lieb mit uns wie deine Mutter, und das tut Leonore mehr wohl als alles andere, was man für sie tun würde.«

Salos Worte hatte einen tiefen Eindruck auf Bruno gemacht. Noch nie hatte er daran gedacht, dass es etwas sei, das nicht alle Menschen haben, wenn man eine schöne Heimat besitze, wo es einem so wohl war wie in der seinigen, und eine Mutter zu haben, die einen jederzeit mit einer Liebe begrüsste, wie sonst niemand, der man alles mitteilen und auflegen konnte, die alles miterlebte und eine Teilnahme für alles hatte, wie kein anderer Mensch. Das alles hatte er so angenommen, als könnte es nicht anders sein. Nun trat ihm auf einmal ins Bewusstsein, wie anders es sein könne, wie Salo und seine Schwester so schmerzlich entbehren mussten, was er von jeher im höchsten Masse genossen hatte, ohne nur daran zu denken. Nun erfasste ihn eine so grosse Teilnahme für den neuen Freund, der so edel und nett aussah und schon so viel Leid für sich und seine Schwester hatte tragen müssen, dass Bruno mit allem Feuer seiner Natur den Gedanken ergriff, alles zu tun, um Salo zu helfen, dass er seinen Plan, für sich und seine Schwester eine Heimat zu gründen, ausführen könne. Das war nun wirklich etwas viel Wichtigeres, als seine Abneigung, mit den Brüdern Knippel zusammenzusein.

»Nun will ich auch an nichts anderes mehr denken«, sagte er jetzt als Schluss seiner Gedanken, »als nur immerfort daran, was du tun könntest, um deinen Zweck zu erreichen. Wir machen gewiss etwas ausfindig, wenn wir zwei gar nicht aufhören einen Weg zu suchen, bis wir ihn gefunden haben.«

»Es ist doch wunderbar«, sagte Salo, ganz gerührt von Brunos warmer Teilnahme, »im Institut habe ich allerlei Freunde, aber nicht einen einzigen, dem ich hätte sagen können, was mir immerfort im Sinn liegt und mich drückt, wie ich es dir jetzt sagen konnte, weil du so anders bist, als sie alle. Willst du mein Freund sein?«

Bruno schlug fest in Salos dargereichte Hand ein, und mit strahlenden Augen rief er aus: »Ja, das will ich, mein ganzes Leben lang will ich dein Freund sein, das sollst du sehen. Am liebsten möchte ich dir gleich zulieb tun, was du am allermeisten wünschest, wie du mir getan hast.«

»Ich habe dir ja noch nichts zulieb tun können«, sagte Salo erstaunt.

»Oh ja, jetzt, da ich weiss, dass ich einen Freund habe, wie du, ist mir der ganze Schrecken vor dem Zusammenleben mit den zweien vergangen. Ich weiss, ich kann sie nun machen lassen, was sie wollen, ich kann immer denken, ich habe einen Freund, der denkt ganz so wie ich und hätte den gleichen Eindruck von ihrem Tun, und ich kann dir alles sagen, und dann sagst du mir wieder, was du von allem denkst. So kann ich sie ganz laufen lassen und mich zu dir halten.«

»Weisst du, wie ich meine, dass eine rechte Freundschaft sein sollte«, sagte Salo mit strahlenden Augen — denn die neue Freundschaft hatte auch ihn ganz froh gemacht — , »ich meine, es müsste so sein: wenn wir etwas erfahren, das uns böse macht, weil es hässlich und roh und gemein ist, dann müssten wir gleich denken können: ich habe einen Freund, der nie so handeln könnte; und wenn wir etwas erfahren, das uns ganz besonders gefällt, weil es gross und schön und edel ist, dann müssten wir gleich wieder denken können: geradeso würde mein Freund auch handeln. Denkst du nicht auch so?«

