Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine unerwartete Erscheinung

Kurt hatte am anderen Tag soviel vor, dass er schon am Morgen auf dem Weg zur Schule davonrannte, als habe er keine Minute zu verlieren. Mea und Lippo, die mit ihm auf die Strasse getreten waren, schauten mit Erstaunen seinen ungewöhnlich hohen Sprüngen nach. Als er beim Schulhaus angekommen war, sah er eben von der anderen Seite das Loneli mit gesenktem Kopf und gar nicht in seiner gewohnten Weise, in lustigem Aufhüpfen, herankommen.

»Was hast du, Loneli?« fragte Kurt, als es nahe kam, »warum hast du denn schon verweinte Augen, noch ehe es nur acht Uhr geschlagen hat? Sei du nur fröhlich, ich will dir helfen. Wer hat dir etwas zuleide getan?«

»Niemand, aber ich kann nicht mehr fröhlich sein«, und Loneli hatte schon wieder Tränen in den Augen. »Du solltest nur wissen, wie die Grossmutter ist, seit ich auf der Schandbank sass; nicht nur bös, das wäre mir noch gleich; denn dann ist sie immer bald wieder gut; aber ganz traurig ist sie, und am Morgen, wenn ich in die Schule will, ist es am ärgsten, und sie sagt, ich hätte über sie und über mich eine Schande gebracht, die ihr das Haar grau mache. Ihr ganzes Leben lang sei ihr die Ehrenhaftigkeit über alles gegangen, und sie habe auf dem Schlosse bei den hochachtbarsten Herrschaften wohnen dürfen, und jetzt dürfe jeder ihr sagen, sie habe ihr Tochterkind zur Schandbank erzogen, und die Schande bleibe nun unser Leben lang auf uns sitzen, auf ihr und auf mir.« Jetzt brach das Loneli erst recht in Tränen aus; denn die ganze, nie mehr endende Schmach, die es über sich und die Grossmutter gebracht hatte, kam ihm samt den nie mehr endenden Vorwürfen der Grossmutter ganz erdrückend vor.

»Nein, nein, du brauchst gar nicht so zu weinen, das ist gar nicht so, wie es die Grossmutter aufnimmt«, sagte Kurt tröstend, »ich will schon nächstens kommen und es ihr erklären, sei du nur wieder fröhlich, das kommt schon in Ordnung.«

»Glaubst du?« fuhr Loneli in freudiger Überraschung auf, und seine Augen waren schon wieder hell; denn was Kurt sagte, stand bei ihm fest. Er schoss nun zu der lärmenden Schar hinüber, die drüben stand; denn er hatte Wichtiges mit den Versammelten zu besprechen. Es kam Kurt sehr zustatten, dass er so zahlreiche Freundschaften geschlossen hatte; denn seine Pläne waren öfter derart, dass er zu Ausführung derselben einer grösseren Zahl von Anhängern bedurfte. Zwei grosse Unternehmungen hatte Kurt für heute im Kopf. Da galt es nun, die Genossen zur Ausführung anzuwerben, und Kurt erklärte nun mit Mund und Händen sein Vorhaben so eifrig, dass die ersten Schläge der Turmglocke, die acht rief, ganz überhört wurden. Beim letzten aber fuhr die Versammlung plötzlich auseinander wie eine Schar aufgeschreckter Vögel und stürzte dem Schulhause zu. Kurt war heute wieder zuerst daheim. Mit einem grossen Bogen Papier trat er vor die Mutter hin

»Sieh, Mutter, nun hat der Herr Trius sein Lied bekommen. Gestern abend hat er noch vier meiner Freunde mit seinem Stock bedroht, sie konnten sich aber gerade noch retten. Es ist, als habe er vier Augen und vier Ohren, die in alle Ecken sehen und hören. Nun habe ich sein Lied fertig gemacht, ich will dir’s vorlesen.«

»Ich wollte viel lieber, du hättest keine Freunde, die Herr Trius mit dem Stock zu bedrohen Ursache hat«, sagte die Mutter, »ich will nur hoffen, dass du niemals in eine solche Lage kommst.«

»Er kann aber auch Unschuldige bedrohen«, meinte Kurt, »hör nur zu, es ist die wahrhafte Beschreibung dieses Menschen:

Das Lied auf Herrn Trius, den Prügler.

Herr Trius lebt von alters her
Und ist ein Mann von Stolz,
Und wen er trifft, den prügelt er
Mit seinem Stock von Holz.

Herr Trius wandelt fest einher
In seinem gelben Rock,
Doch alle Kinder rennen sehr,
Seh’n sie den dicken Stock.

Herr Trius mit dem Zipfelhut
Geht um und um und schweigt,
Und wenn er keinen prügeln tut,
Ist’s, weil sich keiner zeigt.

Herr Trius denkt: Es ist zum Heil
Für jeden Bubenkopf,
Bald haut er mit dem Vorderteil,!
Bald haut er mit dem Knopf.

