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Fünftes Kapitel

So weit hatte Hetty Olgas Geschichte durch deren eigene Aufzeichnungen und Martines mündliche Nachhilfe verfolgen können. Hetty war so erfüllt davon, daß sie keine anderen Gedanken mehr hatte, auch kaum Martine zu ihrem letzten Besuch erwarten konnte, den sie recht zeitig zu machen versprochen hatte, um zu Ende zu erzählen. Kaum öffnete sie auch die Tür, als ihr Hetty entgegenrief:

»Es ist zu traurig! Wie kann man sich Olga so im Elend denken?«

»Nicht wahr?« stimmte Martine eifrig ein. »Und mußt du nun nicht auch wünschen, wie ich damals tat, daß nur dieser Menschenverderber seinen Lohn bekommen möchte?«

»Solltest du Herrn v. D. meinen, Martine?« fragte Hetty etwas verwundert.

»Nun gewiß, er war eigentlich doch an allem schuld,« entgegnete Martine.

»Sagtest du auch so zu Olga?« fragte Hetty nachsinnend.

»Ja, ich tat's, und noch mehr mußte mir heraus. Ich sagte: ›Wenn ich doch nur im Leben noch mit dem zusammenkäme, daß ich ihm recht sagen könnte, was ich von ihm denke?‹

»Was sagte Olga dazu?«

»Da sagte sie noch nichts; aber wart', es kommt noch viel.«

Hetty wollte ja gern noch viel wissen, alles, was nur von Olga zu vernehmen war: wie sie sprach, wie sie aussah, wie sie war in ihrem ganzen Wesen. »So, wie du sie nie gesehen und nie gekannt hast,« sagte Martine. »Es war, als sei nichts mehr an ihr als eine Seele, die schaute so still und mild alles an, als könnte ihr auch das Leid nicht mehr wehtun. Aber wenn ich sie ansah, das bleiche Gesicht, so schmal und eingefallen und in diesem Dachwinkel eingesperrt, wo keine Sonne zukam, dann mußte ich immer wieder in Weinen ausbrechen und in inständiges Bitten, daß sie doch mit mir komme und nicht mehr dableibe, so unglücklich und verlassen könne ich sie nicht wissen. Dann schaute sie mich so ruhig an und wollte auch mich ruhig haben; ich weiß auch jedes Wort noch, das sie aussprach. Einmal sagte sie: ›Ich bin nicht mehr unglücklich, Martine, und verlassen bin ich auch nicht mehr, wie ich es war. Mich hält die sichere Hand, die im Leben nie mehr läßt, was sie ergriffen hat, und die im Tode auch noch festhalten kann. Wenn ich gesund werden und noch leben soll, so kann ich mich dessen freuen, jetzt bliebe ich gern wieder hier; wenn es nicht sein soll, so gehe ich auch gern in ein Leben hinüber, wo keine Krankheit und kein Tod mehr ist.‹ Ich sagte: ›Sprich nur nicht vom Tode! Aber auch wenn du vom Gesundwerden sprichst, Olga, davon sagst du gar nichts, daß du mit mir oder zu mir kommen wolltest. Aber ich kann es schon begreifen, ich weiß wohl, wer ich bin, und wie gering, und wer du bist und immer warst.‹

.

Hierauf wurde aber Olga einmal aufgeregt, es war das einzige Mal, daß ich sie so sah. Sie richtete sich ganz auf und war fast noch blasser als sonst, und ihre Stimme zitterte, wie sie sagte: ›So darfst du nie wieder zu mir reden, Martine! Ich weiß keinen, der geringer wäre oder sein könnte, als ich bin.‹

Das war mir nun auch zuviel und ich sagte es Olga, daß sie doch nicht zuviel sagen sollte. Aber sie wich nicht davon ab und sagte fest, es sei kein Wort zuviel. Und nach einer Weile sagte sie: ›Ich kann nicht von allem reden; aber nicht wahr, Martine, du hättest nie geglaubt, daß ich dazu käme, einen Menschen, der mir nie etwas Böses getan hat und noch dazu unglücklich war, zu hassen und einen solchen Widerwillen gegen das Dasein dieser Persönlichkeit zu fassen, daß ich jede Stunde wünsche, sie möchte tot sein und es solle ihr dies und das geschehen, daß sie nicht mehr leben könnte? So war's in meinem Herzen geworden gegen jene Nina, die ich in derselben Stadt mit dem Freunde wußte. Und vieles könnte ich dir noch sagen, daß du sehen müßtest, meine Worte seien nicht zu stark. O, es war alles so bitter! Aber das Bitterste von allem war mir, zu erfahren, wie gering ich bin!‹

Olga hatte sich damals ganz matt geredet, sie konnte so wenig ertragen. Wir schwiegen lange still, dann sagte sie mit dem alten, lieben Ton ihrer Stimme: ›Sieh, Martine, seit du gekommen bist in der alten Freundlichkeit, habe ich viele Pläne gemacht. Ich hatte mir's selbst so ausgedacht, wenn ich leben sollte und wieder wohl werden, dann möchte ich nirgends auf Erden so gern hingehen wie zu dir; ich wußte, du würdest mich aufnehmen. Dann wünschte ich, junge Mädchen zu mir zu nehmen, sie zu erziehen. Ich möchte so gern ihnen den Weg zeigen zum Ideal, das sie suchen und dabei oft so sehr in der Irre gehen. Mir brennt das Herz für solche junge Seelen. Ich weiß so gut, wie sie streben und ringen und das Höchste meinen und doch so weit den Weg verfehlen können. Denke ich daran, dann steigt mir der Wunsch auf, zu genesen und zu leben, und du wolltest mich bei dir haben, Martine?‹

Wie war mir da zumute! Ich faßte ihre beiden Hände und rief: ›Versprich mir's, Olga! Versprich mir's fest! Auf den Frühling, da wirst du reisen können, dann kommst du!‹

Da lächelte sie nur still und sagte: ›Ich verspreche gern zu reisen, wohin der liebe Gott will.‹

Einmal sagte sie: ›Einer ist, wenn ich doch dem noch sagen könnte, wo der Weg zum Frieden liegt und zu der stillenden Gewißheit, daß alles Leben in der Hand der Liebe ruht, die einmal alle schmerzlichen Fragen in Danken und Verstehen auflösen wird. Ich meine den armen Nick in Prag. O, daß ich ihm sagen könnte, welch frohe Zuversicht das Menschenherz erfüllen kann, dem armen, ruhelosen Nick! – und einem anderen noch.‹

Sie schwieg plötzlich. Mir stieg der Zorn wieder auf. Wie konnte es denn möglich sein? ›Du denkst doch an den nicht mehr, Olga!‹ rief ich aus.

Ganz ruhig sagte sie: ›Ich habe immer an ihn gedacht.‹

Ich verstand auch wohl, wie sie an ihn gedacht hatte; nicht einen leisen Groll hatte sie gegen den behalten, der sie dahin gebracht hatte! Mir lief es über. Ich fuhr heraus: ›Wenn ich doch dem Menschen einmal sagen könnte, wer er ist und was er verdient. Wenn ich den zu finden wüßte, ich liefe gleich heute noch zu ihm.‹

Olga sah mich sinnend an, dann fragte sie: ›Ist dir's Ernst, Martine?‹

Gewiß war's mein Ernst. Sie schaute mich aber so forschend an, daß ich fragen mußte: ›Was meinst du denn, Olga?‹

›Sieh, Martine,‹ sagte sie nun, ›seit du mir gesagt, daß dein Bruder den Rhein hinauf mit dir reisen will, hatte ich immer schon einen Wunsch in mir gehegt, dem kommst du so gut entgegen. Wolltest du mir zuliebe Herrn v. D. aufsuchen und ihm noch einen Gruß von mir bringen? Ich konnte ihm damals in Prag kein Lebewohl sagen, und schreiben konnte ich auch nicht und kann ich nicht, aber ich möchte ihm doch einen Gruß noch schicken, es wird ja der letzte sein.‹

Denk dir, Hetty, ob ich erstaunt war! Ihr zuliebe! Was hätte ich nicht ihr zuliebe getan! Gewiß wollte ich Herrn v. D. aufsuchen, wenn dies möglich war, und gern wollte ich's tun. ›Aber eines, Olga,‹ sagte ich, ›erlaubst du mir, daß ich ihm dann auch alles sage, was ich will? Der muß wissen, wie ich's meine.‹

›Alles, was du willst,‹ sagte sie und lächelte so eigen dazu. Dann sah ich, daß sie schon alles ausgedacht hatte. Herr v. D. sei eben jetzt in Köln, sagte sie – wie sie das nur wissen konnte! – da würde ich im Hotel gleich erfahren können, wo er zu finden sei, der Name sei bekannt genug. Von ihr sollte ich ihm einen Gruß bringen und ihm sagen, daß sie seiner immer gedacht habe und daß ihr größter Wunsch sei, sein Herz möchte so froh werden, wie das ihrige fröhlich geworden sei.

Unser Aufenthalt ging dem Ende zu. In den letzten Tagen war Olga so liebevoll, wie ich dir nicht sagen kann. Sie sprach gern von der alten Zeit und fragte nach allen, die sie gekannt hatte. Viele Namen wußte sie nicht mehr recht. Nach dir und Nanny fragte sie besonders, ich mußte alles erzählen, was ich von euch wußte. Am letzten Abend, wie wir noch dasaßen und auf die Kamine hinausschauten, sagte sie: ›O, Martine, weißt du noch von jenen Pappeln am See? Ob sie wohl noch dastehen, und der alte Weidenbaum? Da möchte ich einmal noch hin und mit euch dort sitzen auf der Mauer und dem Seerauschen zuhören und nach den Bergen schauen, nach den schönen Bergen!‹

Ihre Augen glänzten dabei, als ständen die leuchtenden Berge vor ihr, wie damals. Ich mußte die meinen zumachen, daß ich die schwarzen Dächer draußen nicht sähe, es wollte mir das Herz abdrücken vor Weh. Am Morgen darauf mußte es sein. Ich ging hinauf zum letztenmal. Wie sie mir noch dankte und mit welchem Blick sie mir sagte, ich habe ihr den letzten Kummer vom Herzen genommen, den, daß sie der guten Wirtin noch zur Last fallen müßte. Vor Weinen konnte ich nichts mehr sagen. Olga schaute mich an mit den klaren Augen und sagte: ›Wir sehen uns wieder, Martine, darauf wollen wir uns freuen!‹

Ich ging. Olga vor Augen und ihre letzten Worte im Herzen, so fuhr ich den ganzen Tag und sah nichts und hörte nichts. Wir kamen in Köln an, das weckte mich; doch zuerst sollte ich nun da schlafen. Du kannst dir denken, ob ich schlief in jener Nacht, mit allem, was hinter mir lag und dem Besuch vor mir bei Herrn v. D.

Erst jetzt fing ich an auszudenken, wie ich's anstellen sollte, dem Joseph beizubringen, daß ich dahin gehen müsse. Am Morgen teilte ich ihm denn ganz zahm mit, es solle an den Herrn v. D. ein Auftrag bestellt werden, ich müsse ihn aber selbst besorgen, ich habe es bestimmt versprochen. Er wollte wissen, wer der Herr sei; ich sagte es ihm. Jetzt ging ein Wetter los. Solange er lebe, mache er keine Reise mehr mit Frauenzimmern. Erst lesen sie alle verlaufenen Buben auf den Straßen zusammen und laden einem die keifenden Marktweiber auf den Hals, dann laufen sie mit Aufträgen zu den Kölner Schauspielern, und was nachher komme, wisse kein Mensch. Wenn er uns beide nur erst einmal wieder da hätte, wo wir hingehörten, dann gehe er sein Lebenlang nicht mehr von der Stelle. Wie er dann mit Murren fertig war, schickte er sich an, mit mir zu gehen. In unserem Logis wußte man sogleich Bescheid, wie wir nach der Adresse fragten; man wies uns den Weg. Wir fanden uns gut zurecht und standen bald vor dem großen Hotel, wo Herr v. D. wohnte.

Joseph sah sehr zufrieden aus, daß er nicht mit hinein mußte; recht schadenfroh sagte er: ›Jetzt iß aus, was du dir eingebrockt hast.‹ Drüben in dem Zigarrenladen wollte er auf mich warten. Wie ich die Treppe hinaufstieg, wiederholte ich noch einmal alles, was ich zuerst dem Herrn sagen wollte, noch vor Olgas Gruß, den sollte er erst zuletzt haben. Jetzt klingelte der Bediente, der mich da hinaufgeführt hatte, an einer Tür, dann lief er fort.

Nun kam einer heraus, so ein Kammerdiener, dachte ich, und fragte, was ich befehle. Ich sagte, ich wolle Herrn v. D. sprechen. Das war aber ein kurioser Mensch, er stieß nur so ein paar kurze Worte heraus. ›Karte, bitten darf‹, sagte er. Ich habe keine Karte, erwiderte ich, aber ich müsse Herrn v. D. einen Auftrag ausrichten, er solle mich nur melden. Jetzt schaute er mich so an, als müsse er mich taxieren. Ich sah ihn aber auch fest an. Dann ging er.

Endlich erschien er wieder und stieß heraus: ›Eintreten, bitten darf.‹ Ich kam in ein Vorzimmer, dann machte der Mensch miteinander zwei Türen ganz weit aus, da sollte ich eintreten. Da drinnen schimmerte es von roten Seidenvorhängen und goldenen Spiegelrahmen und blumigen Teppichen. Ich ging vor, und plötzlich stand ein Herr vor mir, so groß und so erhaben sah er aus, ich mußte ganz zu ihm aufschauen, und in so feinem Gewand und so vornehm stand er da und schaute auf mich nieder mit einem ganz ruhigen Blick und so – so – ich kann dir's gar nicht beschreiben, Hetty, so wie einer, der alles beherrscht, was er nur ansieht, und dem jeder gleich gehorchen müßte und es noch gern täte.«

»Paß auf, Martine,« fiel hier Hetty ein; »wahrhaftig, ich glaube, jetzt geht's bei dir los.«

Martine wurde ein wenig böse.

»Man möchte dir noch so Ergreifendes erzählen, Hetty, immer könntest du dazwischen noch spaßen,« sagte sie vorwurfsvoll.

Hetty war schon wieder zum Ernst gesammelt. Das Ergreifende war ihr zwar in diesem Falle noch nicht entgegengetreten, sie wollte aber zu gern weiter hören.

»Nein, nein,« sagte sie beschwichtigend, »fahr nur ja fort, Martine, ich bin mit der wärmsten Teilnahme dabei.«

Martine fuhr wieder fort:

.

»Ja, Hetty, da stand ich! Und wenn du mir alle Güter der Welt versprochen hättest, ich hätte kein Wort hervorgebracht, und so stand ich da und sagte keine Silbe, und konnte gar nichts denken, als nur: Könntest du dich doch in den Erdboden hinein verkriechen und nicht mehr da sein!

Jetzt sagte der feine Herr vor mir mit so gewinnender Stimme: ›Treten Sie näher, Fräulein, was ist denn Ihr Begehren?‹ Und was meinst du? Noch stand ich wie festgewurzelt und fand kein einziges Wort.

