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Drittes Kapitel

Es war um die Zeit, da die Bäume sich zu entfärben begannen, als Hetty eines Morgens von ihrem Fenster aus nach den alten Linden hinüberschaute, deren Wipfel golden schimmerten. Da sah sie ihrem Hause eine kleine Figur sich nahen, die, wenn auch lange ungesehen, doch immer in Andenken bei ihr stand, es war Martine. Hetty lief ihr entgegen und führte hocherfreut die alte Freundin in ihr Haus ein.

Martine hatte nie Vorreden gemacht, sie fiel gewöhnlich gleich mitten in die Sache hinein, welche sie bewegte. Heute, nach jahrelanger Unterbrechung des Verkehrs, waren ihre ersten Worte ganz wie eine Fortsetzung von gestern.

»O, Hetty, du solltest wissen, was ich alles erlebt habe,« rief sie unmittelbar nach ihrem Eintreten in das Haus. Hetty bewillkommte erst herzlich den seltenen Gast.

»Nun will ich mir auch gleich alles von dir erzählen lassen,« sagte sie dann, indem sie die wohlausgestattete Gestalt einiger Hüllen zu entledigen suchte und sie dann neben sich auf das Sofa zog, damit ihr Martine hier in Ruhe alle ihre Erlebnisse mitteilen möchte.

»Ja, siehst du,« eiferte Martine, ihren Platz einnehmend, »mir ist, als könnte ich gar nicht fertig werden mit allem, was ich dir zu sagen habe, und wenn ich dir gleich von jetzt an bis zum Abend immerfort erzählen würde.«

»Dann nehmen wir die Nacht dazu und den folgenden Tag und so immer fort, bis wir durch sind,« erwiderte Hetty.

»Nein, Hetty, spaß' nur nicht, es ist gar nicht zum Spaßen, was ich dir zu sagen habe.«

Sicherlich war es Martine sehr ernst, aber die kleinen so gemütlich blinzelnden Augen über dem komisch aufgestülpten Näschen machten ihr den tragischen Ausdruck immer streitig.

»Fang nur auch von vorne an,« bat Hetty, »daß ich alles recht gründlich erfahre. Du weißt, zuletzt habe ich durch deinen Brief von dir gehört.«

Martine wollte alles der Reihe nach erzählen; es liege ihr ja selbst daran, sagte sie, daß Hetty alles genau wisse, so als wäre sie selbst dabei gewesen, es könnte ja kein Mensch ihr mit der Teilnahme zuhören und alles so mit ihr nachleben, wie Hetty gewiß tun werde.

Von jener Zeit an, da Hetty ihren Brief erhalten, hatte Martine nicht aufgehört, dem Namen nachzuspüren, den sie zuversichtlich endlich als einen der besten und berühmtesten Künstlernamen in den Blättern zu finden hoffte; aber vergebens. Dies war ihr großer Kummer. Daneben lebte sie vergnügt mit Vater und Bruder. Nach einiger Zeit verlor sie den Vater. Dem Bruder ging es immer besser in seinem Geschäft, Martine war seine willige und beste Gehilfin dabei. Ihr guter Unterricht von der Institutszeit her, besonders ihr Französisch, kamen ihr dabei sehr zu statten, sie war der Handelskorrespondent. So ging es mehrere Jahre fort, das Geschäft blühte und dehnte sich mehr und mehr aus, und im Anfang des eben verflossenen Sommers erklärte Joseph mit einemmal seiner Schwester, er habe einen großen Plan gemacht. Längst wäre er gern einmal nach Paris gegangen, und nun er auch Geschäfte da zu machen habe, wolle er die Sache ausführen, und Martine solle ihn begleiten. Sie war sehr erfreut über den Vorschlag, machte alles schnell bereit, und die Reise wurde angetreten.

Der vorsichtige Joseph hatte sich eingehend erkundigt über alle Lokalitäten, die man in Paris bewohnen könnte, ohne Extrabetrug zu erdulden; bis auf einen gewissen Grad, nahm er an, müsse sich jeder, der dahingehe, so etwas gefallen lassen.