Bruno war nicht selbstgerecht. Die Mutter hatte ihm seine Fehler immer so deutlich vor Augen gehalten, dass er sie wohl kannte. Zögernd sagte er: »Wenn man nur immer gleich so sein könnte, wie man wollte. Würdest du einem Freund dann nicht mehr vertrauen, wenn er einmal oder ein paarmal nicht so täte, wie du von ihm erwartet hättest?«

»Nein, nein«, antwortete Salo schnell, »so könnte ein Freund mir auch nicht mehr vertrauen wollen. Ich meine es so: der Freund müsste so sein, dass er vor dem ersten Tun einen Abscheu hätte und das zweite immer und allein tun möchte, und dass es ihm selbst am meisten leid täte, wenn er es nicht gehalten hätte.«

Jetzt konnte Bruno völlig und freudig mit ihm übereinstimmen. Plötzlich hörten die beiden laut ihre Namen rufen, und wie sie sich umschauten, erblickten sie Kurt und Lippo, die im Galopp heranrannten, Onkel Phipp und Mea etwas langsamer ihnen folgend.

»Warten, warten!« rief Kurt so laut, dass das Echo vom Schloss her deutlich zurückrief: »Warten, warten!«

Die beiden Freunde waren eigentlich eben daran zu tun, was geboten wurde; denn sie sassen ganz ruhig an ihrer Halde. Nun waren die Brüder da, und bald folgten Mea und der Onkel, dieser mit allen Zeichen des Schreckens auf dem Gesicht.

»Du wirst doch nicht mit Salo zum Schloss hinaufgelaufen sein, Bruno?« rief er aufgeregt aus.

»O nein, Onkel«, erwiderte Bruno, »wir haben uns hier am Wege niedergesetzt. Ich wollte nur Salo das Schloss zeigen, weil es doch einmal seinem Onkel gehört hat. Aber er weiss nichts davon; er sagt, es sei gewiss schon lange verkauft, er hat gar nie etwas davon gehört.«

»Gut, gut!« sagte Onkel Phipp befriedigt. »Nun geht’s schnell heimwärts. Wer wird denn einen Gast schon bei seinem ersten Besuch halb verhungern lassen; der kommt so bald nicht wieder.«

»O doch, gewiss, Herr« — Salo stockte plötzlich — , »nun weiss ich den Namen nicht mehr«, setzte er verblüfft hinzu.

»Onkel Phipp heisse ich hier«, sagte dieser, »Onkel Phipp, weiter gar nichts!«

»Darf ich denn auch so sagen? Oh, das ist so gemütlich!« rief Salo aus, nachdem ihm der Onkel freundlich zugenickt hatte. »Also, Onkel Phipp, ich komme jedesmal, wenn Sie mich einladen, mit der allergrössten Freude wieder hierher, und wenn Sie mir gar nichts zu essen geben wollten, ich käme doch mit unerhörter Freude.«

»Nein, solche Hungeranstalt haben wir nicht«, entgegnete Onkel Phipp. »Nun wollen wir gleich zu einem kleinen Festmahl, das ich bei der Käthi bestellt habe, heimkehren. Es wird aus allerlei ländlichen Gerichten bestehen. Unser Gast soll wissen, dass er bei Freunden eingekehrt ist.«

»Oh, das weiss ich schon, Onkel Phipp, das habe ich gleich im ersten Augenblick gefühlt, als ich bei Ihnen war«, rief Salo aus.

Nun wanderte die Gesellschaft fröhlich den Berg hinab, dem heimatlichen Hause zu.

Hier stand Mäzli unter der Haustür und sperrte die Augen so weit auf, als es ihm nur möglich war. Eben hatte ihm Käthi mitgeteilt, dass es heute Eierkuchen und Äpfelauflauf und Schinkenschnitten und saure Milch und süsse Butterbrote gäbe; denn da sei ein Gast angekommen, ein sehr netter, und dazu noch Onkel Phipp. So schaute Mäzli in gespannter Erwartung den Heimkehrenden entgegen. Als sie nahe genug gekommen waren, betrachtete Mäzli den Gast recht genau.