Herr Trius macht ein scharf Gesicht,
Bringt er den Stock in Gang,
Und stirbt Herr Trius vorher nicht,
So prügelt er noch lang.«

Eines kleinen Lächelns hatte die Mutter während der Vorlesung sich nicht enthalten können, jetzt aber sagte sie ernsthaft: »Das Lied soll aber nicht etwa Herrn Trius in die Hände gespielt werden; er könnte es vielleicht nicht als Scherz aufnehmen, und beleidigen darfst du ihn nicht. Überhaupt rate ich dir, Kurt, den Herrn Trius in keiner Weise herauszufordern; er könnte dir auf eine Art antworten, die du nicht erwartest. Der Herr hat seine eigenen Mittel und Wege, sich die Leute vom Hals zu schaffen.« Kurt wollte gern noch die Erlaubnis von der Mutter haben, heute abend mit seinen Freunden ein wenig im Mondschein herumlaufen zu dürfen, was die Mutter bewilligte. »Es wird ja doch keiner der berüchtigten Apfelstreifzüge sein, an dem du teilnehmen möchtest«, setzte sie bedingend hinzu. Aber Kurt versicherte ein wenig empört, dass er doch so etwas nicht tun würde. Jetzt wurde er aber von Lippo auf die Seite gedrängt, der schon seit einigen Minuten alle Anstrengungen gemacht hatte, um Kurt ein wenig seitwärts zu schieben und an die Mutter heranzukommen. Jetzt war es gelungen, Kurt räumte sogar das Feld nun völlig.

»Der Herr Pfarrer lässt dich grüssen, und ob du ihm eine Antwort geben wolltest, und hier ist ein Brief«, berichtete Lippo.

»Woher bringst du den Brief?« fragte die Mutter.

»Ich habe nicht den Brief gebracht, die Lise aus dem Pfarrhaus hat ihn gebracht«, berichtete Lippo. »Aber vor der Haustür hat die Lise mich gesehen und gesagt, ich solle den Brief mit hinaufnehmen und dir geben und ihr dann sagen, ob du dem Herrn Pfarrer auch eine Antwort geben wolltest oder nicht.«

»So, das ist wirklich eine genaue Berichterstattung«, sagte die Mutter lächelnd; »siehst du, Mäzli, ich wollte, du könntest ein klein wenig von Lippo lernen, wie du berichten solltest, so hätte ich weniger Mühe, zu unterscheiden, was du erlebt und was du dir vorgestellt hast.«

Mäzli, das eben sein Strickgarn in einen unauflöslichen Knäuel verwirrt hatte, war sehr froh, aus der Mutter Worten die Aufforderung zu einer neuen Tätigkeit zu vernehmen. Es warf eilig das verworrene Strickzeug weg, sprang vom Stühlchen auf und wiederholte sehr sicher die Rede. »Ich habe nicht den Brief gebracht, die Lise aus dem Pfarrhaus -«

»Nein, nein, so meine ich es nicht«, unterbrach die Mutter, »ich meine deine eigenen Berichte, Mäzli, die du mir zu bringen hast und die oftmals etwas fabelhaft klingen, für diese könntest du gern ein wenig von Lippos Genauigkeit annehmen.«

Die Mutter hatte unterdessen den Brief aufgemacht und sah plötzlich sehr erschrocken aus. »Sag dem Mädchen, ich würde selbst zum Herrn Pfarrer kommen, es habe auf keine Antwort zu warten«, trug sie Lippo auf. Da hatte Frau Maxa die gefürchtete Aussicht mit Bestimmtheit vor sich. Der Herr Pfarrer schrieb, er habe sich überzeugen müssen, für seine Schüler sei die Zeit da, in andere Hände überzugehen; er habe beschlossen, sie auf den Herbst zu entlassen, werde aber gerne Frau Maxa mit seinem Rat für die weiteren Studien ihres Sohnes beistehen, Bruno sei ihm jederzeit ein lieber Schüler gewesen.

Frau Maxa sass eine Weile schweigend in ihren Gedanken vertieft, die Hände in den Schoss gelegt, was sie selten und niemals für lange zu tun pflegte.

Schon stand Mea mit leidenschaftlichen Gebärden vor ihr und zwang sie, ihre Teilnahme den lebhaften Mitteilungen der Sprechenden zuzuwenden: »Gewiss, du kannst mir’s glauben, Mutter«, eiferte Mea, »die Elvira ist so aufgebracht gegen mich, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will, nie mehr. Am meisten hat es sie bös auf mich gemacht, dass ich es unrecht gefunden habe, dass sie nicht eingestehen wollte, sie habe auch geschwatzt. Sie sagte so verächtlich, wenn ich ihr um eines lumpigen Lonelis willen einen Verweis geben könne, so solle ich mich nur zu einer solchen Freundin halten, nicht mehr zu ihr.«

»So lass es nun auch für diesmal so sein«, sagte die Mutter, »du bist ihr immer wider nachgegangen, und das war recht. Nun lass ihr den Willen. Loneli sollte sie nicht lumpig nennen, das ist sehr unrecht; so ehrenhaft und ordentlich wie die Apollonie und ihre Enkelin sind recht wenige unserer Leute.«

Mea hätte der Mutter gern noch allerlei geklagt; denn sie hatte das Bedürfnis, alles vor die Mutter zu bringen, was sie bewegte; aber sie sah, dass sie ihre weiteren Mitteilungen auf eine stille Stunde der Abendzeit sparen musste.