Da faßte mich auf einmal Herr v. D. bei beiden Händen und sagte lächelnd: ›Bin ich denn so fürchterlich, liebes Kind, daß Sie gar nicht zu sprechen wagen? Setzen Sie sich hierher zu mir; was wünschen Sie denn von mir?‹

Jetzt kam mir der Mut. Was war das für eine vertrauenerweckende Stimme! Da saß ich nun neben Herrn v. D., und er schaute mich an mit Augen so tief und durchdringend, aber so viel Güte und Wohlwollen lag in dem Blick! Alles, was ich erst hatte sagen wollen, war rein weg, wie ausgelöscht; für den, der da neben mir saß, konnten auch meine Reden nie gepaßt haben, das war unmöglich. Aber ich hatte ja einen Gruß abzugeben, der war für ihn, das fühlte ich; ich gab ihn ab. Als ich Olgas Namen nannte, stand Herr v. D. auf und ging eine Zeitlang im Zimmer hin und her. Dann stellte er sich vor mir hin und fragte ganz eindringlich: ›Aber wo, wo ist sie hingekommen?‹

Ich sagte ihm, wo sie sei, und wie ich sie gefunden, daß sie wohnt und lebt, nicht wie es für Olga sein sollte. Jetzt ging er wieder im Zimmer herum, und im Gehen sagte er fast unhörbar, aber ganz erregt: ›Daß sie den Schritt tun mußte! Daß sie den Schritt tun mußte!‹

Nachher setzte er sich wieder zu mir und fragte mich sehr höflich, wie ich mit Olga zusammenhänge. Ich besann mich, was ich sagen dürfe; dann dachte ich, es sei nicht anmaßend, wenn ich sage, ich sei ihre Freundin, noch aus der Kinderzeit her. Nun wurde Herr v. D. noch viel freundlicher mit mir, so als hätte er mich lange schon gekannt, und er machte mich auch ganz zutraulich. Ich mußte noch viel von Olga erzählen, dann richtete ich auch noch das übrige ihres Auftrages aus. Herr v. D. sah mich an, als müsse er erst erraten, was meine Worte heißen wollten. ›Ein frohes Herz, wie das ihrige fröhlich!‹ wiederholte er. ›Ist sie denn so fröhlich? Ist sie wirklich fröhlich?‹

Ich sagte, vielleicht verstehe Herr v. D. es anders, als wie es sei, aber ich hätte noch nie solche stille Fröhlichkeit gesehen und nimmermehr geglaubt, daß man sie haben könnte in Krankheit und Entbehrung und so ungewohntem Leben. Herr v. D. sah mich durchdringend an, wie ich dies sagte; dann wurde er still und nachdenklich.

Nun stand ich auf. Er wollte noch wissen, ob ich zu Olga zurückkehrte; ich erklärte ihm aber, wie es sei, und daß ich sie nicht mehr sehen würde bis zum Frühjahr. Er meinte, so würde ich an sie schreiben. Dann sagte er: ›Danken Sie Olga in meinem Namen für ihren Gruß. Sie soll wissen, daß auch ich der alten Zeit gedenke, wenn nicht fröhlichen Herzens wie sie, so doch in unverwelklicher Erinnerung.‹

Er begehrte noch ihre Adresse; er könnte auch einmal nach Paris kommen, dann möchte er sie haben. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte; aber da war kein Widerstand möglich, er hatte die Adresse von mir, eh' ich recht wußte, wie, und ein Unrecht tat ich ja doch nicht damit. Dann nahm er mir noch einmal beide Hände und sagte, er müsse mir von Herzen danken, ich hätte ihm eine große Freude gemacht. Wenn er mir je etwas Gutes erweisen könnte, so müßte ich mich an ihn wenden, ich würde jederzeit einen Freund in ihm finden. Du kannst es glauben oder nicht, Hetty, einen solchen Menschen hatte ich noch nie gesehen und glaube nicht, daß noch einer ist wie der, unter allen anderen. Erst jetzt konnte ich verstehen, wie es mit Olga so hatte zugehen können.

Nun war ich hinaus. Drüben stand der Joseph in der Straße und sah aus, als erwartete er, ich komme nur in Stücken wieder von meinem Unternehmen zurück. So war er denn zufrieden, daß ich noch ganz war. Aber siehst du, Hetty, wenn du glaubst, ich habe von allem, was wir da noch aufsuchten, oder vom Rhein und der ganzen Heimreise etwas gesehen, so bist du irrig. Keine Idee habe ich, wo wir durchgekommen sind und was da war. Immer sah ich Olga vor mir und hörte sie zu mir reden, und alles ging wieder an mir vorüber, was sie in Prag erlebt hatte. So kamen wir heim. Aber ich bin nicht recht daheim; immer noch bin ich mit allen meinen Gedanken in Paris, in der Dachkammer, wo sie am Fenster sitzt, jetzt so allein.«

Nicht anders erging es Hetty. Beständig sah sie die Gestalt vor sich, wie sie einmal vor ihren Augen gestanden in zauberhafter Lieblichkeit, wie sie emporgestiegen war, so vielverheißend, zu so schnell erlöschendem Glanze; wie sie nun dahinwelkte im fremden Lande, arm und vereinsamt, aber durchleuchtet von innerer Freudigkeit mitten im äußeren Zerfallen.

Martine war in ihre Heimat zurückgekehrt mit dem Versprechen, Hetty alles mitzuteilen, was sie von Olga hören würde. Der Winter verging, der sonnige Frühling kam – sollte er Olga bringen? Martine war keine gute Briefschreiberin. Von Zeit zu Zeit kamen ihre spärlichen Worte, sie sagten immer dasselbe: Noch sei Olga zu angegriffen, die Reise zu unternehmen. Noch, denke sie, sei kein Weitergehen, aber bald, bald – so lauteten Olgas eigene Worte, wie Martine schrieb.

Schon war der Mai gekommen. Die lauen Lüfte zogen durch das Land, und Blumen und Wiesen schimmerten im Sonnengold. Da trat eines Morgens in Hettys Stube Martine ein, nicht rasch und wohlgemut nach ihrer Weise. Sie setzte sich hin und weinte so bitterlich, daß Hetty alles wußte. Sie ergriff Martines Hand: »So wird sie nicht mehr zu uns kommen, Olga ist nicht mehr da?«

So war es. Als Martine sich ein wenig gefaßt hatte, erzählte sie, Olga habe ihr vor kurzer Zeit noch einige Worte geschrieben, Worte voll Dank und Liebe. Erst jetzt verstände sie's, es war Olgas Lebewohl. Vor wenigen Tagen hatte dann Martine durch die Wirtin von St. Antoine die Nachricht von Olgas Tode erhalten. Sie mußte ganz still entschlafen sein auf ihrem Lehnstuhl, am Fenster sitzend. Kurze Zeit vorher hatte sie noch zu ihrem kleinen Bedienten François gesprochen, und als bald darauf die Wirtin in ihr Zimmer trat, saß sie noch in derselben Stellung, mit demselben stillen Angesicht, aber ihre Seele war entflohen. Den Brief der Wirtin begleitete ein versiegeltes, von Olgas Hand an Martine gerichtetes Paketchen. Es enthielt das kleine Testament, das Olga viel gebraucht haben mußte. Am Rande vieler Stellen hatte sie Zeichen gemacht oder kurze Bemerkungen hingeschrieben, man konnte fast Schritt für Schritt der Entwicklung ihres inneren Lebens folgen und wohl erkennen, welche Worte ihr zu besonderem Halt und Trost geworden waren.

Hetty begleitete Martine, die gleich wieder nach Hause zurückkehren wollte. Als sie die Brücke überschritten hatten, sagte Hetty: »Komm noch die kurze Strecke weit, heute müssen wir noch einmal hin.«

Martine folgte willig. Sie traten von der Straße ab und gingen die schmalen Wiesenwege hin, dem See entlang bis dahin, wo noch die hohen Pappeln standen, und unten am Wasser die alte Weide ihre Zweige neigte. Sie setzten sich auf die Mauer, an dieselbe Stelle, wo sie einmal gesessen vor langer Zeit. Sie konnten beide kein Wort sprechen. Drüben schimmerten noch die Berge in voller Klarheit wie damals. Olga sollte sie nicht mehr sehen. Am trüben Dachfenster war ihr das erbetene sanfte Sterbestündchen genaht. Aber sie schaute auf von dort, nach jenen leuchtenden Höhen, wo sie bald erwachen sollte zu dem idealen Dasein, nach welchem ihr Herz gedürstet hatte ihr Leben lang.

 

Fast drei Jahre waren vergangen, da trat einmal wieder Martine in ihrem alten Eifer bei Hetty ein. Kaum hatte sie zur ersten Begrüßung Zeit. Sie hielt Hetty zwei Briefe entgegen. »Lies, Hetty, lies!« rief sie drängend. Der eine Brief war schon von Frühjahr, der zweite aus den letzten Tagen datiert. Der erste lautete wie folgt:

 

»Dresden, den 22. Oktober 18..

Wertes Fräulein! Wenn Sie diesen Brief lesen, werden Sie erstaunen. Vielleicht haben Sie schon den François Veillot vergessen, aber er hat Sie nicht vergessen. Sie haben ihm viele Güte erwiesen. Er wird Ihnen immer danken und Sie verehren. Ich habe unterdessen sehr gut deutsch gelernt, wie Sie sehen. Ich schreibe heute an Sie, um eine große Gefälligkeit zu erhalten von Ihnen. Ich will Ihnen erzählen, wie sich alles mit mir begeben hat. Bei dem kranken Fräulein ging es mir sehr gut, denn sie war ein Engel, und ich mußte weinen, als sie tot war. Sie gab mir viele gute Lehren. Dann ging es mir sehr schlecht. Ich arbeitete in vielen Geschäften und auch beim Gassenwischen. Ich handelte auch mit Papier und Knochen. Aber nur wenn ich Arbeit hatte in St. Antoine im Pigeon blanc, an dem Tage brauchte ich einmal nicht zu hungern. Ich kam auch an einem Freitag in das Pigeon blanc und brachte die weißen Rüben, denn der Freitag war der Weißrübentag im Pigeon blanc. Madame kam und nahm sie ab und Madame sagte, ich solle mich säubern und in die Hinterstube gehen. Ein fremder Herr war gekommen zu dem kranken Fräulein und wußte nicht, daß es tot war. Der Herr machte viele Fragen und Madame sagte, da könne nur der Bediente antworten. Madame befahl noch, daß ich mich recht zusammennähme und gut antworte, denn es sei ein vornehmer Herr. Ich putzte meine Stiefel bis zu Glanz und ging in die Hinterstube hinein. Der Herr stand am Fenster und schaute in den Hof hinaus. Er kehrte sich um und sah mich scharf an. Er lachte ein wenig und sagte: › Ah c'est toi, petit homme!‹ Denn er mußte noch französisch mit mir reden, denn ich war noch nicht, was ich jetzt bin. Der Herr machte mir viele Fragen über das kranke Fräulein, und ich antwortete gut. Dann ging er fort. Am anderen Tag war ich auf der Hinterseite vom Pigeon blanc und putzte den Hof aus. Da kam der fremde Herr wieder und hatte noch mehr zu fragen. Und er war sehr zufrieden. Er klopfte mir auf den Rücken und sagte: › Eh bien, mon petit homme, veux tu venir avec moi? Tu apprendras quelque chose.

Oui Monsieur‹, sagte ich.

Am anderen Tage verreisten wir und so kamen wir nach Dresden. Da hatten wir ein sehr schönes Logis. Da sagte Monsieur, nun müsse ich auch lesen und schreiben lernen in Deutsch. Jetzt ließ mir Monsieur Unterricht geben in der deutschen Sprache. Nun war für mich ein gutes Leben angegangen. Hunger – nie! Böse Worte – keines! Abgelegte Kleider von Monsieur – alles mein! Geschäfte – wenig und angenehm. Festen Lohn. Für Extradienst – Extratrinkgeld. Sie können nicht begreifen, wie gut ein Bedienter sich befindet bei Monsieur. So lebten wir glücklich zweiundeinhalbes Jahr. Wir machten viele große Reisen und blieben auch oft viele Wochen in den großen Städten. Und Monsieur genoß viel Verehrung. Da habe ich auch sehr viele Bildung empfangen. Aber jetzt ist Monsieur oft unwohl. Dann ist er still und sitzt traurig und er spricht lange nicht.

Ich dachte viel nach darüber, was ihm Freude bereiten würde. So kam es mir in den Sinn, und ich sagte es Monsieur. Wenn er ein Buch hätte, das dem kranken Fräulein gehörte, so hätte er Freude. Da stünden schöne Geschichten darin. Denn das Fräulein sah froh aus, wenn sie darin las, und sie war sehr krank.

Monsieur fragte mich, wie das Buch heiße. Ich wußte es nicht, denn es war ganz deutsch. Monsieur sagte nichts mehr. Aber drei Tage nachher sagte Monsieur: ›François, schaff das Buch her! Du bist ja ein gescheiter Kerl, du wirst einen Weg finden.‹ Ich dachte fast eine Nacht lang darüber nach, und ich fand den Weg.

Jetzt wollte ich das werte Fräulein fragen, ob man das Buch von dem kranken Fräulein haben könnte, wo die gleichen Geschichten stehen. Ich schicke diesen Brief nach Paris in das Pigeon blanc, daß Madame eine Adresse daraufsetze. Wertes Fräulein! Ich werde nie vergessen Ihre Güte und Wohltätigkeit, denn Sie haben mich in eine schöne Karriere gesetzt. Ich denke daran mit viel Dankbarkeit und bleibe mit Anhängigkeit

Ihr Diener
François Veillot.«

 

Herrn v. D.'s Adresse war beigelegt.

Hetty hatte sich während des Lesens mehrmals des Lachens nicht enthalten können. Der Hauptpunkt des Briefes brachte sie freilich bald wieder in ernstere Stimmung.

»Was tatest du dann?« fragte sie, das Schreiben in Martines Hand zurücklegend.

»Was hättest du getan?« fragte Martine dagegen.

Hetty gab keine Antwort.

»Ich will dir sagen, wie ich's machte,« fuhr Martine fort.

Ich fragte mich: Was würde Olga freuen? Gewiß, daß Herr v. D. das Buch lesen und kennen möchte. Wenn ich nun nur den Titel des Buches schicke, so würde Herr v. D. wohl denken, das kenne er schon lange, und würde das Buch gar nicht ansehen. Wenn ich aber Olgas Buch schicke, so könne es Herrn v. D. gehen, wie es mir gegangen ist, er würde eine Menge der Stellen lesen, schon um der Worte willen, die Olga dazugeschrieben hat, und so würde nach und nach der Inhalt sein Eigentum, er wüßte nicht, wie, und er könnte in ihm arbeiten, mehr als er gedacht hätte. So schickte ich Olgas Buch, so weh es mir tat, es fortzugeben.«

»Das ist gerade, was ich dachte und was ich wünschte, daß du getan haben möchtest,« sagte Hetty erfreut.

Sie nahm begierig den zweiten Brief in die Hand. Er lautete:

 

»Paris, den 28. September 18..

Wertes Fräulein! Ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß das Buch nicht zurückkommt. Ich bin Ihnen viel Dank schuldig, daß Sie das Buch geschickt haben. Jetzt will ich Ihnen berichten, wie alles sich begeben hat. Als ich das Buch Monsieur brachte, machte er es auf und las den Titel. Monsieur lachte ein wenig und sagte: ›François, Schlaukopf, du hast gewußt, wie das Buch heißt!‹

Ich sagte: › Parole d'honneur, Monsieur, ich weiß es jetzt noch nicht.‹

Monsieur sah hinein und las hier und da auf den Blättern herum, wie zu einer Übersicht. Und Monsieur sagte nichts mehr zu dem Buch. Aber es lag auf seinem Tisch am Bett. Aber Monsieur wurde immer kränker den Sommer durch und sah sehr krank aus.

Wie der September kam, sagte Monsieur zu mir: ›François, willst du eine Ferienreise machen?‹ Denn der Arzt schickte Monsieur nach der Insel Sizilien, in Italien, für den ganzen Winter. Und Monsieur sagte: ›Da kann der Alte mit, und du kannst nach Paris gehen, bis wir wiederkommen.‹

Das gefiel mir. Der Alte, das ist der alte Bediente. Wir behielten ihn noch, als ich in den Dienst trat. Aber er ist nicht mehr jung, über vierzig Jahre und zum Ausläufer nicht mehr gebräuchlich. Aber er ist noch gut in den Zimmern und zur Besorgung von Monsieur.