Er musste seinen Erwartungen entsprechen; denn jetzt lief es ihm schnell entgegen, reichte ihm die Hand und sagte: »Willst du ein wenig bei uns bleiben?«

Salo lachte: »Ja, das wollte ich wohl gerne.«

Dann erfasste Mäzli seine Hand und führte ihn ins Haus und nach der Stube, wo der einladende Tisch schon gerüstet stand; denn Käthi wusste, wie alles sein musste; sie war schon viele Jahre im Hause. Nun setzte man sich zu Tisch, und Onkel Phipp war so fröhlich und unterhaltend, und alles, was er befohlen hatte, schmeckte so vortrefflich, dass es wirklich allen wie ein Festmahl vorkam, und Salo sagte: »Einen so herrlichen Schluss meiner Ferien hätte ich mir gar nicht denken können und wenn ich mir das Schönste, das ich kenne, vorgestellt hätte.«

»Wenn doch Salo nur ein paar Tage dableiben könnte, nur auch einen«, meinte Bruno, und alle vier Geschwister unterstützten mit lautem Rufen den Wunsch und baten Onkel Phipp, den Salo zu bestimmen, dass er morgen noch dabliebe, nur den einen Tag, das wäre so wundervoll und herrlich für alle.

»Ja und für mich am meisten«, sagte Salo; »aber das darf ich nicht tun. Morgen um zehn Uhr holen mich mein Lehrer und einige Schulgenossen in Sils ab, das steht ganz fest, und es ist gar keine Möglichkeit, dass ich dableibe, und wenn ich es mehr wünschte, als alles, was man nur wünschen kann.«

»Das ist bestimmt gesprochen«, sagte Onkel Phipp, »so ist’s recht; Salo weiss: was sein muss, das muss sein, auch wenn es uns nicht gefällt. Nun sollt ihr ihn auch nicht mehr bestürmen, dass er bleiben soll. Nun machen wir gleich ein lustiges Spiel und freuen uns, dass wir noch beisammen sind.«

Onkel Phipp setzte dann auch gleich das Spiel in Gang, und die fröhlichste Stimmung war bald wiederhergestellt.

Genau um die Zeit, da die Mutter täglich die Kleinen zum Aufbruch rief, sagte Lippo: »Onkel Phipp, jetzt muss man das Abendlied singen, und dann müssen das Mäzli und ich zu Bett gehen.«

Das passte aber dem Mäzli nicht; es war mitten im Spieleifer, und Salo, der an seiner Seite sass, war zwischendurch so freundlich und so lustig und spassend mit ihm, dass es ihm besser gefiel, dazubleiben, als ins Bett zu verschwinden. Es kletterte schnell von hinten auf des Onkels Stuhl, umfasste schmeichelnd seinen Hals mit beiden runden Armen und flüsterte in sein Ohr: »Onkelchen Phippchen, gelt, heute ist ein Festtag, da dürfen wir auch noch ein wenig hierbleiben; das Spiel ist so lustig, und ins Bett gehen ist so furchtbar langweilig.«

»Ja, ja, heut ist ein Festtag«, bestätigte Onkel Phipp, »nun dürfen die Kleinen auch länger bleiben; wir fahren noch zu spielen fort, alle miteinander.«

Mäzli hüpfte mit Freuden an seinen Platz zurück, und fröhlich wurde weiter gespielt. Es war ein ausserordentlich kurzweiliges Spiel, und durch Onkel Phipps Bemerkungen zwischendurch wurde es noch lustiger. So bemerkte niemand, wie ungewöhnlich still das Mäzli geworden war.

Plötzlich sagte Salo: »Oh, seht doch, Mäzli ist tief eingeschlafen, es fällt fast vom Stuhl.«

Wirklich wäre Mäzli jetzt vom Stuhl gefallen, hätte nicht Salo schnell seinen Arm um das Kind gelegt und es sorgsam festgehalten.