Eben war Bruno hereingekommen und hatte sich gleich an die Mutter gewandt. »Was hat der Herr Pfarrer geschrieben, Mutter?« fragte er gespannt, »hat er die Pflaumendieberei entdeckt?«

»Vielleicht, den Entschluss würde diese nicht herbeigeführt, wohl aber vielleicht befördert haben. Da lies«, sagte die Mutter, ihm den Brief übergebend.

»Das ist nun eigentlich nicht so schlimm«, fand Bruno, nachdem er den Brief gelesen hatte, »du musst mich nun nach der Stadt schicken, und so komme ich doch endlich los von den zwei, mit denen ich einmal nicht zusammen sein kann. Du weisst, dass sie gemeines Zeug treiben, und was gemein ist, gefällt ihnen.«

»Aber sie gehen ja natürlich auch nach der Stadt, da seid ihr wieder zusammen und niemand ist da, der sich um dich kümmert und auf den du hörst«, jammerte die Mutter.

»Da sei du nur ganz ohne Sorge, Mutter; die Stadt ist gross, da kommen wir nicht so nah zusammen wie hier; von denen will ich mich fern genug halten, da kannst du ruhig sein«, tröstete Bruno.

Kurt war heute von seinen Gedanken und bevorstehenden Anordnungen so sehr in Anspruch genommen, dass er am Mittagessen vor lauter Nachsinnen es nicht bemerkte, als sein bevorzugtes Gericht erschien. Lippo schaute ihn ernsthaft an: »Jetzt gibst du nicht einmal acht, wenn doch Apfelstrudel auf den Tisch kommt«, sagte er vorwurfsvoll; denn solche Gleichgültigkeit kam ihm wie ein Unrecht vor.

Aber selbst den Apfelstrudel schluckte Kurt heute in Zerstreutheit hinunter, und sowie dies geschehen war, fragte er die Mutter, ob er gleich wieder gehen dürfe, er habe vor Beginn der Schule noch so vieles mit seinen Freunden zu ordnen. »Nachher will ich dir dann alles erzählen, Mutter; es ist etwas Rechtes, was getan sein muss«, versicherte er, »wenn ich jetzt nur fort kann.« Dann stürzte er, da die Mutter Erlaubnis gegeben hatte, davon und, beim Schulhaus angekommen, mitten in die Bubenschar hinein, die seiner hier harrte. Bevor aber ausgeführt werden konnte, was er jetzt mit ungeheurer Anstrengung in die Menge hineinschrie und erklärte, mussten noch zwei lange Stunden auf den Schulbänken abgesessen werden. Sie wollten heute nicht zu Ende gehen.

Lux, der lustige Küsterbub, der viel lieber das Glockenseil zog und sich davon in die Höhe schnellen liess, als dass er auf der Schulbank sass, zupfte seinen Nachbar am Ärmel: »Wie spät ist es, Marx?«

»Weiss nicht.«

»Marx«, flüsterte Lux wieder, »der zweite Auszug wird viel lustiger sein als der erste. Ich freue mich viel mehr auf den zweiten, und du?«

»Du kannst dich zu allererst auf die Schandbank freuen, wenn du nicht schweigst«, gab Marx zurück, indem er aus den Augenwinkeln zum Lehrer hinüberschielte. Wirklich hatte dieser eben die Augen forschend auf die Seite der Flüsternden gewandt. Jetzt duckte sich Lux auf sein Heft nieder und schwieg. Endlich schlug die ersehnte Stunde, und in wenigen Minuten stand der ganze Schwarm draussen. Mit vielem Lärm, aber so regelmässig, als es in der grossen Eile möglich war, ordnete sich nun ein langer Zug und bewegte sich dann mit ziemlichem Getümmel dem Häuschen der Apollonie zu. Hier wurde halt gemacht. Kurt bestieg die aufgeschichteten Baumstämme, die am Strässchen lagen, und stellte sich hochaufgerichtet auf den obersten, während nun alle anderen sich in einem Knäuel um ihn drängten. Die Apollonie machte ein wenig das Fenster auf, stellte sich aber dahinter; sie musste aber erst wissen, was es geben sollte. Loneli stand hinter ihr, es war atemlos eben angekommen; denn es hatte gehört, es komme ein Zug vor der Grossmutter Haus.

