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Schloss Wildenstein

Am frühen Morgen, als Lippo und Mäzli eben zum Tageslauf ausgerüstet aus der Mutter Händen entlassen worden waren, stiegen die beiden wie gewöhnlich in lebhafter Unterhaltung zur Wohnstube hinunter. Mäzli hatte dann immer schon erfahren, was ausgeführt werden sollte, wenn Lippo aus der Schule heimkommen würde, und machte ihm Mitteilung davon.

Die Mutter hatte rasch noch eine andere Arbeit abzutun, dann folgte sie den Kindern nach. Sie standen alle fünf um das Klavier geschart. Der Eintritt der Mutter brachte Kurt plötzlich zu einem lauten Schreckensruf: »Oh, Mutter, wir haben die Abgebrannten vergessen, und heute morgen sollten wir alles mitbringen!«

»Ja, und der Lehrer hat zweimal gesagt, wir dürfen es nicht vergessen«, jammerte Lippo. »Aber weisst du, ich habe es nicht vergessen.«

»Ihr könnt ruhig sein, es ist alles in Ordnung«, sagte die Mutter. »Eben habe ich Käthi mit einem Korb voller Sachen zum Lehrer geschickt; er war zu schwer zu tragen für euch.«

»Oh, wie angenehm! Es ist so bequem, dass man eine Mutter hat«, sagte Kurt erleichtert.

Jetzt setzte sich die Mutter ans Klavier.

»Wir wollen unser Morgenlied singen«, sagte sie, »auf den Onkel können wir nicht warten. Es möchte zu spät werden, bis er von seinem Morgenspaziergang zurückkehrt.« Nun schlug sie ihr Buch auf und stimmte an: »Die goldene Sonne - Voll Freud und Wonne.«

Und die Kinder alle fielen ein und sangen frisch und sicher mit; denn sie kannten das Lied wohl. Auch Mäzli sang laut und eifrig mit, und wo die Worte des Liedes ihm entfallen waren, da setzte es ohne Zögern die eigenen ein und fuhr lobsingend fort. Zwei Strophen waren gesungen, da sagte Kurt: »Nun müssen wir aufhören, es wird sonst zu spät. Wir müssen frühstücken, dann ist’s Zeit für die Schule.«

Die Mutter fand, er habe recht, stand auf und ging zum Tisch, die Tassen zu füllen.

Aber nun erhob Lippo ein ganz klägliches Geschrei und rief, die Mutter zurückziehend: »Tu’s noch nicht! Tu’s noch nicht. Wir müssen fertig singen! Wir müssen fertig singen! Komm zurück, Mutter, komm zurück!«

Sie wollte seine kleinen, festen Hände von ihrem Kleide lösen und ihn beruhigen; aber er hatte sich so fest daran geklammert, dass sie es nicht vermochte, und immer ärger schrie er: »Komm wieder zurück, du hast ja gesagt, gar nichts dürfe man liegen lassen, wenn es nicht fertig ist, und wir sind nicht fertig, wir müssen das Lied fertig singen.«

Aber nun fing auch Kurt zu schreien an: »Lass los, du Zwingzange, wir kommen ja alle zu spät in die Schule!«

Und Mea liess ihre Stimme auch in aufgeregten Ausrufungen gegen den fort und fort die Mutter drängenden Lippo erschallen, der vor Anstrengung und Eifer, sein Ziel zu erreichen, laut stöhnte.

In diesem Augenblick trat Onkel Phipp ein.

»Was geht denn hier vor?« rief er erstaunt in den Aufruhr hinein.

Nun fingen alle miteinander an zu erklären.

Lippo liess los, um dem Onkel nahe zu kommen und Hilfe von ihm zu erreichen. Kurt hatte die lauteste Stimme, er drang durch.

Der Onkel vernahm nun, um was es sich handle und was Lippo mit Hartnäckigkeit durchführen wollte.

»Lippo hat recht«, entschied Onkel Phipp, »was man angefangen hat, das soll man zu Ende führen, solchen guten Grundsatz muss man mit Hartnäckigkeit aufrechterhalten. Das hat Lippo von seinem Paten geerbt, der wird ihm auch beistehen. Komm, Lippo, gleich setzen wir uns hin und singen das Lied miteinander fertig bis zum letzten Wort.«

»Aber Onkel Phipp, das Lied hat zwölf Strophen, wir müssen ja in die Schule; es ist die höchste Zeit, und Lippo muss ja mit«, rief Kurt in grosser Aufregung; »wenn der Lehrer fragt, warum Lippo nicht komme, kann ich doch nicht sagen, er muss daheim sein Morgenlied fertig singen.«

»Das ist richtig, nun hat Kurt recht«, sagte der Onkel; »aber siehst du, Lippo, ich weiss einen Ausweg. Heute abend wird ja wieder gesungen, da muss mir die Mutter versprechen, das Lied mit euch zu Ende zu singen, damit ist es doch noch fertig geworden«

»Das kann man nicht, das kann man nicht«, jammerte Lippo, »es ist ein Morgenlied, am Abend kann man kein Morgenlied singen; jetzt gleich muss man es fertig singen. Wart noch, Kurt!« schrie er auf, als er sah, dass Kurt seinen Schultornister auf den Rücken nahm.

»Was muss man denn machen? Wo ist die Mutter? Warum läuft sie gerade in einem solchen Augenblick davon?« rief Onkel Phipp in hilfloser Aufregung. »Ruf die Mutter herbei, das kann ja nicht so gehen!«

Lippo hatte sich, nachdem er seinen Angstschrei ausgestossen hatte, dass Kurt ihm nicht davonlaufe, an das Klavier gedrückt und leise, aber ganz kläglich zu weinen begonnen. Kurt riss die Tür auf und rief nach der Mutter mit einer Stimme, die weit über das Haus hinaus ihr Ohr erreicht hätte. Die Anstrengung wäre nicht nötig gewesen, die Mutter stand dicht neben ihm an der Tür. Bruno hatte sie hinausgezogen, weil er ihr gern noch eine Mitteilung machen wollte, bevor auch er für seine Unterrichtsstunden das Haus verliess, und zu seinen Mitteilungen wollte er die Mutter allein haben.

»Komm doch herein, Mutter«, rief Kurt, doch jetzt in gemildertem Ton, »komm und hilf, dass dieser zweibeinige Gesetzesparagraph einmal Vernunft annimmt! In fünf Minuten geht die Schule an.«

Die Mutter trat wieder in die Stube.

»So komm doch, Maxa, wo bist du denn hingekommen?« rief ihr der Bruder zu, »es ist ja die allerhöchste Zeit. So hilf doch dem Buben zurecht. Da steht er ganz unglücklich und klammert sich an das Klavier an und soll doch gleich gehen, Kurt hat ja recht.«

Die Mutter nahm den kläglich Schluchzenden bei der Hand und zog ihn, sich auf den kleinen Klaviersessel setzend, vor sich hin.

»Komm, Lippo, das ist nun gar nichts so Schlimmes«, sagte sie beruhigend; »ich will dir etwas erklären: Siehst du, es ist sehr gut, dass du fertig machen willst, was du angefangen hast; aber es gibt Dinge, die man nicht gleich hintereinander fertig machen kann, wenn sie einmal angefangen sind. Dann teilt man diese Dinge in mehrere Teile und nimmt sich vor: Heute mache ich den ersten Teil fertig und morgen den zweiten, und so bis zum Schluss. Dann hat man jeden Tag fertig gemacht, was dahin gehörte, und das Ganze auch fertig gebracht. Nun sagen wir: Unser Lied hat zwölf Strophen, jeden Morgen sollen nun zwei davon gesungen werden, und am sechsten Tag haben wir das ganze Lied fertig gebracht und nicht unbeendigt liegen lassen. Verstehst du das, Lippo, und bist du nun beruhigt?«

»Ja«, sagte Lippo und schaute wirklich ganz befriedigt zur Mutter auf.

Jetzt musste ein ungewöhnlich kurzer Abschied von Onkel Phipp genommen werden.

»Komm nur bald wieder«, scholl’s noch dreimal von der Treppe zurück, dann ging es endlich der Schule zu.

Die Mutter schaute den dreien noch aus dem Fenster nach; sie besorgte, die beiden Älteren könnten den Kleinen gar zu weit zurücklassen, da er das späte Fortkommen verschuldet hatte. Wirklich liefen Kurt und Mea ziemlich voraus. Was hatte aber auch Lippo für einen sonderbar grossen Schulsack auf dem Rücken? musste sich die Mutter fragen.

»Kannst du erkennen, was Lippo aufgepack hat, Phipp?« fragte sie den Bruder.

Der Deckel des Schultornisters stand hoch emporgestossen von einem dicken Gegenstand, der gar nicht in den Tornister hineingebracht werden konnte und jedenfalls nicht hineingehörte.