Er fühlte sich sehr erleichtert, als er von einem Bekannten im Dorfe hörte, daß dieser einen Vetter in Württemberg habe, dessen Base eine Restauration und Pension in Paris halte, wo viele Deutsche aus- und eingingen und wo man wohl versorgt sei.

Eine brave Württembergerin, mit der man ein vernünftiges Wort wechseln könnte, war für Joseph eine beglückende Aussicht; noch hatte er nie mit französisch sprechenden Menschen verkehrt, und sein heimliches Grauen davor wurde auch durch den großen Wunsch, Paris zu sehen und gute Geschäfte da zu machen, nicht ganz bewältigt. Die Geschwister langten glücklich in Paris an und ließen sich sofort nach ihrer Adresse führen. » Pigeon blanc hieß das Haus, Rue St. Antoine,« erzählte Martine weiter. »Wie wir aber da hineinfuhren, gefiel es mir gar nicht. Himmelhohe Riesen waren die Häuser, eigentlich alles ein Haus, aus schmalen, allerhand farbigen Streifen zusammengesetzt, die ganze lange, enge, erbärmlich schmutzige Straße hin. Unten war ein Laden in jedem Haus, da sah es aber merkwürdig aus: alles lag übereinander in den kleinen Räumen, Kartoffeln und Rüben und Käse und Speck und Salz und Seife, und unter den Türen waren Weiber zu sehen und kleine Kinder mit Haaren und Kleidern, nein, siehst du, bei uns im Dorfe gibt's auch Schmutz, aber so schuhdick habe ich ihn nie gesehen. Eben wollte ich zu Joseph sagen, in ein solches Haus gehe ich doch nicht hinein, da hält der Kutscher still, wir sind da. Mein Bruder steigt ab und will mit dem Kutscher abrechnen; nun verstehen sie einander nicht, ich suche immer dazwischenzureden: ›Wir wollen anderswohin fahren, da bleibe ich nicht‹; aber die beiden erbosen sich so aufeinander, daß sie immer lauter rufen und man gar nichts versteht. Nun wirft der Kutscher unseren Koffer auf den Boden und macht kehrtum, der Joseph wirft ihm ein Stück Geld auf den Sitz hinauf, der Fiaker rasselt davon und wir stehen da in der Straße vor dem abscheulichen Haus. Ich sage zu Joseph: ›Da bringst du mich nicht hinein! Sieh den Schmutz an und den dunkeln Eingang, da kann man auch noch ermordet werden.‹ ›Gerad' nicht‹, sagt er trocken; da drinnen sei eine Württembergerin, die tue einem nichts zuleide, und dann rede man so, daß ein Mensch ein Wort verstehen könne, von dem Französisch habe er schon mehr als genug, und da gehe er hinein, ich könne sagen, was ich wolle. Er gibt mir sonst doch ziemlich bald nach, aber da war keine Rede davon. Schon war er in dem dunkeln Gang drinnen und rief überlaut: ›Frau Wirtin! Frau Wirtin!‹ Jetzt nahm ich auf beiden Seiten meinen Rock zusammen und stolperte ihm nach. Von weit hinten im Gang, wo es heller war, kam eine große, breite Figur heran, sie streckte dem Joseph die Hand entgegen und fragte, ob er ein Landsmann sei. Er sagte: ›Fast, wenigstens ein Nachbar‹, und dann schüttelten sich die zwei die Hände wie gute Freunde, und mir wurde es auch etwas besser zumute, als ich das ehrenfeste Gesicht der Frau sehen konnte, denn wir waren nun ganz aus dem dunkeln Gang durch eine große Weinstube, wo die Leute saßen, in eine Hinterstube