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Schwere Luft

Seit einigen Tagen war es, als ob im Hause der Frau Maxa ein Druck auf allen Gliedern läge, so dass die gewohnte Fröhlichkeit gar nicht mehr aufkommen konnte. Die Mutter selbst ging schweigsamer als gewöhnlich umher. Der Gedanke, wie es nun mit Bruno kommen solle, lag ihr schwer auf dem Herzen. Sie hatte an ihren Bruder geschrieben, er möchte doch bald kommen, damit sie die Sache besprechen und gemeinsam einen Entschluss fassen könnten. Er hatte geantwortet, dringende Geschäfte zwängen ihn sofort zu einer Reise nach Süddeutschland, doch werde ja nach seiner Rückkehr noch vollauf Zeit dazu da sein, die Sache in Ordnung zu bringen.

Den Bruno, der um die Sache wusste, hatte die Möglichkeit eines gemeinsamen Wohnens mit den zwei Studiengenossen so aufgeregt, dass er heimlich die kühnsten Pläne schmiedete, um solch unerträglichem Zustand entgehen zu können. Warum sollte er nicht einfach verschwinden, wie der junge Baron von Wallerstätten getan hatte, und nach Spanien reisen? Freilich hatte wohl der Herr vom Schloss droben Geld mitzunehmen gehabt, er aber hatte keines. Aber er konnte sich als Schiffsmatrose anstellen lassen und nach China oder nach Australien fahren und dort die Merkwürdigkeiten des Landes und der Einwohner studieren und dann grosse Werke darüber schreiben, so hatte er eine einträgliche Arbeit. Oder konnte er sich nicht einer Gesellschaft herumreisender Sänger anschliessen? Die Mutter hatte ja gesagt, seine Stimme klinge gut, sie wünschte, dass er später Unterricht im Gesang nähme. Mit gerunzelter Stirn konnte Bruno ganze Abende ohne ein Wort zu sprechen dasitzen und seinen Plänen nachsinnen; denn es kostete eine grosse Anstrengung, zu unterscheiden, welcher von allen der beste sein möchte, und dann noch den Weg auszufinden, wie er ausgeführt werden könnte.

Auch auf der Stirn der Mea hatten sich dichte Wolken gelagert; doch war sie dabei nicht so schweigsam wie ihr Bruder. Alle Augenblicke entfuhr ihr ein Ausruf einmal des Schmerzes und einmal der Entrüstung. Wie war es ihr aber auch ergangen?

Als ihre Familie von Sils herauf nach Nollagrund kam, um sich hier niederzulassen, da hatte Elvira sich gleich alle Mühe gegeben, der Mea näherzukommen und Freundschaft mit ihr zu schliessen.

Die Frau Amtsrichter liess eine Einladung nach der anderen ergehen, um den Freundschaftsbund zu beschleunigen, ganz so, wie sie es mit Bruno tat, der auch der nahe Freund ihrer Söhne werden sollte. Freilich, Bruno hatte von Anfang an erklärt, mit den beiden wollte er nicht Freundschaft schliessen, und dass er dieselben Unterrichtsstunden mit ihnen zu nehmen hatte, führte zu nie endenden Kämpfen und Kriegsszenen. Aber Mea hatte ein freundschaftsbedürftiges Herz.

Sie war überglücklich über das Entgegenkommen der Familie Knippel und gab sich gleich mit vollem Vertrauen und den wärmsten Gefühlen der neuen Freundin hin. Freilich zeigten sich bald grosse Verschiedenheiten im Wesen und in den Anschauungen der Freundinnen; aber das störte Mea erst gar nicht in ihrer schwärmerischen Freude, eine Freundin gefunden zu haben. Nach und nach würden sie sich dann wohl verstehen, dachte sie, wenn sie nur erst recht nahe Freundinnen würden, dann würden sie alles ganz gründlich miteinander besprechen und natürlich ganz einig werden. Jetzt kannten sie einander doch noch nicht so recht. Aber je näher nun die Freundinnen bekannt wurden, je mehr und je tiefergreifende Verschiedenheiten kamen zutage, und der Versuch, sich darüber zu verständigen, endete regelmässig in weiterem Auseinanderkommen.

Frau Maxa suchte ihre Kinder nicht nur gegen alles Unrecht und Böse mit Abscheu zu erfüllen, auch alles, was unschön und unedel war, alles Gemeine, das ihr in der Seele zuwider war, suchte sie von ihren Kindern fernzuhalten, ihnen Widerwillen dagegen einzupflanzen. Wenn nun Mea in solchen Dingen auf eine andere Auffassung bei Elvira traf, so hatte sie die Überzeugung, im Recht zu sein, die Mutter hatte ihr ja ihre Anschauung beigebracht. Es musste die rechte sein, und Elvira musste davon überzeugt werden. Dann kehrte Elvira sich von ihr ab, sie wolle keine Predigten, sagte sie.

So war aus der Freundschaft immer noch nicht geworden, was Mea meinte und trotz aller Widerreden des Bruders Kurt immer noch erhoffte. Seit dem Vorgang mit Loneli und den Worten, die Mea in ganz guter Absicht gesagt hatte, weil Elvira ja ihre Freundin war, hatte diese nie mehr mit ihr gesprochen und verharrte durchaus in ihrem Zustand des Grollens. Mea war keine Schmollnatur. Wenn sie sich beleidigt fühlte, dann erstürzten ihr die Worte der Empörung wie einem Krater die feurigen Lavasteine. Nachher war’s wieder gut. Nun musste sie Tag für Tag mit der fort und fort Schmollenden stundenlang auf derselben Schulbank sitzen, dann wieder - ohne ein Wort zu hören und zu sprechen - sich von ihr entfernen. Dieser Zustand war ihr jetzt schon fast unerträglich geworden, und so sollte es nun fortgehen?