»Frau Apollonie«, rief jetzt Kurt mit lauter Stimme, »wir sind zwei ganze Klassen, und wir sind alle gekommen, um Ihnen zu sagen, dass das Loneli nicht schuld war, dass es auf der Schandbank sitzen musste, das kam nur aus den guten Eigenschaften seines Charakters her. Aus lauter Höflichkeit und Dienstfertigkeit hat es eine Frage beantwortet, die jemand getan hatte, und als der Lehrer wissen wollte, wer geschwatzt hatte, hat es aufrichtig sich genannt; aber es hat nicht sagen wollen, dass es nur geantwortet habe; denn sonst hätte es jemand angeben müssen. Nun wollen wir Ihnen das alles sagen, damit Sie nie mehr denken, es sitze eine Schande auf Loneli, sondern dass Sie das Loneli betrachten, wie wir es tun, und wissen, dass es eines der freundlichsten und gefälligsten Kinder von der ganzen Schule ist.«

»Hoch das Loneli!« rief auf einmal der Lux mit solcher Wucht in die Luft hinaus, dass die ganze Schar unwillkürlich losschrie: «Hoch das Loneli!« und das Echo laut vom Schlossberg her nachhallte: »Das Loneli.«

Jetzt öffnete die Apollonie das Fenster ganz, streckte den Kopf hinaus und rief hinüber: »Ihr seid brave Kinder, dass ihr es nicht haben wollt, dass eine Schande auf dem Loneli sitze, und ihr es rechtfertigt, und ich danke euch. Und ich möchte euch auch eine Freude machen, wartet einen Augenblick.«

Dann verschwand die Apollonie vom Fenster und bald nachher trat sie aus der Haustür mit einem grossen Korb voll frisch duftender Äpfel am Arm. Diesen stellte sie vor die Kinder hin und sagte ermunternd: »Nun greift zu!«

»Potztausend!« rief der Lux aus, als er seinen saftigen Apfel unter den Zähnen hatte, »die kenn ich, die wachsen nur auf dem Schlossgut, dort an den zwei Bäumen rechts in der Ecke beim Lattenhag. Weisst du, Kurt«, sagte er dann vertraulich, »mich nimmt’s nur wunder, wie sie einen solchen Korb voll erwischen konnte, ohne..., du weisst« - dabei machte er die unverkennbare Gebärde des Herrn Trius mit dem wohlbekannten Züchtigungsmittel.

»Was meinst du denn!« fuhr ihn Kurt entrüstet an, »die Frau Apollonie musste die Äpfel nicht erwischen, Herr Trius kann ihr schon ein paar Körbe voll Äpfel geben für alle Hemden, die sie ihm näht und flickt.«

»Ah so, das ist etwas anderes«, sagte Lux, eines Besseren belehrt.

In kürzester Zeit war der grosse Korb voll duftender Äpfel geleert, und nach vielen Ausrufungen des Dankes stob die Schar nach allen Richtungen auseinander, jedes dahin, wohin es gehörte. Kurt eilte so rasch davon, dass keiner ihn eingeholt hätte. Jetzt galt es, seine Schularbeiten schnell fertigzubringen; denn für später war ja ein zweiter Ausmarsch geplant. Bei der Haustür angelangt, bemerkte er, dass hinter ihm die Frau Amtsrichter einherschritt und dem Hause nahte. Er rannte zu, riss die Tür der Wohnstube auf und rief hinein: »Räumt das Mäzli aus dem Wege, sonst kommt sicher wieder etwas Schreckhaftes zum Vorschein, aber schnell!« dann lief er wieder weg. Bruno und Mea, die an ihren Beschäftigungen im Zimmer sassen, fanden es nicht für nötig, Kurts Befehl Folge zu leisten, konnte er doch selbst tun, was ihm so notwendig schien; sie blieben beide sitzen. Mäzli war schnell aufgestanden und schaute mit grossen Augen erwartungsvoll nach der Tür, was sich nun ereignen würde. Jetzt trat die Frau Amtsrichter ein.

»Warum kommt etwas Schreckhaftes zum Vorschein, wenn die Frau Amtsrichter kommt?« fragte Mäzli mit lauter Stimme.

Mea stand schnell auf und zog das Mäzli zur Tür hinaus; sie wolle die Mutter holen, sagte sie, um ihren eiligen Rückzug ein wenig zu erklären. Sie musste doch das schreckliche Mäzli entfernen; man konnte ja nicht wissen, was es noch alles sagen würde. Gerade wo es am wenigsten am Platze war, brachte es seine ärgsten Einfälle an. Die Mutter war schon auf dem Wege und trat eben ein, als Mea mit Mäzli hinauslief. Jetzt huschte ihnen auch Bruno schnell nach; er hatte nur gewartet, bis die Erscheinung der Mutter auch ihm die Flucht erlaubte.