Jetzt ging es an die Abreise. Ich sah das Buch noch auf dem kleinen Tisch am Bett liegen. Ich sagte: ›Monsieur, soll ich das Buch zurückschicken?‹

Nun steckte es Monsieur in die Seitentasche und sagte: ›Das Buch geht mit!‹ Monsieur nahm Abschied von mir und stieg in den Wagen. Jetzt sagte er: ›François, du schreibst einen Brief.‹

Und in dem Brief müsse ich schreiben, Monsieur sehe das Buch an als ein Geschenk von dem Fräulein, das er wohl kenne. Das kann aber nicht sein, denn ich kann nicht ausfinden, wie Monsieur Sie kennen könnte. Und Monsieur möchte gern dem Fräulein seinen Dank dafür sagen.

Jetzt bin ich in Paris. Es geht mir sehr gut. Ich habe hier schon Arbeit gefunden in einem Geschäft und gute Bezahlung. Denn ich habe viel Bildung genossen, die hilft mir. Ich bleibe hier, bis Monsieur zurückkommt und mich wieder beruft. Paris ist die schönste Stadt, die es gibt, das kann man beurteilen. Es gibt auch die besten Manieren da. Da lebe ich am liebsten, denn ich bin ein Pariser. Aber wenn Monsieur kommt und mich beruft, so gehe ich, und ich gehe mit ihm, wohin er geht, und ginge er in ein Dorf. Denn ich bin ihm sehr anhänglich und wollte, Monsieur könnte wieder aufkommen und werden, was er war.

Wertes Fräulein! Ich sende viele Wünsche für Ihr Wohlergehen. Ich vergesse nie, daß Sie mein Glück gemacht haben. Ich bleibe in vieler dankbarer Anhänglichkeit

Ihr Diener
François Veillot.«

 

Als nach Jahren Hetty durch Paris reiste, suchte sie auf dem alten Friedhof umher nach einem Grabe, welches nah der Mauer liegen mußte. Ein schwarzes Kreuz sollte darauf stehen, das einen wohlbekannten Namen trug.

Der Gärtner, der sie beobachtet und wohl als eine Fremde erkannt hatte, rief ihr zu, sie müsse weiter hinaufsteigen, dort unten bei der Mauer finde sie nur geringe Gräber, die schönen Monumente seien alle auf der Höhe. Aber Hetty war soeben an die gesuchte Stelle gekommen. Auf dem einfachen Kreuze vor ihr stand der Name »Olga«. Blaßrote, durchsichtige Rosen blühten auf dem Grabhügel, und grüne Efeuranken schlangen sich an dem Kreuz empor. Hetty pflückte von den Blättern und Blumen, um sie zu trocknen und Martine mitzubringen, die dies alles angeordnet hatte, damit die Stätte davon zeuge, daß liebende Erinnerung sie umweht.

Auf ihrem Kreuze steht das Wort, das Olga so gern in den Herzen anderer lebendig gewußt hätte, wie es in dem ihrigen lebendig geworden war:

»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.«

Es waren einige Jahre vergangen seit dieser Zeit, als Hetty eine kranke Freundin nach einem besuchten Badeort, unweit der böhmischen Grenze, zu begleiten hatte.

Die letzten Wochen des regnerischen Sommers waren hell und günstig zur Erholung, und viel schneller, als man hätte annehmen können, wurde die Kranke kräftig und wohl und kam dadurch in eine besonders frohe Stimmung.

»Hetty,« rief sie eines Morgens der Hereintretenden entgegen, »nun können wir reisen! Aber bevor wir voneinander gehen, du nach Süden, ich nach Norden, möchte ich noch irgendwohin mit dir, wohin es dich zieht, und da noch einige schöne Tage mit dir zubringen. Wie gefiele dir Dresden?«

»Gehen wir nach Prag!« entgegnete Hetty unverweilt. Die Freundin war's zufrieden. Wenige Tage nachher reisten die beiden ab und langten am späten Abend in Prag an.

»Wir haben ja ganz vergessen, uns nach den Gasthöfen zu erkundigen,« sagte ängstlich die Freundin, als sie in die Halle einfuhren; »wer hätte gedacht, daß es so spät werden würde?«

»Ich weiß Bescheid,« beruhigte sie Hetty, »wir steigen im ›Schwarzen Roß‹ ab.«

Eine Droschke brachte die Reisenden sofort dahin.

Die Genesende fühlte sich mehr von der Reise angegriffen, als sie vorausgesehen hatte. Am folgenden Morgen, anstatt sich zu der verabredeten Fahrt durch die Stadt bereit zu machen, bat sie Hetty, diese allein zu unternehmen, da sie weder Lust noch Mut dazu hätte; der Tag sollte aber nicht verloren gehen, da die Zeit zu dem Aufenthalt kurz zugemessen war.

Hetty wollte nichts davon wissen, daß die Halbkranke allein im Gasthof liegenbleiben sollte; diese aber bestand fest auf ihrem Wunsch und suchte unruhig nach einem Wege, wie Hetty eine Begleitung zu ihrer Fahrt durch die Stadt finden könnte.

»Dafür laß mich sorgen, wenn du es denn so haben willst,« schloß Hetty die Beratung ab und machte sich zu ihrer Rundreise bereit.

Unten beim Portier erkundigte sie sich genau nach den Fremdenführern, die zu haben wären.

»Das Hotel hat deren drei zur Verfügung der Dame,« erklärte der Mann gewichtig: »Einmal den lang im Dienst stehenden, der alles kennt und weiß und richtig geht wie die alte Prager Stadtuhr; von Gemütsart etwas melancholisch. Dann den kürzlich eingetretenen, der von jedem Winkel eine Geschichte zu erzählen weiß, mehr kurzweilig als genau, von Gemütsart neugierig, aber heiter. Dann den Laufjungen, dienstfertig und lenksam, geht, wie die Dame will, mehr gehorsam als erfinderisch. Die Dame kann wählen.«

»Ich wünsche den ersten,« sagte Hetty längst entschlossen. Sie hatte nicht lange im Portierstübchen gewartet, als ein schmales, bewegliches Männchen herantrat und, nachdem er einen tiefen Knicks gemacht, ein paar schwarze, durchdringende Augen auf sie heftete.

»Kutsche haben, Gnaden?« fragte er untertänig.

»Nein, wir wollen zu Fuß gehen,« erwiderte Hetty und trat sofort die Wanderung an. Der Führer ging ihr zur Linken, ehrerbietig immer einige Schritte hinter ihr zurückbleibend.

So gingen sie durch die alten Straßen, an den dunklen, massiven Palästen vorüber, traten hier und da in eine uralte, prächtige Kirche ein, wanderten dann unter den noch mit dichtem Laub bedeckten Platanen der Promenade hin, der rastlos dahinfließenden Moldau entlang. Da standen unter den leise wehenden Zweigen der großen Bäume hier und da die stillen Ruhebänke, kühl und schattig anzusehen, und auf einer von diesen, nahe dem rauschenden Wasser und fast eingeschlossen von den tief niederhängenden Zweigen der alten Platane, ließ Hetty sich einen Augenblick nieder. Ihr Führer stellte sich in einiger Entfernung vor sie hin und nahm die Mütze vom Kopf, wie bei jeder Erklärung, die er zu machen hatte. Von der Bank sah man voll auf die schöne Karlsbrücke hin, deren Statuen weiß herüberglänzten, und von drüben schaute hoch herunter der Hradschin in alter, stolzer Herrlichkeit.

»Wenn wir nun über die Karlsbrücke nach dem Hradschin hinübergingen? Mit der Altstadt sind wir nun wohl zu Ende, so weit wir kommen wollten?« meinte Hetty.

»Es wäre noch viel zu sehen,« entgegnete der Begleiter, dem sichtlich daran lag, seine alte, schöne Stadt so eingehend wie möglich zu zeigen; »doch wie Gnaden wollen. Ich würde den Vorschlag machen, hier links die Kettenbrücke zu passieren, den Weg obenüber, am alten Kloster vorbei, zum Hradschin zu gehen, über unsere schöne Karlsbrücke in die Altstadt zurückzukehren; doch wie Gnaden meinen.«

Der Vorschlag gefiel Hetty, die Wanderung wurde wieder angetreten.

Wie viel war zu sehen und zu erzählen auf dem alten Hradschin! Der Führer erklärte gut und eindringlich und mit so seelenvoller Teilnahme an der Sache, daß Hetty sich in immer längere Gespräche mit ihm einließ.

Er wußte um alles, die Geschichte seiner Stadt Prag mußte er ganz gründlich erforscht haben, und bei Hettys gespannter Aufmerksamkeit ging ihm das Herz immer mehr auf. Nun stiegen die Wanderer zur Karlsbrücke nieder. Bei der Statue des heiligen Nepomuk angelangt, stand Hetty still und schaute sinnend zu ihr hinauf.

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Der Führer hatte seine Mütze abgenommen, er fing aber nicht an zu erklären, wie sonst überall; still schaute er zu dem Bild empor mit gefalteten Händen, er mußte beten. Hetty setzte sich auf den steinernen Sockel nieder, froh über das Schweigen ihres Begleiters; ihre Gedanken waren auf vergangene Tage gerichtet, von denen die Stelle, wo sie saß, so lebendig erzählte. Als Hetty nach langem Schweigen aufschaute, bemerkte sie, daß die schwarzen Augen ihres Begleiters mit einem durchdringenden fragenden Blick auf ihr ruhten; unwillkürlich fragte sie: »Wollen Sie eine Frage an mich tun?«

»Wenn ich dürfte, Gnaden,« war die rasche Antwort.

»Ja, Sie dürfen ganz wohl, fragen Sie nur immer,« sagte Hetty.

Der Führer drehte einigemale seine Mütze in den Händen herum, so wie um einen Anfang zu finden; endlich sagte er unsicher:

»Ich wollte so gern – ich dachte, Gnaden könnten mir vielleicht – ich habe jemanden gekannt, und Gnaden haben im Sprechen so viel Ähnlichkeit mit der Dame, vielleicht kommen Gnaden aus derselben Gegend?«

»Sie heißen Nick, nicht wahr?« sagte Hetty, als ihr Führer wieder stockte. »Ich kenne Sie und ich weiß, nach wem Sie fragen.«

Nick machte seine Augen im höchsten Erstaunen auf:

»Gnaden kennen mich? Durch sie denn? Und sie? Glücklich jetzt? Keine traurigen Augen mehr?«

»Nein, nicht mehr traurig,« bestätigte Hetty, »froh für immer; aber hier ist sie nicht mehr, sie ist im Himmel.«

Nick sagte kein Wort, er faltete nochmals seine Hände, und lange umgab eine lautlose Stille die schweigende Gestalt des steinernen Vaters

Nick brach zuerst das Schweigen.

»Jetzt glaub' ich's, alles glaub' ich nun,« sagte er, mit so leuchtenden Augen, als sei ihm eben eine frohe Botschaft verkündet worden. Etwas verwundert fragte Hetty, was er damit meine.

»Darf ich's Gnaden erzählen?« fragte er und fuhr auf Hettys bejahende Bewegung fort:

»Ihre traurigen Augen sind mir immer nachgegangen, sie war gut, ich habe es gesehen, gut wie wenige, und doch wußte sie auch nichts von einer Gerechtigkeit. Ich hab' es nie vergessen. Und lange nachher sah ich sie im Traum, da stand sie auf den Wolken, und sie schaute nach mir hernieder, und ihre Augen leuchteten wie die Sterne, und sie nickte mir zu, als wollte sie sagen: ›Ja, Nick, ich weiß von einer Gerechtigkeit.‹ Und ich wollte hinausrufen, aber auf einmal war sie weg und jetzt – wie war mir's! – aus demselben Platze stand meine Mutter und hatte dieselben leuchtenden Augen und sie nickte mir, wie in Freude, zu, und ich rief laut: ›Mutter, ist dir einmal wohl geworden?‹ Und nochmals nickte sie froh, und auf den hellen Wolken verschwand sie hoch oben. Und seit dem Tag – hier der heilige Vater weiß es – da komme ich täglich hierher und bete mein Vaterunser, und nun ist's mir klar; sie ist auch droben und ihr ist auch wohl.«

Nick hatte einen so warmen, überzeugenden Ausdruck in seinen Augen, daß es Hetty ganz wohltat, ihn so zu sehen. Sie reichte ihm die Hand: »Ja wir wollen uns freuen, daß es ihnen beiden wohl geworden ist; und daß ich Sie hier noch getroffen habe, freut mich auch.«

Nick drückte die dargebotene Hand in großer Bewegung, dann gingen die beiden schweigend über die Brücke zum »Schwarzen Roß« zurück.

Noch an demselben Abend verließ Hetty Prag und fuhr durch die stille Nacht, von dahingegangenen, unvergeßlichen Gestalten begleitet, der Heimat zu.

 

Noch einmal sollte Hetty von einem Namen hören, der die vergangenen Tage wieder in ihrer Seele wachrief und manche entschlummerte Erinnerung in neuem Leben vor ihr erstehen ließ.

Sie war aus dem Süden zurückgekehrt, wo sie ihre kranke Freundin, welche sie dahin begleitet hatte, der jungen Verwandten hatte übergeben können, die als Pflegerin herbeschieden worden war. Das frische, lebensfrohe Mädchen mußte mit ihrem heiteren Wesen einen wohltuenden Einfluß auf die schweigsame Kranke ausüben, und in dem milden Sonnenlicht, auf dem unvergleichlich schönen Fleckchen Erde mußte Heilung für manches Weh und Leiden zu finden sein.

So sagte sich Hetty, als sie, in die Heimat zurückgekehrt, mit ihren Gedanken die fernen Freunde suchte und verlangend nach den verheißenen Nachrichten aussah, die nun den mündlichen Verkehr ersetzen sollten. Nicht lange mußte sie vergeblich danach ausschauen: die fröhliche Herta, die junge Verwandte der Kranken, hielt ihr Wort; ja ihre Briefe folgten schneller noch aufeinander, als sie selbst versprochen hatte, doch nie zu schnell für Hettys wachsende Teilnahme daran. So lauteten die Briefe:

 

»Sorrent, den 10. Oktober 18..

Liebe Hetty! Du bist zu früh abgereist von Sorrent, aus drei Gründen. Erstens: weil ich noch nicht lange mit Dir durchgeredet hatte, was mir im Sinne lag zu tun; zweitens: weil Du nicht mehr gesehen hast, wie wir nun für den Winter eingerichtet sind, und drittens: weil Du eine Bekanntschaft versäumt hast, die Dir Freude gemacht hätte, die Bekanntschaft des originellsten Kindes, das mir je vor Augen gekommen ist. Du siehst, ich habe Dir schon sehr viel zu erzählen! Wo fang' ich nur gleich an! Ich denke, bei unserer Kranken: Kusine Elsa ist ganz munter in diesen Tagen. Wir haben in unserer netten Villa, auf das Anerbieten der Besitzerin hin, im oberen Stock drei Zimmer bezogen, nämlich zwei Schlafzimmer und den anstoßenden kleinen Saal, wo ein Klavier steht. Da geht Elsa, wenn es ihr eben gut geht, hinüber, setzt sich an das Instrument und singt unser Lied:

Addio, bella Napoli, addio!

Das kannst Du aber jetzt mit mehr Recht singen als wir. Ich gehe derweilen draußen auf dem Balkon herum und schaue über den Orangenwald zu meinen Füßen weg auf die blaue Meeresflut hinaus und nach dem alten Vesuv hinüber, der in violetten Duft gehüllt da drüben steht und sein weißes Wölkchen hinaufsteigen läßt ins dunkle Himmelsblau.