»Was er nur mitschleppt! Siehst du was es ist?«

»Ich sehe nur ein graues Papier um einen runden Gegenstand gewickelt«, erwiderte der Bruder, »es ist jedenfalls nichts Böses darin. Das muss ich sagen, er ist ein durchaus guter und gehorsamer und auch ein recht vernünftiger Junge. Sobald man ihm das rechte Wort sagt, kommt alles ins Geleise. Warum hast du aber auch so lange gewartet, ehe du’s ihm sagtest, Maxa?« Onkel Phipps Ton wurde ganz vorwurfsvoll. »Erst läufst du fort und lässest ihn jammernd zappeln, wo er sich nicht zu helfen weiss. Er wollte ja doch etwas ganz Rechtes, nur zu unrechten Zeit; man musste ihm nur auf den rechten Weg verhelfen. Warum hast du das doch nicht gleich getan, anstatt fortzulaufen?«

»Ich konnte doch ruhig Brunos Anliegen schnell anhören, es war auch notwendig«, sagte die Schwester, »den Lippo wusste ich ja unterdessen in guten Händen. Ich dachte, du würdest ihm schon ein Wort sagen, das ihn beruhigen könnte, er hört ja so sehr auf dich.«

»Ja, ja, das ist ja alles recht«, gab Onkel Phipp zu; »aber wenn da so ein kleiner Kerl eine rechte Sache hat und man soll sie ihm widerlegen, und er nimmt dann alles noch so genau, dass er behauptet, man könne kein Morgenlied am Abend singen, und jammert in seiner Hilflosigkeit, dass man’s nicht anhören kann, da kommt einem auch nicht sogleich das rechte Wort in den Sinn, das liegt nicht immer so auf der Hand.«

Die Schwester lächelte.

»Nicht wahr, Phipp, so ganz einfach ist das Kindererziehen doch nicht?«

»Da ist etwas Wahres daran. Aber auf der anderen Seite sieht die Sache doch auch wieder nicht so schlimm aus«, sagte der Bruder mit einem Blick auf Mäzli, das jetzt still und friedlich am Tische sass und recht säuberlich und ordnungsgemäss seine Milch und Brocken behandelte. Während der grossen Aufregung von Lippo hatte es die Tätigkeit unterbrechen müssen; denn da musste es mit aller Aufmerksamkeit den Vorgang verfolgen; das Begonnene wurde nun in aller Ruhe zu Ende gebracht.

Jetzt gewahrte Onkel Phipp, dass die Zeit, die er zu seinem Fortgehen bestimmt hatte, längst überschritten war. Schnell nahm er Abschied von seiner Schwester und wollte davoneilen; aber einen Augenblick hielt sie ihn noch fest.

»Nicht wahr, Phipp, das tust du mir zu Gefallen?« bat sie dringend, »wenn du kannst, suchst du zu vernehmen, wohin das Mädchen gehört, mit dem du gereist bist? Denk doch, wenn deine Vermutung richtig wäre, wenn das Kind der Leonore hier in unserer Nähe wäre, da müsste ich es ja einmal sehen, nur einmal, das könnte mir doch niemand wehren!«

»Wollen sehen, wollen sehen«, gab der Bruder eilig zurück, dann war er verschwunden.

Der bewegte Tagesanfang hatte soviel Zeit weggenommen, dass Frau Maxa nun alle Hände voll zu tun vor sich sah, um nur mit dem Nötigsten fertig zu werden, bevor die vier aus der Schule zurückkamen und wohl jedes wieder ein eigenes Anliegen vorzubringen haben würde.

Mäzli hatte sich nach der Mutter Anweisung auf sein Stühlchen gesetzt und strickte nun ganz tugendhaft an einem weissen Lappen, der einen schönen roten Rand bekommen sollte und dazu bestimmt war, den Staub von Onkel Phipps Schreibtisch wegzuwischen. An seinem Geburtstag sollte er mit dem schönen Werke überrascht werden. Dieser Gedanke und noch andere, die der belebte Vorgang dieses Morgens in Mäzlis Kopfe angeregt hatte, bewirkten, dass es heute trotz der Abwesenheit der Mutter auf dem Arbeitsstühlchen sitzen blieb und keine Streifzüge unternahm, wozu das Mäzli sonst eine starke Neigung hatte. Die Mutter bewegte in ihrem Herzen allerlei Gedanken auf ihren verschiedenen Gängen durch das Haus, die nicht mit diesen zusammenhängen konnten, weder mit der Wäsche, die sie eben in der Küche angeordnet, noch mit den Kochäpfeln, die sie nachher im Keller ausgelesen hatte. Manchmal hatte sie eine Weile lang die Hand unbeweglich auf den Äpfeln ruhen lassen und hatte wie abwesend vor sich hingeblickt. Dann war sie mit ihren Gedanken droben im Schlossgarten, wo sie mit einer lieblichen jungen Leonore unter den rauschenden Föhren hin und her wanderte und mit ihr sang und fröhlich plauderte und wieder sang.

Des Bruders Mitteilung hatte die Erinnerung so lebendig wachgerufen. Dann wieder seufzte sie vor sich hin, denn eine andere Mitteilung stieg vor ihr auf und beunruhigte sie: Bruno hatte ihr gesagt, man solle nicht mit dem Mittagessen auf ihn warten; er werde wohl kommen, nur vielleicht ein wenig später; denn er wolle seine zwei Studiengenossen an einer Schandtat verhindern. Was diese war und wie er sie verhindern wollte, hatte er nicht mehr ausgesprochen; es war der Augenblick, da Kurt die Tür geöffnet und mit Donnerstimme nach ihr gerufen hatte. Sie hatte nur noch Bruno ermahnen können, doch nicht seinen Zorn über sich Herr werden zu lassen, was es auch sei, das ihn empöre. Viel schneller noch, als sie erwartet hatte, hörte die Mutter Kurt heranrennen und schon unter der Haustür mit erhobener Stimme nach ihr rufen.

»Hier bin ich, Kurt«, ertönte es ruhig aus dem Wohnzimmer, wo die Mutter nach Beendigung ihrer Morgenarbeiten sich vor kurzem neben Mäzli niedergelassen hatte. »Tritt nur erst in die Stube ein, solche Eile werden deine Mitteilungen ja nicht haben.«

Kurt war schon an der Mutter Seite.

»Weisst du, man ist nie sicher, ob du zuoberst oder zuunterst im Haus bist, wenn man aus der Schule kommt, Mutter«, sagte er, »da muss man sich denn beizeiten erkundigen, wo du bist, und heute ist soviel zu berichten. Jetzt sollst du hören: zum ersten lässt der Lehrer danken für die Gaben der Abgebrannten und lässt dir sagen, da du es für zweckmässig erachtest, ihnen einen Kartonhelm mit rotem Federbusch zukommen zu lassen, so werde er diesen beilegen, oder ob du etwa eine besondere Bestimmung dafür im Auge habest?«

»Ich verstehe kein Wort von allem, was du da redest, Kurt«, sagte die Mutter.

Eben öffnete Lippo die Türe, er kam immer später an; denn zur Heimkehr erwartete der Ältere den Jüngeren nicht.

»Da kommt er gerade, der erklären kann, was du dem Lehrer geschickt haben sollst, Mutter, er hat es überbracht«, sagte Kurt.

Die Mutter begrüsste erst den fröhlich herantrottenden Lippo, der sich ganz rote Backen gelaufen hatte. Dann sagte sie: »Sag mir, Lippo, hast du in deinem Schultornister heute früh noch etwas für die Abgebrannten mit fortgetragen?«

»Ja, meinen Helm von Onkel Phipp«, antwortete Lippo.

»Gelt, du hast gedacht, wenn so ein armer kleiner Kerl kein Hemd mehr hat, so kann er doch noch einen Helm mit rotem Federbusch auf den Kopf bekommen«, sagte Kurt lachend.

»Du brauchst nicht so zu lachen«, sagte Lippo ein wenig kläglich, »die Mutter hat ja gesagt, man müsse den Abgebrannten nicht nur schicken, was man selbst nicht mehr wolle, darum habe ich den Helm gegeben, ich wollte ihn sehr gern für mich behalten.«

»Du musst ihn nicht auslachen, Kurt, so habe ich wirklich gesagt«, bestätigte die Mutter; »er hat etwas Rechtes tun wollen, nur hat er nicht den rechten Weg gefunden. Du hättest mir nur sagen sollen, was du im Sinne hattest, Lippo, so hätte ich dir dazu helfen können, damit du mit deiner guten Absicht auch etwas Gutes hättest erreichen können. Ein andermal sag mir lieber, was du Gutes tun möchtest; es ist besser, wir tun es zusammen.«

»Ja, ich will«, versprach Lippo beruhigt.