»Ihre Kinder sind wirklich ein wenig sonderbar, Frau Pfarrer«, begann die Frau Amtsrichter, »ich muss es jedesmal wieder denken, wenn ich mit ihnen zusammenkomme. Was hilft’s, dass Sie so viel Ermahnungen geben? So wie die Art ist, kommt sie doch heraus. Keines meiner Kinder hat sich je so überfrei, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen, ausgedrückt, wie Ihr kleines Töchterchen jetzt schon.«

»Es tut mir sehr leid, dass Sie mir das sagen müssen«, erwiderte Frau Maxa, »sollte nicht das Kind, ohne es zu wissen ein überfreies Wort gesprochen haben? Ich hoffe, von den grösseren Kindern haben Sie so etwas doch noch nie erfahren.«

»Nein, das will ich nicht sagen«, entgegnete die Frau Amtsrichter; »aber das Predigen haben sie alle ein wenig geerbt, besonders Ihre Tochter Mea. Kinder können doch auch mal ungleicher Ansicht sein, ohne dass das eine das andere immer abzukanzeln braucht.«

»Auch meine Kinder sind öfters ungleicher Ansicht; aber ich könnte nicht sagen, dass sie einander gerade in Predigtform widerlegen«, sagte Frau Maxa.

»Mea hat wirklich die Art, sie wird darum immer mit ihren Freundinnen in Zerwürfnisse geraten. Von unserem Herrn Pfarrer werden Sie ja auch den Absagebrief erhalten haben?« Hier ging die Frau Amtsrichter in einen weniger gestrengen Ton über.

Frau Maxa bejahte die Vermutung.

»So ist ja die vorausgesehene Veränderung nun wirklich da«, fuhr die Frau Amtsrichter fort, »und mein Mann war einig mit mir, dass gleich gehandelt werden sollte. Er reist nun morgen nach der Stadt, eben ist er fort; denn er will auf dem Wege noch seine Schwester besuchen. In der Stadt wird er dann gleich ein gutes Haus aussuchen, wo die drei Kameraden im Herbst einziehen können.«

»Sie wollen doch nicht sagen, dass der Herr Amtsrichter gleich auch für Bruno Quartier bestellen wird!« sagte Frau Maxa mit Schrecken.

»Doch ja, darum schickt mich mein Mann zu Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass er das gern für Sie tut«, erwiderte beruhigend die Frau Amtsrichter; »er ist ja natürlich überzeugt, dass Sie froh sind, wenn er alles gut in Ordnung bringt, so wie es ihm und Ihnen gefallen kann.«

»Aber ich bin ja noch gar nicht vorbereitet, Frau Amtsrichter, noch habe ich gar nicht darüber mit meinem Bruder gesprochen, und Sie wissen ja, er ist der Vormund der Kinder.« Frau Maxa konnte ihre Aufregung nicht verbergen.

»Sie können ganz ruhig sein, auch daran haben wir gedacht«, sagte die Frau Amtsrichter mit überlegenem Lächeln. »Die Schwester meines Mannes wohnt ja nicht weit weg von Herrn Falk in Sils; mein Mann nahm sich darum vor, auch ihn zu besuchen und alles mit ihm zu besprechen.«

Ein wenig wurde Frau Maxa beruhigt durch diese Mitteilung; ihr Bruder wusste ja, wie es jetzt schon zwischen den zusammengezwungenen Studiengenossen stand, und auch, wie wenig sie ein Zusammenleben der drei wünschen konnte. Aber es stieg doch wieder in ihr auf: Warum sollte doch ein solches erzwungen werden?

»Eigentlich begreife ich nicht, warum die drei Jungen zusammenwohnen sollen«, sagte sie lebhaft, »ihre Freundschaft ist nicht so gross, dass sie selbst diesen Wunsch hatten; denn sie suchen sich gegenseitig niemals auf, und Sie selbst, Frau Amtsrichter, haben von der Art meiner Kinder keinen so besonders günstigen Eindruck, dass Sie das stete Zusammenleben mit einem von ihnen für Ihre Jungen wünschen sollten.«

»Es schickt sich nicht anders«, entgegnete die Frau Amtsrichter, »das findet auch mein Mann. Was würde man auch in der Stadt sagen, wenn die Söhne der beiden angesehensten Familien hier, und dazu Studiengenossen, nicht einmal zusammenwohnen würden. Man müsste ja denken, da sei etwas Besonderes zwischen die Familien gekommen, anstatt dass beim Zusammengehören beide Teile im Ansehen gewinnen werden.«

»Ich glaube kaum, dass es in der Stadt Aufsehen machen wird, was die drei Jungen tun«, sagte Frau Maxa ein wenig lächelnd.

In diesem Augenblick wurde die Tür weit aufgeschlagen, und mit frohlockendem Gesicht, ganz so, als wollte es sagen: »Seht, wen ich euch da bringe«, stand Mäzli auf der Schwelle, die Apollonie an der Hand führend. Diese wich eilig wieder zurück.

»Nein, nein, Mäzli«, sagte sie erschrocken, »du hättest mir sagen sollen, dass Besuch da ist!«

Die Frau Amtsrichter hatte sich erhoben, um sich zu verabschieden. »Es scheint, derartige Besuche werden von Ihren Kindern mit besonderer Freude herbeigeführt! Es ist ein eigener Geschmack«, sagte sie, der Tür zugehend.

»Apollonie ist eine alte Bekannte unseres Hauses. Die Kinder sind ihr wirklich alle sehr zugetan, vielleicht ist dies auch ein Erbteil«, erwiderte Frau Maxa lächelnd.