gelangt, wo es wohnlich und ordentlich aussah, wenigstens so, daß man es eine Zeitlang schon da aushalten konnte. Aus den Fenstern freilich, da hatte man einen traurigen Anblick. Was man in Paris für Wäschefetzen aufhängt und was für Gegenstände aufeinandergeworfen in diesen Hinterhöfen liegen, davon hat kein Mensch einen Begriff, der's nicht gesehen hat. Ich schaute lieber wieder in die Stube hinein als aus dem Fenster. Joseph war unterdessen schon tief ins Gespräch gekommen mit unserer Wirtin. Er fragte, ob sie Platz habe, daß wir dableiben könnten, sie sagte, Zimmer, die sie ausmiete, habe sie schon im Hinterhause; aber jetzt sei alles besetzt, meistens von Leuten, die da wohnten für längere Zeit. Aber Joseph erklärte, er gehe nicht mehr vom Fleck, sie solle nur zusehen, wie sie Platz finde, da helfe alles nichts. Die Frau lachte gemütlich und sagte, wenn es so sei, so werde sie schon Platz schaffen müssen, sie wolle einmal nachsehen. Bald kam sie denn auch wieder und holte uns ab nach dem Hinterhause, wo sich zwei nette Zimmerchen vorfanden, die sie uns überließ. Sie sagte zu Joseph, die Zimmer seien zwar schon versprochen, aber weil er's durchaus haben wolle, so werde sie eben nachgeben müssen. Nun fing ich an zu ordnen und einzurichten, und nach einiger Zeit sah es ganz nett aus bei uns. Nur aus den Fenstern durfte man nicht schauen, da ging's eben überall auf die Hinterhöfe hinaus, und die frische Luft, die man etwa hereinlassen wollte, war sicher alles eher als frische Luft. Joseph war so befriedigt von unserm Wohnsitz, daß er am ersten Morgen anderthalb Stunden beim Frühstück saß und dann noch eine gute Weile in der Stube auf und ab ging, bis ich endlich sagte: ›Was meinst du, Joseph, wenn wir von Paris auch noch etwas anderes ansehen würden als nur die Hinterseite von St. Antoine?‹ Er meinte, erst müßten wir unsere Wirtin befragen, was wir tun und wohin wir gehen sollten, die wisse alles am besten. Sie wurde hergerufen und machte uns gleich einen Plan fertig für jeden Tag die ganze Woche durch. Im Anfang kamen immer die Boulevards und am Ende noch einmal und zwischenein allerhand Gebäulichkeiten und berühmte Plätze. Diese Boulevards sind auch schön und kurzweilig; wir gingen immer lieber dahin, und jeden Abend nahmen wir unser Nachtessen in einer von den schön erleuchteten Restaurationen und blieben da oft bis spät in die Nacht hinein, aber immer noch glänzte und flimmerte es ringsum, und die geputzten Leute gingen immer noch auf und nieder, es war gerade wie ein immerwährender, großer Jahrmarkt. Joseph hatte aber viel da auszustehen um des Französischen willen. Nie konnte er die Kellner verstehen; dann behauptete er, sie redeten gar nicht recht französisch, sonst könnte man sie verstehen, und sie täten es mit Fleiß, damit sie ihn besser übervorteilen könnten. Weißt du, er hatte eben sein Französisch bei dem alten Schullehrer erlernt, der sprach es ein wenig anders aus als die Pariser Kellner. So gab es allerhand Anstöße, aber wir hatten doch viel Freude, und unsere Wirtin wußte für alles Rat und Auskunft.