»Jetzt hör nur weiter, Mutter«, drängte Kurt, »zweitens erfolgte etwas, das dich nicht freut, und uns auch nicht; denn die ganze Klasse hält es mit Loneli, und heute musste Loneli auf der Schandbank sitzen.«

»Oh, warum denn? Das arme Kind!« rief die Mutter aus. »Was hat es denn getan? Die Grossmutter in ihrer Ehrenhaftigkeit wird einen schrecklichen Jammer erheben, wenn sie nur das arme Loneli nicht auch noch für die Strafe bestraft, dass es auf der Schandbank gesessen hat.«

»Nein, das darf sie durchaus nicht«, eiferte Kurt, »der Lehrer selbst hat laut vor der ganzen Schule gesagt, nur ungern setze er Loneli auf die Schandbank; denn es sei eine brave und gehorsame Schülerin, wie er nur wenige habe; aber sein Wort müsse er halten. Er habe nun einmal gesagt, um dem leidigen Schwatzen ein Ende zu machen, den ersten Schüler oder die Schülerin, die er beim Schwatzen entdecke, werde er auf die Schandbank setzen. Da musste sich denn das Loneli hinsetzen, ganz allein, und es weinte so schrecklich, dass es uns allen ganz leid tat. Und du kannst auch denken, Mutter, ein Mensch schwatzt doch nicht allein, nicht wahr? Also hätte Loneli doch nicht allein dort sitzen müssen. Aber der Lehrer hatte eben gefragt: ‘Wer hat dort geschwatzt? Wenn’s auch nur geflüstert war, so hab ich’s wohl gehört. Wer war’s?’ Da antwortete das Loneli leise: ‘Ich’, und dann kam das Urteil. Nun hätte doch eine der Nachbarinnen auch ‘ich’ rufen müssen; denn eine hatte mitgeschwatzt, das ist klar.«

»Loneli kann auch eine Frage getan und keine Antwort erhalten haben«, meinte die Mutter.

»Das wird Mea berichten, sie lief nach der Schule dem Loneli nach. Jetzt geht’s weiter, Mutter«, fuhr Kurt fort, »also drittens sind heute früh zwei Buben aus meiner Klasse von Herrn Trius durchgeprügelt worden. Sie stiegen in aller Frühe über den Zaun am Schlossgut und wollten ein wenig nachsehen, wie es um die Rosenäpfel stehe, auf der anderen Seite des Zaunes. Aber der Herr Trius war schon auf den Füssen. Mit einem Male stand er da mit seinem dicken Stock und ihm Hui hatte jeder ein paar Triushiebe auf dem Rücken. Denn weisst du, der Zaun ist hoch und fest, so schnell ist man nicht wieder auf der anderen Seite. Jetzt noch viertens hat des Haldenbauern Marx, der hinter dem Schloss wohnt, erzählt: gestern nacht, wie sein Vater ganz spät erst nach zwölf vom grossen Viehmarkt aus dem Tal heraufgekommen sei, habe er eine grosse, ganz verschlossene Kutsche hinter sich herkommen und dann in den Schlossweg einlenken gesehen. Ganz sicher sei die Kutsche zum Schloss hinaufgefahren; aber was da drin hinaufgebracht worden sei, könne kein Mensch wissen. So, jetzt hast du mir endlich auch recht zugehört, Mutter, bis jetzt warst du gar nicht so aufmerksam, ich habe es wohl gemerkt. Dann hat Marx noch etwas von seinem Vater erzählt; aber du wirst bös, wenn ich dir das wiederhole.«

»So ist es etwas Unrechtes, Kurt, sonst würdest du das nicht sagen, dann will ich auch lieber, du wiederholst es nicht«, sagte die Mutter.

»Nein, gewiss, es ist nichts Unrechtes, nur etwas Merkwürdiges, weisst du, etwas, von dem du nichts wissen willst; aber ich glaube ja auch gar nichts von dieser Geschichte, so kann ich es ja wohl sagen. Marx hat noch erzählt, sein Vater habe gesagt, mit diesem Fuhrwerk sei es nicht richtig gewesen. Er sei weit aus dem Weg gegangen; denn der Kutscher habe ausgesehen, wie wenn er nur einen halben Kopf gehabt hätte; der Mantelkragen sei so hoch aufgeschlagen gewesen, als müsse er verdecken, was darunter war, und auf die Rosse habe er losgehauen, dass sie im hellen Galopp den ganzen Schlossberg hinaufgejagt und ihnen lauter Feuerfunken aus den Hufen geflogen seien.«

»Wie kannst du so etwas nacherzählen, als wäre dabei wirklich etwas Geisterhaftes, Kurt«, verwies ihn die Mutter; »denn darauf soll es natürlich herauskommen, der Geist von Wildenstein habe wieder herumgespukt. Das kannst du doch jeden Tag sehen, dass Pferdehufe an den Steinen Funken schlagen und dass ein Kutscher seinen Mantelkragen aufschlägt, wenn der Wind recht geht. Es kommt mir vor, Kurt, trotz allem, was ich dir über dieses unsinnige Gerede der Leute sage, kannst du nicht anders, als immer wieder irgendwie dich mit der Sache beschäftigen. Ich hoffe, dass sei nun bei dir abgetan.«

Kurt war froh, dass eben jetzt Mea eintrat; denn gerade heute hatte er sich in einer Weise mit dieser Sache beschäftigt, die wohl der Mutter nicht so ganz gefallen würde, doch beruhigte er sich damit, dass er doch ganz in ihrem Sinne handle, wenn er den Leuten beweise, dass der ganze Spuk eine leere Erfindung sei und dadurch dann für ihn und alle anderen alles für abgetan gelten würde.

»Warum hast du denn so verweinte Augen?« rief er der Schwester entgegen.

Jetzt brach Mea los, halb zornig, halb klagend, immer wieder mit den Tränen kämpfend: »Ja, du solltest nur wissen, Mutter, wie schwer es ist, mit der Elvira Freundschaft zu halten. Sie nimmt alles gleich übel, und dann wird sie so verstimmt und spricht nicht mehr und bleibt bös auf ganze Tage lang. Und wenn ich ihr noch etwas Gutes mitteilen will und ihr entgegenlaufe und ein bisschen an sie herankomme, so ist sie schon beleidigt und meint, ich habe ihr die Blumen auf dem Hut verdorben, weil sie ein wenig geschüttelt worden waren, und kehrt mir den Rücken und will nichts mehr von mir wissen.«

»Ja, das hab ich wohl gesehen letzthin«, warf Kurt ein, »und gestern hab ich ein Lied auf sie angefangen, das soll ihr gesungen werden. Nun will ich dir’s gleich vorlesen:

‘Lied auf das bekannte Fräulein.

Ein Fräulein schönen Angesichts,
Die kehrt dir gern den Rücken,
Von lautem Lärmen weiss sie nichts,
Sie weiss von stillen Tücken’.«

»Nein, das darfst du nicht singen, Kurt, das Lied darfst du nicht weitermachen«, rief Mea in neuer Aufregung.

»Mea hat recht, dass sie ihre Freundin nicht in dieser Weise besingen lassen will«, sagte die Mutter, »und wenn sie sich dagegen wehrt, kannst du es auch wohl lassen, Kurt.«

»Ich bin aber der Bruder, Mutter, ich will nicht zusehen, wie diese Freundin meine Schwester unterjocht und tyrannisiert. Das ist überhaupt gar keine rechte Freundin«, eiferte Kurt, »und wenn mein Lied sie so erzürnte, dass die ganze Freundschaft darüber verkrachen würde, so wäre dieses Erlebnis nicht zu beweinen.« Aber Mea wehrte sich leidenschaftlich für ihre Freundin und gab nicht nach, bis Kurt versprach, er werde das Lied nicht fortsetzen.

Nun wünschte die Mutter zu wissen, was denn eigentlich Mea zugestossen sei, dass sie so verweinte Augen habe. Sie erzählte, sie sei dem Loneli nachgegangen, weil es unter Schluchzen und Weinen die Schule verlassen habe; sie hätte es gern ein wenig trösten wollen. Loneli habe ihr dann mitgeteilt, wie es mit dem Schwatzen gegangen sei: Elvira, Lonelis Nachbarin auf der Schulbank, hatte gefragt, ob es auch am Sonntag auf die Kirchweih nach Sils im Tal gehen dürfe, und es hatte geantwortet: ‘Nein’. Dann wollte Elvira wissen, warum nicht, worauf Loneli geantwortet hatte, es wolle ihr nach der Schule alles erklären, hier dürften sie ja nicht so miteinander schwatzen. In dem Augenblick hatte der Lehrer gerufen, und Loneli hatte sich angezeigt.

»Nicht wahr, Mutter, da hätte doch Elvira sagen müssen, sie habe Loneli etwas gefragt, dann hätte gewiss der Lehrer nicht Loneli allein auf die Schandbank geschickt, vielleicht hätte er den zweien dann auch eine andere Strafe gegeben«, sagte Mea in Aufregung.