Mea stöhnte auf bei dieser Aussicht. Über eines war sie froh in dieser Zeit der Bedrängnis, darüber, dass Kurt in einer so seltsam gedrückten Stimmung war, dass er kaum sprach, sonst hätte er gewiss schon mehrere schreckliche Lieder auf ihre Erlebnisse in der Freundschaft und auf die schmollende Elvira gemacht.

Wirklich ging auch Kurt, der sonst immer fröhliche, seit einiger Zeit so gedrückt umher, als ob er ein schweres Gewicht mit sich zu tragen hätte. Er hatte der Mutter absichtlich etwas verschwiegen. Das wurde nun immer schwerer und schwerer in ihm, darum sah er so gedrückt aus. Warum hatte er auch nicht gleich alles bekannt? Aber die Mutter hätte ihm doch nicht geglaubt, dass er eine Gestalt gesehen hätte, die kein Mensch sein konnte, und er hatte sie doch gesehen. Und dass er schuld daran war, dass nun erst recht alle Leute in Nollagrund an den Geist von Wildenstein glaubten, nachdem die wunderbare Erscheinung gesehen worden war, das kam ihm vor wie ein Verrat an der Mutter; er durfte sie kaum mehr recht anblicken. Oh, wenn er sich doch zu helfen wüsste und wieder froh werden könnte! Das war der einzige Wunsch, der sein Herz erfüllte.

Nur Lippo und Mäzli gingen vergnügt ihre gewohnten Geleise und wussten nichts von beschwerenden Gedanken.

Sobald Mäzli bemerkte, dass im Hause nicht alles mit der gewohnten Fröhlichkeit zuging, suchte es schnell für eine Weile in etwas andere Luft zu kommen; denn eine gedrückte Stimmung war nicht, was ihm behagte. Es wusste auch immer eine Zufluchtsstätte: »Nun muss ich gewiss wieder einmal Apollonie besuchen, Mama«, sagte Mäzli in kurzen Zwischenräumen, immer wieder mit Überzeugung, und die Mutter, die ein grosses Vertrauen in die schützende Hand der Apollonie setzte und auch wusste, wie willkommen ihr diese Besuche waren, liess das Mäzli öfters seinen Weg ziehen. Diesen fand es nun auch ganz gut allein und legte ihn immer ordentlich und ohne Abschweifungen zurück. Kam es dann am Abend wieder, meistens von Loneli begleitet, einen grossen Blumenstrauss in der Hand - denn ohne dieses Geschenk liess Apollonie das Mäzli niemals ziehen -, dann hielt es schnell die Blumen der Mutter hin und rief: »Sie sind wieder da! Sieh nur, sie sind wieder da!«

Und die Mutter schaute erfreut den Strauss und sagte: »Ja, da sind die echten, alten, herrlichen Resedablumen aus dem Schlossgarten wieder, die hat Apollonie in den ihrigen verpflanzt. Aber im Schlossgarten waren sie noch viel prächtiger, wie dort sind sie nirgends sonst zu finden.« Dann zog sie mit Wonne den süssen Blumenduft ein.

Mäzli steckte dann schnell sein Näschen auch in den Strauss und stiess einen Laut grösster Wonne aus.

Loneli hatte wieder so lustige Augen wie immer und war voller Fröhlichkeit. Seit Kurt seine Rede gehalten und mit all den anderen Schülern Lonelis guten Namen hergestellt hatte, war die Grossmutter wieder so gut mit ihm als nur je, und sagte niemals mehr ein Wort von der Schandbank. Loneli hatte eine solche Dankbarkeit im Herzen für Kurt, dass es nur immer dachte, wenn es ihn doch nur auch einmal aus einer Not erretten könnte. Es hatte wohl bemerkt, wie Kurt seit einiger Zeit gar nicht mehr war wie sonst, der Fröhlichste und Unterhaltendste von allen und der Anführer zu allen lustigen Taten. Was konnte ihn nur so niedergeschlagen machen? Ihn so zu sehen, tat dem Loneli leid, dass es immer nachgrübeln musste, was ihm begegnet sein könnte, das ihn so verändert hatte.

Loneli hatte ein vorzügliches Spürnäschen, und es war ihm bald aufgefallen, warum man denn nie recht deutlich vernehmen konnte, wie jener nächtliche Zug zum Schloss hinauf ausgefallen war.

Die Buben gaben immer nur dunkle Andeutungen, wie der Geist von Wildenstein mehr als je da droben zu sehen sei. Da aber keiner sagen wollte, dass er davongelaufen sei, bevor er ihn nur recht gesehen hatte, liessen sie alle am liebsten nur unbestimmte erschreckende Worte über die Sache fallen.

Auch das beherzte Clevi, das sonst so gern von seinen gefahrvollen Unternehmungen erzählte, wenn sie geglückt waren, schwieg mäuschenstill, und tat Loneli einmal eine ganz klare Frage in der Sache, die eine klare Antwort erforderte, dann lief Clevi davon, und Loneli konnte der Antwort nachsehen. Das musste einen Grund haben, und gerade seit jenem Abend, da Kurt kurz vorher so gut für Loneli gesorgt hatte und dazu noch so fröhlich gewesen war, hatte er sich so verändert.