Wenn wir nachts nach Hause gingen, bogen wir von den Boulevards immer in dieselbe Straße ein, da war das Eckhaus ein großes Hotel. Unten im Erdgeschoß mußte die Küche sein, da stieg immer noch ein so kräftiger Speisendampf empor, daß ich mehrere Male zu Joseph sagte: ›Da unten sieden und braten sie sicher die ganze Nacht durch.‹ Einmal schon, wie wir da vorbeigekommen waren, hatte ich bemerkt, daß in der Ecke etwas eingeduckt, wie zusammengerollt, lag; es rührte sich nicht, ich dachte auch, es sei eine Katze. Als wir nun eines Abends etwas nahe am Hotel um die Ecke bogen, sah ich, daß das zusammengekauerte Ding sich bewegte; ich zog Joseph näher heran, und nun sahen wir's: es war ein Büblein, das sich ganz in den Boden hineingeduckt hatte. Als wir stillstanden, sprang es plötzlich auf und davon wie ein Blitz, im Moment war's verschwunden.

Mehrere Abende nachher kamen wir sehr spät, da war nichts zu sehen in der Ecke, dann kamen wir wieder früher, da war das Büblein wieder richtig an seinem Platz. Diesmal ging ich leise zu ihm hin und sah, wie es den Kopf ganz in die Gitter am Boden hineinsteckte und den Speisendampf einsog, der von unten heraufkam. ›Ach, Joseph‹, sagte ich, ›der arme Kleine hat Hunger.‹ Ich nahm ihn beim Ärmchen und fragte ihn, ob er Hunger habe. Er suchte sich loszumachen und mir zu entwischen; aber ich hielt ihn fest. Nun schaute er mir verwundert ins Gesicht, dann sagte er leise: › Oui, j'ai faim.‹ Ja, das konnte man auch deutlich sehen, es war nichts als Haut und Bein an dem Geschöpf. Ich fragte ihn, ob er denn Hunger leiden müsse. › J'ai toujours faim,‹ antwortete er. Nun sagte ich zu Joseph, wir wollen doch gleich noch einmal zurück in die Restauration gehen und dem Kleinen etwas geben lassen. Joseph machte nicht recht Miene, als wollte er's tun; er sah das Büblein etwas zweifelhaft an. Es ist wahr, es hatte nichts als sein Hemd und sein Höschen auf dem Leibe; aber es hatte so etwas Gewinnendes in seinem schmalen Gesichtchen und schaute so erwartungsvoll zu uns auf, daß Joseph nicht anders konnte, er sagte: ›Meinetwegen!‹ – und nun kehrten wir zurück und setzten uns noch einmal an unser Tischchen und den Kleinen zu uns. Die Kellner sahen uns spöttisch an, es half aber nichts, sie mußten bringen, was wir befahlen. Und nun das frohe Gesichtchen zu sehen hinter dem Teller von Fleisch und Kartoffeln! Es war schöner als alles Schöne ringsum und in ganz Paris.

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In einem Augenblick hatte das schmale Büblein den ganzen Teller geleert. ›Kannst du auch Eierkuchen essen?‹ fragte ich, da der Kellner eben ein Prachtstück vorbeitrug. › Oui Madame,‹ sagte das Büblein ganz ernsthaft, aber seine Augen funkelten dabei aus dem blassen Gesichtchen heraus wie Leuchtkäfer, und ich sagte: ›Nun sollst du auch davon haben, bis du ganz genug hast.‹ Erst als er ernsthaft bezeugte, nun sei er satt, verließen wir unser Lokal und gingen nun ein Stück weit mit dem Kleinen zusammen. Er sollte uns sagen, wem er angehöre und was er tue. Er wußte aber nur zu berichten, daß er François heiße, daß er bei der mère Gertrude wohne, daß er Kehricht auf den Straßen zusammenlesen müsse und der mère Gertrude allerhand Dinge tun helfen, hauptsächlich Lumpen und Knochen sammeln; daß die mère Gertrude oft böse mit ihm sei und ihm sage, wenn er nicht immer besser arbeite, so bekomme er gar nichts mehr zu essen.

Bei einem Seitengäßchen, das völlig dunkel war, stand er still und sagte, da müsse er hinein. Ich wäre gern mitgegangen, aber Joseph wollte nicht, doch versprach er mir, einmal am Tage da hineinzugehen und François aufzusuchen; der wußte aber keine Bezeichnung für seine Wohnung. Wir sahen uns das Loch genau an, daß wir's wiederfinden würden. François huschte hinein wie ein Wiesel.

Am folgenden Tag kamen wir extra her und gingen da hinein, wo der Kleine verschwunden war; aber wir fanden keine Spur von ihm. Joseph ließ mich freilich auch nicht hineingehen, wo ich wollte; er sagte, das seien lauter Raubnester, und zog mich fort. Auch wo ich nach dem Buben fragte, bei den Personen, die da herum waren, bekam ich keine Auskunft; sie wüßten nicht, wen ich meine, gaben sie überall zur Antwort, und Joseph sagte, den finden wir nie heraus, sie wüßten ganz gut, wen wir suchten, ich solle nur sehen, was sie alle für pfiffige Gesichter machten, da könnten wir unser Lebenlang herumstolpern für nichts.