»So, nun hat sie auch noch Loneli auf die Schandbank gestossen!« fiel Kurt ein, »Loneli ist meine gute Freundin, nun muss sie auch noch mehr Verse haben.«

»Gewiss, das hätte Elvira tun sollen«, bestätigte die Mutter. »Ja, nun hör nur, wie es weiter ging«, fuhr Mea immer eifriger fort. »Ich lief dann von Loneli weg, weil ich noch Elvira einholen wollte. Ich habe aber das arme Loneli immer noch schluchzen hören, es fürchtete sich so sehr heimzugehen, es musste ja der Grossmutter sagen, was geschehen war, und es wusste, sie werde sehr bös sein, dass es sich eine solche Schande zugezogen habe. Elvira habe ich gleich nachher angetroffen und habe ihr gesagt, es sei doch nicht recht, dass sie sich nicht auch gemeldet habe, vielleicht wäre es dem Loneli dann auch nicht so schlimm gegangen. Da wurde sie so bös auf mich und sagte, ich sei eine schöne Freundin; ich hätte mich noch gefreut, wenn sie auch hätte auf der Schandbank sitzen müssen. Das hätte sie mir doch nicht sagen sollen, nicht wahr Mutter? Sie wusste wohl, dass das unmöglich war. Das sagte ich ihr auch und dann noch, dass ja jetzt die Sache für sie vorüber sei; aber für Loneli nicht, und dass sie darum dem Lehrer sagen sollte, wie es war. Er würde dann wohl etwas sagen in der Schule, dass die Kinder alle wüssten: Loneli habe nur eine Antwort versprochen, um sie nicht in der Schule geben zu müssen, und sei darum nicht so schuldig gewesen. Da ist die Elvira noch viel böser geworden und hat gesagt, wenn ich nur immer predigen wolle, so solle ich eine andere Freundin suchen; sie wolle nichts mehr von mir wissen, und dann hat sie sich umgekehrt und ist fortgelaufen.«

»Desto besser!« rief Kurt aus, »nun brauchst du aber nicht wieder demütig der Elvira entgegenzugehen, als wärst du die Schuldige, wie du sonst tust, nur damit sie wieder gut ist.«

»Wenn Mea ihrer Freundin wieder freundlich entgegengehen will, Kurt, so hat sie recht«, sagte die Mutter. »Elvira weiss recht gut, wer die andere beleidigt und ihr die Freundschaft gekündigt hat, sie wird Meas Entgegenkommen um so freundlicher aufnehmen.«

Kurt wollte noch eine Einwendung vorbringen; aber sie wurde nicht mehr gehört; Lippo und Mäzli kamen hereingerannt und verkündeten mit lauter Stimme die wichtige Nachricht, Käthi werde gleich die Suppe auf den Tisch bringen, und nun sei dieser noch gar nicht gedeckt.

Die Mutter hatte heute mit den Vorbereitungen zum Mittagessen absichtlich ein wenig gezögert. Immer wieder hatte sie ihre Blicke während des Gesprächs mit Kurt und Mea auf das Pförtchen am Garten gerichtet, ob Bruno nicht endlich dort eintreten würde. Noch war er nirgends zu sehen. Nun ging sie schnell daran, mit Mea den Tisch zu ordnen; noch hilfreichere Hand leistete ihr Lippo dabei. Er wusste genau, wo jedes Ding im Schrank zu finden war und wo es auf dem Tisch seinen Platz hatte. Dahin trug er es und legte es in schönster Ordnung hin, wie es sein musste, und wenn Mea nach ihrer Weise schnell einen Löffel dahin und die Gabel dorthin warf, wohin sie ungefähr gehörten, und diese durch die schnelle Beförderung etwas schief auf die Stelle gelangten, ging er sorglich hin und brachte Löffel und Gabel in ganz gerade Stellung und legte sie genau dahin, wo sie liegen mussten.

Kurt lachte auf: »Lippo muss ein Gastwirt werden, seine gedeckten Tische werden alle aussehen, als seien sie mit dem Zirkel hergestellt.«

»Lasst mir Lippo in Ruh«, sagte die Mutter, »mir wäre sehr lieb, wenn jedes von euch seine kleinen Arbeiten so pünktlich ausführen würde, wie er es tut.«

Schon war das Mittagessen zu Ende gekommen. Die Mutter schaute immer ängstlicher auf den Weg hinaus. Bruno hatte sich noch nicht eingestellt.

»Jetzt kommt er«, rief Kurt plötzlich, »er hat seine grosse Peitsche mit; die braucht man sonst nicht in den Unterrichtsstunden, da hat’s was abgesetzt.« Voller Erwartung öffnete er dem Herankommenden die Tür. Die Mutter sah so erschrocken aus, dass auch Bruno es bemerken musste, trotz der Aufregung, die in ihm kochte und deutlich auf seinem Gesicht zu sehen war.

Gleich bei seinem Eintritt rief er: »Ich will dir nun gleich sagen, Mutter, was vorgegangen ist, damit du dir nicht etwas viel Ärgeres vorstellst: Ich habe sie nur durchgepeitscht, alle beide, wie sie es verdient haben.«

»Das ist doch wohl arg genug, Bruno. Wie schrecklich! Du verrohst mir ja ganz!« jammerte die Mutter. »Wie konntest du nur so etwas tun?«

»Das will ich dir nun gleich erklären, und dann sage du selbst, Mutter, ob ich anders hätte handeln können; es musste so sein«, versicherte Bruno. »Am Sonnabend haben mir die zweie angezeigt, heute müsste eine Tat ausgeführt werden, an der ich auch teilnehmen sollte. Sie hatten entdeckt, dass an dem schönen Pflaumenbaum hinten im Pfarrgarten die prächtigsten grünen Zuckerpflaumen eben reif geworden seien, die sollten geholt werden. Um zwölf Uhr, nachdem unsere Unterrichtsstunden zu Ende sind, geht der Herr Pfarrer nach der vorderen Stube zu Tisch, da sieht kein Mensch, was dann hinten im Garten vorgeht. Gleich heute sollte diese Zeit benutzt werden, den Baum zu schütteln und alle Taschen mit den Pflaumen zu füllen, ich müsse mitmachen. Da habe ich ihnen gesagt, es sei eine Schande für sie, mich dazu aufzufordern; ich würde auch Mittel finden, sie selbst an ihrer Schandtat zu verhindern. Dann haben sie sehr gelärmt: ich sei ein Verräter, wenn ich sie angäbe. Sie selbst hätten mir ihren Plan mitgeteilt, und Verraten sei eine ganz andere Schandtat als Pflaumenschütteln. Ich sagte ihnen, ich hätte nicht im Sinne, sie anzugeben; aber ich würde mit der Peitsche kommen, und sobald sie den Pflaumenbaum berührten, würde ich sie auch berühren und so, dass sie daran denken würden. Sie haben dann nur gelacht und gehöhnt; vor meiner Peitsche zu Hause fürchteten sie sich nicht. Und wie nun heut um zwölf Uhr der Unterricht zu Ende war und die beiden gleich nach dem Garten hinten ums Haus herum liefen, holte ich meine Peitsche hervor, die ich im Hausgang versteckt hatte, und lief ihnen nach. Da war Edwin schon halb oben, und Eugen fing eben zu klettern an. Erst drohte ich nur und wollte dadurch den einen zwingen, herunterzukommen, und den andern, nicht weiter zu steigen. Aber sie höhnten nur fort, bis Edwin den ersten Zweig erreicht hatte und ihn nun mit solcher Gewalt schüttelte, dass die schönsten Pflaumen klatschend auf den Boden schlugen. Da wurde ich so ergrimmt, dass ich drauflos hieb, einmal auf den oberen und einmal auf den unteren, immerzu. Da kugelte der obere auf den unteren herab, und dann liefen beide stöhnend davon; denn ich hieb immer noch auf sei ein. Die Pflaumen liessen sie schön liegen, und nun lief ich auch.«

»Es ist schrecklich, Bruno, immer und immer wieder kommen solche Auftritte zwischen dir und den zweien vor«, jammerte die Mutter, »und du bist immer der Wilde, der tobt und im Zorn so dreinfährt, dass man dich nicht entschuldigen kann, wenn auch deine Absicht gut war. Wenn ich doch einen Weg wüsste, dass du gar nicht mehr mit den beiden zusammenkämst!«

»Heut war’s aber gut, dass er recht zornig wurde, Mutter«, bemerkte Kurt, »siehst du, dann bringt ihn keiner unter, nicht einmal zwei. Wäre er aber ohne Zorn gewesen, so hätten ihn die beiden überwältigt, und der Herr Pfarrer wäre um seine Pflaumen gekommen.«

Ob diese Erklärung ein Trost für die Mutter war, konnte man nicht wissen. Sie war mit einem Seufzer hinausgegangen, um für Brunos verspätetes Mittagessen zu sorgen. Gleich war ja auch die Zeit da, dass alle miteinander sich wieder auf ihre verschiedenen Arbeitsplätze zu begeben hatten.