»Das eine will ich doch noch bemerken«, sagte die schon auf der Schwelle Stehende, sich noch einmal umwendend. »Was Ihr Kurt heute mit seiner Bande wenig auserlesener Mitschüler vor dem Hause der Apollonie aufgeführt hat, kann man doch nicht anders als einen Spektakel nennen.«

Noch wusste Frau Maxa nicht, was Kurt verübt hatte; sie bat um Aufklärung. Aber die Frau Amtsrichter wandte sich nun zum Gehen; sie meinte, soviel darüber zu sprechen wäre nicht der Mühe wert. Sobald das Feld frei war, schoss Mäzli aus einem Hinterhalt hervor, die Apollonie nach sich ziehend, die sich nun sehr entschuldigte, dass sie so an die offene Tür herangekommen war. Sie hatte eben Mäzli gesagt, sie möchte zur Mutter, und es hatte sie ohne weiteres dahin gebracht. Sie sei gekommen, um der Frau Pfarrer etwas mitzuteilen, was diese gewiss kaum glauben werde; aber es sei wirklich geschehen.

Frau Maxa fand für gut, hier die Apollonie zu unterbrechen. Denn das Mäzli horchte schon mit beiden Öhrlein auf, was kommen werde.

»Mäzli, geh hinüber«, sagte die Mutter, »Lippo soll mit dir spielen, bis ich komme.«

»Sag mir’s dann nachher auch, Apollonie«, ordnete Mäzli noch an, da es doch jetzt fort musste, um zu spielen.

Die Mitteilungen der Apollonie dauerten lange. Es war später als gewöhnlich, als man sich zum Abendessen setzen konnte, erst jetzt hatte sie sich entfernt.

Kurt verschlang sein Essen mit allen Zeichen der Ungeduld. Sobald es anging, stürzte er fort; noch hatte er der Mutter versprechen müssen, nicht spät heimzukehren. Nun galt es erst, die guten Freunde zu treffen, die sich alle zu dem Streifzug verbündet hatten. Als Kurt sich dem Sammelplatz näherte, war er ein wenig enttäuscht. Schon war die Dämmerung eingetreten; aber er konnte deutlich erkennen, dass nur eine geringe Anzahl von den Verbündeten sich eingefunden hatte; das war durchaus nicht die Schar von heute mittag, und doch hatten sich fast alle als Teilnehmer gemeldet, wenigstens die Buben.

»Sie fürchten sich! Sie fürchten sich!« schrien alle Stimmen miteinander dem Kurt entgegen, und nun wurde ihm berichtet, indem immer einer den anderen überschrie, dass viel mehr Buben dagewesen seien und auch Mädchen; aber wie es zu dunkeln angefangen habe, sei einer nach dem anderen entwichen und alle Mädchen bis auf vier.

»Das tut nun nichts, wir sind noch genug Leute«, sagte Kurt, »wer sich fürchtet, soll nur laufen! Nun können wir gleich gehen; denn es ist weit. Wir gehen nicht den bekannten Schlossweg hinan, dort passt natürlich der Herr Trius bis um Mitternacht allen Apfeljägern auf. Aber das ist nun gerade recht für uns, der darf nichts hören. Wir gehen auf die hintere Seite des Schlosses und steigen dort zum Wäldchen hinauf. Dort singen wir unsere Herausforderung erst einmal - dann Pause, dass der Geist Zeit hat, dann noch einmal - dann Pause, dann zum dritten und letzten Mal. Nun wäre natürlich der Geist erschienen, wenn es einen gäbe; denn er liesse sich nicht von uns hänseln, das begreift ihr; wenn er nun aber nicht erschienen ist, dann wollen wir allen Menschen erzählen, was wir getan haben, dass sie sehen, es ist alles Aberglauben, und es gibt keinen Geist von Wildenstein, der umherwandert. Jetzt vorwärts!«

Voller Übermut und Unternehmungslust zog die Gesellschaft aus. Zu fürchten gab es nichts. Der Geist war abgetan, das hatte Kurt ja bestimmt angezeigt. Und nun hinzugehen und dem Abgetanen das so recht laut vorzusingen und dann die Tat überall zu verkünden, das war ein Hauptspass: Immer rascher ging es vorwärts, nicht die Hälfte der gewohnten Zeit nahm der Weg in Anspruch. Es wurde dunkel; aber nun trat der Mond aus den Wolken und leuchtete fröhlich über die Felder.

Jetzt war die hintere Seite des Schlossbergs erreicht, man stürmte die Höhe hinan. Nun ging es in den Föhrenwald hinein. Er war nicht sehr gross; aber die Bäume standen dicht aneinander. Es war recht dunkel hier, dazu ging der Mond wieder hinter die Wolken. Die laute Schar wurde stiller, immer stiller. Da und dort schlich einer auf die Seite und kam nicht wieder zum Vorschein. Drei der Mädchen flüsterten eine Weile geheimnisvoll miteinander, dann waren sie verschwunden. Die vorderen schauten nicht zurück, sie liefen den vordersten nach; hinter ihnen knisterte es so sonderbar im Gesträuch. Ganz vorn war Kurt mit Lux und dessen unternehmender Schwester Clevi.