Wir gingen. Nun konnte ich auch an der Straßenecke meinen armen kleinen François nicht mehr entdecken, es tat mir so leid; überall sah ich nach ihm aus, aber vergebens.

Fast eine Woche nachher, als wir uns einmal früh nach Hause machten, hörten wir jämmerlich schreien an unserer Ecke, und wie wir umbogen, sah ich eben noch, wie eine große, feste Person ein paarmal tüchtig auf einen kleinen Gegenstand einschlug, der am Boden kauerte. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf die Gestalt des breiten, knochigen Weibes, und in der Ecke, wahrhaftig, da hockte mein kleiner François und winselte. Ich schoß auf das Weib zu. ›Wollt Ihr den Buben gehen lassen!‹ rief ich, und merkte erst nachher, daß ich deutsch gerufen hatte vor lauter Zorn. Sie ließ ihn los und schaute mich einen Augenblick verwundert an; dann hättest du hören sollen, was kam. Wie in einer Mühle klapperten die Wörter ihr eins über das andere hin, und solche Wörter! Mein Lebtag hatte ich solche nie gehört, ich merkte aber bald, daß es Schimpfwörter waren, einmal für mich und einmal für den Buben; dann sagte sie, er tue nichts und liege auf den Straßen herum, und sie müsse sich totarbeiten für ihn. Das sah man ihr freilich nicht an. Der Kleine hatte sich wohl etwas zu früh an sein Plätzchen gesetzt, und die Frau hatte ihn da erwischt.

Und nun das bleiche und ausgehungerte Büblein noch zu prügeln und zu mißhandeln! Ich war so empört, daß ich ausrief, sie solle mir nur den Buben hergeben, sie brauche ihn nicht mehr so zu behandeln, ich wolle schon einen Weg für ihn finden. So wie ich das gesagt hatte, warf der kleine François sein Kehrichtschäufelchen weg, sprang zu mir her und nahm mich an der Hand, so als wäre alles abgemacht, und schaute mit seinen Augen ganz lustig zu mir auf, wennschon noch die Tränen daran hingen. Aber es kam anders. Wie ein Drache schoß die Frau auf ihn los und riß ihn von mir weg. Dann ging's aber an, noch viel ärger als vorher: Ob ich denn meine, sie habe so viel ausgestanden für den Buben, daß er davonlaufe, sobald er etwas gelernt habe. Ich könne Besseres tun, als mich in anderer Leute Sachen mischen. Ich solle nur wieder dahin gehen, woher ich gekommen sei, und erst Französisch lernen, eh' ich mit einer Pariserin Streit anfange. Warum ich denn nicht gekommen sei, als des Buben Vater nach Algier entlaufen sei und die Mutter im Spital gelegen habe und kein Mensch etwas von dem Kind habe wissen wollen als nur sie allein, wenn sie schon nur seine Mutter gekannt habe und ihr nichts schuldig gewesen sei. Ich konnte kein Wort mehr dazwischenstoßen, so schnurrte ihre Rede fort wie an einem Faden, und Joseph nahm mich auch beim Arm und sagte, er habe nun genug von dem Gerassel. So mußte ich fort, ich konnte nichts machen; aber dem kleinen François steckte ich schnell noch ein paar Sousstücke in die Tasche. Wie wir nun halbwegs die Straße hinunter sind, höre ich den Buben noch einmal jämmerlich aufschreien, ich wende mich um und sehe eben noch, wie die Frau den Kleinen herumpufft und ihm die Tasche umkehrt und das Geld wegnimmt. Er stand da und drückte beide kleine Fäuste in die Augen. Ich konnte es nicht ansehen. Nun fing ich aber mit dem Joseph an und sagte ihm, so könne es doch nicht zugehen mit einem armen Büblein, und wenn er noch ein Gewissen habe, so müsse er mir helfen. Er fing ein wenig zu lärmen an und sagte: Wenn ich alle kleinen Buben, die in Paris herumflennten, heimschleppen wolle, so bekäme ich dann eine schöne Stube voll, und wenn ich mit allen Gassenweibern Händel haben wolle, so könne ich das Geschäft allein besorgen. Als er dann aber etwas abgekühlt war, sagte er, der Kleine sähe schon zum Erbarmen aus, wir wollten mit unserer Wirtin darüber reden, die wisse schon Rat. Das taten wir denn auch gleich noch an demselben Abend und erzählten ihr alles. Wir meinten, sie könnte den Kleinen etwa im Haus brauchen, die Alte würde ihn wohl hergeben, wenn er etwas verdienen könnte, ich wollte schon noch etwas darauflegen, bis er größer sei und sich selber helfen könne. Die Wirtin meinte, so leicht würde die Frau den Kleinen doch nicht hergeben, er bringe ihr mehr ein, als sie zugebe; aber so zwischendurch zu einem Nebenverdienst könnte man ihn wohl bekommen, da hätte man ja schon Gelegenheit, ihm manches Gute zu tun und ihm täglich einmal recht zu essen zu geben. Sie selbst wüßte ihn freilich nicht zu brauchen, sie müsse Leute haben, nicht kleine Kinder, meinte die Wirtin; aber unter ihren Pensionären wisse sie jemand, eine Lehrerin, die schlecht daran sei mit der Gesundheit und nicht viel ausgehe, auch nicht viel bezahlen könne und so manchmal in Verlegenheit komme, wen sie ausschicken sollte, da wäre der Junge gerade recht dazu. Das war ja wie erwünscht. Ich wollte gleich zu der Lehrerin hinübergehen und mit ihr reden. Erst wollte die Wirtin mich nicht gehen lassen, es sei zu spät, die Kranke sei vielleicht schon zur Ruhe gegangen. Aber ich wollte nichts hören, ich war so im Eifer, den armen Kleinen zu befreien so bald wie möglich, daß ich es wenigstens versuchen wollte, ob ich noch Bescheid bekäme.