Als am Abend die Kinder alle zusammen vergnüglich um den Tisch sassen, die Grossen an ihren Schularbeiten, die Kleinen bei ihrem Spiel, kam Kurt hinter den Stuhl der Mutter geschlichen und fragte leise: »Kommt heute die Geschichte?«

Die Mutter nickte bejahend: »Wenn die Kleinen zu Bett gebracht sind.« Mäzli spitzte die Ohren.

Wenn alle Arbeiten abgetan waren, folgte am Abend gewöhnlich noch ein gemeinsames Spiel. Kurt, der sonst immer der erste war, der seine Hefte zusammenpackte, kritzelte immer noch auf seinem Papier fort, als Mea ihre Bücher in den Schrank brachte. Sie schaute ihm über die Schulter auf sein Heft: »Nun schreibt er wieder Verse«, rief sie aus, »wen hast du wieder angesungen, Kurt?«

»Ich will dir’s gleich vorlesen, dann kannst du raten«, sagte der Bruder, »der erste Vers steht anderswo, also zweite Strophe, pass auf, Mea:

‘Sie wirft die Blicke her und hin,
Die alle sagen wollen:
Bin ich allhier nicht Königin,
So hätt ich’s werden sollen.

Die Freundin glaubt es demutsvoll
Und bindet ihr die Schuhe.
Das Fräulein denkt: ‘s ist wie es soll,
Es schickt sich, dass sie’s tue!

Doch zeigt die Freundin noch so sacht
Dem Fräulein seine Tücken,
Gleich ist die Freundschaft ganz verkracht,
Das Fräulein kehrt den Rücken.’«

Erst hatte Mea ein wenig über die Beschreibung des demutsvollen Wesens lachen müssen, in dem sie doch nicht so ganz das ihrige erkannte; aber nun beim Schluss stieg ihr die betrübende Erinnerung wieder auf. »Weisst du, Mutter«, brach sie erregt los, »das ist nicht das Ärgste, dass sie mir den Rücken gekehrt hat; aber dass man gar nie mit ihr einer Meinung sein kann, und dass jedesmal, wenn ich etwas schön und gut finde, sie das Gegenteil sagt, und wenn ich von etwas sage: das ist recht oder gemein, dann lässt sie es wieder nicht gelten, auch wenn ich meine Meinung gar nicht erfunden habe, sonder ganz gut weiss, dass du dasselbe auch schon gesagt hattest. So kann man ja gar keine rechte Freundschaft mit ihr halten; alle Augenblicke kommt man wieder in einen Streit, wenn man es gar nicht im Sinne hat.«

»Lass sie nur fahren, so geht es einem gerade mit ihren Brüdern«, sagte Bruno, »mit denen will ich auch keine Freundschaft, gar nichts mehr will ich von ihnen.«

»Lieber ihnen noch etwas geben, so wie heut«, bemerkte Kurt.

»Ich begreife Mea wohl«, sagte die Mutter, »sie hatte sich gleich, wie wir herkamen, in Freundschaft an Elvira angeschlossen, sie hat mehr das Bedürfnis nach Freundschaft als ihr.«

»Mutter, ich habe hier sechs oder acht Freunde, das ist doch nicht wenig«, schaltete Kurt ein.

»Sie sind auch danach«, sagte Bruno schnell.

»So muss es Mea weh tun«, fuhr die Mutter fort, »dass Elvira so wenig geeignet ist, eine Freundin für sie zu sein. Dass du ihr sagst, was du für unrecht hältst, ist ganz recht, Mea, das brauchst du nicht zu verbergen. Zeigst du ihr daneben deine Anhänglichkeit und bist du nicht gleich empfindlich bei jeder kleinen Verschiedenheit eurer Ansichten, so kann nach und nach eure Freundschaft doch vielleicht noch besser werden.«

Lippo und Mäzli fühlten, dass die Zeit zum allgemeinen Spiel gekommen war, und drängten sich nun immer näher an die Mutter heran, um ihr begreiflich zu machen, dass sie nun einmal auch wieder etwas von ihr wollten. Sie ordnete nun auch das Spiel an, und bald waren alle im grössten Eifer dabei.

Aber leider geschah auch heute, was fast jeden Tag vorkam, wenn man eben im besten Zug war und alles andere vergessen hatte, so fing plötzlich die alte Uhr an der Wand überlaut zu schlagen an und schlug unerbittlich fort, bis keine Hoffnung mehr übrig blieb. Es war die Stunde, die allem Spiel ein Ende setzte und den Gesang des Abendliedes und darauf das Abtreten der Kleinen forderte. So wurde denn trotz aller Einwände das angefangene Spiel wohl zu Ende gebracht, aber kein neues mehr begonnen, und während nun die älteren Kinder die Spielsachen zusammenräumten, ging die Mutter zum Klavier, um das Lied aufzuschlagen, das gesungen werden sollte.

Mäzli war ihr schnell nachgelaufen: »Darf ich auch einmal das Lied aussuchen, das man singen soll, Mama?« fragte es angelegentlich.

»Gewiss, wenn dir ein Lied besonders lieb ist, so darfst du es nennen«, erlaubte die Mutter.

Mäzli ergriff sehr geschäftig das Gesangbuch.

»Aber Mäzli, du kannst ja nicht lesen«, sagte die Mutter, »was soll dir das Buch helfen? Sage mir, wie dein Lied anfängt, oder was du daraus weisst.«

»Ich will es schon gleich finden«, behauptete Mäzli, »lass mich nur ein wenig suchen, Mama.« Und nun suchte es und suchte mit einem Eifer, als gelte es, ein längst vermisstes Gut zu finden.

»Hier, hier!« rief es bald und hielt das gefundene Lied hocherfreut der Mutter hin.

Sie nahm das Buch und las:

»Geduld ist euch vonnöten,
Wenn Sorge, Gram und Schmerz -

Mäzli, könntest du mir sagen, warum du dieses Lied so besonders gern singen willst?« unterbrach sie sich hier.

Kurt war auch herangekommen und schaute der Mutter über die Schulter ins Buch hinein. Jetzt lachte er laut auf: »Du schlaues Mäzli du, gelt, du hast das längste Lied gewählt, das du entdecken konntest. Du hast gedacht, Lippo werde dann schon dafür sorgen, dass die allerletzte Silbe ausgesungen werde, bevor man ins Bett muss.«

»Ja, und du gehst noch viel ungerner ins Bett«, sagte Mäzli ein wenig rachsüchtig; denn dass sein schöner Plan so schnell durchschaut war, hatte seinen Zorn erweckt, »und wenn du gehen musst, so seufzest du überlaut und rufst wie gestern: ‘Oh, wie schade! Oh, wie schade!’ und meinst, es sei ein Unglück.«

»Ganz richtig, pfiffiges Mäzli!« lachte Kurt.

»Kommt, kommt, Kinder, nun singen wir, und keines ereifert sich mehr«, mahnte die Mutter. »Wir wollen singen: ‘Der Mond ist aufgegangen’, da kannst du alle Verse auswendig und kannst mitsingen, Mäzli, von Anfang bis zu Ende.«

Nun wurde das Lied angestimmt und im Frieden fertig gesungen.

Als später die Mutter von ihrer Begleitung zu den Schlafstätten der beiden Jüngsten zurückkehrte, sassen die drei Älteren erwartungsvoll um den Tisch herum. Kurt hatte verkündet, dass heute die Geschichte der Familie von Wallerstätten erzählt werde. Man hatte vorsorglich den Strickkorb vor den Sessel der Mutter auf den Tisch gestellt; denn ohne das Strickzeug in der Hand würde die Mutter nicht erzählen, das wussten sie wohl.

Die Mutter lächelte, als sie herzutrat: »Da ist alles gut vorbereitet«, sagte sie, »so kann ich denn gleich beginnen.«

»Ja, und recht von vorn, von dort, wo es mit dem Geist anfing«, sagte Kurt.

Die Mutter schaute ihn fragend an: »Ich habe immer noch das Gefühl, Kurt, du meinst doch irgendetwas von einem solchen Geist in Erfahrung bringen zu können, was ich dir auch dagegen sage. Davon will ich erzählen, woran das Gerede über einen Geist von Wildenstein sich geknüpft hat. Das Auftauchen dieser Gerüchte geht in eine ferne Zeit zurück.

Droben auf dem Schloss hängt ein Bild«, begann die Mutter nun zu erzählen, »das ich oft als Kind angeschaut habe und das mir immer einen tiefen Eindruck gemacht hat: es stellt einen Pilger vor, der an seinem Stabe fortwandert, rastlos fort, durch das weite Land, obschon er alt und verwittert aussieht und ihm eisgraue Haare das Haupt umflattern. Das soll das Bild des Ahnherrn derer von Wallerstätten sein. Der Name soll in früheren Zeiten etwas anders gelautet haben.