Nun muß ich dir von dem Kinde erzählen! Eigentlich kennst Du das kleine Geschöpf, nämlich dem Äußeren nach; aber von seinem sonderbaren Wesen hast Du keine Ahnung. Erinnerst Du Dich des Tages, da wir nach dem Piniental gingen zusammen? Da stand vor einem kleinen Hause auf der ersten Anhöhe, wo man links abbiegt, das Kind mit den glänzend schwarzen Haaren und den feurigen Augen. Du wolltest damals sprechen mit ihm, aber es lief weg von Dir; ich glaube aber, es lief jemandem nach, es war, als habe es plötzlich etwas erblickt, es schoß wie ein Pfeil auf die Straße hinunter.

Gestern nun war der Abend so licht und lieblich, das Meer ganz dunkelblau, und weithin flimmerte alles im Sonnenlicht: Himmel und Meer und Orangenbäume und Bergabhänge, und ich lief hinaus und rief Elsa auf den Balkon hinaus, damit sie Lust bekäme auszugehen. So kam es auch, und wir gingen bis zu dem kleinen Haus auf der Anhöhe. Da stand das Kind wieder an die Hecke gelehnt und guckte nach der Straße hinunter, so als ob es jemand erwarte. Mir kam in den Sinn, daß wir hier auf dem Wege nach dem Piniental waren, und ich wäre so gern noch einmal hingegangen, aber ich befürchtete, den Weg nicht finden zu können. Ich trat zu dem Kinde heran und fragte, ob es mich nach dem Piniental hinführen wolle. Ganz direkt und ohne Besinnen antwortete es: › No mai voglio.

Ich dachte, es sei vielleicht zu spät für heute, der Weg ist doch noch weit von dort. So fragte ich: ›Aber morgen kommst du mit mir?‹

No mai,‹ war die Antwort. › Mai, (niemals).‹

›Warum denn niemals?‹ fragte ich weiter und war ziemlich ärgerlich. Das schien dem Kinde sehr gleichgültig zu sein; es schaute mir mit seinen feurigen Augen mitten ins Gesicht und wiederholte ganz bestimmt: › Mai‹.

Ich dachte, es wolle erst sehen, was es für den Dienst bekäme. Du weißt, die italienischen Kinder betteln ja › Soldi‹, bevor sie recht reden können.

Ich hielt dem Kinde einige Soldi hin und fragte: ›Kommst du dafür?‹

Es schüttelte verneinend den Kopf. Nun schüttete ich alles, was ich an Münzen bei mir hatte, auf meine Hand aus und hielt es ihm hin. Da wandte es den Kopf weg und sagte trotzig: › No, mai‹.

So etwas war mir noch nicht vorgekommen. Die Mutter war nun herausgetreten und wollte, wie ich glaube, das Kind bearbeiten. Aber mit einemmal schoß es auf und davon, wie damals, gegen die Straße hinunter, und weg war's.

Die Frau schaute mir nachdenklich zu, wie ich alle meine Soldi wieder einpackte, und sagte dann, so wie darauf bezüglich, ich solle nur morgen wiederkommen, Irene sei manchmal eigensinnig, aber sie gebe schon nach.

Also Irene heißt das störrige Kind. Jetzt wollen wir sehen, wer Meister wird.

Lebe wohl und gedenk' unser!

Herta.«

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»Sorrent, den 15. Oktober 18..

Liebe Hetty! Wir haben den Scirocco kennengelernt, alle die Tage her regierte er im Lande. Einmal fuhr ein Regenschauer daher, dann kam die Sonne und brannte eine halbe Stunde lang wie Feuer auf die Orangenbäume und die Menschenköpfe nieder. Dann kam wieder der Regen und drunten peitschte der Wind die Meereswogen hoch über die Mauern in die Gärten herein. Es war an keinen längeren Ausgang zu denken, bis gestern gegen Abend mit einemmal der Wind umgeschlagen hatte und ich den Gärtner unten sagen hörte, nun sei die Tramontana eingezogen, und wir hätten es gewonnen für lange. Nun zog ich aus, denn meinen Gang nach dem Piniental hatte ich auf den ersten schönen Tag festgesetzt. Es war zwar schon ein wenig spät dazu, und dann weiß ich nicht, wie es zugeht, auf dieser Straße gegen Massa hin komme ich gar nicht vorwärts, es ist zu schön.

Diesmal entdeckte ich einen Punkt, von dem ich so lange nicht mehr loskommen konnte, daß die Sonne schon dem Sinken nahe war, als mir in den Sinn kam, wie weit es noch von da nach dem Piniental wäre. Der Punkt ist unweit der Stelle, wo der Weg nach links hinauf von der Straße abzweigt.

Du mußt Dich dieses Punktes erinnern, die Straße steigt schon ziemlich, und rechts davon, auf einem Vorsprung, steht ein einzelnes Haus, unmittelbar über dem Meer. Im Garten davor stehen gedrängt aneinander die üppigsten Orangenbäume, jetzt alle ganz bedeckt mit den reifenden Goldfrüchten, und zwischendurch funkeln die großen, roten Oleanderblumen in der Sonne. Schaut man zurück, so sieht man hinunter auf die dunkelblaue Bucht, die der goldgrün glänzende Pomeranzenwald umschließt, aus dem die weißen Villen von Sorrent wie Edelsteine hervorschimmern. Links hinauf, dem Meer entlang, ziehen sich, so weit man sehen kann, die lachenden Gefilde von Meta und Viro und die Höhen des St. Angelo bis hoch ins Himmelblau hinein.

Dies ist der schönste Punkt um Sorrent. Ob man in dem Hause wohnen könnte? Es sieht so still und lockend wohnlich aus. ›Salve‹ steht über der Türe. Entzückend muß der Blick oben von dem kleinen Balkon aus sein, wie auf dem Gipfel der Anhöhe.

Drüben die leuchtende Bucht von Neapel, dann die ganze sonnige Küste von Bajä und Misene und bis zu den duftigen Höhen der fernen Insel Ischia hin. Könnte ich dort oben wohnen! Ich stünde ganze Tage lang auf diesem Balkon! Ich konnte nicht fort von der Stelle. Endlich ging ich doch. Oben bei dem kleinen Hause angekommen, fand ich das störrige Irenchen nicht an seiner Hecke stehen, es war alles still und leer. Auch hier, bei dem grauen Steinhäuschen ist es unsäglich schön.

Da sieht man über die blauen Fluten hin, auf den Vesuv und den leuchtenden Kranz der weißen Paläste und Häuser hinüber, die sich um den alten Feuerspeier hinziehen von Portiri bis Castellamare.

Jetzt lag alles im Abendlicht, weithin das Meer wie lauter Gold – und der rauchende Vesuv von einem rosig-violetten Duft umwoben. Da saß ich fest auf einem Baumstrunk vor dem Häuschen und hatte ganz vergessen, daß ich nach dem Piniental hinwollte.

Irenes Mutter schreckte mich aus meinen Träumereien auf, sie kam heraus, um Wasser zu schöpfen. Ich fragte nach dem Kinde und ob es mich wohl noch begleiten könnte. Sie sagte mir, für heute sei es viel zu spät, ins Tal hinauszugehen, das Kind sei noch als Begleiterin fort, aber nach Sonnenuntergang komme es immer zurück. Ich wollte seine Heimkehr abwarten, um auf den folgenden Tag die Partie mit ihm auszumachen. Ich konnte schon sitzenbleiben, wo ich saß, ich weiß nicht, wo es schöner sein könnte.

Es dämmert schnell hier nach Sonnenuntergang. Das Kind stand auf einmal vor mir, ich hatte nicht gesehen, von welcher Seite es gekommen war. Die Mutter trat auch wieder heraus und stellte sich neben mich; das Kind stand vor mir. Ich sagte nun: ›Morgen gehst du mit mir nach dem Piniental, Irene; deiner Mutter ist die Sache recht und du bekommst etwas Schönes von mir für das Geleit.‹

Wie ein Blitz kehrte sich das Kind ab von mir und sagte, den Rücken gegen mich gekehrt: ›Ich geh' nicht‹.

Ich sah nun die Mutter an – und sie schien endlich einschreiten zu wollen. Sie nahm das Kind beim Arm und kehrte es wieder um, so daß es mich ansehen mußte; dann fragte sie, warum es nicht gehen wolle. Es gab keine Antwort. Jetzt stellte ihm die Mutter vor, was es alles hätte bekommen können für die vielen Soldi, die ich ihm habe geben wollen.

›So will ich nach dem Deserto gehen mit ihr‹, sagte dann auf einmal das Kind ganz entschlossen. Hast Du je so etwas gehört? Das kleine Geschöpf befiehlt, wo man hingehen soll! Ich sagte, ich werde nicht nach dem Deserto gehen, auf diesen kahlen Berg hinaus, durchaus nicht; nach dem Piniental aber werde ich gehen, unabänderlich. Nun setzte das Persönchen wieder seinen Kopf auf und behauptete, dahin führe es mich nicht, nie!

Jetzt wurde die Mutter auf einmal ganz lebendig, ich glaube vor Neugierde, sie wollte nun durchaus wissen, warum Irene an den einen Ort mit mir gehen wollte, und an den anderen nicht. Es währte noch eine gute Zeit, bis das Kind reden wollte, aber jetzt gab die Mutter nicht mehr nach. Sie fragte alles Mögliche, ob es nicht nach dem Pinientale wolle, weil es denke, es seien Räuber da oder Schlangen, oder man bekomme Dornen in die Füße; es war alles nichts.

Endlich sagte das Kind halblaut: ›Der Signore hat's nicht gern.‹

Jetzt war die Mutter auf einmal entwaffnet. Sie sagte ganz überzeugt: ›Ja, wenn es der Signore nicht gern hat‹ – dann zuckte sie die Achseln und ging ins Haus hinein. Da saß ich! ›Wer ist denn der Signore?‹ fragte ich das Kind noch, ›das will ich denn doch wissen.‹

›Der Signore Inglese‹, rief es und lief davon.

So endete mein Gang nach dem längst ersehnten Piniental. Was soll denn das heißen? Ein ganz offenes Tal, offen wie eine Straße, wo jeder hineingehen kann, wo schon Tausende hingegangen sind um der eigentümlichen Schönheit des Ortes willen, da soll man jetzt nicht hingehen, weil irgendein Signore Inglese es nicht gernhat. Nun wollen wir doch sehen, ob ich nach dem Piniental komme oder nicht. Du kannst begreifen, daß ich nun durchaus dahin gehen will. Du hast auch selbst gesagt, es sei vom Schönsten, das Du kennst. Und ich will nun dahin!

Elsa geht es gut. Die Luft hier ist ihr wohltuend, sie hat ihre Kopfkrämpfe selten und ißt mit Appetit allerlei Meertiere.

Lebe wohl und sei mir herzlich gegrüßt.

Herta.«

 

»Sorrent, den 25. Oktober 18..

Liebe Hetty! Ich habe es doch erreicht! Nach dem Pinientale bin ich gekommen und den Signore Inglese, der hier die Täler schließt und die Leute beherrscht, habe ich auch gesehen; ich muß Dir alles erzählen. Wir hatten doch die richtige Tramontana noch nicht, wenigstens nicht für bleibend. Du hattest recht, mir in Deinem Briefe zu sagen, ich solle nicht so fest trauen; wenn der Wind so schnell wechsle, kehre er meistens ebenso schnell dann wieder um. So war's auch diesmal. Wer gestern Morgen, als mir die Sonne früh schon hell ins Zimmer schien, da rief ich laut aus: ›Heute nach dem Piniental!‹

Der Ruf war so anregend, daß Elsa augenblicklich aus ihrer Stube herüberrief: ›Ich gehe mit!‹

Gleich nach dem zweiten Frühstück, um zwölf Uhr, zogen wir aus nach dem großen Platze, wo, wie Du weißt, die Kutscher, die Schiffer, die Eseltreiber und allerlei Reisebegleiter mit allen möglichen Vorschlägen und Anerbietungen einen so bedeutenden Lärm machen, daß man froh ist, so schnell wie möglich in Sicherheit zu kommen. So machten wir auch eilig unser Geschäft mit einem Eseltreiber ab, der ziemlich tückisch und zerlumpt aussah.

Ich bereute auch gleich unsere Tat, da ein hübscher, schwarzlockiger Junge eben auf uns zutrat und uns sehr manierlich seine Dienste anbot.

Er schaute mich so ehrlich an und versicherte, er habe den besten Esel in ganz Sorrent unter seiner Pflege. Der Esel heiße Colonello und vor dem Jahr habe er die Prinzessin von Preußen oft herumgetragen auf vielen Touren. Der Junge sah so gut aus, ich hätte ihn zu gern als Führer mitgenommen, aber der andere kam schon mit den bestellten Eseln, es half nichts, wir mußten aufsteigen.

Der Junge half mir in den Bügel. ›Aber morgen mit mir, Signora‹, sagte er so nett bittend, und ich sagte: ›Übermorgen, aber wohin dann?‹

›Nach dem Deserto‹, hatte er schnell ausgefunden. Ich bejahte, es wird mir eben bestimmt fein, nach dem Deserto zu kommen. So habe ich denn auf morgen schon wieder eine Partie vor; doch nun zu der gestrigen zurück! Du kennst den Weg ins Piniental, er ist nicht besonders schön zu nennen. Hier, wo auf jeder Anhöhe ein entzückender Blick über das Meer hin zu haben ist, reitet man nicht gern zwischen Bäumen und dichtem Buschwerk durch, wo kein freier Ausblick ist. Bei dem Haus ›Salve‹, bevor wir von der Straße abbogen, schickte ich noch einen Blick zu dem Balkon hinaus. Jener Sitz ist mein Wunsch; wie muß eine Mondnacht dort oben anzuschauen sein! Wir ritten wohl eine Stunde lang, eh' wir bei dem kleinen Bauernhaus am Eingang zum Piniental ankamen. Hier stiegen wir ab und ließen Führer und Esel zurück. Ein kleines Mädchen, das uns eine erstaunlich steife, gelbe Blume mit einem langen Stiel und ganz ohne Blätter zum Kauf angeboten hatte, sollte nun unsere Führerin sein. Erinnerst Du Dich dieser letzten Strecke? Sie ist schlecht genug. Erst geht's steil hinunter, in Gestrüpp hinein, über Baumstrünke und Wurzeln hin, was ein beständiges Stolpern mit sich bringt, dann in ganz weichen Boden und dann in Steingeröll hinein; aber mit einemmal standen wir in der Talmulde unter den Pinienbäumen. Und was für Pinien! Nur wer diese gesehen hat, weiß, was Pinien sind! Und diese Menge der alten, hohen Bäume mit den reichen, weit ausgebreiteten Wipfeln! Jetzt wogte und rauschte durch alle die vollen Kronen ein mächtiger Seewind, der dort von Capri herüberkam. Ich eilte dem Ende des Talgrundes zu, dahin, wo es steil ins Meer abfällt, wo man zu beiden Seiten die einschließenden, buschigen Höhen hat und durch die Öffnung hinaus ein Stück blaues Meer, auf dem die Insel Capri schwimmt und ihre feinen Linien in das Himmelsblau zeichnet. Da setzte ich mich auf einen Stein hin und schaute hinüber und dann wieder hinauf, wo durch die grüne Pinienkrone über mir hier und da der blaue Himmel herunterleuchtete. Mehr und mehr schien drüben die Felseninsel zu Duft zu werden, der leicht und lieblich sich auf den abendlichen Wogen wiegte.

Da unten brauste das Meer und droben rauschten die Wipfel; es war, als singe und jauchze alles laut auf über die Schönheit ringsum. Wenn ich je im Leben sollte von Traurigkeit befallen werden, ginge ich hierher ins Piniental, dann würde sicher alles gut.