Nun setzte sich Loneli alle seine Beobachtungen zusammen, und nun stieg auf einmal ein solcher Zorn in ihm auf, dass es noch am gleichen Tag, sobald die Schule zu Ende war, auf das erstaunte Clevi losstürzte und ausrief: »Ich weiss, was ihr getan habt, ihr habt dem Kurt nicht folgen wollen, und er war doch der Führer; aber ihr seid ihm davongelaufen, weil ihr euch gefürchtet habt, und habt ihm alles verdorben.«

»Ja, und er? Er hat sich auch gefürchtet!« rief Clevi nun auch aufgeregt zurück; denn der Vorwurf hatte es getroffen. »Ich habe wohl gesehen, in welchen furchtbaren Sprüngen er den ganzen Berg herabgestürzt kam.«

»Hat er sich denn wirklich gefürchtet, glaubst du? Aber wovor denn?« forschte nun Loneli.

»Ja, wovor! Du hast gut sagen: wovor! Du hättest nur die schreckliche Riesengestalt sehen sollen, die vom Schloss herkam.«

Und jetzt, da es einmal heraus war, dass man sich gefürchtet hatte, erzählte Clevi eingehend von dem furchtbar grossen gepanzerten Ritter mit den hohen Stiefeln, dem langen Mantel bis hinab zu den Stiefelrohren. -

»War der Mantel blau?« unterbrach das gespannt lauschende Loneli hier plötzlich.

»Es war ja ganz Nacht, was meinst du denn, da wird man die Farben wohl nicht so genau sehen«, sagte Clevi tadelnd; »aber blau oder grün, das ist nicht die Hauptsache, aber die Länge, die Länge, das sah ganz schreckhaft aus! Und auf dem Kopf hatte er einen hohen Helm, und auf dem Helm einen noch viel höheren schwarzen Federbusch, der winkte so schaurig einem zu!«

Ein Freudenschein blitzte in Lonelis Augen auf. Plötzlich schoss es davon wie ein Pfeil und flog dem Hause der Frau Maxa zu. Dort stand Kurt an der Weissdornhecke vor dem Garten, das Schulränzlein noch auf dem Rücken. Er war nicht, wie sonst seine Gewohnheit war, den anderen voraus heimgestürmt, um der Mutter seine Mitteilungen zu machen und sie noch allein für sich zu haben, bevor die anderen kamen.

Mit gerunzelter Stirn stand er da und rupfte ein Blatt nach dem anderen von der Hecke und schleuderte sie weg, als ob er mit jedem einen unangenehmen Gedanken fortwerfen wollte.

»Kurt«, rief Loneli schon von weitem, »wart nur, geh noch nicht hinein, ich muss dir etwas sagen.«

Als es nun neben ihm stand, war Loneli ein wenig verlegen.. Es fühlte ganz gut, was es zuerst sagen musste, würde so klingen, als ob es den Kurt ausfragen wollte; das hielt Loneli auf einmal zurück, es wusste gar nicht, wie es anfangen sollte.

»Sag du nur, was du von mir möchtest, Loneli«, sagte Kurt ermunternd, als es immer noch zögerte.

Jetzt begann Loneli.

»Ich habe dich fragen wollen, ob - ob - kannst du etwa darum nicht mehr recht lustig sein, weil es mit dem Geist oben beim Schloss so gegangen ist, und du doch wusstest, dass es keinen gibt?«

»Von dem will ich nichts mehr wissen, gar nichts«, sagte Kurt abweisen, riss hintereinander eine Menge Blätter von der Hecke und warf sie grimmig zu Boden.

»Aber«, fuhr Loneli ganz zahm fort, »wenn es doch nur ein Mensch war.«

»Ja, ja, das ist geschwind gesagt. Was willst du doch davon reden, Loneli, du hast ja gar nichts von ihm gesehen.«

Ungeduldig warf Kurt die letzten Blätter weg und wollte gehen. Aber Loneli gab noch nicht nach.

»Wart nur noch einen Augenblick, Kurt«, bat es, »ich habe ihn wohl nicht gesehen; aber Clevi hat mir erzählt, wie er aussah, und ich weiss, wie er’s gemacht hat, dass er so gross war, und weiss auch, wo er den Panzer und den langen, blauen Mantel und den Helm mit dem hohen schwarzen Federbusch genommen hat.«

»Was!« fuhr Kurt auf und starrte Loneli an, als wäre es selbst ein rätselhaftes Gespenst, »wie kannst du davon etwas wissen?«

»Ja, gewiss, ich weiss etwas davon«, versicherte Loneli, »hör nur: meine Grossmutter war ja lange oben auf dem Schloss und hat mir soviel erzählt von allem, was sie dort erlebt hat. Da ist unten im Schloss ein grosser, alter Saal, wo alle Wände voll Waffen hängen und lauter solche Sachen und Panzer und Helme hängen überall herum, und in einer Ecke steht ein ganz geharnischter Ritter, der hat den Helm auf dem Kopf mit dem hohen, schwarzen Federbusch. Und wenn die jungen Herren vom Schlosse einen Hauptspass machen wollten, dann ging einer und nahm den geharnischten Ritter auf seine Schultern, und der lange Mantel wurde ihm über die Schultern gehängt und deckte dann den Träger noch bis zu den hohen Stiefeln herab, und die Gestalt sah so schrecklich aus, dass am hellen Tag alles davonlief, wenn sie plötzlich über die Terrasse daherkam, und die zwei jungen Fräulein schrien laut auf, wenn sie mit einem Male den grässlichen Ritter erblickten, und das freute die jungen Herren noch besonders.«

»Oh, dann hat ihn ja meine Mutter auch gesehen und weiss ganz gut, wie er aussieht«, rief Kurt, plötzlich aus seinem Zustand atemloser Gespanntheit auffahrend.