Dieser Ahnherr nun soll ein sehr wilder und jähzorniger Herr gewesen sein und soll in seinem Jähzorn viele Untaten begangen haben, worüber seine Frau sich nicht trösten konnte und tagelang in der Schlosskapelle auf den Knien lag, um für ihn zu beten. Da starb sie eines plötzlichen Todes. Das erschütterte den Herrn so sehr, dass er nicht mehr auf dem Schlosse weilen konnte. Er meinte, als büssender Pilger für seine unruhige Seele Ruhe zu finden. Da nahm er einen Pilger in sein Wappen auf und änderte seinen Namen in Wallerstätten um. Dann verliess er sein Schloss und seine Söhne und kehrte niemals wieder.

In späteren Jahren lebten zwei Brüder auf dem Schlosse, Nachkommen dieses Ahnherrn, und waren beide sehr beliebt und hoch geachtet. Sie taten viel für das Land, dass es gut angebaut werden konnte und die Bauern zu schönen Gütern kamen. Aber alle beide hatten den schrecklichen Jähzorn ihres Ahnherrn geerbt, wie es denn unter seinen Nachkommen immer wieder so schreckliche jähzornige Glieder gegeben haben soll. Was zwischen den Brüdern vorgefallen war, wusste niemand; aber eines Morgens wurde der eine von ihnen tot auf dem Boden des grossen Fechtsaales gefunden. Nur der Schlosswart wusste zu berichten, die Herren hätten einen Streit mit den Waffen auszufechten gehabt. Gleich darauf verschwand der andere Bruder, und nach wenigen Tagen wurde auch er tot auf das Schloss zurückgebracht. Er war hoch oben im Gebirge, wohin er gestiegen war, über eine Felswand gestürzt und tot dort gefunden worden. Diese Vorfälle verbreiteten einen grossen Schrecken über die ganze Gegend.

Da war es nun, dass zuerst das Gerücht auftauchte, oben auf Wildenstein gehe ein Geist umher; es müsse der unruhige Geist des Schlossherrn sein, der den Bruder beim Fechten getroffen hatte. Das war viele Jahre, bevor mein Vater, euer Grossvater hier in Nollagrund als Pfarrer einzog. Damals hatte sich das Gerücht ziemlich verloren; wir Kinder hörten nichts davon, nur zuweilen verstanden wir, dass der Vater sich sehr gegen jemand ereiferte, der ihm von diesem Gerede gesprochen hatte. Euer Grossvater war der nahe Freund der Familie des Herrn von Wallerstätten auf dem Schlosse, den man ‘Herr Baron’ zu nennen hatte. Seiner erinnere ich mich nur noch aus einzelnen Augenblicken, da er mir einen besonderen Eindruck gemacht hatte. So sehe ich den hochgewachsenen Herrn mit raschem Schritt durch den Schlosshof gehen oder das unruhige Pferd besteigen, das sich jeden Augenblick bäumen wollte, was mir besonders frisch in der Erinnerung geblieben ist. Bevor ich fünf Jahre alt war, starb der Herr Baron. Ich hörte oft meinen Vater zur Mutter sagen, es sei ein Unglück für die zwei Söhne, dass sie keinen Vater mehr hätten, und sie taten mir so leid deswegen, dass ich manchmal plötzlich mitten im Spiel einhalten und zur Mutter laufen musste und sie fragte: ‘Kann ihnen niemand helfen in dem Unglück?’ Sie tröstete mich dann und sagte, der liebe Gott könne in jedem Unglück helfen. Da habe ich lange Zeit immer vor dem Einschlafen gebetet: ‘Lieber Gott, hilf ihnen doch im Unglück!’ Die beiden waren auch immer so lieb und freundlich mit mir. Ich kam viel aufs Schloss, die Frau Baron Maximiliana von Wallerstätten war meine Patin. Mein Vater unterrichtete die zwei Söhne und war auch sonst in allen Dingen der Helfer und Ratgeber der Frau Baron. Jeden Morgen wanderte er zum Schloss hinauf, auf der einen Seite meinen Bruder, euern Onkel Phipp, an der anderen mich an der Hand führend. Mein Bruder nahm den Unterricht gemeinsam mit den beiden Söhnen droben, die nur ein Jahr auseinander waren, Phipp war gerade zwischen den beiden im Alter. Bruno war der ältere -«

»Nach dem heiss ich, nicht wahr, Mutter?« schaltete Bruno hier ein.

»Salo war ein Jahr jünger -«

»Nach dem heiss ich«, sagte Mea schnell. »Nicht wahr, Mutter, weil du gern einen Salo gehabt hättest und ich kein Junge war, musste ich Salomea heissen?«

Die Mutter nickte bejahend.

»Und ich heisse wie mein Vater!« rief Kurt, um daran zu erinnern, dass sein Name auch von guter Abstammung war.

»Ich kam mit aufs Schloss«, fuhr die Mutter fort, »weil meine Frau Patin es wünschte. Sie hätte gern selbst ein Töchterchen gehabt, und nun gab sie sich so liebenswürdig mit mir ab, als gehörte ich zu ihr. Sie lehrte mich schöne Sachen sticken, feine Arbeiten machen, dann ging sie mit mir im Garten umher und durch das ganze Gut, ich musste alle Blumen und alle Bäume kennen lernen. Dann durfte ich wieder gehen und alle die duftenden Veilchen holen, die unter den Hecken am Gut und am Rande des Wäldchens so reichlich zwischen den grünen Gräsern hervorguckten. Oh, es waren herrliche Tage, und sie sollten noch schöner werden.

Ein tiefer Eindruck aus diesen frühen Zeiten ist mir lange im Herzen geblieben und hat mich manchmal in diesen schönen Tagen erschreckt, wie eine drohende Gewalt, so dass ich eine ganze Weile lang nicht mehr froh sein konnte. Mein Vater war eines Tages so schweigsam, als er vom Schloss herunterkam, dass die Mutter ihn fragte, ob droben etwas vorgefallen sei. Er antwortete, wie ich ihn jetzt noch hören kann: ‘Dieser junge Bruno von Wallerstätten hat den ganzen Jähzorn seines Ahnherrn geerbt. Nicht umsonst fürchtet sich seine Mutter davor mehr, als vor jedem anderen Unheil’.

»Siehe oben«, sagte Kurt trocken, einen Blick nach dem oberen Teile des Tisches werfend, wo Bruno neben der Mutter sass. Ein drohender Blick aus Brunos Augen war die Antwort.

»Erzähl doch schnell weiter, Mutter«, drängte Mea, die keineswegs gesinnt war, die Geschichte durch eine Fehde der Brüder unterbrochen zu sehen.

»Es war mir so schrecklich«, fuhr die Mutter wieder fort, »dass dieser gute, grossmütige Bruno, der für mich nie andere als freundliche Worte hatte und mich bei jeder Gelegenheit mit Guttaten überhäufte, etwas in seinem Wesen haben sollte, vor dem seine Mutter sich fürchten musste. Oft ging ich ganz still in einen Winkel und weinte leise darüber, dass so etwas sein konnte. Dass es wirklich so war, musste ich auch bald selbst erkennen; denn wenn die drei Jungen einmal uneinig wurden, oder sonst jemand tat, was Bruno missfiel, so konnte er ganz ausser sich geraten und tun, was ihm gewiss nachher selbst leid war. Denn das muss ich wiederholen, er war eine so edle und grossmütige Natur, er wollte gewiss keinem Menschen unrecht tun, und etwas Gemeines hätte er nie getan. Aber zu Gewalttaten konnte sein furchtbarer Zorn ihn hinreissen.

Sein Bruder Salo wurde nie so zornig, aber er gab dem wenig älteren Bruder auch niemals nach. Er hatte seinen Eigenwillen und hartnäckiges Festhalten an seinem Recht so gut wie der Bruder. Dazu hatte er bei allen Uneinigkeiten meinen Bruder Philipp auf seiner Seite; denn die beiden waren grosse Freunde. Bruno war viel zurückhaltender und verschlossener als sein Bruder. Auch hatte dieser eine viel fröhlicherer Natur; er sang und lachte durch die Hallen, dass es oft von allen Gewölben widerhallte. Auch die Frau Baron konnte so herzlich lachen. Darum meinte Bruno, die Mutter liebe den Jüngeren mehr als ihn, und er liebte seine Mutter sehr und konnte den Gedanken nicht ertragen. Aber das war nicht so, die Frau Baron liebte ihren Ältesten besonders, das konnten alle sehen, die ihr nahe standen.

Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder Philipp fünfzehn und die Söhne auf dem Schloss also etwas älter und etwas jünger als er, da trat in unseren Kreis eine so liebliche und ungewohnte Erscheinung, dass wir gleich alle von ihr entzückt waren, ich gewiss am meisten. Aber auch unsere Freunde auf dem Schlosse, sogar mein Bruder Phipp, der gar nicht leicht von Begeisterung erfasst wurde, alle drei waren begeistert von unserer neuen Spielgenossin. Sie war ein Mädchen von elf Jahren, nur ein Jahr älter als ich; aber wie überragte sie mich in ihrem Wissen und Können, in ihrem Benehmen, in ihrem ganzen Wesen, ich war völlig hingerissen von ihrer ganzen Erscheinung.

Leonore hiess sie. Sie war eine Verwandte der Frau Baron und kam vom hohen Norden herunter aus Holstein. Dort war auch meine Frau Patin geboren und hatte alle ihre Verwandten dort. Leonore war die Tochter einer solchen Verwandten. Sie hatte früh ihren Vater verloren, und da vor kurzer Zeit nun auch ihre Mutter gestorben war, hatte die Frau Baron den Entschluss gefasst, das Mädchen zu sich zu nehmen, da es sonst ganz allein gestanden hätte und auch, wie sie sagte, weil eine sanfte Schwester zwischen den zwei eigenwilligen Brüdern einen wohltuenden Einfluss auf beide ausüben müsste. Für mich fing eine Zeit an, so schön, wie ich sie mir nie hätte ausdenken können. Die mancherlei Unterrichtsstunden, die Leonore schon genommen hatte, sollten fortgesetzt und noch neue begonnen werden. Die Frau Baron hatte wohl schon vorher dafür gesorgt; denn bald nach Leonores Ankunft erschien ein feines Fräulein auf dem Schlosse, auch eine Deutsche, eine vorzügliche Lehrerin, was mir aber erst lange nachher ins Bewusstsein getreten ist.

Meine Frau Patin hatte angeordnet, dass ich alle Unterrichtsstunden mit Leonore teilen, daher die ganzen Tage auf dem Schlosse zubringen und nur je am Abend heimkehren sollte. So brachten wir unsere Tage unzertrennlich zusammen hin und oft noch die langen Abende bis in die Nacht hinein; denn bei schlechtem Wetter liess meine gütige Frau Patin mich am Abend nicht nach Hause zurückkehren. Leonore hatte einen unumschränkten Einfluss auch mich, und das war zu meinem Besten. Überall konnte ich zu ihr aufschauen, ihrem edlen Wesen war alles Niedrige und Gemeine völlig fremd. Der nahe Umgang mit ihr war nicht nur der schönste Genuss meiner Kinder- und Jugendjahre; er hat mir einen Gewinn für mein ganzes Leben gebracht.«

»Ja, du hast es gut gehabt, Mutter«, brach Mea hier leidenschaftlich los.

»Und Onkel Phipp auch mit zwei solchen Freunden«, setzte Bruno hinzu.

»Ja, ich weiss wohl«, sagte die Mutter. »Ach Kinder, wie oft habe ich sehnlich gewünscht, dass euch solche Freunde zuteil werden möchten.«

»Weiter, Mutter, weiter«, bat Kurt ungeduldig, »wo sind sie denn alle hingekommen? Man weiss ja gar nichts mehr von ihnen.«

»In allen Freistunden, die unsere Brüder hatten, wie wir sie nannten«, nahm die Mutter die Erzählung wieder auf, »waren sie unsere liebsten Spielgenossen. Wir schätzten ihre anregende Gesellschaft sehr und freuten uns immer herzlich, wenn durch irgendein Ereignis eine ihrer zahlreichen Unterrichtsstunden ausfiel und sie uns mit Freudenlärm herbeiholten; denn sie wollten uns auch gern bei ihren Spielen haben, das konnten wir wohl bemerken. Die Frau Baron hatte auch richtig vorausgesehen: seit Leonore unter uns war, kamen die Fehden zwischen den Brüdern gar nicht mehr so häufig vor, und wer den Bruno recht kannte, konnte wohl bemerken, wie er in ihrer Gegenwart seine Zornesausbrüche unterdrückte. Er hatte wohl gesehen, wie Leonore vor Schrecken totenblass geworden war, als sie einmal einem solchen Ausbruch beigewohnt hatte.

Gegen vier Jahre waren uns so in wolkenlosem, sonnigem Glück dahingegangen; da trat eine grosse Veränderung für uns alle ein. Die jungen Barone hatten das Schloss verlassen, um in Deutschland höhere Lehranstalten zu besuchen. Mein Bruder Phipp wurde auf eine landwirtschaftliche Schule gebracht. Von nun an sahen wir die Brüder nur noch einmal im Jahre, im Sommer, wenn sie für eine für uns kurze Ferienzeit nach Hause kamen. Das waren dann lauter Festtage, die vom ersten Morgenlicht bis in alle Nacht hinein ausgenossen wurden, alle mit Musik beginnend und mit Musik endend, oft in Musik vollständig aufgehend.

Die beiden Wallerstätten waren durch und durch musikalisch und hatten herrlich Stimmen. Leonores Gesang bewegte aller Herzen. Die Frau Baron sagte, ob Leonore heitere oder ernste Lieder singe, ihre Stimme bringe ihr immer die Tränen in die Augen. So ging es mir auch; aber man hätte sie immerfort mögen singen hören. Ich hatte eben mein siebzehntes, Leonore ihr achtzehntes Jahr zurückgelegt, als wir einem Sommer entgegengingen, der grosse Entscheidungen bringen sollte. Mein Bruder Phipp wurde nicht erwartet, er stand schon seit dem vergangenen Sommer in einer Verwalterstelle auf einem Gute im Norden, das die Frau Baron kannte und für ihn ausgefunden hatte. Die jungen von Wallerstätten hatten nun auch ihre Studien beendet, und ihre Mutter sah voraus, dass sie sich bei ihrem Besuch über ihre Pläne für die Zukunft aussprechen würden. Sie meinte, vielleicht wollten sie nun noch alle beide reisen, wünschte aber, einer von ihnen hätte den häuslichen Sinn, heimkehren zu wollen, so dass sie alle Mühe und Sorgen um das Schlossgut auf seine Schultern legen könnte. Die Brüder mussten sich bald nach ihrer Ankunft in einer Weise gegen die Mutter ausgesprochen haben, die sie beunruhigte. Sie ging schweigend und geängstigt umher und wich allen unseren Fragen aus. Bruno lief mit flammenden Blicken stundenlang auf der Schlossterrasse hin und her und sprach kein Wort. Nur mit Salo konnten wir noch verkehren. Er setzte sich zwar zu uns; aber wenn wir ihn fragten, was denn vorgehe, blieb auch er stumm. Es war gar nicht wie sonst, wenn die Brüder heimgekehrt waren; aber der peinliche Zustand währte nicht lang. Am fünften oder sechsten Tag nach ihrer Ankunft erschienen die beiden nicht zum Frühstück. Die Frau Baron lief gleich in höchster Unruhe nachzufragen, ob sie das Schloss verlassen hätten, ob jemand gesehen, wohin sie sich gewendet hätten. Niemand wusste etwas von ihnen; nur Apollonie hatte sie früh am Morgen gesehen, wie sie miteinander die Treppen hinaufstiegen. Sie wurde nach den Turmzimmern hinaufgeschickt, fand diese aber leer. Aus eigenem Antrieb öffnete dann Apollonie den alten Fechtsaal. Hier sass, an die Steinwand gelehnt, Salo halb ohnmächtig auf dem Boden. Er sagte, es sei nichts, er habe nur einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Sie musste ihm aber aufstehen helfen, und auf ihren Arm gestützt kam er herunter. Er blutete aus einer Kopfwunde. Die Frau Baron sprach kein Wort. Sie begleitete den Sohn nach seinem Zimmer und blieb bei ihm, bis der gerufene Arzt erschienen war und sich wieder entfernt hatte. Dann kehrte sie zu uns zurück, setzte sich zu Leonore und mir hin und sagte, wir müssten nun auch wissen, was sich ereignet habe. Sie war anscheinend ganz ruhig, aber so blass, wie ich sie nie gesehen hatte. Sie erzählte uns, die Söhne hätten nie miteinander über ihre Zukunftspläne gesprochen, und als nun die Mutter sie darüber befragte, habe jeder erklärt, sein Entschluss stehe seit Jahren fest, nach Beendigung seiner Studien wollte er heimkehren, um mit der Mutter und Leonore auf Wildenstein zu leben. Die Entdeckung, dass Salo denselben Entschluss gefasst hatte wie er und daran festhalten wollte, brachte den Bruno ausser sich. Er forderte seinen Bruder auf, die Waffen entscheiden zu lassen, welcher von ihnen beiden in der Heimat bleiben solle; denn nebeneinander hätten sie da nicht mehr Platz. Salo war bald verwundet hingefallen und hatte das Bewusstsein verloren. Bruno, wohl Schlimmeres befürchtend, war verschwunden. Der Arzt hatte Salos Wunden nicht so sehr gefährlich gefunden, doch sollte alle Vorsicht angewandt werden, da er zarter Natur war. Als ich an dem Tage das Schloss verliess, hatte ich das Gefühl, es sei alles zertrümmert, was ich als Glück und Freude auf Erden gekannt hatte, und noch lange blieb mir dieses Gefühl. Bald nach dem traurigen Ereignis rüstete die Frau Baron sich zu einer Reise. Sie wollte mit Salo und Leonore den Winter im Süden zubringen. Salo hatte sich nicht so schnell erholt, als man gehofft hatte, und Leonore war, anstatt in unserer Höhenluft kräftiger zu werden, nur immer zarter und schmächtiger geworden. Von dem Sohne Bruno hatte die Mutter einmal Nachricht erhalten. Er schrieb in kurzen Worten, sie solle sich nicht um ihn ängstigen, er reise fürs erste nach Spanien. Dass der Bruder lebte, hatte er in Erfahrung gebracht. Nun waren sie alle, die ich lieb gehabt hatte, fortgereist, und zum ersten Male sah ich das Schloss so traurig und leblos dort oben stehen und nicht mehr mit funkelnden Augen allabendlich zu uns ins Tal niederschauen. Seine Augen waren geschlossen und blieben es.«