Elsa war mitgekommen, aber ich hatte sie aus den Augen verloren und eine Zeitlang alles vergessen. Nun stand ich einmal auf und schaute mich nach ihr um. Elsa sah ich nirgends; aber zwei Augen entdeckte ich plötzlich, die flammend auf mich gerichtet waren, so als wollten sie mich in den Boden hineinbrennen. Dort unter einem der hohen Bäume saß unbeweglich der kleine Cerberus des Pinientales, Irene, ihre Blicke auf mich heftend. Neben ihr, an den Stamm der Pinie gelehnt, war eine Männergestalt zu sehen, ebenso still und unbeweglich dasitzend, die Augen auf ein kleines Buch gerichtet, in dem sie zu lesen schienen. Ich dachte, zu diesem Zwecke müßte eigentlich der Signore nicht gerade nach dem Piniental gehen, dazu wär's überall schön genug, seine Nase in ein Buch zu stecken. Daß der Anwesende der gesetzgebende Signore Inglese sein werde, konnte ich mir wohl denken. Ich kehrte mich um und saß wieder auf meinen Stein hin, und als die Sonne unterging und ich aufstand, um wegzugehen, da war der Signore samt seiner kleinen, grimmigen Hüterin lautlos verschwunden, und alles war öd' und leer. Erst als ich den Abhang erklommen hatte, sah ich wieder lebende Wesen, zunächst die Elsa, die in sichtlichem Zorn aus ihrem Esel saß, denn sie hatte schon drei Viertelstunden lang dagesessen und irrtümlicherweise angenommen, daß mir das eine innere Stimme hätte sagen sollen.

Nun lebe wohl und gestehe, daß ich Deinem Wunsche nachkomme und Dir viel von unserm Leben erzähle.

Herta.«

 

»Sorrent, den 30. Oktober 18..

Liebe Hetty! Meine Partie nach dem Deserto ist wundervoll ausgefallen. Mein erster Eindruck von dem Jungen war ganz richtig, er ist vorzüglich als Führer und als Mensch. Erst machte Elsa ein wenig Spektakel, als ich ihr mein Vorhaben offenbarte. Sie wollte mich nicht allein einen so weiten Ausflug machen lassen, es könnten mir allerlei Unfälle zustoßen, meinte sie, und mitkommen könne sie auch nicht, es wäre zu anstrengend für sie.

Endlich nahm sie aber Vernunft an, denn sie sah, daß ich entschlossen war, zu gehen. So allein auszuziehen, das war ein herrliches Gefühl! Ich ging nach dem Platze hin, da stürzte mir gleich mein Führer entgegen, er hatte schon aus mich gewartet. Mit stolzen Blicken zeigte er mir seinen Colonello, dem er eine nagelneue Decke aufgelegt hatte, die war grau mit roten Streifen und sehr anmutig sauber. So begannen wir die Reise.

Ich saß prächtig auf dem Colonello und hart neben mir her wanderte mit ungeheuren Schritten mein Führer einher, mit dem ich vom Augenblick der Abreise an bis zu demjenigen des Abschiedes in ununterbrochener Unterhaltung blieb. Er hat mir aber auch so vieles erzählt, das mir merkwürdig ist und das Dir nun gleich auch merkwürdig sein wird. Denk doch, mein schmucker Führer Pietro ist ein Stiefbruder der kleinen Irene; da mußte er mir denn zuerst seine Familienverhältnisse auseinandersetzen. Er hat seine Mutter verloren, wie er zehn Jahre alt war; jetzt ist er neunzehn. Bald bekam er dann die zweite Mutter, die er gernhat, sie war immer gut zu ihm. Die kleine Irene kam dann zur Welt, sie ist nun acht Jahre alt. Bevor sie aber völlig ein Jahr alt war, starb der Vater, und Pietro half nun der Mutter wacker arbeiten, daß sie auf dem Häuschen bleiben und sich selbst durchhelfen konnten. Er wurde dann Eselsjunge bei seinem jetzigen Patron, stieg dann aber mit der Zeit. Jetzt darf er als Fremdenführer gehen, über die Berge und wo es ist; er hat schon unglaublich viele Touren gemacht und kennt das Land in alle Winkel hinein. Jeden Abend kommt er nach Hause zur Mutter, da hat er seine Herberge, wenn er nicht auf Reisen ist, denn manchmal ist er tagelang mit Fremden auf dem Wege. Nur sein Nachtessen hat er zu Hause, das ist aber, wie ich merkte, sein einziges bestimmtes Essen; draußen auf dem Platze oder auf Fahrten da nimmt er eine Zwiebel und ein Stück Brot ein. Durch sein Nachtessen veranlaßt, kam er auf den Signore Inglese zu sprechen, von dessen Tisch viele Reste für die Mutter abfallen, was ihr eine große Hilfe sei.

Nun fing er an von dem Signore zu erzählen, für den er eine unbeschreibliche Hochachtung hegt. Dieser Signore Inglese kommt schon seit mehreren Jahren und bringt die Herbst- und Wintermonate in Sorrent zu. Dann verschwindet er und kehrt im nächsten September wieder zurück. Er ist leidend, Pietro weiß aber nicht, wie, nur daß er immer langsam gehen müsse und manchmal viele Tage hintereinander gar nicht ausgehen könne.

Die Jahre vorher kam er immer mit einem Bedienten, der ist ihm aber einmal krank geworden hier und hat mehrere Wochen lang das Bett nicht verlassen können, nachher ist er nicht wieder erschienen. Seit der Zeit leistet die Irene dem Signore allerlei kleine Dienste; die Frau des Hauses, wo er wohnt, ist eine Bekannte der Mutter und hat das Kind bei dem Signore eingeführt. Und wo wohnt dieser Signore? In meinem Hause ›Salve‹ hat er den ganzen oberen Stock für sich gemietet für immer, auch für die Zeit, da er nicht hier ist, denn er will ganz für sich sein und niemanden neben sich in dem Hause haben.

Unten wohnt nur der Hausbesitzer mit seiner Frau, die dem Signore die Zimmer in Ordnung hält.

Jeden Tag um dieselbe Zeit geht Irene hinauf zu ihm und holt die Reste seines Mittagsmahles; da findet denn Pietros Mutter oft mit Erstaunen und Schrecken über so geringen Appetit, sie bekämen gewiß mehr an Resten, als am ganzen Mittagessen gewesen sei.

Etwas später geht der Signore aus, und Irene weiß immer, wohin er gehen wird; gewöhnlich geht er nach dem Piniental und würde sie im Vorbeigehen mitnehmen, aber sie wartet ihn nie ab, schon eine halbe Stunde vorher wartet sie auf sein Erscheinen. Sieht sie ihn auf der Straße kommen, so stürzt sie ihm entgegen und hat ihm dann allerlei nachzutragen: den Umhang, das Fernrohr, ein Buch oder Zeitungsblatt und wer weiß was noch mehr, wahrscheinlich eine Teemaschine, wenn er ein echter Inglese ist. Er kann aber gerade so gut ein Schwede oder ein Spanier sein, denn ›Ingles‹ heißt hier jeder, der außerhalb Italiens zu Hause ist. So gut ist aber der Signore, daß, wie Pietro sagt, jedes Kleidungsstück, das Irene trägt, von ihm herrührt; dazu hat sie noch eine Korallenschnur mit einem Kreuz daran, die er ihr einmal von Neapel mitgebracht hat.

Da hast Du die Geschichte vom Signore Inglese. Was mir dann am meisten Eindruck macht, ist zu sehen, wie er alle, die mit ihm in Berührung kommen, beeinflußt.

Von dem Kinde mit den feurigen Augen würde es mich noch weniger wundern; aber Du solltest diesen Pietro hören, wie vernünftig und gelassen er über alles sprechen kann, und dann sehen, wie er erregt wird, wenn er anfängt von dem Signore zu erzählen; es ist, als würde sein ganzes Wesen mit einemmal um eine Terz höher gestimmt.

Nun sieh doch, vor lauter Erzählung über den Signore ist mein Brief schon so lang geworden, und noch habe ich Dir von allem, was ich gesehen, nichts erzählt, und doch sieht man von diesem hohen Deserto aus auf eine so wunderreiche Welt hinunter. Das heißt, man könnte das alles sehen, wenn man nicht einen Kampf zu bestehen hätte, der nicht zu schildern ist. Das Deserto ist eine völlig kahle Höhe ohne jeglichen Baum oder Strauch; nur ein graues Steinhaus steht da, eine Art Stift oder Waisenhaus, wo eine Menge dünner, bleicher, windzerzauster Buben herumrannten, denn ein Wind streicht über diese Höhe hin, wie ich noch keinen empfunden habe. Als ich oben ankam und vom Esel stieg, um die Aussicht zu betrachten, jagte es mir den Hut über den Berggrat hin, den Mantel über den Kopf hinaus und hoch in die Luft empor; ich selbst flog so willenlos umher, daß ich nichts Besseres zu tun wußte, als schleunigst den Rückweg anzutreten und an einer geschützteren Stelle abzuwarten, ob der Pietro meine zerstobenen Kleidungsstücke wieder zusammenfinden würde. Er brachte aber alles schön auf dem Esel befestigt, und ich war so gerührt von seiner Sorgfalt, daß ich ihm sogleich eine neue Fahrt zusagte, die er mir auf dem Heimweg vorschlug; diese kann aber erst ausgeführt werden, wenn Elsa noch etwas fester geworden ist in ihrer Erholung, denn da kann ich denselben Tag nicht zurückkommen.

Es führt von Sorrent ein steiler, aber wundervoller Saumweg über den schönen Monte St. Angelo, den wir immer vor Augen haben, hinüber nach dem alten Amalfi, das vom Schönsten sein muß, das man sehen kann, mit all den verfallenen Sarazenenschlössern und Türmen ringsum an den Bergabhängen und auf den Felsenhöhen am Meer. In Amalfi müssen wir die Nacht bleiben, und am folgenden Tag machen wir den Weg zurück und haben dann vor Augen, was wir im Hinweg im Rücken hatten. Dies ist eine herrlich ausgedachte Reise, ich habe sie mit Pietro festgesetzt und werde sie ausführen

Lebe wohl und laß bald von Dir hören.

Herta.«

 

»Sorrent, den 5. November 18..

Liebe Hetty! Eine ganz lächerliche Geschichte hat sich zugetragen, die sollst Du gleich hören. Du wirst zwar erst gar nicht glauben wollen, was Du liest! Aber es hilft Dir nichts, Du mußt – es ist eine wahre und wirkliche Begebenheit. Jetzt höre: Gestern abend gehe ich die Straße gegen Massa hinauf, man kann ja nie ermüden, diesen Weg zu gehen. Ich biege in den Fußweg zum Piniental ein und steige hinauf bis zum Häuschen der Irene, sehe auch das Kind droben sitzen und freue mich darüber, denn das kleine Wesen mit den Rabenhaaren und den Flammenaugen sehe ich immer gern; ich möchte nur wissen, was im Innern dieses kleinen Kraters vorgeht, denn daß da allerlei Feuer sprühen, daran zweifle ich gar nicht. Obschon das Kind mir wenig Huld gezeigt hat, so hat es mich doch so für sich eingenommen, daß ich immer nach ihm ausschaue, wenn ich draußen bin. Wie es mich herankommen sah, wollte es fortlaufen, ich winkte ihm aber zu, und es blieb sitzen. Wie ich oben war, setzte ich mich zu ihm auf die kleine, zerbrochene Bank hin, und um nun ein Gespräch zu beginnen, fragte ich, wo heute der Pietro sei.

Statt aller Antwort zeigte das Kind nach dem Meer hin, wo ich wohl einige Barken sah, aber klein wie Mücken, so daß unmöglich zu unterscheiden war, ob sie gingen oder kamen. Ich zog mein Fernrohr hervor, Du kennst ja das zweiäugige Instrument in der weißen Schale, und schaute hinaus. Es war nichts zu erkennen. Ich stellte also meine Bemühungen ein, legte das Glas neben mich nieder und wollte eben ein neues Gespräch mit Irene beginnen, als ich bemerkte, daß ihre Augen ganze Funken sprühten, bald auf mich, bald auf das unschuldige Fernrohr hin, das zwischen uns lag. Mit einemmal springt das Kind auf, erfaßt das Instrument wie eine erzielte Beute und stürzt die Anhöhe hinunter, der Straße zu. Erst bleibe ich festgewurzelt auf meinem Platze, starr vor Erstaunen; dann stehe ich auf und laufe dem Kinde nach. Ich sehe, wie es die Straße hinunterfliegt, an das Haus ›Salve‹ kommt, dort hineinstürzt und verschwindet.

Ich eile so sehr ich kann, um Irene zu treffen, wenn sie wieder herauskommen würde. Wie ich dem Hause näherkomme, sehe ich zum erstenmal den Signore auf seinem Balkon stehen. In diesem Augenblicke tritt das Kind zu ihm heraus und hält ihm frohlockend mein weißes Fernrohr hin. Ganz erfreut ergreift es der Signore, setzt es an seine Augen und schaut vergnügt an den Vesuv hinüber durch das geraubte Gut.

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Was mußte ich denken, Hetty? Was hättest Du gedacht? Da war nur eines zu denken: Also dieser edle Mann da droben, der alle Menschen einnimmt und großmütig behandelt, ist ein verkappter Räuberhauptmann! Er sucht unschuldige Kinder zu gewinnen, um sie nachher auf Raub und Diebstahl auszuschicken. Noch einmal schaute ich nach dem Balkon hinauf. Da stand er noch, im feinen, schwarzen Kleide, und sah wirklich vornehm aus, der heimliche Banditenchef, und noch schaute er durch mein Fernrohr in das Land hinaus, wahrscheinlich neuen Raub erspähend, und in Verehrung blickte Irene zu ihm auf, selbst in diesem Augenblick begangener Untat.

Ich wußte durchaus nicht, was ich tun sollte. In das fremde Haus hineinzutreten und mein Eigentum zu fordern, war mir zuwider; zu dem Balkon hinaufzurufen: ›Gebt mir, was mir gehört!‹ das konnte ich auch nicht tun. Was blieb mir also übrig? Ich ging in stummer Empörung nach Hause und erzählte Elsa mein Erlebnis.

Es machte einen so schrecklichen Eindruck auf sie, daß sie erst gar keine Worte fand; dann merkte ich aber, daß nicht der Diebstahl und nicht die Entdeckung des Räubers sie so getroffen hatten, sondern der Gedanke, ich sei zuviel in der Sonne herumgegangen, und nun sei mein Gehirn angegriffen. Ich grübelte aber die ganze Nacht und den folgenden Morgen durch nach, wie ich wieder zu meinem Eigentum gelangen könnte. Gegen die Mittagszeit, als ich der Elsa wohl zum zehntenmal wiederholte, daß ich die rätselhafte Geschichte mit gesunden Sinnen erlebt habe, klopfte es an unserer Tür, und herein trat der Signore Inglese, das geraubte Fernrohr in der Hand. Ich glaube, wir sahen beide sehr verblüfft aus, Elsa und ich, aber nicht lange; der rätselhafte Signore wußte mit solcher Feinheit und Leichtigkeit alles ins Geleise und alle in die ungezwungenste Lage zu bringen, daß mit einemmal eine ganz belebte Unterhaltung unter uns herrschte und wir in die angenehmste Stimmung versetzt wurden. Aber von Inglese keine Spur, sondern ein Deutsch sprach der Signore, so schön und wohlklingend, daß es tönte wie Musik. Freilich da macht ein gutes Organ viel aus; solcher Wohllaut einer Stimme ist mir noch nicht vorgekommen. Der Signore hatte eine Weise, um Entschuldigung zu bitten, daß man davon selbst ganz demütig wurde und zum Gefühl kam, man habe selbst gewiß auch etwas abzubitten.