»Ja natürlich, sie war ja eins der zwei Fräulein«, sagte Loneli.

»Aber jetzt ist ja gar niemand auf dem Schloss, als der Herr Trius, der konnte doch nicht gleich zur Stelle sein«, meinte Kurt. »Ich weiss ja, dass er jeden Abend bis ganz spät unten in den Wiesen herumschleicht und den Buben auflauert, die den Äpfeln nachstreichen. Und das ist so weit weg vom Wäldchen oben, dass er uns gar nicht hätte hören können.«

»Es war doch der Herr Trius, das kannst du glauben«, versicherte Loneli. »Meine Grossmutter hat schon oft gesagt, der Herr Trius wisse immer alles, was vorgehe, er stecke immer hinter den Hecken, und wo man es am wenigsten erwarte, komme er plötzlich zwischen den Bäumen hervor. Und du weisst wohl, die Buben haben schon manchen Tag vorher gewusst, was ihr tun wolltet, und die reisen nicht leise, und den Äpfeln sind sie jeden Abend nachgestrichen. Da kannst du wohl denken, dass der Herr Trius deutlich genug gehört hatte, was ihr im Sinne hattet.«

»Ja, das ist wahr, nun muss ich gleich zur Mutter«, rief Kurt und war schon auf dem Wege; aber er kehrte schnell noch einmal zurück. »Ich danke dir vielmals, Loneli«, sagte er, mit aller Macht die Hand der Freundin schüttelnd, »du hast mir einen so grossen Gefallen getan, wie du gar nicht weisst, dass du gekommen bist, mir das alles zu sagen. Gar nichts hätte mich so froh machen können, wie das, was du mir gesagt hast.«

Nun lief er ins Haus hinein, und Loneli hatte eine solche Freude im Herzen, dass es nur in hohen Sprüngen seinen Weg heim zur Grossmutter zurücklegen konnte.

»Wo ist die Mutter? Wo ist die Mutter?« stürmte Kurt auf den Lippo ein, den er im Hausflur traf und samt der grossen Wasserflasche, die Käthi ihm anvertraut hatte, fast umgerannt hätte.

»Man weiss wohl, wo die Mama ist, wenn man gleich zu Mittagessen muss, und du bist auch zu spät aus der Schule gekommen«, antwortete Lippo, sachte weitertrippelnd mit seiner zerbrechlichen Last.

»Das bin ich, Wächter der Ordnung«, lachte Kurt, an dem Kleinen vorbei der Wohnstube zurennend.

Nun konnte Kurt wieder lachen.

»Oh, seid ihr schon an dem«, rief er erstaunt aus, als sich hier alle anschickten, sich zu Tisch zu setzen. »Wie schade, ich hätte dir so gern noch etwas gesagt, Mutter!«

Sie schaute ihn fragend an. Lange hatte er nicht mehr seine dringenden Mitteilungen an sie zu machen gehabt, lange auch hatte sie die helle Stimme und die fröhlichen Augen bei ihm nicht mehr gesehen, wie sie jetzt wieder da waren.

»Nach Tisch, Kurt«, sagte sie freundlich, »du kommst auch so spät heute?«

»Ja, ich habe zuerst so ein wenig geschlendert«, berichtete Kurt, »und dann kam mir das Loneli nachgelaufen und hatte mir etwas zu erklären, das es herausgefunden hatte. Ich habe schon manchmal gesagt, das Loneli ist das gescheiteste Kind im ganzen Flecken Nollagrund und dazu noch das allerfreundlichste und gefälligste und dienstfertigste, das überhaupt zu finden ist. Und wenn es auch nur von einer einfachen Apollonie erzogen ist, so ist es inwendig viel feiner, als eine andere, die sich auswendig mit den schönsten Bändern und Blumen aufputzt, und ich wollte lieber ein einziges Loneli, als tausend Elviren!«

Lippo hatte schon lange beunruhigt nach Kurts Teller geblickt.

»Da kommen schon die Bohnen herein, und du hast noch deinen ganzen Teller voll Suppe«, sagte er jetzt in Aufregung.

»Ich finde auch, Kurt, du tätest besser, nun an deine Suppe zu gehen, als solche Ungeheuerlichkeiten auszudenken. Wir sind ja ohnedies alle deiner Ansicht, dass Loneli ein besonders nettes und ein feinfühlendes Kind ist.«

»Gelt, Kurt«, fiel das beobachtende Mäzli ein, »weil du gestern und vorgestern und vorvorgestern so wenig geredet hast, darum musst du heute auf einmal so viel zusammenreden?«

»Gerade darum, du findiges Mäzli«, sagte Kurt lachend, und da nun alles wieder rüstig vor sich ging bei ihm, hatte er auch seine Suppe in kürzester Zeit bewältigt.