Wie es so still wurde, kehrte sich Kurt um.

»Kommt doch nach, wo seid ihr denn alle?« rief er zurück.

»Wir kommen ja«, entgegneten drei Stimmen, es waren die Zunächstfolgenden, Marx, Hans und Simi, dann kamen Stöffe und Rudi noch nachgelaufen, dann kam nichts mehr. Die vordersten hielten an.

»Wo ist denn der ganze Trupp?« fragte Kurt. »Wir wollen warten, dass sie nachkommen, oben müssen wir alle zusammensein.« Es kam niemand mehr nach. Auf Kurts Rufen kam keine Antwort, nur eine Eule heulte ein wenig.

»Die sind fort, die haben sich sicher gefürchtet«, sagte Marx, »am Anfang vom Walde waren wir noch alle beisammen.«

»Ihr Feiglinge, ihr«, rief das erboste Clevi, »sich vor den Bäumen zu fürchten, das ist auch lustig.«

»Wir werden uns wohl nicht fürchten, sonst wären wir nicht mehr da. Ruf doch denen nach, die nicht mehr da sind«, rief der Marx zurück.

»Kommt, kommt, vorwärts!« befahl Kurt, »wir sind doch noch acht, wir singen dann um so lauter.«

Nun ging’s rasch weiter. Jetzt wurde das Wäldchen lichter, man musste dem Ausgang nahe sein. Richtig, dort schaute einer der alten grauen Türme durch die Bäume, man war dem Schloss nahegekommen.

»Hier wird haltgemacht; wir treten nicht aus dem Wald heraus«, sagte Kurt. »Der Geist von Wildenstein kann zu uns herankommen, wenn er auf der Terrasse spazierengeht. Jetzt angestimmt.«

Kurt begann, und alle stimmten mit vollen Kräften ein:

»Heraus du Geist von Wildenstein,
Denn wir sind keine Hasen;
Wir kommen heut im Mondenschein,
Ein Liedlein dir zu blasen.
Heraus, heraus! Wir freu’n uns sehr,
Denn fürchten tut dich keiner mehr!«

Jetzt war’s wieder still, ringsum ganz still, nur oben in den alten Föhren säuselte der Nachtwind. Zwischen den Bäumen durch konnte man nach der Terrasse hinübersehen. Der Mondschein lag hell darauf; still und leer lag der ganze Platz vor dem Schlosse.

»Wir müssen noch einmal singen, er hat uns nicht gehört«, sagte Kurt, »wenn er diesmal keine Antwort gibt, so werden wir ihm sagen, was wir wissen. Mit ungeheurer Macht wird dann der Schlusschor gesungen:

Hurra, hurra! Stimmt alle ein,
Es gibt keinen Geist von Wildenstein!

Also noch einmal angefangen.«

Jetzt sang das stimmbegabte Clevi eifrig los: »Heraus, du Geist von Wildenstein -»

Und die Buben fielen donnernd ein: »Denn wir sind keine Hasen -»

»Was kommt denn dort zu Vorschein? Was könnte das sein?« Kurt starrte nach der Terrasse.

Mit langsamen Schritten kam über die Terrasse eine so hohe Gestalt herangewandelt, dass es kein Mensch sein konnte; aber es war kein Baum, es bewegte sich ja ganz langsam, es kam wirklich dem Walde zu. Sah er denn auch wirklich recht, oder war es der Mondschein, der nur einen beweglichen Schatten warf?

In diesem Augenblick machte plötzlich der grosse Marx kehrt und stürzte davon, alle vier anderen ihm nach im Galopp. Nur Lux und Clevi standen noch fest neben Kurt.

Die schreckliche Gestalt kam näher und näher. Jetzt fiel der helle Mondschein auf den Wandelnden. - Er war gepanzert, das war deutlich zu erkennen; der Panzer glänzte im Mondlicht, wie der hohe Helm mit dem wehenden Federbusch. Ein langer Mantel hing von den Schultern zu den hohen Reiterstiefeln herab und verhüllte zur Hälfte die ungeheure Gestalt. Konnte das ein Mensch sein? Nein, unmöglich, so schreckhaft gross konnte kein lebender Mensch sein. Stumm, gemessenen Schrittes kam er jetzt gerade auf die alten Föhren zu, unter denen die drei lautlos staunenden Sänger standen.

Plötzlich stürzte Lux zwischen den Bäumen durch und flog wie ein Rasender den Waldhang hinab. Clevi schaute noch einmal mit weit aufgerissenen Augen den langsam Herannahenden an; so recht sehen, wie er aussah, wollte es doch gern, dann stürzte es dem Bruder nach.