Das große Rätsel wurde uns dann gelöst. Er selbst besitzt ein Fernglas mit weißer Schale, dem meinen förmlich ähnlich; das hatte er verloren, was das Kind natürlich wußte. Als es in meiner Hand den trügerischen Doppelgänger sah, war es überzeugt, es müsse das verlorene sein, und kurz von Wort und rasch von Tat, wie das Kind ist, führte es gleich den entscheidenden Streich und brachte das vermißte Gut seinem Herrn ohne alle Erklärung zurück.

Er freute sich höchlich des Wiedergefundenen, erschrak dann aber gewaltig, als er diesen Morgen einen unbenutzten Schrank aufmachte und darin ein ganz gleiches Fernrohr liegen sah wie dasjenige, das er in der Hand hielt.

Nun mußte Irene berichten, woher sie das ihrige gebracht hatte. Natürlich fühlte sich der Signore sehr beschämt über den Vorfall und wollte dies mir selbst aussprechen. So endete die erste Räubergeschichte, die wir in Italien erlebt haben. Mögen wir noch viele solche erleben, denn das Ende war anmutig. Der Signore ist unstreitig ein Norddeutscher. Auf seiner Karte, die er bei seinem Eintritt ins Haus uns übersandte, die uns aber erst nachher abgegeben wurde, nach echt italienischer Bedientenart, steht:

v. D…

Lebe wohl und nimm meinen Gruß.

Herta.«

 

»Sorrent, den 15. November 18..

Liebe Hetty! Was hat denn mit einemmal eine solche Teilnahme am Schicksal dieses Herrn v. D. bei Dir erweckt? Bis zu meinem letzten Briefe gabst Du kaum Antwort auf alles, was ich Dir von dem Signore erzählte, und nun plötzlich willst Du alles von ihm wissen, was nur zu wissen ist, und viel mehr, als ich Dir sagen kann. Hat Dich unsere Räubergeschichte so angeregt? Ich möchte wissen, was über Dich gekommen ist! Jetzt will ich Dir aber alles erzählen, was ich weiß, denn ich mag gern, daß Du zu einer lebendigen Teilnahme für unseren Signore erwacht bist, er verdient eine solche. Du sagst in Deinem Briefe, ich soll Dir schreiben, wie Herr v. D. jetzt aussehe. Was heißt das? Ich denke, Du wolltest fragen, wie er überhaupt aussehe. Edel sieht er aus und nicht wie viele andere. Ich dachte bei mir, wie er hier bei uns war: der hat ein Wesen wie ein Fürst, dem natürlicherweise seine ganze Umgebung untertan ist; darum macht denn seine gewinnende Art, diese rücksichtsvolle Freundlichkeit, die so unähnlich aller Herablassung ist, einen solchen Eindruck. Aber krank sieht er aus; das schöngeschnittene Gesicht hatte wohl nicht immer so scharfe Linien wie jetzt. Die dunklen Augen liegen tief drinnen, aber sie sind sehr sprechend und können ganz durchdringend anschauen.

Elsa sagt: mit kleinlichen Gedanken im Herzen möchte sie nicht vor diesen Augen stehen. Ich auch nicht, wenn ich sie behalten wollte; wollte ich sie aber loswerden, dann schon; ich glaube, vor Bangigkeit führen sie gleich aus.

Es geht Elsa jetzt so gut, daß ich daran denke, meine Reise mit Pietro auszuführen, bevor die Tage noch kürzer werden. Elsa hat zwar einen ganz schrecklichen Lärm erhoben, wie ich davon sagte. Sie sieht Räuber und Schlangen und wilde Büffel auf meinen Wegen, dann sieht sie mich in die Irre geraten und verhungern, und noch mehrere andere schwere Unfälle, die mir auf dieser Bergfahrt zustoßen, aber es ist nur so, bis sie sich ein wenig an den Gedanken gewöhnt hat. Ich mache jedenfalls die Reise, davon bringt mich kein Mensch ab. Pietro kennt den Weg gut und er ist ein sicherer Führer, da ist keine Gefahr. Amalfi und die Sarazenenburgen will ich sehen, das steht fest. Bin ich erst drüben gewesen, dann erhältst Du eine Beschreibung, die Dich freuen soll.

Lebe wohl bis dahin.

Herta.«

 

»Sorrent, den 10. Dezember 18..

»Liebe Hetty! Diesmal hast Du länger als gewöhnlich auf einen Brief warten müssen. Ich weiß nicht, wie es kam, ich war nicht zum Schreiben aufgelegt, aber heute habe ich Dir viel zu erzählen.

Elsa ist recht unwohl gewesen, und ich saß die meiste Zeit bei ihr zu Hause. Gestern aber lag ein so lieblich-milder Sonnenschein draußen auf den Orangenbäumen im Garten, daß man nicht zwischen den Mauern bleiben konnte. Da es ganz windstill war, kam mir der Gedanke, eine kleine Meerfahrt zu machen; ich dachte, es müßte Elsa wohltun, einmal wieder die herrliche Luft einzuatmen, und ermüden konnte sie sich ja in dieser Weise nicht. Sie war sogleich einverstanden mit meinem Plan. Wir gingen um die Mittagszeit im milden Sonnenschein nach der Kleinen Marina hinunter, wo ich ein Schiff hatte bestellen lassen. Als wir auf einem Vorsprung ankamen, wo man hinuntersieht, erblickte ich zu meinem Erstaunen, wie eben Herr v. D., gefolgt von der kleinen Irene, das einzige Schiff bestieg, das zur Abfahrt bereitstand, also das unsrige.

Das war doch ein sonderbares Unternehmen von dem Signore, der auf seinen Spaziergängen niemanden treffen will. Als wir uns näherten, hörte ich, daß er mit den Schiffern einen kleinen Streit beizulegen hatte; sie riefen alle auf einmal, soviel sie vermochten, und gestikulierten gewaltig mit Kopf und Armen, um ihn zu überzeugen. Jetzt stand er auf und trat wieder aus dem Schiff, gerade als wir herankamen. Nun wurde uns die Sache klargemacht. Wir hatten zu unserer Fahrt eine kleine Barke mit zwei Ruderern bestellt, und gleich nachher kam Irene mit demselben Auftrag. Nun fanden die Schiffer für besser, gleich eine große Barke mit vier Ruderern bereitzumachen und die Forestieri alle zusammenzupacken. Du weißt ja, solche Zusammensetzungen muß man sich hier von Schiffern und Kutschern immer gefallen lassen. Erst nachdem er eingestiegen war, hatte Herr v. D. diese vorteilhafte Einrichtung von den Schiffern vernommen und war nun eben im Begriff, sich zu entfernen und uns in großmütiger Entsagung das ganze Schiff mit allen vier Ruderern zu überlassen. Auf die Gefahr hin, zurückgewiesen zu werden, wagte ich die Frage an Herrn v. D., ob wir nicht die Fahrt zusammen machen könnten; da wir ja keinesfalls größeres Recht an das Schiff hätten als er, müßten wir sonst durchaus auch den Vorschlag machen, zurückzubleiben und ihm das Schiff allein zu überlassen. Unerwartet freundlich wurde mein Vorschlag angenommen. Mit großer Sorgfalt half er nun erst uns, dann der kleinen Irene in das fortwährend zurückweichende Schiff hinein, und da saßen wir denn, Elsa und ich, auf der einen Bank, uns gegenüber der Signore und neben ihm das Kind, mit heller Freude in den Augen, Umhang und Fernrohr auf dem Schoß. Heute war es sichtlich zufrieden mit uns, hatte doch der Signore selbst sich so freundlich in unsere Nähe gesetzt. Man kann jede Empfindung in des Kindes Augen und Mienen lesen. Es sah ganz reizend aus, wie es so in stiller Glückseligkeit neben seinem Signore saß und ihm jede Bewegung ablauschte und verstand, denn einmal mußte der Umhang umgenommen, das Fernrohr herausgezogen, das andere Mal der Sonnenschirm aufgemacht werden, und das alles ging leise vor sich, immer im Augenblick, da es nötig war und ohne daß der Signore nur ein Wort zu sagen brauchte. Er war während der ganzen Fahrt von der feinsten Liebenswürdigkeit und machte uns auf allerlei schöne Punkte und merkwürdige Dinge aufmerksam, die wir noch gar nicht gesehen hatten; er kennt die ganze Gegend sehr genau. So sahen wir zum erstenmal die Ruinen der Sarazenenfeste an der Küste von Massa, gegen das Kap der Campanella hin, nach welcher Seite wir fuhren. Auch malerische Ruinen eines Jupitertempels schauen da vom Gestade ins Meer hinaus, und überall lachen die sonnigen Bergabhänge hernieder, von reichem Feigenlaub und Rebenranken überdeckt. Wie Elsa den Anlaß fand, weiß ich durchaus nicht, aber mit einemmal ist sie mitten drin, dem Herrn v. D. ihre Besorgnisse vorzutragen, meine Reise nach Amalfi betreffend, und nun bittet sie ihn, mir die Unternehmung ins rechte Licht zu stellen, da er die Gegend so gut kenne. Herr v. D. faßte die Sache gleich ganz ernsthaft an und begann nun, mir seine Bedenken über mein Vorhaben mit so warmer Teilnahme auseinanderzusetzen, daß ich nicht anders konnte, ich mußte darauf hören und seine Worte beherzigen. Wenn auch keine Räuberbanden da hausen, so soll doch viel verkommenes Volk da herumfahren, und in der völlig einsamen Gegend drohen den Reisenden Gefahren, denen man sich nicht aussetzen soll. Den Pietro rühmte er als treuen und ehrlichen Menschen, auch als zuverlässigen Führer; aber er allein könnte kein Schutz für mich sein, wo mehrere gegen uns wären.

Herr v. D. sagte, er ließe die Sache nicht eher fallen, bis ich nachgeben und davon abstehen würde, und ich kam dazu, ich weiß nicht, wie; es lag in der Weise seiner Bearbeitung, in aller Sanftmut ein Zwingen, dem ich nicht mehr Widerstand leisten konnte; ich versprach also, die Reise aufzugeben. Nun wurde er rührend liebenswürdig. Er sagte, es reue ihn nicht, mich um diesen Ausflug gebracht zu haben; er möchte aber gern mir einen anderen dafür anbieten. Ob er das dürfe. Ich bejahte sogleich und schlug eine gemeinsame Fahrt nach dem Piniental vor. Es war ein wenig Bosheit dabei: ich wollte sehen, wie der Signore sich aus der Sache ziehen werde, da er doch jenen Ort für sich allein behalten wollte; das Piniental liegt mir aber auch sonst immer im Sinn, ich möchte so gern wieder hingehen. Herr v. D. bemerkte, dahin könnten wir weder zu Wagen, noch zu Schiff gelangen, so könnten wir die Fahrt ja nicht zusammen machen. Ich entgegnete, er müsse doch irgendwie hinkommen, da ich ihn dort gesehen habe. Es ging ein trauriges Lächeln über sein Gesicht, als er antwortete: ›Jawohl, irgendwie! Sie haben es mit einem kranken Mann zu tun, mein Fräulein! Reiten darf ich nicht, und zu einer Fußtour, wie ich sie machen muß, darf ich nur meine kleine Irene in Anspruch nehmen, eine solche währt sehr lange und erfordert manchen langweiligen Halt.‹

Er fuhr mit zärtlichem Streicheln ein paarmal über des Kindes lockiges Haar hin, es war, als wollte er ihm danken. Eine Zeitlang schwieg alles; mir war es leid, daß ich sein Kranksein zur Sprache gebracht hatte. Aber die Sache mußte doch zu einem Abschluß kommen. Ich sagte also, mir gefiele doch diese Fahrt am besten, und wenn er uns erlauben wolle, in sein Piniental einzutreten, so könnten wir dahin reiten und dort mit ihm zusammentreffen, um die unvergleichliche Schönheit der Stelle gemeinsam zu genießen. Dann erzählte ich ihm, welche vergeblichen Anstrengungen wir gemacht hätten, von seiner kleinen Begleiterin nach dem Tal geführt zu werden, weil, wie sie erklärte, der Signore es nicht gern sehe. Er schaute lächelnd auf das Kind und streichelte es von neuem. Dann sagte er: Ausgesprochen habe er darüber nie ein Wort, daß das Piniental seine Lieblingsstelle sei, wo er gern allein in der Stille verweile; das habe ihm das Kind wohl abgemerkt, wie so vieles andere. Es errate seine Wünsche und Bedürfnisse, eh' sie ihm oft selbst recht ins Bewußtsein träten. So sei er immer von seiner kleinen Irene besser besorgt und gepflegt, als er es selbst anzuordnen wüßte.

Das Kind hatte einen glücklichen Tag. Konnte es auch die Worte seines Herrn nicht verstehen, so verstand es doch seine liebevolle Behandlung. Die Augen des Kindes leuchteten wie helle Sterne; erst jetzt, da das Zornesfeuer daraus verschwunden war, sah ich, welchen herzgewinnenden Blick die Kleine hat. Die Partie nach dem Piniental wurde auf den ersten sonnigen Tag festgesetzt, und wieder an der Kleinen Marina angelangt, schieden wir fast wie alte Bekannte. Ich hätte nie gedacht, daß sich's mit diesem Signore so angenehm verkehren ließe.

Lebe wohl und sei vergnügt, wie wir es sind.

Herta.«

 

»Sorrent, den 15. Dezember 18..

Liebe Hetty! Noch haben wir seit unserer Meerfahrt keinen recht sonnenhellen Tag gehabt; so ist die verabredete Fahrt immer noch unterblieben. Elsa muß im Zimmer bleiben in diesen ziemlich kühlen Tagen. Da geh' ich denn oft allein auf kleine Entdeckungsreisen aus, meistens gegen Massa hinauf. Die letzten Rosen blühen an den Hecken, sie sind ein wenig blaß; aber immer goldener leuchten jetzt die Orangen aus den dunklen Blättern hervor, bald werden sie reif sein. Ich wandere an ›Salve‹ vorüber, nach der Höhe der Straße hinauf und schaue um mich. Und wenn ich Stunden und Stunden da droben stehe und staune, niemals werde ich dieser Schönheit müde. Mit Irene stehe ich nun auf dem besten Fuße. Sowie sie mich erblickt, läuft sie mir entgegen und streckt mir die Hand zum Gruße hin. Sie sagt dann freilich nichts, aber in ihren Augen kann ich deutlich unsere guten Beziehungen lesen. Sie blickt mich ganz verständnisinnig an, so als sagte sie mit Worten: ›Jetzt ist's anders zwischen uns!‹

Diese Veränderung schreibe ich durchaus nicht meinem Verdienste zu, sie ist seit der Fahrt im Schiffe eingetreten, wo das Kind bemerkt hatte, daß der Signore uns große Freundschaft erwies, denn das ganze Wesen des Kindes richtet sich nach diesem Kompaß. Ich muß sagen, die kleine Irene ist das anmutigste Kind, das ich je gesehen habe, ich begreife vollkommen, daß sein Herr dem kleinen sympathischen Wesen eine besondere Zuneigung schenkt. Das Feuer und die Leidenschaftlichkeit, die entschieden in dem Wesen des Kindes liegen, kommen durchaus nur in seinen Augen zum Vorschein, sonst ist alles Anmut und Lieblichkeit an dem Kinde.

Seine Bewegungen sind so weich und geschmeidig, sein Gang so leicht und leise und seine Stimme so sanft und anmutig, daß es jedem wohl tun muß, das Kind um sich zu haben. Es sieht aber sehr zart aus und ist so fein gegliedert, daß nicht abzusehen ist, was es einmal für Arbeit verrichten soll, denn solche wird es schon verrichten müssen. Hier arbeiten die Frauen sehr viel, das Volk ist überhaupt so rührig, gar nicht wie in Neapel, wo alles herumliegt und schläft oder aus vollem Halse schreit. Dafür sehen die Leute auch besser aus als die zerlumpten Neapolitaner.