Erst nach der Schule, als die grösseren Geschwister an ihren Beschäftigungen sassen und die jüngeren einen Gang zur Apollonie unternommen hatten, konnte Kurt die Mutter ganz allein für sich gewinnen. Sie hatte verstanden, dass er gründlich mit ihr sprechen wollte, und hatte darum diese ruhige Abendstunde abgewartet. Jetzt machte Kurt ein ehrliches Bekenntnis seines Ungehorsams und suchte nicht mehr seine Tat damit zu rechtfertigen, dass er vorbrachte, er hätte ja nur der Mutter helfen wollen, den Aberglauben auszurotten. Nun konnte er auch ohne Rückhalt der Mutter sagen, wie schrecklich es ihn alle diese Tage gedrückt hatte, dass er nicht mit ihr sprechen konnte, weil er etwas auf dem Herzen hatte, das er nicht bekennen wollte. Einmal, weil er sich so sehr des kläglichen Ausgangs seiner Unternehmung schämte, und dann auch, weil er befürchtete, die Mutter würde ihm doch nun bestimmt wiederholen, es gebe keinen Geist von Wildenstein, und er hatte doch die ganze unerklärliche Erscheinung gesehen. Nun hatte Loneli etwas erzählt, das war ihm wie eine Erlösung, so musste ja die Mutter wissen, wie jene schreckliche Erscheinung aussah, und begreifen, dass er nicht glauben konnte, das könne ein Mensch sein.

»Aber gelt, Mutterchen, nun bist du nicht bös auf mich, dass ich das getan habe«, bat Kurt jetzt herzlich, »ich will gewiss nie mehr so etwas tun, wenn ich weiss, du willst es nicht; ich weiss nun schon, wie es peinigt. Ich wusste wohl, dass es die Strafe war, weil ich diese Sache angestiftet hatte, die dir nicht recht war.«

Nun die Mutter sah, dass Kurt sein Unrecht erkannte und die Strafe dafür demütig angenommen hatte, sagte sie ihm auch nichts Strafendes mehr. Was Loneli ihm von dem gepanzerten Ritter mitgeteilt hatte, bestätigte sie alles. Auch war sie ganz überzeugt, dass der überall wachsame Herr Trius längst entdeckt hatte, was Kurt mit seinen Freunden auszuführen gedachte, und dass er mit jener schreckhaften Erscheinung sie strafen und für immer verscheuchen wollte.

»Nicht wahr, Kurt«, schloss die Mutter, »darauf kann ich mich nun verlassen, dass du in Zukunft in keiner Weise mehr mit dieser Fabel vom Geist von Wildenstein etwas zu tun haben willst.«

Das konnte Kurt ehrlich versprechen; er hatte genug bekommen von seinem Versuch, den Geist wegzubeweisen. Dass dieser für ihn selbst nun wirklich abgetan und alles Unbegreifliche der Erscheinung aufgeklärt war, und besonders, dass Kurt wieder ohne alle Hemmung mit seiner Mutter verkehren konnte, machte ihn so glücklich, dass er mit einem lauten Freudengesang nach der Stube zu den Geschwistern zurückkehrte.

Frau Maxa war auch erfreut, dass ihr Kurt sich wieder zurechtgefunden und wieder seine wohltuende Fröhlichkeit erlangt hatte. Was aber jetzt an ihr Ohr drang, war nicht mehr Kurts Gesang, das war ein entschiedenes Freudengeschrei. Sie öffnete die Tür, und nun schallte der bekannte Jubelruf: »Onkel Phipp! Onkel Phipp!« zu ihr herüber. So musste ja der ersehnte Bruder in der Nähe sein. Richtig, da führten die zwei Jüngsten, die auf ihrem Heimgang den Onkel getroffen hatten, ihn mit Freudenlärm herbei, und die drei Älteren schrien mit nicht weniger kräftigen Lungen dem Onkel ihr Willkommen zu.

»Wie froh bin ich, dass du endlich kommst«, rief Frau Maxa dem Bruder entgegen, »sei willkommen! Tritt doch herein, Phipp!«

»Sobald es mir möglich wird«, erwiderte er keuchend, und zunächst war es wirklich nicht möglich für ihn; denn - an jeder Hand ein Kind und drei zwischen den Füssen, die ihn alle noch stürmisch bewillkommneten, konnte er unmöglich vorwärts kommen.

Nach und nach bewegte sich dann der ganze Knäuel ins Haus hinein und dem Lehnstuhl des Onkels zu, in den er von zehn hilfreichen Händen festgesetzt wurde, damit er sobald nicht wieder entweiche.

»Ihr Schelme!« rief Onkel Phipp erschöpft aus, »wer bei euch mit dem Leben davonkommt, der kann schon von Glück sagen. Lippo, willst du deinen Paten erwürgen? Wer wird denn zwei dicke, viel zu kurze Arme um den Hals seines Paten schlingen! Du bist wohl hinten auf meinen Stuhl geklettert und hältst deinen Fuss auf der Lehne; glitscht der aus, so bin ich erdrosselt. Wer kann dann wissen, für wen eine Mundharmonika bestimmt war, die in den Tiefen meiner Rocktasche sitzt und die wundervollsten Melodien von sich gibt, die man ihr zu entlocken versteht?«

Eine Mundharmonika war das Herrlichste, was Lippo kannte. Sein Nachbar auf der Schulbank, des Pfeifertonis Toneli, besass eine solche und konnte ganze Lieder darauf blasen, und das war so wundervoll! Wenn die Harmonika für ihn bestimmt wäre! Lippo liess schnell los.

Mit beiden Händen fuhr jetzt Onkel Phipp in seine tiefen Taschen.