Nun trat Onkel Phipp herzu: »Komm, komm, Mäzli«, sagte er ermunternd, »mach schnell die Augen auf, dann geht Mea mit dir hinauf zu Bett.«

»Nein, nein«, wimmerte Mäzli und bewegte sich nicht.

»Doch, doch, komm, sieh, wir gehen nun auch alle«, fuhr der Onkel fort, »du willst doch nicht allein hierbleiben?«

»Nein, nein, nein«, stöhnte Mäzli kläglich.

»Mea, gib mir ein wenig Zuckerbrot«, befahl der Onkel, »dann erwacht Mäzli und kommt zu sich.«

»Wir haben kein Zuckerbrot im Haus, Onkel«, entgegnete Mea.

»Was? Nicht einmal das Nötigste in einem Haushalt von so viel Kindern! Dafür werde ich morgen sorgen«, sagte der Onkel aufgeregt. »Willst du ein Süssholztäfelchen, Mäzli? Komm, schmeck einmal, wie süss das ist.«

»Nein, nein, nein«, wimmerte Mäzli wieder und in so wehmutsvollen Tönen, wie man sie von dem entschiedenen Mäzli noch gar nie vernommen hatte.

Plötzlich schoss ein erschreckender Gedanke durch Onkel Phipps Kopf. »Sollte das Kind schon das Fieber von oben herunter erwischt haben? Was soll man nur tun? Was ist da zu machen?« rief er in wachsender Aufregung aus.

Unterdessen war Käthi ins Zimmer getreten, um zu sehen, ob noch etwas gewünscht werde.

»Das macht man so, Herr Falk«, sagte sie, indem sie herzutrat, Mäzli schnell in ihre festen Arme nahm und nach seinem Schlafzimmer trug. Hier wurde es trotz alles Stöhnens rasch feiner Hüllen entledigt und ins Bett gelegt, wo es ohne alles Fieber sofort prächtig weiterschlief.

»Ah, das wäre denn auch gut vorübergegangen«, sagte Onkel Phipp erleichtert, als Käthi mit der Nachricht zurückkehrte. »Nun mein ich, wäre die Zeit gekommen, da wir alle unsere Lagerstätten aufsuchen können. Lippo sieht auch aus, als könne er kaum mehr auf seinen kleinen Beinen stehen.«

Lippo sah kreideweiss aus vor Müdigkeit. Er riss von Zeit zu Zeit seine Augenlider krampfhaft in die Höhe, und ganz leise fielen sie immer wieder herunter. Der Onkel nahm ihn an der Hand und wollte ihn fortführen; aber er sträubte sich.

»Onkel Phipp, wir haben das Abendlied noch nicht gesungen«, sagte er, sich am Klavier festhaltend.

»Barmherzigkeit, nun kommt das noch!« rief der Onkel in rechtem Schrecken aus, »nein, nein, nun ist’s zu spät, aber morgen abend singt ihr zwei Lieder, dann ist alles wieder im Gleichgewicht.«

»Dann haben wir nur für morgen zwei Lieder gesungen, aber für heute immer noch keines«, bewies Lippo in kläglichem Ton, sich fest ans Klavier anklammernd und den Onkel zurückziehend.

»Es hilft nichts, es muss sein«, sagte mit Ergebung Onkel Phipp, der die Zähigkeit seines Patenkindes in Erfüllung des Gesetzes erfahren hatte. »Kurt, du weisst Bescheid mit den Liedern. Such das kürzeste im ganzen Gesangbuch aus, sonst müssen wir bis morgen singen, wenn wir nicht noch einen Hauptjammer erleben wollen. Aber wart noch, Kurt, eine singbare Melodie muss das Lied haben; da ist ja niemand, der Klavier spielt, so muss ich noch den Vorsinger machen. Willst du denn auch noch mit uns singen, Salo, oder wird es dir zu spät? Du kannst dich die Treppe hinauf rechts ins Eckzimmer zurückziehen, wenn du es vorziehst.«