»Oh, oh! Kamen sie nie mehr zurück?« rief Kurt im höchsten Bedauern aus.

»Nie wieder«, entgegnete die Mutter. »In diesem Augenblick war es denn, dass plötzlich das, wie wir glaubten, längst erloschene Gerücht wieder auftauchte, der Geist von Wildenstein gehe um im Schloss, und der und jener wollte ihn gehört und andere ihn gesehen haben, und bis auf den heutigen Tag spukt der Geist von Wildenstein in den Köpfen der Leute.«

»Siehe unten, kann nun hier angewandt werden«, sagte Bruno trocken, nach dem unteren Ende des Tisches blickend, wo Kurt sass. »Erzähl doch fertig, Mutter«, bat dieser eilig, »wo sind sie denn alle hingekommen. Und der verschwundene Bruder?«

»Was ich noch zu erzählen habe, ist kurz und traurig«, sagte die Mutter. »Leonore schrieb mir getreulich. Nachdem der erste Winter im Süden zugebracht worden, zeigte es sich, dass die Gesundheit der Frau Baron erschüttert war. Sie wünschte nicht, auf das Schloss zurückzukehren. Sie sandte ihre Anordnungen an Apollonie, die sich mit dem Schlossgärtner verheiratet hatte und mit ihm das Schloss hütete. Drei Jahre nachher starb die Frau Baron, ohne je wieder heimgekehrt zu sein. Kurze Zeit vorher war Leonore Salos Frau geworden. Nicht lange sollten die beiden zusammenbleiben, nicht viel mehr als drei Jahre, da starb Salo an einem hitzigen Fieber, und Leonore folgte ihm wenige Monate nachher, ein ganz kleines Mädchen und einen auch noch kleinen Jungen zurücklassend. Eine Tante aus Holstein war nach Nizza gekommen, wo Leonore nach dem Tode ihres Mannes ganz alleinstand, und hatte dann die Kinder mit sich nach Holstein genommen. Diese letzte Nachricht hörte ich durch die Apollonie, der von jener Tante die letzten Anordnungen der Leonore zugesandt worden waren. Von diesen Kindern habe ich nie mehr etwas gehört. Von dem verschwundenen Bruder habe ich durch Apollonie einmal noch Nachricht erhalten. Der junge Pfarrer Bergmann, euer seliger Vater, hatte mich um dieselbe Zeit, da die Nachricht vom Tode der Frau Baron kam, in sein Pfarrhaus nach Sils im Tal geholt, wohin ich ihm um so lieber folgte, als mein Bruder Phipp sich soeben dort ein Gut gekauft hatte und mich auch gern in seiner Nähe haben wollte. Dorthin nun kam eines Tages Apollonie in grosser Aufregung, um mir von einem Ereignis zu berichten, von dem sie ganz erfüllt war: nach wohl acht Jahren Abwesenheit, ohne je ein Wort von sich hören zu lassen, war plötzlich Baron Bruno auf dem Schloss angekommen mit einem Begleiter, der sich Herr Demetrius nannte. Der Baron glaubte, auf dem Schlosse Mutter und Bruder und die einstige Spielgenossin zu finden. Als er von Apollonie alles vernahm, was sich seit seiner Entfernung zugetragen hatte, brach er in einen furchtbaren Zorn aus; denn er glaubte, man habe ihm absichtlich keine Nachrichten zukommen lassen. Apollonie konnte ihm zwar aus den Briefen der Frau Baron beweisen, dass sie immer alle ihre Anordnungen im Hinblick auf die Rückkehr des ältesten Sohnes gab, dem sie auch, wie sie schrieb, immer wieder Nachrichten zu senden versuche, freilich ohne eine Antwort zu erhalten. Bei dem unsteten Leben, das Baron Bruno führte, hatten ihn keine Briefe erreicht, obschon er behauptete, auf den Posten der Hauptstädte dafür gesorgt zu haben, dass er gefunden werde. Erzürnt und verbittert, hatte der Baron gleich wieder das Schloss verlassen, und bis auf die heutige Stunde weiss man nichts mehr von ihm. Der Herr Demetrius, Herr Trius, wie er nachher von jedermann genannt wurde, kam vor einigen Jahren allein in das leere Schloss zurück. Apollonie hatte unterdessen ihren Mann verloren, hatte alle Räume des Schlosses zugemacht und die frühere Gärtnerwohnung bezogen, das Häuschen, wo sie noch jetzt wohnt. Von der Zeit an, da er wieder erschienen war, bis heute, führt dieser Herr Trius ein abgeschlossenes Leben dort oben und verkehrt mit keinem Menschen, als etwa mit Apollonie, und auch mit ihr nur, wenn er sie durchaus nötig hat. Von seinem Herrn gab er durchaus keine Nachricht, Apollonie konnte sich darum bemühen, wie sie wollte. Nun wisst ihr, wie mein Jugendleben mit dem Schlosse zusammenhing und könnt begreifen, dass es mich nach dem Tode eueres Vaters vor dem Jahr wieder hierherzog, um so mehr, als ein naher Bekannter meines Vaters ihm als Pfarrer hier gefolgt war. Von diesem wusste ich auch, er würde meinem Bruno noch für einige Jahre den Unterricht erteilen, den er in den Landschulen nicht mehr fand, so dass ich ihn dann noch zu Hause behalten könnte. Nun wisst ihr auch, warum, trotz des traurigen Anblickes des verlassenen Schlosses, es mich immer wieder dorthinauf zieht, um nach der Stätte so vieler schöner Erinnerungen hinüberzuschauen.«

»Erzähl doch noch ein wenig weiter, Mutter«, bat Kurt dringend, als diese sich jetzt erhob.

»O ja, bitte Mutter«, stimmte Mea ein, »erzähl noch etwas von deiner Freundin Leonore!«

»Ja, erzähl doch weiter, Mutter«, bat nun auch Bruno. »Man sollte noch vieles wissen. Ist denn der Baron Bruno immer in Spanien herumgereist?«

»Ich glaube meistens, so bestimmt kann ich das nicht sagen«, entgegnete die Mutter. »Von all dem weiss ich ja nur durch Apollonie, die ihre Mitteilungen von Herrn Trius hatte, der entweder nicht sprechen wollte, oder selbst wenig von seinem Herrn wusste. Und nun ist alles zu Ende erzählt, und ihr zieht euch so schnell als möglich zurück; denn die richtige Zeit dazu ist längst überschritten.«

Nun half kein Fragen und kein Bitten mehr, und bald war alles still im Haus. Nur leise ging die Mutter noch einmal durch die Schlafzimmer der Kinder. Da lag ihr Ältester, der so schrecklich zürnen konnte, jetzt mit heller Stirn und friedlichem Ausdruck vor ihr. Er war ja ein so ehrenhafter Junge; aber wenn die unglückliche Anlage immer mehr Macht in ihm gewinnen sollte, wie musste es dann kommen? Bald vielleicht musste sie ihn ganz von ihrer Seite lassen, und von wem in der fremden Umgebung durfte sie ein liebevolles Verständnis für ihn erwarten, was allein ihn zur Beruhigung brachte? Es lag ja nicht in ihrer Macht, ihre Kinder vor Leid und Schuld zu bewahren; aber Frau Maxa kannte die Hand, die alle Kinder führt und festhält, die ihr übergeben werden, die sie schützt und rettet, wo keine Mutterhand und keine Mutterliebe mehr mächtig ist. Sie faltete ihre Hände und ging so, von einem Bett zu anderen, ihre Kinder alle dem Schutze ihres Vaters im Himmel zu übergeben, der ja am besten wusste, wie nötig sie seine Hilfe hatten.


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