Die Wirtin beschrieb mir den Weg. Vom Hinterhause ging es in einen Anbau hinüber, dann fünf Treppen hinauf, dann waren mehrere Zimmer, sie wußte selbst nicht recht, welche Nummer, aber der Name der Lehrerin stehe auf der Tür. ›Dieser Name!‹ sagte sie und suchte in der Tasche herum, dann zog sie eine zerknitterte Karte hervor. Ich las sie. O Hetty! Da stand der Name, den ich seit Jahren in allen Blättern vergebens gesucht hatte.«

»Martine!« rief Hetty in höchster Erregung. »Es ist nicht möglich.« Martine schwieg; sie hielt ihr Gesicht in ihren Händen geborgen, die Erinnerung hatte sie mächtig übernommen.

»O weiter, Martine, wenn du kannst,« bat Hetty.

Nach einer Weile fuhr Martine fort:

»Mir wurde es ganz schwarz vor den Augen, und die Knie brachen mir zusammen. Ich mußte mich niedersetzen, aber nicht für lange.

Olga, hieß es in mir, Olga nur wenige Schritte von dir weg! Mir schlugen alle Pulse, es gab mir auch Kraft. Ich sprang auf, rannte durch das Hinterhaus in den Anbau, die fünf Treppen hinauf, ja, da stand der Name auf einer Tür. Ich klopfte, leise werde ich hereingerufen. Ich mache die Tür auf, da sitzt sie, eine kleine Lampe steht vor ihr und wirft den matten Schein auf ihre Gestalt. Sie sieht auf nach mir, totenblaß und o, wie eingefallen, aber es ist Olga! Ich stürze zu ihr hin und falle in meine Knie, ich konnte nicht mehr. Meinen Kopf auf ihrem Schoß weinte ich laut. Olga war ganz still. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf und streichelte mich lange. Endlich sagte sie: ›Martine, so bist du gekommen?‹ O, das war die alte Stimme, die hatte sich nicht verändert. ›Martine, bist du wirklich gekommen?‹ sagte sie noch einmal. ›Sieh, oft wie ich so krank war und im Fieber lag, da sah ich dich hier hereinkommen. Du legtest mir die Kissen zurecht und warst so gut mit mir. Und wenn der brennende Durst kam, da tratest du zu mir heran mit dem klaren Wasser, nach dem mich so sehr verlangte, aber wenn ich die Hand ausstreckte, warst du weg, und alles war nur ein Traum. Und einmal legtest du mir frische rote Rosen aufs Bett, die dufteten so schön! Ich sagte: Hast du sie aus dem Garten am See geholt? Aber ich erwachte an meinen Worten, die schönen Rosen waren weg, und du warst ja auch nicht da. Bist du wirklich gekommen, Martine? Wie hast du mich gefunden?‹

.