Der arme Pietro war ganz betroffen, als ich ihm sagte, unsere Reise könne nicht stattfinden: er schlug mir fünf oder sechs andere Ausflüge vor nach unbekannten Höhen und Tiefen. Das eine ist nun aufgegeben; aber mit dem Pietro muß ich schon noch allerlei ausführen, da bleiben noch herrliche Dinge zu tun.

Lebe wohl und laß uns von Dir wissen.

Herta.«

 

»Sorrent, den 20. Dezember 18..

Liebe Hetty! Ein wundervoll sonniger Tag lag gestern über Sorrent. Die längst beschlossene Partie nach dem Piniental wurde ausgeführt und nun sollst Du gleich davon hören. Elsa und ich auf unseren Eseln, begleitet von Pietro, waren zuerst auf dem Platze. Wir lagerten uns auf die bemoosten Steine an meinem erwählten Platz und schauten um uns in die Schönheit hinaus und harrten der Kommenden. Bald hörten wir auch ihre Tritte im Steingeröll und sahen den Signore daherkommen, hinter ihm das Kind, mit den gewohnten Gegenständen beladen.

Unter der Pinie, wo ich sie damals gesehen hatte, blieb Irene stehen und ordnete einen Sitz zurecht. Herr v. D. kam uns entgegen und bewillkommte uns mit der einnehmendsten Freundlichkeit, so als ob er uns bei sich empfinge. Er sagte, ein wenig ironisch lächelnd, da er doch in den Ruf geraten sei, als Herr des Pinientales auftreten zu wollen, so möchte er seine Gäste auf dessen schönsten Platz, unter seine auserwählte Pinie führen. Der Blick von dort aus auf das Meer und Capri in die weite, blaue Ferne hinaus sei unvergleichlich, wenn schon ein Teil der Insel dort hinter der Felsenhöhe verschwinde.

Wir setzten uns alle unter den Baum hin und blieben eine Zeitlang schweigend in den Anblick des traumhaft duftigen Bildes versunken, das vor uns lag. Das Meer war ohne Bewegung, der Mittagssonnenschein flimmerte darüber, und in der Ferne glitten weiße Segel über die Bläue hin. Am Himmel stand kein Wölkchen, die Luft war so völlig klar, daß die feinen Linien der Insel sich ganz scharf vom hellen Horizont abhoben. Kein Windhauch war jetzt in den Pinienwipfeln zu hören, alles still ringsum, wie versunken in den sonnigen Traum.

Herr v. D. brach zuerst das Schweigen, er deutete nach Capri hinüber und sagte: ›Ist nicht von dieser Seite her die Insel anzusehen wie ein aus Duft gewobener Sarg, der auf den Wellen schwimmt? Der Gedanke, da drinnen zu schlafen, unter dem blauen Himmelszelt, von den kühlen Wassern umflutet, könnte weniger Schauer erwecken als derjenige, tief in die dunkle Erde gelegt zu werden.‹

Ich war so überrascht von dieser Rede, daß mir die Worte entfuhren: ›Wie können Sie solche traurigen Bilder hervorrufen an einer Stelle, wo das Schönste, das die Erde hat, Sie umgibt?‹

Er entgegnete, die Bilder rufe er nicht als etwas Neues hervor, sie müßten einem Menschen naheliegen, dem jeden Tag einmal das Herz zu schlagen aufhöre, so daß er sich dem Ende nahe fühle. Also an einer Herzkrankheit leidet er und so beängstigend ist sein Zustand? Mir wurde ganz schwer zumut', aber ich dachte: ›Nein, hier im Piniental will ich mir nicht den Tag so verdüstern lassen, die Krankheit kann ja auch wieder eine gute Wendung nehmen.‹

Ich lenkte also von dem Gegenstand ab und sagte, Herr v. D. müsse wohl ein Buch lesen, das ihm recht lieb und wert sei, da er es sogar mit hierher bringe, ich hätte ihn hier unter der Pinie darin lesen sehen.

Er antwortete, ja das Buch sei ihm lieb und wert. Ich dachte, er würde mir sagen, was es für ein Buch sei, das ihn so begleitete, und fand es eigen, daß er mich so kurz abfertigte. So fragte ich weiter, ob ich nicht wissen dürfe, was der Inhalt des Buches sei, das seine Aufmerksamkeit sogar hier in Anspruch nehmen könne, trotz der Schönheit dieser Umgebung. Er entgegnete, wenn ich es zu wissen wünsche, so sei er gern bereit; er zog das kleine Buch hervor, das ich in seiner Hand gesehen hatte. Was meinst Du, was es war? Ich wußte nicht, was sagen vor Erstaunen, es war ein Exemplar des Neuen Testamentes, dazu ein sehr vergriffenes, er muß es wohl lange gebraucht haben.

Herr v. D. sah mein Erstaunen; er sagte: vielleicht lese ich wenig in dem Buch und könne nicht begreifen, daß er es tue. Er habe auch nicht immer darin gelesen, aber die Zeiten änderten sich im Leben. Auch mir könnte noch ein Tag kommen, da ich gern das Buch zur Hand nehmen würde, da Fragen in mir aufsteigen könnten, die kein anderes beantworte, da ich erfahren könnte, daß kein anderes Macht habe über eine Unruhe, die unser Inneres verzehren könne. Ich wußte nicht, was denken, noch was sagen. Es war alles still eine ganze Weile lang. Dann sagte Herr v. D., wie in seinen Gedanken fortfahrend: ›Und wer gesehen hat, was die Worte dieses Buches bewirken können, daß eine Seele, die an ein ideales Wesen wie an die sichtbare Wirklichkeit glaubt, in Leiden bitterer Täuschung, in Elend und Erniedrigung den Glauben nicht verliert, daß sie immer fester, immer kräftiger wird, während ihre Hülle bricht, daß sie sogar einem frühen Tode freudig entgegengehen kann, dem wird das Buch teuer.‹ Er schwieg plötzlich. Ich konnte aber nicht anders, ich mußte fragen: ›Sollten Sie solches gesehen haben, Herr v. D.?‹ Er sagte: ›Ja‹ – aber etwas zögernd; dann setzte er hinzu: ›Ich weiß, so war es, ich lese es täglich, aufgezeichnet von einer Hand, die das Erlebte schilderte.‹

Das sagte er aber so bewegt und sah auf einmal so krank aus, daß ich kein Wort mehr zu sagen wagte, und nun schwiegen wir alle und ein Schatten lag über dem ganzen Piniental, und es war gar nicht mehr so, wie ich mir diesen Freudentag ausgedacht hatte. Hätte ich nur nie von dem Buch gesprochen! Ich kann alles gar nicht begreifen.

Die kleine Irene sprang dann mit einemmal auf und stellte sich hinter ihren Signore, der sogleich aufstand und um Entschuldigung bat, daß er aufbrechen müsse, das Kind wisse seine Zeit, heute hätte er selbst sie wohl vergessen. Wir blieben noch eine Weile schweigend sitzen, um den Fußgängern den Vorsprung zu lassen.

Was sagst Du zu diesem Tag im Piniental? Das soll nicht mein letzter Eindruck davon sein, ich komme noch einmal wieder, denn ich will diese Schönheit noch einmal in voller Fröhlichkeit schauen.

Lebe wohl und fahre fort, so lebendigen Anteil an unseren Erlebnissen zu nehmen.

Herta.«

 

»Sorrent, den 10. Januar 18..

Liebe Hetty! Das ist das Köstlichste an diesem Sciroccowetter, daß man doch jeden Tag, auch wenn es übel haust, einmal oder mehrmals hinaus kann; denn, kommt die Sonne zwischen den Schauern durch heraus, so ist sie warm, und gleich ist's trocken auf der Straße, und im Augenblick bin ich wieder draußen. Wir werden noch tüchtig Sturm bekommen, sagt der Gärtner; der Wind braust auch ganz gewaltig über das Meer her und schlägt die Wellen hoch auf an der Marina. Es ist schön anzusehen. Gestern abend stand ich lange oben an der Straßenmauer, wo man auf die Marina niedersieht, es brauste und wogte, und hoch auf schlug der Gischt.

Die Schiffer zogen die Barken ein und halbnackte Buben sprangen mit erstaunlichem Geschrei in den Schaum hinaus und dann wieder zurück. Das können sie Stunden lang so forttreiben, und ich kann zusehen. Freilich seh' ich noch vieles daneben und drüber hin und immer etwas Neues; jetzt hat der alte St. Angelo sogar eine Schneekrone aufgesetzt. Als ich noch dort stand, kam Irene von oben herunter, sie hatte sichtlich wieder Zorn gegen mich im Herzen; sie bot mir keine Hand und wollte vorbeigehen ohne Gruß. Ich hielt sie an und nahm ihre Hand; sie schaute auf den Boden und gab mir keinen Blick. Es tat mir so leid! Ich sagte: ›Komm, Irene, sieh mich an, habe ich dir denn etwas zuleide getan?‹

Sie starrte auf den Boden und gab keine Antwort. Nun dachte ich: wart' nur, ich will ein Mittel gegen dein Trotzköpfchen finden! Ich sagte: ›So will ich den Signore fragen, Irene, warum du auf einmal so störrisch wirst, wenn man dir gar nichts getan hat und gern freundlich mit dir wäre. Glaubst du, das gefällt dem Signore?‹ Jetzt schnellte das Köpfchen in die Höhe, und zwei zornfunkelnde Augen waren auf mich gerichtet. Dennoch war die Stimme leise wie immer, aber doch ein wenig zitternd vor Grimm, als Irene sagte: ›Sie haben den Signore traurig gemacht im Piniental. Er wird krank, wenn man ihn traurig macht, er ist fünf Tage lang krank gewesen!‹

Ich war sehr erstaunt über diese Erklärung. Daß unser Gespräch im Piniental dem Herrn v. D. Erinnerungen erweckt hatte, die ihn schmerzlich bewegten, hatte ich wohl gemerkt; ich hatte aber keine Ahnung, daß das Kind mich als die Schuldige ansah; es tat mir auch leid, ich wollte es so gern wiedergewinnen. Ich sagte: ›Sieh, Irene, ich wollte dem Signore nichts Böses tun, ich möchte nie etwas tun, das ihm leid täte; ich möchte nur gern tun, was ihn fröhlich machen könnte und gesund. Wir wollen miteinander aussinnen, wie wir ihm eine Freude machen könnten. Wer nun sei wieder gut mit mir und gib mir die Hand! Ich erhielt sie wirklich, und wir schieden wieder als gute Freunde. Ich kann Dir nicht sagen, wie einnehmend das Kind sein kann, ohne Worte, es spricht so wenig, aber die leiseste Regung ist auf seinem Gesichtchen zu lesen. Wenn erst diese Januartage vorbei sind, wie wird es dann hier werden! Das neue Erwachen soll noch herrlicher sein als alle Schönheit des Spätjahres.

Lebe wohl und freue Dich mit mir dem Frühling entgegen.

Herta.«

 

»Sorrent, den 23. Februar 18..

Liebe Hetty! Da ist der Frühling und mit welcher Pracht ist er eingezogen! Überall stehen die Orangenbäume in neuen Blüten und die ganze Luft um Sorrent ist nur ein Wohlgeruch. Blumen sprießen aus allen Hecken und Ritzen hervor mit glühenden Farben, die Pinien tragen frische Kronen, aus den Weinranken strömt ein süßer Hauch, es ist ein Leuchten und Duften und Frühlingswehen zum hellen Entzücken. Ich habe Dir lange nichts erzählt, da war nichts zu erzählen; aber nun wird's anders kommen. Die Sciroccostürme liegen alle hinter uns, der März soll lauter goldene Sonntage bringen und Blüten und Blumen auf allen Wegen.

Herr v. D. geht nach Capri hinüber, das tut er meistens um diese Zeit. Da sollen ganze Bergabhänge dicht von Myrten überdeckt sein, und wenn da alles in Blüten steht, soll eine wunderliebliche, würzige Luft um jene Höhen wehen. Gestern früh, wie ich auszog, um den Frühling zu begrüßen, trat mir Herr v. D. entgegen aus seiner Tür ›Salve‹. Er begleitete mich eine Strecke weit gegen Massa hin, und dabei machte er mir diese Mitteilung. Wir hatten auch immer im Sinn, Capri zu besuchen; bis jetzt aber war uns die Lust nicht gekommen, den Plan auszuführen; nun es aber so wunderherrlich wird aus diesem Stück Erde und es drüben noch besonders schön sein soll, so muß die Fahrt ausgeführt werden. Ich sagte Herrn v. D., wir werden ihn drüben besuchen.

Daraufhin trennten wir uns, er kehrte zurück; ich aber konnte nicht satt werden, das jung erwachte Land anzuschauen im Morgensonnenglanz. Bis Massa hinauf zog es mich, und dort auf der Mauerterrasse über dem Meer stand ich festgebannt, wie lange, weiß ich nicht. Im Morgengold funkelten drüben die Zinnen von Neapel, der ganze Posilippo mit seinen hellen Villen, der duftige Küstensaum von Puzzuoli, von Bajä, von Misene, bis hinüber zur fern aufragenden Ischia.

Und da drüben Capri, auf den klaren Wogen schwimmend und herüber grüßend und winkend. – Ja, wir kommen!

Herta.«

 

»Sorrent, den 8. März 18..

Liebe Hetty! Gestern ist Herr v. D. hinübergereist, wir haben der Abfahrt beigewohnt; davon muß ich Dir erzählen. Wir wußten, daß der Dampfer von Neapel um zehn Uhr hier anlegt und die Reisenden nach Capri aufnimmt.

Elsa ist so wohl jetzt, daß sie zu jeder Stunde ausgehen kann, und wir hatten beide Lust, nach der Marina hinunterzugehen, die Abreise mit anzusehen und Herrn v. D. noch einen Abschiedsgruß zu bieten. Der Dampfer war schon in Sicht, als wir gegen den Strand hinunterkamen; die Barke, die Herrn v. D. zum Schiff bringen sollte, stieß eben vom Lande, unsern Gruß konnten wir ihm nur noch zuwinken. Ich rief noch: ›Auf Wiedersehen in Capri!‹ worauf er zustimmend mit der Hand uns auf die freundlichste Weise grüßte; dann fuhr die Barke dahin. Der Dampfer stand aber so nahe am Strand, daß wir gut sehen konnten, wie Herr v. D. hinaufstieg, dann sich umwandte und noch einmal mit seiner Hand herübergrüßte.

Pietro stand unten am Wasser, er hatte wohl Herrn v. D.s Reisegepäck besorgt. Sein ehrliches Gesicht sah ganz tiefsinnig aus, wie er dem fliehenden Dampfer nachschaute. Als er mich nun aber erblickt hatte, wurde, wie ich bemerkte, seine Aufmerksamkeit ein wenig geteilt. Er sah einige Male zwischendurch in einer Weise nach mir hin, daß ich annehmen mußte, er denke sich im stillen aus, welche kleine Fahrt er mir für heute zum Trost vorschlagen könnte; ein echter Eseltreiber von Sorrent hat sein Amt immer vor Augen. Ich sah mich nach Irene um, sie mußte doch gewiß mitgekommen sein. Da entdeckte ich sie, wie sie sich an den Felsen drückte, das Gesicht dem Meere abgewandt, und in die aufgehobenen Hände hineinschluchzte, so heftig, daß es den ganzen kleinen Körper erschütterte. Sie konnte es nicht aushalten, das Schiff wegfahren zu sehen, das ihren Signore forttrug. Ich ging zu dem Kinde hin und wollte es trösten. Aber da halfen keine Worte, es sah und hörte mich nicht. Pietro kam nun auch zu uns heran. Er sagte, ich solle mir nur keine Mühe machen, es helfe nichts; das sei nun einmal so, wenn der Signore fortgehe, und man müsse froh sein, wenn es nicht ärger komme. Dann schickte er sich an, in stummer Ergebung von dannen zu gehen und das Kind allein stehenzulassen.