Wirklich, da wurde der lange bewunderte und für sich so stark ersehnte Gegenstand herausgezogen. Aber wieviel grösser und schöner sah er aus, als Tonelis kleines Instrument, was musste diese Harmonika für Töne von sich geben können! Jetzt hielt Lippo den Schatz in der Hand, er konnte es nicht glauben; aber Onkel Phipp hatte wirklich gesagt: »Da nimm sie, für dich war die Harmonika bestimmt.«

Auch für die anderen entstiegen allerlei neue Herrlichkeiten den Tiefen der Taschen, und eins der Kinder nach dem andern rannte davon, um seinen Schatz der Mutter zu zeigen. Lippo sah und hörte nichts mehr. In gespannter Erwartung der Melodien, die da ertönen würden, stand er da und entlockte seinem Instrument ganz ohrzerreissende Jammertöne.

»Ja, Lippo, das muss man erst ein wenig lernen, alles muss gelernt sein. Komm, gib her«, sagte Onkel Phipp, »siehst du, so macht man’s.« Jetzt setzte er das Instrument an seinen Mund und fuhr hin und her damit, und nun gab es so lustige Weisen und Klänge von sich, dass Lippo in sprachloser Bewunderung zu seinem Paten aufschaute. Onkel Phipp konnte also alles, auch sogar Harmonika blasen, was doch sonst nur die Buben konnten. Und wie tat er es! Solche Töne konnte gewiss kein anderer Mensch mehr hervorbringen.

Lippo wurde in seiner staunenden Bewunderung gestört durch die lärmende Rückkehr der Geschwister, die den Onkel zum Abendbrot abholten, und nun wurde er inmitten der Schar wie ein Kriegsgefangener unter Siegesgeschrei zu Tisch gebracht.

Die Mutter hatte absichtlich die Zeit des Abendessens etwas früher angesetzt als gewöhnlich. Sie konnte merken, dass der Bruder damit einverstanden war. Wenn aber Onkel Phipp im Sinne hatte, heute die Zeit, die er mit den Kindern zubringen wollte, etwas zu kürzen, so hatte er gar nicht im Sinn, den Kindern an der Unterhaltung etwas abgehen zu lassen. Er brachte im Gegenteil eine solche Menge von lustigen Dingen vor, dass die Kinder meinten, soviel Kurzweil wie heute abend habe der Onkel noch gar nie mitgebracht. Jetzt war’s still geworden im Wohnzimmer. Onkel Phipp sass allein drinnen, seine Schwester erwartend, die mit den Kindern verschwunden war.

»Nun vor allem, Phipp«, sagte sie zurückkehrend und sich zu ihm hinsetzend, »wie machen wir’s mit Bruno? Du hast doch Herrn Knippel bestimmt gesagt, dass er nicht auch für ihn Wohnung bestellen soll?«

»Im Gegenteil, ich habe ihm alle Vollmacht dazu gegeben«, erwiderte der Bruder. »Knippel hat mir auch die Sache so dargestellt, als seist du jedenfalls auch einverstanden damit und herzlich froh, wenn er die Sache auch für dich in die Hand nähme. So dachte ich, es sei ja auch das Einfachste, und so arg wird das Zusammensein der drei Burschen ja auch nicht werden; du musst dir nur nicht gleich das Schlimmste vorstellen. Jetzt habe ich dir aber noch etwas mitzuteilen.«

Es war, als sei es dem Onkel Phipp selber lieb, etwas rasch über den bösen Punkt wegzukommen; er ahnte, dass diese Mitteilung seine Schwester in eine grosse Aufregung bringen würde.

So war es auch. Vor Schrecken über seine ersten Worte hatte sie die letzten nun gar nicht mehr vernommen.

»Wie konntest du mit dies tun, Phipp!« brach sie jetzt in Jammer aus. »Was daraus entstehen wird, sehe ich klar vor mir, ohne mir willkürliche Vorstellungen zu machen. Die geringe Gesinnung der zwei Burschen reizt Bruno fortwährend zum Zorn, zu voller Wut, er kann sich nicht mässigen, es ist ja mein grösster Kummer. Nun sollten die drei täglich, ja fast immer zusammensein, ganz zusammenwohnen, was wird daraus werden? Die Sache ängstigt mich mehr, als du weisst, und ändern kann ich sie nun nicht mehr, da du deine Zustimmung dazu gegeben hast.«

»Siehst du, Maxa, ich konnte nicht anders handeln; Knippel wollte es durchaus haben, und du weisst ja, er wird so bald beleidigt, weil er immer meint, seine Herkunft von unten herauf sei uns im Wege, weil er unsere Gleichgültigkeit gegen sein vieles Geld, das er zusammengebracht hat, nicht begreift. Du musst dich übrigens nicht so beunruhigen, lange wird die Sache nicht währen«, tröstete der Bruder, »es wird ja bald genug irgendeine fürchterliche Prügelszene zwischen den drei stattfinden, dann werde ich gleich einschreiten. Das ist dann ein guter Grund, sie auseinanderzubringen.« Die Aussicht auf eine fürchterliche Prügelszene war kein Trost für Frau Maxa; aber sie erwiderte nichts mehr, sie wusste, dass sie da nichts mehr ändern konnte.