Nun stand Kurt allein, und der Schreckliche kam wirklich heran. Mit einem furchtbaren Sprung flog Kurt auf die Seite, aus dem Wäldchen heraus, den Weisen zu, jagte den Berg hinab, setzte über die Hecke, dann noch über eine und stürzte weiter, bis er am Garten des heimatlichen Hauses stand, wo ihm aus der Wohnstube ein friedlicher Lichtschimmer entgegenblickte.

Jetzt atmete er tief auf und lief hinein. Die Mutter kam ihm unter der Tür entgegen.

»Ah, du bist’s, Kurt«, sagte sie freundlich, »ein wenig spät kommst du doch. War denn der Mondschein gar so schön, dass ihr euch so schwer davon trennen konntet? Oder gefiel euch das nächtliche Jagen sonst so gut? Aber du bist ja noch ganz ausser Atem, Kurt! Komm, setz dich noch einen Augenblick zu mir nieder, dann gehst du zu Bett, die anderen sind soeben dahin verschwunden.«

Was dem Kurt sonst da liebste war, sich so allein zur Mutter hinzusetzen und ihre ganze Aufmerksamkeit für sich und seine Mitteilungen zu haben, das konnte er jetzt nicht geniessen. Die Mutter könnte ja weiter nach seinem Spaziergang fragen, was sollte er dann sagen? Er wollte lieber gleich zu Bette gehen, sagte er, und die Mutter begriff es gut, dass er nach so atemlosem Laufe gern zur Ruhe ging. Erst jetzt, da Kurt ruhig und sicher in seinem Bette lag, konnte er nachdenken über das, was sich ereignet und wie er sich dabei benommen hatte.

Es gab ja doch keinen Geist, der da umherwanderte, das hatte doch die Mutter so bestimmt gesagt. Wen hatte er denn da oben in Panzer und Helm und langem Reitermantel gesehen? Herr Trius war es jedenfalls nicht; denn der kurze, dicke Mensch und der baumhohe Nachtwanderer konnten nicht dieselbe Person sein. Aber konnte denn nicht eine Wache oben umhergehen müssen? Vielleicht hatten die alten Schlossherren von jeher gewollt, dass die Wache so gepanzert einhergehe. Wenn er doch nur nicht so fortgelaufen wäre! Er hätte ja ganz gut die Wache herankommen lassen können und dann erklären, was er zu tun im Sinne gehabt hätte. Die Beseitigung des alten Aberglaubens hätte ja dem Wachestehenden nur gefallen können. Hätte er doch so gehandelt!

.

Jetzt, da Kurt so sicher unter der Decke lag und Bruno neben ihm so laute, seine Nähe verkündende Atemzüge zog, fand es Kurt so leicht, in solcher Weise zu handeln; hätte er es doch nur getan. Nur das eine war ihm doch unbegreiflich: wie konnte ein wirklicher Mensch so erschreckend gross sein? Es war doch fast unmöglich; zuinnerst fühlte Kurt ganz deutlich, es war wirklich unmöglich.

»Wenn ich doch nur mit der Mutter darüber sprechen könnte!« seufzte er bei sich; aber er musste sich ja so schrecklich schämen. Die Mutter hatte ihm so bestimmt gesagt, sie wolle nicht, dass er sich mit dieser Sache abgebe, und wenn er ja auch nur erreichen wollte, dass der Aberglaube vertilgt werde, so hatte er doch ihren Worten zuwider gehandelt, und was hatte er nun erreicht? Erst recht würde morgen das ganze Dorf davon voll sein, der Geist von Wildenstein gehe wieder um, und er wusste gar nicht, was er dagegen sagen sollte. Wenn nur die furchtbare Grösse nicht gewesen wäre!

Als die Mutter später von einem Bett der Kinder zum anderen wanderte, wie sie immer tat, blieb sie bei Kurt länger stehen; denn er stöhnte jämmerlich im Schlaf, dass sie dachte, er sei unwohl.

»Kurt«, sagte sie leise, »tut dir etwas weh?«

Er erwachte: »Oh, bist du’s, Mutter?« sagte er, ihre Hand ergreifend, »ich habe geglaubt, der Geist von Wildenstein strecke seinen furchtbar langen Arm nach mir aus.«

»Du hast geträumt, denk nur an solches Zeug auch am Tage nicht«, sagte die Mutter freundlich. »Hast du auch dein Nachtgebet gesagt nach allen unruhigen Gedanken des Tages?«

»Nein, es kam mir noch soviel in den Sinn, und dann habe ich es vergessen«, gestand Kurt.

»Tu es jetzt, dann wirst du ruhig einschlafen«, sagte die Mutter. »Aber Kurt, vergiss eines nicht, der liebe Gott hört unser Gebet nur dann an und tröstet und beruhigt uns, wenn wir erst unser Herz ganz vor ihm aufschliessen und kein Unrecht vor ihm verbergen wollen. Das weisst du ja, Kurt, nicht wahr?«

Kurt stöhnte leise: »Ja.«

Die Mutter gab ihm den Gutenachtkuss und verliess ihn.


 << zurück weiter >>