Das konnte nicht angehen. Es war zum Erbarmen, zu sehen, wie trostlos das Kind dastand und in den Felsen hineinweinte; so konnte man es ja nicht verlassen. Aber wie war zu helfen? Mir kam mit einem Male ein Gedanke. Ich sagte: ›Komm, Irene, hör auf zu weinen, ich weiß einen guten Trost: wir wollen miteinander nach Capri hinüberfahren und den Signore besuchen.‹

.

Wie ein Blitz wandte sich das Kind um, und wirklich zum Erbarmen war es anzusehen mit seinen verweinten Augen und dem verworrenen schwarzen Haar in der Stirne. Es schaute mir mit ängstlich fragender Spannung in die Augen hinein, so als wollte es sagen: ›Ist es auch dein Ernst?‹

Ich versicherte ihm, in drei oder vier Tagen würden wir hinüberfahren in einer Barke, dann blieben wir drüben, vielleicht so lange, als der Signore dort bleibe, und ich würde ihm sagen, nun sei es gut für ihn, daß ihm Irene wieder den Umhang und das Fernrohr nachtragen könne.

Welche Blitze der Freude über das Gesichtchen des Kindes strahlten, während ich so zu ihm redete, kann ich Dir nicht beschreiben. Wir wanderten dann einträchtig, Hand in Hand, hinauf bis zum Hauptplatz, wo das Kind rechts, ich links nach der Villa ging.

Es schaute mich noch einmal so ernstlich fragend an, daß ich nochmals versichern mußte: ›Gewiß Irene, ganz gewiß, in vier Tagen!‹

Ich freue mich selbst wie ein Kind auf diese Reise und auf die Freude des Kindes noch ganz besonders.

Sei herzlich gegrüßt.

Herta.«

 

»Sorrent, den 12. März 18..

»Ach, Hetty, wie ist alles so anders gekommen, als ich in Freude erwartete!

Heute ist der Tag, da wir nach Capri hinüberfahren wollten, Irene und ich; aber wir sind hier, und von meinem gewohnten Sitz am Fenster aus muß ich Dir schreiben, was ich selbst kaum glauben und fassen kann: ›Herr v. D. ist drüben auf Capri plötzlich gestorben, ein Herzschlag hat ihn getroffen.‹ Gestern abend brachten die Schiffer, die täglich mit dem Postschiff nach der Insel hinüberfahren, die traurige Nachricht. Näheres wissen wir noch gar nicht. Ich schicke Dir heute diese Nachricht, wenn ich auch sonst nicht schreiben mag. Du hast so lebendig teilgenommen an unserem Verkehr mit Herrn v. D. und an seinem Schicksal und Wesen, daß ich die Mitteilung sogleich machen muß.

Herzlichen Gruß!

Herta.«

 

»Sorrent, den 16. März 18..

Liebe Hetty! Ich kann nicht mehr in Sorrent bleiben, der lachende Frühling tut mir weh. Ich flüchte vor dem Leuchten und Jubeln draußen auf allen Wegen und sitze hier und kann keine Freude mehr finden. Immer muß ich an die arme, kleine Irene denken, wie sie dort sitzt in ihrem Jammer, und niemand kann sie trösten. Sie wollten dem Kinde nichts sagen, die Mutter meinte, es sollte es gar nie zu hören bekommen, daß der Signore tot sei, wie mir Pietro sagte, der gestern hier vorbeiging, so daß ich nach Irene fragen konnte. Aber Kinder hören und merken ja alles. Vor drei Tagen ist sie am Abend nach Hause gekommen und hat sich in einen Winkel verkrochen; da sitzt sie seither und weint und weint und ißt nicht und schläft nicht mehr. Wenn ich doch das Kind fortnehmen könnte, vielleicht würde es frisch keimen und aufleben, wenn es ganz versetzt würde in neue Erde, und was könnte man auch aus dem begabten Kinde machen! Aber was kann ich tun? Weißt Du mir keinen Rat? Hier bleiben kann ich nicht mehr; was mich anblickt, trägt eine Erinnerung, die mir das Herz zusammenschnürt, und kann ich dem Kinde nicht helfen, so will ich auch sein Leid nicht mitansehen, das halte ich nicht aus.

Elsa ist so wohl, daß sie mitreisen oder allein hierbleiben kann, wie sie vorzieht.

Nach Capri hinüber will ich auf jeden Fall noch einmal, ich will sehen, wo er begraben liegt, und auch noch etwas Näheres zu vernehmen suchen über Herrn v. D.s Hinscheiden; hier weiß kein Mensch mir ein Wort davon zu sagen. Wie anders meinte ich, daß es sein würde, als ich rief: ›Auf Wiedersehen in Capri!‹

Herta.«

 

»Sorrent, den 22. März 18..

Liebe Hetty! Wir sind drüben gewesen und gestern wieder hierher zurückgekehrt. Zwei wolkenlose Frühlingstage haben wir auf der Insel zugebracht; aber wo war das Kind mit den freudestrahlenden Blicken, wie ich es schon vor mir gesehen hatte?

So kurze Zeit war vergangen, seit man seinen Signore hier begraben hatte, und kaum konnte ich die Stelle auffinden, wo er in dem duftgewobenen Sarge ruht. Wir kamen früh in unserer Barke an, schon um zehn Uhr des Morgens, Elsa war aber auf der Fahrt krank geworden, sie mußte sich gleich niederlegen.

So traten wir in das ›Hotel London‹ ein, das unweit der Marina liegt. Ich fragte gleich den Hauswirt, ob er mir sagen könne, wo Herr v. D. gewohnt habe.

Der Mann kannte den Namen gar nicht, er fragte bei seinen Leuten nach, niemand hatte diesen Namen gehört. Der Herr müsse oben in Capri gewohnt haben, meinten die Leute. Der Ort liegt wohl eine halbe Stunde oder noch mehr über der Marine, oben auf dem Berggrat; ich wußte aber keinen Weg und war froh über einen kleinen Jungen, der vor dem Hotel stand und mich führen wollte. Er stieg mit mir den schmalen Fußsteig hinan bis zu einem kleinen Haus, das am Rande des Felsens steht und weit über das Meer hinschaut. Hier hielt er an und wollte hineingehen, seine Mutter zu fragen, ob sie etwas wisse, sie gehe jeden Tag nach Capri hinauf. Ich blieb vor dem Hause stehen und blickte nach Sorrent hinüber.

Nach einer Weile kamen Mutter und Großmutter und dann noch einige Personen heraus, und alle wollten wissen, woher ich kam, warum ich käme, wohin ich wollte und was ich suche. Ich erklärte, daß ich einem Fremden nachfragen wolle, der kürzlich hier gestorben und in Capri begraben worden sei. Unterdessen waren noch mehr Frauen und Mädchen herzugetreten, die, alle mit schweren Lasten auf den Köpfen, die steilen Fußwege gegen Anacapri hinaufzuklettern vorhatten. Alle standen still bei uns und hörten zu. Erst wollte niemand etwas wissen, da seit vielen Wochen niemand begraben worden sei; dann rief aber eines der herzugetretenen Mädchen: ›Das ist der Signore Inglese von Sorrent!‹

Endlich war ich doch auf der Spur! Ich drängte das Mädchen, mir zu sagen, was es wisse, und nun hörte ich, der Signore habe in Capri gewohnt, sei aber oben auf Anacapri begraben worden – warum, wisse es nicht, es sei nur an dem Tage oben gewesen und habe davon gehört.

Aber im Paradiso, der kleinen Restauration mit dem Baumgarten, könne ich mehr erfahren, dort habe man ihn gekannt, wie es glaube. Ich wollte nun am liebsten gleich nach Anacapri hinaufsteigen; da war ja das Grab zu finden. Es führt eine schöne Straße jetzt von Capri nach Anacapri hinauf; der Junge stieg aber mit mir die Fußsteige hinan, und ich war's zufrieden.

Hier kamen wir nun mitten in die dichten Myrtengebüsche hinein, über und über waren die ganzen Bergabhänge ringsum von Myrten und Lorbeer bedeckt, und alles war in voller Blüte.

Ich mußte oft stillestehen und von den duftenden Zweigen pflücken; so in der vollsten Blüte hatte sie der Geschiedene noch gesehen.

Der Junge wußte, wo der Gottesacker liegt, wir gingen gleich dahin, doch schickte ich ihn nach dem Küster, daß dieser mir das Grab zeige. Ich hätte nicht fehlen können, es war nur ein frisches Grab da, es war das des fremden Signore, wie mir die alte Frau bestätigte, die an Stelle des Küsters herbeigekommen war. Ich fragte, warum wohl der Herr hier oben begraben liege, da er doch unten gewohnt habe?

Die Alte meinte: weil's hier viel schöner sei als unten. Ich sagte: ›Der da drinnen schläft, würde das wohl nicht mehr achten.‹

Da meinte sie: ›Aber seine Frau und die Kinder, wenn sie kommen. Sua moglie ed i bambini.

Die kommen nicht, und niemand sonst wird auf das Grab kommen, wie ich jetzt weiß. Man würde auch das Grab nicht mehr finden in kurzer Zeit; da ist nichts, das es bezeichnet, nicht einmal eine Blume. Ich legte meinen Myrtenstrauß darauf.

Nun gingen wir nach dem Paradiso. Hier fand ich endlich eine Frau, die Bescheid wußte um alles und mir ordentlich alle Umstände des traurigen Ereignisses erzählte.

Herr v. D. hatte sein Zimmer unten in Capri.

An einem der leuchtenden Frühlingstage war er nach Anacapri hinaufgestiegen, durch dieselben Myrtenwälder, dieselben Fußsteige hinan, die wir eben gekommen waren. In Anacapri hat man ihn gesehen, wie er langsam dem Paradiso zuging und dort im Baumgarten auf eine kleine hölzerne Bank unter den Olivenbäumen niedersaß.

Da hat er einem Kinde zugewinkt und ihm gesagt, daß es die Mutter herbeihole.

Wie sie zu ihm trat, hat er sie gebeten, seine letzten Aufträge zu erfüllen: Auf Erden habe er niemanden mehr, der nach ihm fragte, sagte er ihr. Seine Sachen, die in Sorrent in seiner Wohnung lägen, sollten alle Irenes Mutter übergeben werden, als Eigentum für sie und die Kinder.

Gesiegelte und adressierte Papiere, die daselbst lagen, mußten nach Deutschland geschickt werden. Was er bei sich trug, schenkte er alles der Frau. Nur ein kleines Buch zog er hervor, faßte es fest in die Hand und sagte: ›Das geht mit mir.‹ Einige Minuten nachher sank er an den Baum zurück und war tot.

Als ich gestern, nach Sorrent zurückgekehrt, in unsere Villa eintrat, sagte mir die Hauswirtin, Pietro sei dreimal dagewesen während meiner Abwesenheit und habe nach mir gefragt. Wenn sie ihm angeboten habe, seinen Auftrag an mich zu bestellen, so habe er den Kopf geschüttelt und sei traurig weggegangen.

Kaum hatte sie mir so viel erzählt, als es klopfte, und an der Tür stand Pietro. Ich hieß ihn hereintreten; er sagte aber kein Wort, bis die Hauswirtin verschwunden war. Nun stand er erst ein wenig verlegen da, und nachdem ich ihn zweimal gefragt hatte, ob er etwas von mir wünschte, sagte er zögernd, er hätte mich gern etwas gefragt, und endlich kam heraus, er hätte nur gern von mir wissen wollen, ob auch der Signore sicher kein Ketzer gewesen sei.

Nun, was sollte ich mit dieser Frage tun? Was konnte ich darauf antworten? Eigentlich wußte ich gar nicht recht, was er meinte.

Ich fragte meinerseits, wie er zu der Frage komme. Er sagte ehrlich, so etwas wäre ihm gar nie in den Sinn gekommen; aber vor ein paar Tagen habe auf einmal die Mutter ausgerufen: ›Wenn doch nur der Signore kein Ketzer gewesen wäre, daß er auch selig werden könnte.‹

Da habe Irene ärger aufgeschrien als je, und jetzt bringe man sie gar nicht mehr zurecht, keine Krume esse sie mehr, weil sie sterben wolle und dem Signore nach, daß er nicht so allein sein müsse, wenn er nicht selig sei. Er habe nun dem Kind zum Trost gesagt, er wolle mich fragen, ich wisse es schon, daß er sicher kein Ketzer gewesen sei. Es gebe aber nicht nach, wenn er den Bericht nicht von mir selbst habe. Was sollte ich ihm sagen? Mir war in den Sinn gekommen, die Leute wollen wohl wissen, ob er zu ihrer Kirche gehört habe, und wenn ich nun sage, er sei kein Ketzer gewesen, um sie zu trösten, und sie hören doch einmal, er habe nicht zu ihnen gehört, so denken sie, ich habe sie betrogen.

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Aber eine andere Frage ist doch, ob er selig sein könne. Ich sagte, Pietro solle dem Kinde sagen, der liebe Gott habe die Menschen noch viel lieber als wir, und wenn wir ja alle gern alles, was wir haben, hingeben wollten, um den Signore selig zu machen, so habe der liebe Gott gewiß auch ein Erbarmen für ihn.

Pietro stand noch eine Weile und sah mich an, so als habe ich noch nicht fertig geantwortet; aber ich wußte nichts anderes, er mußte gehen.

Mir ist ja selbst alles ganz unklar und ungewiß. Wo ist jetzt diese Persönlichkeit, die eben noch hier mit uns lebte? Sie muß doch irgendwo fortleben, sie kann nicht vernichtet sein, das könnte ich nie glauben. Aber was kann ich annehmen? Gibt es denn keine Antwort auf Fragen, die durchaus nach einer solchen verlangen und uns keine Ruhe lassen? Wenn ich nur wüßte, wie ich all' diese quälenden Eindrücke und Gedanken loswerden könnte!

Ich muß an das Wort denken, das mir Herr v. D. im Piniental sagte, auch mir könnte eine Zeit kommen, da ich gern das Buch zur Hand nehmen würde, wenn kein anderes mehr antworte auf die Fragen, die in mir aufstiegen, und wenn kein anderes eine Beschwichtigung kenne für eine Unruhe, die unser Inneres verzehren könne.

Hätte mir doch Herr v. D. sein kleines Buch zurückgelassen! Ich weiß wohl, was Du mir da sagen wirst: daß noch viele solche Bücher zu finden seien, mit demselben Inhalt, daß ich nur eines zur Hand zu nehmen brauchte. Aber das ist nicht genug für mich. In jenem kleinen Buch standen viele Bemerkungen am Rande der Seiten, und es ist ganz anders, einen Weg zu gehen, den schon ein anderer durchgegangen ist, so daß wir vorweg seine Fußstapfen vor uns sehen können, als allein zu gehen. Ich brauche Menschen, die mir die Worte lebendig machen und mich weisen und mir helfen. Allein kann ich den Weg nicht finden, das weiß ich.

Daß ich das Kind hier zurücklassen muß, ist mein größtes Leid, und ich muß Dich noch einmal fragen, weißt Du keinen Rat? Daß ich selbst fort kann, ist mir eine Befreiung; mir liegt ein tiefer Schatten über dem ganzen sonnigen Sorrent.

Mach' mir Deine Tür auf, liebe Hetty! In acht Tagen kann ich bei Dir sein; dann habe ich noch vieles zu sagen, dann sollst aber auch Du reden, denn daß Herrn v. D.'s Name Dir nicht unbekannt war, habe ich in Deinen letzten Briefen deutlich gelesen.

Nun denn, auf Wiedersehen!

Herta.«

 

Ende

 


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