»Nun hab ich dir noch etwas zu erzählen, das wird dich nun gleich wieder heiterer stimmen«, begann der Bruder, jetzt wieder sichtlich erleichtert, dass seine erste Mitteilung abgetan war. »Da kamen erst gestern abend meine zwei Reisegefährtinnen, die Damen aus Hannover, zu mir heraufgestiegen, um, wie sie sagten, meinen Rat in einer Sache zu holen, die ihnen sehr am Herzen liege. Sie hatten die dringende Aufforderung erhalten, sogleich zurückzukehren, da ihre alte Mutter schwer erkrankt sei und sie zu sehen begehre. Nun war das junge Mädchen, das ihnen zur Erziehung anvertraut ist, schon seit einigen Tagen so unwohl, dass sie den Arzt gerufen hatten und nun gestern gleich wiederkommen liessen, um zu wissen, ob mit dem Kinde ohne Gefahr gereist werden könnte. Er erklärte ihnen, davon sei keine Rede und gewiss noch einige Wochen lang nicht. Da sei eine Krankheit im Anzuge und allen Zeichen nach keine schnell vorübergehende, das schleichende Fieber gefalle ihm gar nicht. Nun waren die Damen sehr erschrocken und klagten dem Doktor ihre Verlegenheit. Reisen mussten sie, und zwar beide, die eine könne ja wohl in acht bis vierzehn Tagen wiederkehren; aber während der Zeit sollten sie doch eine vertraute Person und gute Krankenpflegerin für das anvertraute Kind haben, und hier waren sie ja ganz fremd. Nun fand der Doktor, das beste sei, die junge Kranke in das neue Krankenhaus in Sils im Tal zu bringen, da hätte sie die rechte Pflege, und er komme täglich ins Haus. Den Rat nahmen die Damen an, fanden dann aber, besser sei es, mich über das Krankenhaus auch noch zu Rat zu ziehen; die Ärzte seien manchmal für solche Anstalten eingenommen, schon weil sie da ihre Kranken alle beieinander hätten. So möchten sie denn auch noch von mir wissen, was ich ihnen raten würde, ob sie das Töchterchen wohl dahin bringen könnten. Ich sagte ihnen, das Haus sei gut eingerichtet, nur etwas kein, und natürlich seinen eben allerlei Kranke da. Auf meine Frage, ob die Damen vielleicht die Eltern des Töchterchens lieber die Frage entscheiden lassen wollten und ob ich bis dahin eine gute Pflegerin für die Kranke besorgen sollte, erhielt ich die Antwort, Leonore von Wallerstätten sei eine Waise, die Tante, die ihnen das Mädchen übergeben hätte, sei auch gestorben.«

»Phipp, das ist das Kind unserer Leonore, es ist ja kein Zweifel mehr!« rief Frau Maxa in der höchsten Erregung aus. »Oh, Phipp, wie konntest du den Damen das Krankenhaus anraten! Warum hast du doch nicht gleich gesagt, dass du eine Schwester hast, die das Kind augenblicklich in ihr Haus aufnehmen würde?«

»Wie konnte ich denn das tun? Denk doch einen Augenblick nach, Maxa«, sagte der Bruder. »Zu all deinen Kindern und all deinen Ängsten und Kümmernissen sollte ich dir eine Kranke ins Haus bringen mit einem Fieber, das alles Schlimme sein kann, so dass deine fünf sämtlich am Nervenfieber krank werden können; was hättest du mir dann gesagt?«

»Phipp, morgen früh geh ich mit dir nach Sils hinunter; du bringst mich zu den Damen, damit sie wissen, wer ich bin. Ich werde ihnen sagen, als nahe Freundin der seligen Mutter habe ich das Recht, das Kind in mein Haus zu nehmen und es zu pflegen. In deinem kleinen Wagen, der geschlossen werden kann, darf die junge Kranke gewiss die Fahrt hierher machen. Du gehst dann schnell zum Doktor, um ihm zu sagen, was wir im Sinne haben, und schickst uns dann den Wagen. Das tust du mir zu Gefallen, Phipp; es ist das Kind unserer Leonore, das hier nicht fremd und allein in einem Dorfspitälchen liegen soll.« Frau Maxa hatte mit einer solchen Bestimmtheit gesprochen, dass ihr Bruder im hellen Erstaunen vor ihr gestanden und ihr zugehört hatte.

»So bist du wirklich entschlossen, das auszuführen, und hast nicht etwa in der Aufregung gesprochen, was du wieder zurücknehmen musst, wenn du zu dir kommst?« fragte er jetzt.

»Ganz entschlossen, du kannst dich darauf verlassen, Phipp«, versicherte die Schwester, »und du hilfst mir die Sache ausführen. Hier im Hause will ich mir schon helfen; aber hilf mir dazu, dass die Damen mir kein Hindernis in den Weg legen; ich bin ihnen ja völlig unbekannt.«

»Das will ich; was du nur begehrst, will ich tun«, sagte in höchster Bereitwilligkeit der Bruder. »Wer doch immer wissen könnte, wo eine Frau einen grossen Jammer erheben muss und wo sie plötzlich keinen Schrecken und kein Hindernis kennt! Eingeführt habe ich dich schon bei den zwei Fräulein Remke; denn wie ich den Namen von Wallerstätten hörte, wusste ich ja, woran ich war. Ich sagte dann den Damen, du seiest eine gute Freundin der Mutter ihrer Schutzbefohlenen gewesen, und werdest diese gewiss dann und wann im Krankenhaus aufsuchen, was sie zu erfreuen schien.«

Nun fing Onkel Phipp gleich an, den folgenden Tag auf die Minute einzuteilen. Vor allem musste die Schwester versprechen, schon in der Frühe zum Fortgehen bereit zu sein, damit man zur Zeit in Sils anlange; denn im Lauf des Vormittags sollte die junge Leonore nach dem Krankenhaus gebracht werden. Auch gab er der Schwester gleich Anweisung, wie sie es mit Knecht und Wagen zu halten hätte, und erklärte ihr eingehend alles, was er als notwendig erachtete. Sie hörte ihm ruhig zu, bis er zu Ende war, dann sagte sie: »Ich habe dir auch noch ein Ereignis mitzuteilen. Denk nur, Baron Bruno ist heimgekehrt, mitten in der Nacht, kein Mensch hat ihn gesehen. Da sitzt er nun droben in dem vereinsamten Schloss, mutterseelenallein. Wie wird ihm zumute sein in den Räumen, wo er mit allen den lieben und herrlichen Menschen zusammen war, die er nie mehr gesehen, seit er damals in Weh und Schrecken sein Schloss verlassen hat.«