›Olga Olga!‹ rief ich, als ich endlich ein Wort herausbringen konnte, ›Wie konntest du mich so lange warten lassen und mir kein Wort von dir sagen! O, hätte ich das gewußt! Hätte ich das gewußt!‹ Und dann mußte ich sie ansehen, ihr so recht in die Augen sehen, ob sie's auch wirklich sei. Es war ja wohl Olga, aber wie sah sie aus! Wie waren diese Augen eingesunken! Und welch ein Zug von Schmerz und Traurigkeit lag um ihren Mund. Das hatte Olga nie gehabt. Ich fing noch einmal zu weinen an, das Leid um sie wollte mir das Herz abwürgen. Olga verstand wohl, was in mir vorging. Sie nahm meine Hand und sagte, ich solle nicht traurig sein um sie, das Schwerste liege lange hinter ihr, jetzt sei ihr wohler, als ich denken möchte. Und dann konnte sie so herzerfreuende Worte zu mir reden, wie nun alles gut sei, weil ich da sei, und welch' schöne Tage wir nun zusammen haben würden, wie in alter Zeit, daß ich wieder ganz froh wurde und es gar nicht genug bekommen konnte, ihr zuzuhören und immer wieder mich zu versichern, daß es Olga sei, die mir alle die freundlichen Worte sagte und die gar nicht verändert war in ihrem Herzen gegen mich. Und es war wirklich Olga, die wohlbekannte Stimme, die so zu Herzen geht wie keine sonst. Endlich mußte ich gehen, es war ja lange über Mitternacht; aber morgen und übermorgen und so mancher Tag noch lag vor mir, den ich nun mit Olga verleben konnte. In jener Nacht schlief ich aber keine Minute, fort und fort sah ich Olga vor mir und hörte sie reden und dachte: Was muß sie erlebt haben! Wie krank muß sie gewesen sein! Ich war wie im Fieber. Früh am Morgen darauf klopfte es an meine Tür, es war die Wirtin. Sie wollte wissen, was ich mit dem kranken Fräulein ausgemacht habe, es sei ihr am Abend zu lange gegangen, mich abzuwarten. Ich glaubte fast, die Neugierde triebe sie so früh zu mir her; sie sagte freilich, ich gehe zu Einkäufen aus mit ihrem Burschen, da habe sie gedacht, wenn das Fräulein den Buben haben wollte, so könnte sie die Sache für mich abmachen, ihr Bursche fände die Frau schon auf, der kenne sich aus in diesen Löchern und Winkeln. Wir hatten kein Wort von dem Buben geredet, wie hätte ich noch daran gedacht, da ich Olga fand; aber ich war froh, als mir nun alles wieder in den Sinn kam. Ich sagte der Wirtin, ich habe in dem Fräulein ganz unerwarteterweise eine alte Freundin gefunden, sie solle nur ja den Buben anwerben, daß er jeden Tag zweimal herkomme, das Fräulein dürfe nie mehr selbst ihre Sachen besorgen, der Kleine müsse einen guten Lohn haben dafür. Die Wirtin sah mich hier so zweifelhaft an, daß es mich ins Herz stach. Ich sagte ihr, ich sei bei dem Fräulein in Schulden von früher her, und ich sei mehr als froh, daß ich jetzt etwas davon abtragen könne; den Buben übernehme ich, sie solle ihn nur sicher herbringen. Sie sagte, jetzt sei's schon recht, dann ging sie. An demselben Abend noch kam der kleine François gelaufen mit funkelnden Augen. Ich steckte ihn in ein neues Wämschen und setzte ihm eine Mütze auf den Kopf, und nun hättest du das schmucke Bürschchen sehen sollen, wie es dastand und andächtig zuhörte bei allem, was ich ihm vorsagte. Er mußte mir dann versprechen, pünktlich alles zu halten und je am Morgen und am Abend an die Tür des Fräulein zu klopfen und alles ganz so zu tun, wie ihm geheißen werde. › Oui Madame,‹ sagte der Kleine unermüdlich auf jedes meiner Worte, und nun zum Beginn sollte er gleich einen Strauß frischer Rosen holen und dann jeden Morgen einen solchen dem Fräulein bringen, wenn er herkomme; das dürfe er nie vergessen, prägte ich ihm ein, dann müsse er auch nicht mehr Hunger haben, sondern von heute an täglich hier sein Mittagessen bekommen, daß er recht satt werde. Nun ging mein Büblein still und voll Pflichteifer davon, und ich schaute ihm nach, und wie er ein paar Schritte vom Hause weg war, tat es einen großen Sprung in die Luft und jauchzte ganz erstaunlich.