»Oh nein, ich will hierbleiben, solange nur noch jemand dableibt«, entgegnete Salo, »ich will auch gern mitsingen und alles mitmachen; es ist ja alles so lustig und merkwürdig, was hier vorgeht.«

Kurt hatte das richtige Lied gefunden, und Onkel Phipp stimmte kräftig an, so dass sich alle zurechtfanden und ein helltönender Chor entstand. Lippo gab ganz klägliche Töne von sich; aber er sang, mit dem überwältigenden Schlaf kämpfend und ringend, bis zur letzten Note mit. Jetzt konnte endlich die Gesellschaft die Treppe hinaufwandern, um die verschiedenen Schlafzimmer zu erreichen.

»Ah«, sagte Onkel Phipp aufatmend, als alle oben an der Treppe angekommen waren, »da wären wir denn so weit. Es hat etwas auf sich, so ein ganzes Büschel Kinder, wo immer eines anders ist als das vorhergehende, in der Ordnung zu erhalten. Für heute wären wir denn glücklich fertig geworden. — Was? Noch nicht? Was ist denn bei dir noch los, Bruno?«

Dieser hatte sich dem Onkel mit deutlichen Anzeichen genähert, dass er noch gern etwas von ihm hätte. Jetzt zog er den Onkel auf die Seite.

»Ich möchte dich gerne noch um etwas bitten«, sagte Bruno, »du tust mir vielleicht einen grossen Gefallen, Onkel Phipp. Wir haben noch soviel miteinander zu sprechen, Salo und ich, und morgen früh muss er ja fort. Da wollte ich dich fragen, ob du nicht den Kurt neben dir im Besuchszimmer schlafen lassen wolltest, dann könnte Salo Kurts Bett in meinem Zimmer einnehmen.«

»Was fällt dir ein, Bruno«, fuhr der Onkel auf, »da solltest du einmal hören, was uns deine Mutter morgen sagen würde! Wir hätten einen Wallerstätten zu Gast und würden ihm ein schon gebrauchtes Bett anbieten! Was wäre das für eine Tat, vielmehr Untat in ihren Augen! Das kann nicht sein, durchaus nicht, das musst du selbst einsehen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Bruno niedergeschlagen; denn er sah es wirklich ein. Aber solche Niedergeschlagenheit konnte Onkel Phipp nicht mit ansehen.

»Hör, Bruno«, sagte er gleich wieder, »du siehst ein, so geht’s nicht; aber ein Onkel weiss Rat, dafür ist er da, wir machen’s so: ich gehe in dein Bett, und du gehst mit Salo ins Besuchszimmer, so wird’s gehen, nicht?«

»Oh, danke, Onkel Phipp, wie du bist, gibt’s keinen Onkel mehr«, rief Bruno hocherfreut aus.

Endlich war dann auch das letzte Anliegen an Onkel Phipp für heute erledigt, und die ganze Gesellschaft war willig, zu Ruhe zu gehen. Bald lag auch tiefe Stille über dem eben noch so bewegten Hause. Auch die Kranke im obersten Gemach lag so ruhig schlafend auf ihrem kühlen Kissen, dass es gar nicht merkte, wie Frau Maxa noch einmal mit der kleinen Lampe an ihr Lager trat und ihre Atemzüge sorglich belauschte bevor auch sie sich hinlegte. Nur im Zimmer der Freunde wurde immer noch gesprochen, immer noch, als Mitternacht längst vorüber war.

Die beiden verstanden sich so völlig in allen Stücken und auf allen Gebieten, dass Bruno in seiner Begeisterung darüber vorschlug, sie wollten dem Schlafe keine Minute dieser Nacht abtreten, und Salo wünschte immer wieder, wenn doch nur Bruno einer seiner Institutsgenossen wäre oder werden würde. Endlich kam unvermerkt der besiegende Schlaf auch über die zwei Freunde und schloss ihnen Mund und Augen.


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