»Ja und warum? Er hat es so gewollt«, fuhr der Bruder auf. »Aber du kannst gar nicht von ihm sprechen, ohne dass deine Stimme gleich einen Ton annimmt, als sprechest du von einem verkannten Heiligen. Warum ist der wütende Löwe auf einmal zurückgekehrt?«

»Nun sei nicht boshaft, Phipp!« sagte die Schwester. »Jetzt ist er vereinsamt und verlassen da droben, und tut das Schwere, das wir zu tragen haben, etwa weniger weh, wenn wir selbst daran schuld sind? Er soll krank sein, vielleicht ist er darum in die alte Heimat zurückgekehrt. Ich weiss alles durch Apollonie, die immer mit Herrn Trius in Verkehr steht. Die gute Apollonie erdenkt sich alle Möglichkeiten, wie sie ihrem jungen Herrn, wie sie jetzt noch unveränderlich den Baron Bruno nennt, die Zimmer besorgen und alles um ihn her so in Ordnung halten könnte, wie er es bedürfe, und wie die Frau Mutter es immer für die Söhne haben wollte. Ich begreife gut, dass es sie Tag und Nacht beunruhigt, was da droben vorgeht, wo ihr ehemaliger Herr als einzige Pflege und Bedienung, als Koch und Zimmerdiener, für alles und jedes diesen sonderbaren Herrn Trius hat. Daran kann man wirklich nicht denken, ohne zu wünschen, dass man doch etwas für den alten Freund tun könnte, um sein Leben da droben nur auch ein klein wenig den vergangenen Zeiten ähnlicher zu machen.«

»Ums Himmels willen, du wirst dich doch nicht dahineinmischen, du wirst doch so etwas nicht unternehmen wollen?« rief der Bruder mit Schrecken aus. »Der wüsste sich schon zu helfen, wenn er es anders haben wollte. Lass deine Hand davon, da kämest du nicht gut weg!«

»Du kannst ruhig sein, da ist nichts zu machen«, erwiderte Frau Maxa. »Hätte ich irgendeinen Weg gewusst, etwas für ihn zu tun, so hätte ich ihn ganz gewiss eingeschlagen und hätte alles getan, ein wenig Sonnenschein in die dunkeln, verschlossenen Zimmer einzulassen und womöglich noch tiefer hinein. Ich hoffte, durch die im Schloss so vertraute Apollonie etwas ausrichten zu können; da sagte sie mir, wie es steht. Sie, die sich immer noch als Dienerin des Schlosses fühlt, wollte sogleich eintreten und Hand anlegen, als Herr Trius ihr mitteilte, der Herr sei angekommen. Sie meinte, sie müsste ihrem ehemaligen Herrn alles so zurechtmachen, wie er’s gewohnt war. Aber nicht einmal in den Garten liess der Wächter Trius sie eintreten, wie sonst immer. Er habe strengen Befehl, keinen Menschen auch nur in den Garten eintreten zu lassen. Sein Herr kenne hier niemand und wolle niemand kennen. So weiss ich ja, dass ich nichts erreichen würde, mein Verlangen könnte noch so gross ein, irgend etwas für den Vereinsamten zu tun.«

»Desto besser«, sagte sehr erleichtert der Bruder, »ich bin nur froh, dass der Wüterich dir selbst den Riegel vorgestossen hat, einen von mir vorgestossenen würdest du immer wieder irgendwie aufzumachen verstehen, das weiss ich schon.«

»Das glaube ich auch«, bestätigte Frau Maxa lächelnd. »Nun aber, Phipp, wenn wir morgen so früh nach Sils hinunterwandern wollen, so glaube ich, tun wir gut, uns nun zur Ruhe zu legen.«

Nun trennten sich die Geschwister. Bevor aber Frau Maxa sich zu Ruhe legen konnte, hatte sie noch mancherlei Arbeit zu tun. Wenn morgen die Damen Remke ihre Schutzbefohlene ihr anvertrauen würden, so wollte sie sogleich mit dieser heimkehren; dann musste ja alles zum Empfang der Kranken bereit sein. Noch um Mitternacht ging Frau Maxa in der Schlafstube auf dem obersten Boden, die von allen anderen Zimmern entfernt lag, hin und her, um da und dort noch etwas zum Schmuck des Zimmers anzubringen, nachdem sie die notwendigsten Zurüstungen beendet hatte. Zuletzt kam noch die runde Blumenschale auf den Tisch, die sollte morgen mit den schönsten Rosen des Gartens gefüllt werden. Das Kind ihrer Leonore sollte doch von seinem Zimmer in dem fremden Hause einen freundlichen Eindruck empfangen, sagte sich Frau Maxa. Wenn nun am Morgen noch die Sonne durch die offenen Fenster hereinleuchten und der grüne Schlossberg herübergrüssen würde, dann musste es der jungen Leonore nicht leid tun, in dem Zimmer zu wohnen. Mit diesem Gedanken schloss Frau Maxa vergnügt die Tür des fertig gerüsteten Zimmers hinter sich und suchte endlich ihr Schlafgemach auf.


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