Jetzt kam die Zeit, die werde ich mein Lebenlang nicht vergessen. Von Paris hatte ich genug gesehen, das Übrige konnte Joseph allein genießen. Vom Morgen früh an bis spät in die Nacht hinein saß ich oben bei Olga in ihrem Dachstübchen. Was waren das für Tage, so schön und so voller Freude und wieder so traurig. Olga erzählte mir alles, was sie erlebt hatte, und ließ mich auch Blätter lesen, die sie geschrieben hatte in einer Zeit, da sie ihr Leben kaum mehr zu ertragen vermochte, wie sie sagte, und keinen Menschen hatte, zu dem sie reden konnte. Wie lernte ich jetzt erst Olga kennen! Viel mehr wert ist sie, als ich je gewußt hatte. Was konnte ich von ihr lernen und was würde jedes hören und lernen können, das mit ihr zusammenkäme! O, nie in meinem Leben werde ich das kleine Fenster vergessen, an dem wir da zusammensaßen und über die abscheulichen Höfe hin in lauter schwarze Dächer und Kamine hineinsahen. Sie saß auf dem alten Strohstuhl und ich auf ihrem Koffer, vor uns stand das viereckige Tischchen von Tannenholz und daneben ihr Bett. Da war noch ein kleiner, wurmstichiger Kasten, und zwei schäbige blaue Vorhänge hingen an den Fenstern, alles so ärmlich! Aber mittendrin saß Olga wie eine Königin, die nicht dahin gehört, die man eingekerkert hat; aber sie sieht nicht darauf, auf ihrer Stirne steht es geschrieben. Sie weiß wohl, bald muß die Tür aufgehen, und sie wird frei und geht zurück in ihre Herrlichkeit. So war sie, Hetty, so sah sie aus, wenn sie mir erzählte von all dem Leid, durch das sie gegangen war, und dann von ihrem Trost und der bleibenden Freude, die sie gefunden hatte.«

Hier stand Martine auf, trotz Hettys mächtigem Widerstand, denn nun sollte ja Olgas Geschichte folgen, die sie kaum erwarten konnte, und gerade da wollte Martine abbrechen, das konnte doch nicht sein. Aber Martine blieb dabei. Ihr Bruder habe ihr auf der Pariser Reise so viel nachgegeben, daß sie ihm nun auch ein wenig zu Gefallen leben müsse. Er habe Geschäfte abzutun in der Stadt, die mehrere Tage in Anspruch nehmen würden; dabei wollte sie ihm, soviel sie könne, behilflich sein. Die Nachmittagsstunden wollte sie bei Hetty zubringen und ihr da alles zu Ende erzählen.

Martine zog beim Fortgehen noch ein Heftchen Blätter hervor und legte es in Hettys Hand, das sollte sie lesen; die Blätter waren von Olgas Hand geschrieben, wohl zu verschiedenen Zeiten, sie lagen lose aufeinander.

Ihrem Versprechen gemäß kam Martine die folgenden Tage wieder, und aus ihren mündlichen Mitteilungen wie aus den geschriebenen Blättern, als lebensvoller Ergänzung, wurde Hetty mit allem bekannt, was Olga in den Jahren ihres rätselhaften Verschwundenseins erlebt hatte.


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